Die Verlorenen von Assandur - Màili Cavanagh - E-Book

Die Verlorenen von Assandur E-Book

Máili Cavanagh

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Beschreibung

Eine ferne Zukunft … Drei Jahre sind seit dem blutigen Aufstand der genetisch verbesserten Klone, die in zukünftigen Kriegen Kanonenfutter sein sollten, vergangen. Die Kurōns, wie man sie nennt, sind danach geflohen und halten sich seitdem versteckt, doch dann taucht einer von ihnen auf einer Station der Allianz auf. Mit seinem Erscheinen kommt ein dunkles Geheimnis ans Tageslicht. Eines, das selbst den gestandenen Star Marshal Ray Stryker in seinen Glaubensgrundsätzen erschüttert. Niemals hätte er gedacht, ihnen vertrauen zu können – oder sich sogar in einen von ihnen zu verlieben.

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Seitenzahl: 352

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Die Verlorenen von Assandur

Ein Roman von Màili Cavanagh

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2022

http://www.deadsoft.de

© 2021 Màili Cavanagh

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© sdecoret – shutterstock.com

© Bruce Rolff – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-526-8

ISBN 978-3-96089-527-5 (epub)

Diese Geschichte enthält explizite Gewaltszenen und homoerotische Inhalte und spart nicht an detaillierten sexuellen Darstellungen.

Manche Ausdrucksweisen sind direkt und lassen sämtliche Höflichkeitsregeln außer Acht.

In der Realität gilt: Safer Sex.

Inhalt:

Eine ferne Zukunft …

Persönliches Vorwort:

Als Kind der 1990er bin ich mit Science-Fiction-Serien wie „Stargate SG-1“, „Star Trek: Deep Space Nine“, „Spacecenter Babylon 5“ und „Farscape“ aufgewachsen. Ich liebte sie. Oft wurden damals aktuelle Themen aufgegriffen. Homosexuelle Charaktere suchte man jedoch meist darin vergebens und wenn ihnen Sendezeit eingeräumt wurde, dann waren es lediglich ein paar Minuten.

Prolog

Eine ferne Zukunft – 115 Jahre nach dem Erstkontakt mit einer fremden Spezies, die den Menschen Reisen zu den Sternen ermöglichte.

Die Erde ist Bestandteil der AFIP, der Alliance of Free and Independent Planets, ein Zusammenschluss von einigen hundert Planten, auf denen es intelligentes und fortschrittliches Leben gibt.

Kurz nach ihrem Beitritt war durch menschliches Versagen ein genmanipuliertes Virus aus einem Forschungslabor auf der Erde entkommen. Die Seuche forderte Millionen Leben. Als eine der Konsequenzen waren seitdem Genmanipulationen in der gesamten AFIP verboten.

Erst langsam, verhalten und mit gebotener Vorsicht kehrten die Mitgliedsplaneten zu dieser Wissenschaft zurück. Manchen Abteilungen innerhalb der Allianz, Wirtschaftsunternehmen und Privatpersonen ging das jedoch nicht schnell genug. Vorrangig, um im nächsten Krieg besser gegen den Feind gerüstet zu sein, erschufen sie im Geheimen eine unbesiegbare Armee aus Klon-Kriegern. Als die Implantate versagten, mit denen diese kontrolliert wurden, nahm die Katastrophe ihren Lauf und endete in einem blutigen Aufstand.

An Bord der Shadow

Brennend traf die Energieladung von Kaley Vendix’ Waffe Conans Brustkorb. Sein Körper wurde durch die Luft geschleudert und mit einem Keuchen prallte er gegen die Wand. Er rutschte an ihr herunter und nahm dabei aus den Augenwinkeln schemenhaft wahr, wie Vendix davonrannte. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, wallte beißender Qualm durch die Sektion des Schiffes, in der er sich befand und der Alarm heulte ohrenbetäubend, während rote Warnlampen rhythmisch blinkend auf die Gefahr hinwiesen.

Er hustete und ein ziehender Schmerz raste durch seine Rippen. Seine Lungen brannten und seine Augen tränten. Es stank bestialisch nach etwas Verschmortem. Mühsam rappelte er sich auf und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Der Qualm wurde immer dichter und ließ ihn kaum etwas erkennen. Blut rann ihm aus einer Platzwunde die rechte Schläfe hinab. Die silberne Rüstung, die er trug, hatte ihn vor dem Schlimmsten geschützt. Sie war hauchdünn, flexibel aber dabei nahezu undurchdringbar. Ohne sie wäre er vermutlich tot gewesen. Er räusperte sich. „Computer, Schadensbericht!“

Die KI, die künstliche Intelligenz des Schiffes, ein Hochleistungsquantencomputer, brauchte nur wenige Millisekunden, um alle Daten zu verarbeiten. „Drohender Bruch der Außenhülle in Sektion 7. Gefahreneinstufung rot. Feuer in Sektion 6. Gefahreneinstufung gelb …“

Während Conan die Informationen in sich aufnahm, wankte er nach vorne zur Sektion 1, der Steuereinheit des Schiffes, und ließ sich in den Pilotensessel fallen, nachdem er mit der Rechten ein paar Trümmerteile vom Sitz gefegt hatte.

„Computer, überprüfe Lebenszeichen in Sektion 6!“

„Negativ. Keine Lebenszeichen in Sektion 6 vorhanden.“

Conans Gedanken rasten. „Computer, Anzahl der Rettungskapseln und OMS überprüfen!“

Die OMS waren kleine, manövrierfähige Ein-Mann-Schiffe, die für Flüge über kurze Distanzen ausgelegt waren und nur über eine minimale Bewaffnung und Kurzstreckensensoren verfügten. Die Shadow hatte zwei davon an Bord.

„Die Rettungskapseln und OMS sind vollzählig.“

Wenn alle OMS und Rettungskapseln da waren, konnte Vendix nur mit seinem eigenen Schiff, der Lucano, geflohen sein. „Was ist mit der Lucano?“

„Die Lucano ist nicht mehr an die Shadow angedockt.“

„Verdammt!“ Wütend schlug er mit der Faust auf das Kontrollpult. Sein Gefangener war also mit seinem Schiff geflohen. Und er war schuld. Er war einen winzigen Moment unaufmerksam gewesen. Vendix hatte Verdacht geschöpft, als er ihn unter einem Vorwand auf sein Schiff eingeladen hatte, und war ihm entkommen. „Computer, sofort Verfolgung aufnehmen!“

Irgendwo hinter ihm platzte eine Leitung.

„Negativ. Ausfall des linken Antriebes …“

Sein Schiff, die Shadow, war doch schwerer beschädigt, als er befürchtet hatte. Aber so einfach konnte und wollte er nicht aufgeben. Er hatte Kaley Vendix nicht mehr als zwei Monate verfolgt, um ihn dann wieder entkommen zu lassen. Außerdem – Shimai würde ihn umbringen, wenn er ohne ihn zurückkehrte. Vendix war wichtig. Sie brauchten ihn! Conan dachte an all die anderen, die sich auf ihn verließen; Erái, Jaden, Daragh … Wenn er versagte … Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Er wollte nicht schuld sein am Tod von fast 1.000 Kurōns. Sie waren alles, was er hatte. Seine Familie. Sie verließen sich auf ihn. Leben. Freiheit. Rechte. Das war, weshalb er hier war.

Fluchend stemmte Conan sich aus dem Sessel hoch und kämpfte gegen einen Schwindelanfall, ehe er sich ins untere Deck zu dem Maschinenraum aufmachte. Die Selbstdiagnose lief bereits und mit ein bisschen Glück und ein klein wenig Geschick würde er das Ding wieder zum Laufen bekommen. Er bemerkte, dass die Temperatur im Schiff rapide gesunken war. „Computer, Lebenserhaltungssysteme überprüfen!“

„Lebenserhaltungssysteme auf Notfallstandard!“

Einige von der KI gesteuerten Roboter, Nanobots und molekulare Assembler, welche in der Lage waren, einzelne Atome und Moleküle zu manipulieren, waren bereits dabei, kleinere Reparaturen durchzuführen. Emsig huschten sie hin und her und Conan wäre fast auf einen Roboter draufgetreten. Das Laufen strengte ihn an, immer wieder musste er kurz stehen bleiben und tief Luft holen.

„Warnung! Strukturveränderungen der Außenhülle in …“

Ein schrilles Quietschen übertönte die Meldung der KI. Neben Conan platzte eine weitere Leitung. Heißes Gas strömte ihm entgegen und er schrie auf, als die Haut in seinem Gesicht begann, Blasen zu werfen. Dann gab die Deckenkonstruktion endgültig nach. Mit einem lauten, fast ohrenbetäubenden Krachen begruben ihn Platten und Verstrebungen unter sich. Er spürte, wie sich eines der Teile in seinen rechten Oberschenkel bohrte und irgendetwas auf seinem Brustkorb landete, bevor ihn eine gnädige Dunkelheit umfing.

Als die KI keine weiteren Befehle erhielt, schaltete sie das automatische Notfallprogramm ein. Sie versiegelte den Zugang zur Sektion 7 am Ende des Schiffes und sprengte diese ab. Anschließend löschte sie das Feuer in Sektion 6, indem sie diesen Bereich abriegelte und ihm sämtlichen Sauerstoff entzog und schickte Roboter, Nanobots und Assembler in die anderen betroffenen Teile des Schiffes. Die kaum noch messbaren Lebenszeichen im Schiff veranlassten die KI dazu, in der Datenbank nach dem nächsten bewohnten Planeten oder der nächsten Raumstation zu suchen und gleichzeitig ein Notsignal zu senden, um auf sich aufmerksam zu machen, während sie weiterhin die Reparaturen steuerte.

Raumstation Mojak Two

Vor der fast vollkommenen Dunkelheit, die in diesem Teil des Universums herrschte, von dem Licht ferner Sterne abgesehen, hob sich die Raumstation Mojak Two kaum ab. Mit ihren acht Ebenen und darauf verteilten über 500 Decks, dem grauen Farbton der Außenhülle, einigen Dellen und tiefen Kratzern darin und der aktuellen leicht schiefen Lage aufgrund defekter Stabilisatoren, war sie wahrlich keine strahlende Schönheit, aber dafür der letzte Außenposten der AFIP, von den meisten nur Allianz genannt, am Rande des Gebietes, das diese für sich beanspruchte. Mojak Two, oder besser die dort stationierten Männer, Frauen und Schiffe der verschiedensten Spezies, sorgten in dem zugeordneten Sektor für den Schutz und die Sicherheit der Planeten und deren Bewohner. Von hier aus starteten Schiffe Forschungsreisen in unbekannte Teile des Universums. Und nicht zuletzt diente Mojak Two als neutraler Ort für Verhandlungen von Spezies, die nicht der Allianz angehörten. Die Station war hauptsächlich auf sauerstoffatmende Lebewesen ausgelegt. Es war aber auch möglich, die Lebenserhaltungssysteme bei Bedarf für bestimmte Bereiche umzuprogrammieren.

Der Handel auf Mojak Two florierte; und das Verbrechen ebenfalls. Monatlich geschahen – statistisch betrachtet – durchschnittlich 18,2 Raubüberfälle, 15,7 Betrugsversuche, 12,6 andere Delikte und 1,9 Morde. Die Sicherheitskräfte taten alles in ihrer Macht stehende, um die Station zu einem sicheren Ort für Händler und Reisende, für Botschafter und dort Stationierte, für Sinnsucher und Wissenschaftler, zu machen. Letztendlich konnten sie aber nicht viel ausrichten, da sie ständig unterbesetzt waren. Und Commander Thomas Barnim lag wenig daran, sämtliche Betrüger und Schmuggler wegzusperren, war er doch derjenige, der am meisten von der abgeschiedenen Lage und den daraus resultierenden Verhältnissen profitierte. Seinen mageren Sold besserte er mit Bestechungs- und Schweigegeldern auf und nicht selten wanderten wertvolle Sammlerstücke in seinen privaten Besitz. Er war sich selbst am nächsten und machte keinen Hehl daraus. Seine Vorgesetzten wussten davon und ließen ihn machen – schlossen die Augen, denn einen Ersatz für ihn zu finden war so gut wie unmöglich. Niemand sonst hatte diesen Posten haben wollen – jedenfalls nicht, nachdem der letzte, der ihn innegehabt hatte, auf mysteriöse Weise verstorben war. Aber trotz aller Verbrechen war Mojak Two ein stark frequentierter Ort und der Name Mojak, der niemals still bedeutete, hatte durchaus seine Berechtigung.

Silian Atlee, der Stationsarzt, starrte aus dem großen Panoramafenster des Aussichtsdecks auf der 2. Ebene ins All. In der Ferne konnte er für wenige Minuten ein kleines Schiff beobachten, bis es gänzlich aus seinem Blickfeld verschwand. Noch vor fünf Stunden hatte er einem Mitglied der Besatzung nach einer wüsten Schlägerei einen gebrochenen Kiefer gerichtet und eine lebensgefährliche Schnittverletzung behandelt. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die Wunde verschlossen und es würde nicht mal eine Narbe zurückbleiben. Das alles dank der neuesten Deline-Methode. Nach acht Monaten hatte es dieser medizinische Fortschritt endlich nach Mojak Two geschafft. Entwicklungen, Nachschub, Informationen – all das brauchte lange, bis es die Raumstation erreichte. Dennoch mochte Silian seine Arbeit. An keinem anderen Ort konnte er so viel Erfahrung mit anderen Spezies sammeln. Von den Freiheiten, die er hier hatte, ganz zu schweigen. Verwaltungskram? Wen interessiert das? Genau deshalb war er vor fünf Jahren von der Erde, wo er geboren worden war und Medizin studiert hatte, nach einigen Zwischenstationen auf anderen Planeten zur Erweiterung seiner Erfahrungen, hergekommen. Niemand schaute ihm über die Schulter, niemand saß ihm wegen fehlender Berichte ihm Nacken. Hier konnte er wirklich helfen, Leben retten, und nicht nur Schönheits-OPs durchführen, die in Mode waren. Er hatte schon immer Arzt werden wollen. Es war sein Traum gewesen – und jetzt sein Leben, auch wenn er manches Mal fluchte und sich beim Medizinischen Corps beschwerte, wenn er wochenlang auf dringend benötige Medikamente oder Geräte warten musste.

Silian seufzte und riss seinen Blick von der scheinbaren Unendlichkeit los. Er verließ das Aussichtsdeck, das sich mittlerweile mit Besuchern angefüllt hatte, wandte sich nach rechts, ging ein Stück den grauen, fast beängstigend eng wirkenden Korridor mit der künstlichen, ins Gelbe gehenden Beleuchtung entlang und zum nächsten Lift. Während er wartete, sah er auf den Boden. Sogar dort waren die Spuren der Zeit erkennbar. Die Beschichtung war abgerieben.

Reparaturen wurden nur ausgeführt, wenn sie lebensnotwendig waren – und wenn die nötigen Teile vorhanden waren. Ressourcen waren knapp und viele Ersatzteile waren eingetauscht worden oder stammten aus ausgeschlachteten Schiffen, die Barnim aufgekauft hatte, damit ihm die Station nicht unter seinem Hintern auseinanderbrach. An vielen Stellen wirkte die Mojak Two mit dem halben Jahrzehnt, das sie im Einsatz war, wie ein lieblos zusammengebautes Spielzeug, das seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Und der Arzt wunderte sich jeden Tag darüber, dass nicht alles auseinanderfiel und sie im All einen eisigen Tod fanden.

Rumpelnd hielt der Lift an und mit einem Quietschen öffneten sich die Türen. Zumindest ein Stück. Mit einem Stöhnen schob Silian die Schotten zur Seite und zwängte sich hindurch ins Innere. Als er einstieg, glaubte er zu spüren, dass die Kabine um ein paar Millimeter absackte.

Er seufzte. „Ebene 4!“, wies er den Stationscomputer an und schon setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Auf dieser Plattform befanden sich einige Restaurants und Bars, vor allem aber kleine Geschäfte. So lange auf der Krankenstation kein Notfall auf ihn wartete, konnte er sich durchaus die Zeit nehmen, um sich nach einem Geschenk für seine Frau Carinara umzusehen. Er schlenderte eine halbe Stunde durch die Läden, betrachtete dies und das, nahm einen Schal aus Vo’lor-Seide in die Hand, roch an Parfüm von Aljora, das der Verkäufer in den höchsten Tönen anpries und begutachtete eine Kette, die angeblich aus echten blauen Perlen von Louette bestand. Doch nichts, was er sah, war nach seinem Geschmack. Nichts empfand er als gut genug für sie und ihren bevorstehenden Hochzeitstag und so machte er sich auf den Weg zu dem Ort, den er sein Zuhause nannte, seit er mit ihr hierhergekommen war.

Als sich die Tür ihres gemeinsamen Quartiers hinter ihm schloss, hatte der Nachtzyklus auf der Station begonnen. Er dauerte 12 Stunden, um dem Biorhythmus der Mannschaft gerecht zu werden, die vor allem von der Erde und erdähnlichen Planeten stammte. Automatisch schaltete der Bordcomputer das Licht ein, so gedämpft, wie es den Wünschen des Quartierbesitzers entsprach und Silian es programmiert hatte.

69,6 Quadratmeter, das war das, was ihm als ranghohem Offizier zugebilligt wurde. Etwa 40 mehr als einem einfachen Crewmitglied. Und etwa 120 weniger als Commander Barnim bewohnte. Ob ihm das zustand oder nicht, danach fragte niemand. Die Allianz war froh, jemanden gefunden zu haben, der hier draußen die Verantwortung übernahm. Was waren da schon einige Quadratmeter mehr oder weniger?

„Du kommst spät!“ Der Vorwurf in Carinaras Stimme, die aus dem Schlafzimmer kam, war nicht zu überhören. „Ich warte schon seit mehr als einer Stunde auf dich. Gab es so viel zu tun auf der Krankenstation?“

Sie hatte das Licht in dem Raum so eingestellt, dass es ihr Gesicht im Dunkel beließ und nur ihre schlanken Beine und der nackte Unterleib zu erkennen waren. Trotz der vier Jahre, die sie nun schon verheiratet waren, übte ihr Körper noch immer eine enorme Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte jeden Zentimeter ihrer samtweichen, schneeweißen Haut. Und doch schien er sie jedes Mal, wenn er sie berührte, aufs Neue zu entdecken.

Vor zehn Jahren hatten sie sich kennengelernt und ineinander verliebt. Beim Belrai-Fest auf Menora IV. Sie war dort mit ihrer Schwester Liv und ein paar Freunden im Urlaub gewesen, während er zusammen mit anderen Studierenden auf dem Planeten Praxisstunden gesammelt hatte. Erst kurz vor Ende der Feierlichkeiten hatte er das örtliche Krankenhaus verlassen können und war in eine Bar gegangen, wo er sie getroffen hatte. Sie war hübsch und ihr Lachen hatte ihn sofort in den Bann geschlagen. Er hatte sie auf einen Drink eingeladen und schnell waren sie ins Reden gekommen. Ihre Leidenschaft war die Bewahrung alter Kulturpflanzen.

„Ja!“

„Komm her!“ Ihre Hand streckte sich ihm entgegen. „Mach es wieder gut!“

Er lächelte und ließ sich auf das Bett sinken.

Die Erde

Zur selben Zeit

Es war kühl in der über 600 Jahre alten Kirche, die Ray Stryker nach kurzem Zögern betrat. Eines der wenigen Gotteshäuser, das die Kriege überstanden hatte und noch nicht verfallen war. Wie ein Relikt einer längst vergangenen Zeit dominierte es die Landschaft; wirkte irgendwie fehl am Platz zwischen all den modernen Gebäuden drumherum. Er hatte keine Ahnung, wie man dieses Land, in dem er sich befand, ursprünglich genannt hatte. Die verschiedenen Konflikte, die es auf der Erde gegeben hatte, hatten eine ständige Veränderung der Landesgrenzen, Namen und Regierungen zur Folge gehabt. Mittlerweile waren sämtliche Länder vereint und gab es nur noch eine zentrale Führung, die ihren Sitz in New Ateitis hatte.

Unschlüssig, ob er hineingehen sollte oder nicht hatte er eine ganze Weile davorgestanden und mit sich gerungen und gefroren. Es war Herbst und ein kalter Wind wehte. Er war alles andere als gläubig – im Gegensatz zu Yorick. Der hatte immer Trost und Hoffnung in Gott gefunden, aber nie versucht ihn in irgendeiner Weise zu bekehren. Schließlich hatte er sich dazu durchgerungen und einen Fuß vor den anderen gesetzt. Die massive Holztür mit den angelaufenen Messingbeschlägen war nicht verschlossen gewesen, wie er insgeheim gehofft hatte.

Er sah sich um. Außer ihm war niemand da. Zumindest kein Mensch. Wie es mit anderen heimlichen Bewohnern aussah, wollte er gar nicht wissen.

Ray nahm eines der Teelichter aus dem Holzkorb, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, und auf einem Hocker rechts neben der Tür stand, ging nach vorne, zündete es an einer der großen, weißen Kerzen an und stellte es auf den kleinen Tisch mit dem grünen Deckchen mit der Silberborte. Dann setzte er sich in die erste Reihe. Die Bank unter ihm knarrte bedenklich. Sie war wurmstichig. Dazu hart und unbequem. Auf dem Altar stand ein Kreuz – zum Glück ohne Jesusfigur. Er hätte den Anblick des Gekreuzigten in diesem Moment nicht ertragen können. Flankiert wurde es von zwei Vasen mit Rosen darin. Jemand schien sich regelmäßig um die Kirche zu kümmern. Seltsam, wo doch die Religion während der letzten Jahrhunderte immer mehr an Bedeutung verloren hatte.

Er dachte an den Tag zurück, an den er zuletzt eine Kirche betreten hatte …

Die Flammen der zehn Kerzen flackerten. Dahinter standen sechs Blumengebinde. Die schwarze Urne thronte auf einem Podest, daneben ein Bild Yoricks. Musik. Stimmen. Seine Tränen, die ihm den Blick verschleierten. Das Loch in der Erde. Hände auf seinen Schultern und doch war er allein …

Durch das große Panoramafenster sah er die letzten Blätter von den Bäumen fallen. Der Wind nahm sie mit sich, trug sie fort, spielte mit ihnen. Sie taumelten, trudelten, fielen. Er hatte gehofft, sich Yorick hier näher zu fühlen, doch alles, was er in sich spürte, war Einsamkeit und Trauer. Obwohl sein Geliebter schon drei Jahre tot war. Die Zeit war ihm vorgekommen wie eine Ewigkeit. Scheinbar nie endend. Sinnlos. Erfüllt von Stille und Leere. Yorick fehlte ihm. Sein Lachen. Seine Nähe.

Irgendwann hielt Ray es in dem Gebäude nicht mehr aus. Hier gab es keinen Trost für ihn, keine Heilung seiner Wunden, keinen Beistand. Nur unbeantwortete Fragen. Warum hatte Yorick so früh sterben müssen? Warum hatte dieser angeblich ach so liebende Gott es nicht verhindert? Warum hatte er Yorick so leiden lassen? Warum hatten sie sich nicht noch verabschieden können?

Fast fluchtartig verließ Ray die Kirche und ging auf den Friedhof. Eine schlichte schwarze Platte markierte das Grab. Als er davorstand, erwachte die Technik darin zum Leben. Yoricks Gesicht erschien als Hologramm, daneben sein Name und das Geburts- und Sterbedatum. Yorick Stryker-Carrington. Sie hatten sich nicht einigen können und schlussendlich, zwei Minuten bevor sie das Bündnis eingegangen waren, für einen Doppelnamen entschieden. Wie dumm kam es Ray heute vor. Warum hatte er nicht nachgegeben? Warum hatte er Yorick seinen Wunsch nicht gelassen? Seltsam, dass es ihm damals so wichtig gewesen war. Dabei war jeder Streit eigentlich so nichtig, so unwichtig und wog doch umso schwerer im Angesicht des Todes. Wie alles, worüber sie sich je gestritten hatten, was sie nie zusammen realisiert, weil aufgeschoben hatten; all das Unausgesprochene …

Yoricks letzter Kuss, sein letztes „Ich liebe dich“, bevor er abgeflogen war. Ihre letzte gemeinsame Nacht. Schöne Erinnerungen und doch so schmerzhaft. Sein Tod – so sinnlos …

Ray kniete sich hin, strich mit der Rechten über die Platte. „Ich bin bald bei dir, Yorick“, flüsterte er und Tränen rannen seine Wangen hinab. Fielen hinunter, nahezu lautlos. Zerplatzten. Wie all seine Träume von einem gemeinsamen Leben und Altwerden.

Raumstation Mojak Two/An Bord der Shadow

Es war 19:13 Uhr Bordzeit, als die Sensoren von Mojak Two ein sich näherndes Schiff registrierten. Da es keine Kennung sendete, schickte das Computersystem eine Benachrichtigung an den diensthabenden Offizier.

Lieutenant Jonathan Wright beugte sich tief über das Display an seinem Platz auf der Kommandoebene, die sich an der Spitze der Raumstation auf Ebene 1 befand. Verwirrt kräuselte er die Stirn. Innerhalb der nächsten Stunden erwarteten sie keine angemeldeten Besucher. Er sendete eine Nachricht mit der Bitte um Identifikation auf allen Kanälen, doch als Antwort bekam er nur das Standard-Notsignal. Erneut scannte er das sich weiterhin mit unveränderter Geschwindigkeit nähernde, den Daten nach schwer beschädigte Objekt. Am hinteren Teil fehlte eine Sektion und die Anzeige auf Wrights Display deutete darauf hin, dass nur noch das Notfall-Lebenserhaltungssystem aktiv und alles andere abgeschaltet war. Das konnte erklären, weshalb niemand auf seine Kontaktversuche reagierte. Nach kurzem Zögern betätigte er das Intercom: „Commander bitte auf die Brücke!“

Thomas Barnim hielt mitten in der Bewegung inne. Er saß in seinem Quartier am Schreibtisch und war dabei, eine Flasche fast unbezahlbaren alten irischen Whiskeys zu öffnen, die er im Tausch gegen ein paar Bauteile erhalten hatte, als er unterbrochen wurde. Was konnte so wichtig sein, dass seine Anwesenheit um diese Uhrzeit auf der Brücke erforderte? Fluchend stellte er die Flasche zurück in den Schrank und aktivierte die Kommunikationseinheit. „Ich hoffe, es ist wirklich dringend, Wright!“

Seine tiefe, sonore, befehlsgewohnte Stimme ließ den jungen Offizier zusammenzucken. Den Commander in seiner Freizeit zu stören war nie gut. Manch einer hatte seinen Posten schon für weniger verloren. Barnim galt als ungerecht und jähzornig, als skrupellos und egoistisch. Eigentlich gab es nur Strafversetzte oder Idealisten, die hier auf der Station für ihn arbeiteten. Wright gehörte zu Ersteren. Er hatte sich beim Diebstahl von Allianz-Eigentum erwischen lassen. „Ja, Sir, ich meine … also …“

Barnim beugte seinen massigen Körper über den Tisch – zumindest so weit, wie es sein Bauch zuließ. Er sah Schweißtropfen auf Wrights Stirn glitzern. „Was?“, fauchte er. Er hasste diese inkompetenten jungen Leute.

„Sir, ein Schiff nähert sich und reagiert auf keine Kontaktversuche.“

Barnim schürzte die wulstigen Lippen. Das war in der Tat seltsam. „Lebenszeichen?“, fragte er.

„Das kann ich nicht sagen, Sir. Die Werte sind zu ungenau. Irgendetwas scheint unsere Sensoren …“

„Ist es ein Schiff der Allianz?“, unterbrach er ihn ungehalten.

„Das kann ich nicht sagen, Sir! Es sendet zwar das Standard-Notsignal, aber keine Kennung.“

Barnim ließ sich die Sensordaten übermitteln, dachte nach. Ein Schiff dieser Größe konnte ihnen nicht gefährlich werden, egal welcher Spezies es gehörte und selbst wenn sich 20 Personen an Bord befänden. Und falls niemand mehr am Leben war, würde er nach geltendem Recht die Ladung als Finderlohn behalten. Ein gieriges Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.

„Sir?“ Wright wartete immer noch auf einen Befehl.

„Vielleicht verstehen die uns nicht. Haben Sie den Universal-Übersetzer eingeschaltet?“

„Natürlich, Sir!“

„Hm. Dann lassen Sie das Schiff andocken, wenn es dazu in der Lage ist! Ansonsten setzen Sie die Roboter ein. Und schicken Sie diesen Knochenflicker hin, vielleicht findet er noch etwas, das er vom Boden kratzen und analysieren kann!“

„Aye, Sir!“ Erleichtert beendete Wright die Verbindung.

***

Keine zehn Minuten nach Barnims Befehl stand Silian mit zerzaustem Haar vor der Luftschleuse der Raumstation. Seine Uniform war zerknittert und sein Unterhemd schaute hinten aus der Hose. Er hatte es nicht einmal mehr geschafft unter die Dusche zu gehen und sich nach dem Liebesakt mit Carinara nur notdürftig gesäubert, ehe er sich angezogen und auf den Weg gemacht hatte.

Zwei Männer von der Stationssicherheit gingen vor. Sie öffneten ihm die Schleuse des Schiffes und warteten einen Moment, die Gewehre im Anschlag. Auf ein Nicken Barnims hin betraten sie das fremde Schiff, nachdem ein weiterer Scan ihrer Handgeräte bestätigt hatte, dass die dort herrschende Atmosphäre für Menschen nicht tödlich war.

Silian holte tief Luft, setzte einen Fuß vor den anderen und folgte ihnen. Die Beleuchtung im Inneren des fremden Schiffes war auf ein Minimum reduziert. Es dauerte eine Weile, bis die zwei Männer fündig wurden. „Hierher, Doktor!“

Silian rannte zu ihnen. Ein Humanoide, allem Anschein nach, begraben unter Metallstreben und Platten. Silians Messgerät registrierte schwache Lebenszeichen. Dunkelrotes Blut bildete eine kleine Lache unter dem Kopf des Verletzten, der die Augen geschlossen hatte. Silian kniete sich neben ihm nieder. „Er lebt noch. Aber wir müssen ihn so schnell wie möglich auf die Krankenstation bringen“, sagte er zu Barnim, der ihm mit zwei weiteren Männern vom Sicherheitsdienst gefolgt war. Auch sie trugen die tiefblaue Uniform der Allianz. Ihre Zugehörigkeit zur Sicherheitsabteilung signalisierte ein Emblem auf der linken Brustseite, ihren Rang Streifen auf den Schultern.

„Tun Sie das!“ Barnim ging mit den beiden Sicherheitsleuten im Schlepptau an Silian vorbei und sah sich gründlich um. Ein Schiff dieser Bauart hatte er noch nie gesehen. Es war ungewöhnlich, dass ein Flugobjekt dieser Größe von nur einer einzigen Person gesteuert werden konnte. Zumeist waren mehrere dazu nötig.

Es besaß zwei Decks, welche jeweils in mehrere Sektionen aufgeteilt waren. Auf Deck 1 befand sich im vorderen Teil der Sitz des Piloten mit allen Steuerungen. Dahinter waren weitere Sektionen, die unter anderem Quartiere, eine Arrestzelle und eine kleine Krankenstation enthielten. Auf Deck 2 befanden sich zwei leere Frachträume, eine Waffenkammer, der Maschinenraum und ein Hangar für kleine Schiffe. Doch außer ein paar Vorräten fand Barnim dort nichts. Also ging er wieder nach oben. Die einzig benutzte Schlafkabine … Auch da war nur das Nötigste drin. Er durchsuchte den Schrank und den Haufen mit der dreckigen Wäsche und versuchte Zugriff auf den Bordcomputer zu bekommen, doch es gelang ihm nicht. Er fluchte und verließ den Raum, in dem nichts war, was auf seinen Bewohner schließen ließ. Die Zelle, an der er wieder vorbeiging, schien nachträglich eingebaut worden zu sein. Vielleicht war der Kerl ein Kopfgeldjäger und hatte dieses Schiff von einer fremden Spezies erbeutet und seinen Bedürfnissen entsprechend umgebaut. Irgendwo draußen im All. Es gab einige Planeten, die nicht in der Allianz waren, aber mit denen diese trotzdem Handel trieb oder freundschaftliche Beziehungen pflegte. Nachdem Barnim nichts Interessantes gefunden hatte, seufzte er und ging zurück. Hier gab es für ihn nichts zu holen. Kurz blieb er bei Atlee stehen und sah auf den Verletzten hinunter. Er sah wie ein Mensch aus. Einer der kleinen Roboter fiel Barnim auf die Schulter. Angewidert wischte er ihn mit der Rechten fort. Er hasste diese spinnenartigen Teile mit ihren acht Beinen und den großen Sensor-Augen. Während er sich umdrehte, um wieder auf die Station zu gehen, meinte er noch: „Erstatten Sie mir Bericht, damit ich weiß, wem ich gegebenenfalls diese Rettungsaktion in Rechnung stellen kann!“

Silians Blick bohrte sich tief in seinen Rücken; aber er erwiderte nichts. „Na los!“, wandte er sich an die zwei Männer der Sicherheit, die neben ihm standen. „Helfen Sie mir, diesen Schutt von ihm herunterzubekommen!“

Die beiden folgten seiner Aufforderung nur widerwillig. Anscheinend war diese Tätigkeit unter ihrer Würde.

„Ist das eine Rüstung, die der Kerl trägt, Marlo?“

„Scheint so. Sowas habe ich noch nie gesehen.“

„Ich auch nicht. Macht aber mächtig was her.“

„Hm.“

***

Die tiefe Dunkelheit um Conan lichtete sich langsam. Sein Bewusstsein kämpfte sich zurück an die Oberfläche. Sein Verstand analysierte in rasender Geschwindigkeit alle Eindrücke, die im Sekundentakt auf ihn einprasselten.

Stimmen.

Fremde Stimmen.

Das Hintergrundgeräusch der Maschinen seines Schiffes, das plötzlich verstummte.

Das leise Klackern der Roboterbeine auf dem Metall, das sich anhörte wie Regen.

Sein verbesserter Geruchssinn war für ihn Fluch und Segen gleichermaßen. Ausdünstungen, Düfte;  Schweiß, Sperma, Essen.

Emotionen. Nur vage, fast außerhalb seines Wahrnehmungsbereiches.

Dann überrollten ihn die Schmerzen wie eine Flutwelle und er stöhnte leise auf. Jeder Atemzug war eine Qual, sein Brustkorb fühlte sich an, als läge er unter einer tonnenschweren Last begraben. Seinen Kopf schien jemand in eine Schraubzwinge gespannt zu haben und sein rechtes Bein brannte wie Feuer.

„Hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?“

Kälte auf seinem Gesicht. Eine Hand auf seiner linken Schulter. Kein Alarm mehr. Keine Statusmeldungen der KI.

„Bleiben Sie ruhig liegen! Wir werden Sie gleich hier rausholen und auf die Krankenstation bringen. Ich habe ein Gel auf die Verbrennungen in Ihrem Gesicht aufgetragen und Ihnen Medikamente für den Kreislauf und gegen die Schmerzen gespritzt.“

Das Atmen fiel ihm plötzlich leichter. Vorsichtig öffnete er die Augen. Blinzelte. Trotz der gedämpften Beleuchtung blendete ihn das Licht, sodass er den Kopf zur Seite drehte. Wo hatte die KI des Schiffes ihn hingebracht?

„Wir werden Sie jetzt auf eine Transportliege heben und in die Krankenstation bringen. Haben Sie keine Angst!“

Mitleid. Mitgefühl. Sorge.

Die Schmerzen, die seinen Körper kurz darauf durchfuhren, raubten ihm erneut fast das Bewusstsein. „Wo …?“ Seine Stimme kam einem heiseren Krächzen gleich. Die Schritte der ihn begleitenden Personen hallten von den Wänden wider und schienen seinen Kopf zum Bersten zu bringen. Für einen Moment hielt er die Augen fest geschlossen. Dann holte er tief Luft und öffnete sie erneut. Deckenlichter. Viel zu grell. „Wo bin ich?“

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Mannes zu seiner Rechten. Conan musterte ihn. Sein Gehirn verarbeitete die visuell und auditiv aufgenommenen Informationen rasend schnell. Terraner. Männlich. Vermutlich zwischen 35 und 40 Jahre alt. Etwa 1,70 Meter bis 1,75 Meter. Gewicht etwa 65 Kilo. Kupferne Haare, bernsteinfarbene Augen. Darin kein Argwohn, keine Arglist – selbst ohne dass er ihn berührte. Körperlicher Kontakt war nicht notwendig – aber hilfreich.

„Auf Mojak Two. Eine Raumstation der Allianz. Ich bin Silian Atlee, der Stationsarzt.“

Sie waren in der Krankenstation angekommen.

Von Minute zu Minute konnte Conan klarer denken. Vendix war geflohen. Und er, Conan, befand sich auf einer Raumstation der AFIP. Er lauschte in sich hinein. Die Schmerzen in seiner Brust deuteten auf einige gebrochene Rippen hin. Im schlimmsten Falle waren Splitter in die Lunge geraten, die von den Dämpfen und dem Rauch in Mitleidenschaft gezogen war. Mit seiner Rechten tastete er seine Stirn ab. Eine tiefe Platzwunde, vermutlich verbunden mit einer Gehirnerschütterung. Und was sein Bein betraf, so steckte ein etwa 20 cm langes Verstrebungsstück darin. Aber darüber konnte er sich später Gedanken machen. Jetzt musste er erst einmal sehen, dass er so schnell wie möglich hier rauskam. Dieser Atlee hatte bereits mit einer Blutanalyse begonnen, wie er mit einem Blick feststellte. Wenn die zeigte, wer oder besser was er war, würde er diese Station wahrscheinlich nicht mehr lebend verlassen.

Silian sah auf das Display des Gerätes. Der Zustand seines Patienten war zum Glück stabil. Keine inneren Verletzungen, keine starken Blutungen. Am meisten machte ihm die Lunge sorgen. Er dachte über die nächsten Schritte nach. Sauerstoff …

Die zwei Männer vom Sicherheitsdienst gingen, die Tür schloss sich hinter ihnen. Conan war mit dem Arzt allein. In Sekundenschnelle bewertete er die Situation, schätzte eventuelle Gefahren ein, wog ab und traf eine Entscheidung. Blitzschnell zog er das Messer aus dem rechten Stiefel und setzte es diesem Atlee an den Hals, als der sich gerade über ihn beugte. „Keine falsche Bewegung, oder ich schneide Ihnen die Kehle durch!“, raunte er.

Ein leises Piepen signalisierte, dass die Analyse beendet war.

Silian erstarrte. Das Gesicht seines Gegenübers, entstellt von den Brandblasen und dem teils getrockneten Blut, glich einer Teufelsfratze. „Hören Sie, es ist alles in Ordnung. Ich …“ Er versuchte, beruhigend auf ihn einzureden, wurde jedoch harsch unterbrochen.

„Still!“ Um seine Worte deutlicher werden zu lassen, verstärkte Conan den Druck der Messerklinge. Ohne die Waffe auch nur ein Stück von der Kehle des Arztes zu entfernen, stand er auf. Ein Seitenblick genügte, um ihn erkennen zu lassen, dass das Blut zwar auf Bakterien und Viren überprüft worden war, ein DNA-Abgleich mit der Datenbank der AFIP aber nicht stattgefunden hatte. Zufrieden löschte er mit der freien Hand das Ergebnis und nahm das Röhrchen mit dem restlichen Blut an sich. Dann holte er aus und zertrümmerte mit drei Schlägen seiner Faust das Gerät. Es war unmöglich, alle Spuren seiner Anwesenheit zu verwischen, aber er wollte es ihnen so schwer wie möglich machen. Einen Moment war er versucht, diesen Arzt zu töten, damit er ihm nicht im Weg war. Aber er brauchte ihn. Und außerdem wäre es eiskalter Mord gewesen. Nein, er durfte es nicht tun. Er musste seiner Programmierung widerstehen. Musste seinem Menschsein folgen. Doch das war nicht so einfach. Immer wieder gewann seine Konditionierung die Oberhand und er benötigte Minuten, um sie zu unterdrücken. Er war hin- und hergerissen. Schwach in diesen Momenten. Unberechenbar. Ein Rätsel für sich selbst. „Bringen Sie mich zu meinem Schiff!“

Angst machte sich in Silian breit. Er schluckte nervös. Sein Gegenüber überragte ihn um einen ganzen Kopf und die dunkelbraunen Augen blickten ihn finster an. Dazu das getrocknete Blut auf der silbern schimmernden Rüstung, als käme er soeben aus einer Schlacht. „Ich bin Ihnen sicherlich nur hinderlich. Wenn Sie …“ Die scharfe Klinge verursachte einen winzigen Schnitt an Silians Hals. Er wagte daraufhin nicht einmal mehr, zu schlucken.

Conan roch seine Angst; ein widerlicher, saurer Gestank. „Ich werde mich nicht wiederholen.“

Schließlich setzte Silian einen Fuß vor den anderen. Seine Gedanken überschlugen sich. Sollte er um Hilfe rufen? Sollte er diesen Verrückten angreifen?

Als sich die Tür der Krankenstation öffnete, drehte sich der Wachtposten, den Barnim davor hatte postieren lassen, herum – und lief genau in Conans Messer, das er in einer einzigen fließenden Bewegung von Atlees Hals wegzog und ihm in die Seite rammte – ihn verwundete, aber nicht tötete. Stöhnend brach der Mann zusammen.

Viel zu spät erkannte Silian seine Chance zur Flucht. Doch da lag bereits die Klinge wieder an seiner Kehle.

„Wagen Sie nicht einmal daran zu denken! Sie sind meine Garantie dafür, dass ich hier rauskomme. Gehen Sie vor! Tun Sie so, als wäre alles in Ordnung. Wenn Sie versuchen, zu fliehen, töte ich Sie. Haben Sie das verstanden?“

Silian nickte und ging voran, nachdem Conan das Messer wieder eingesteckt hatte. Man warf ihnen zwar den einen oder anderen erstaunten Blick zu, hielt sie aber nicht auf. Nicht mal eine Wache hatte Barnim beim Schiff postieren lassen.

Conan stieß den Arzt von sich, verfrachtete ihn in der Shadow in die Zelle, die eigentlich für Kaley Vendix vorgesehen gewesen war. Mit einem lauten Krachen schloss er das schwere, massive Schott und hoffte, dass die von der KI gesteuerten Roboter das Schiff in der Zwischenzeit halbwegs instandgesetzt hatten. Zumindest so weit, dass er einen so großen Vorsprung hatte, dass ein Suchtrupp die Energiesignatur der Shadow nicht mehr würde aufspüren können. Doch das war nicht das größte Problem, sondern die Andockklammern, die er nicht lösen konnte.

***

Lieutenant Jonathan Wright rieb sich die Nasenwurzel. Die Anzeigen konnten eigentlich nicht stimmen. Hastig überprüfte er sie noch einmal – aber das Ergebnis blieb dasselbe. Am liebsten hätte er es ignoriert, bedeutete es doch mit Sicherheit großen Ärger. Sehr großen Ärger. Widerstrebend betätigte er das Intercom. „Sir – die Sensoren melden ein Ansteigen der Energie in dem fremden Schiff, das …“

„Was?“ Barnim war in seinem Quartier und hatte sich gerade hinlegen wollen. „Ich komme auf die Brücke.“ Dort angekommen verlangte er einen Statusbericht.

„Laut den Sensoren befinden sich zwei Lebensformen an Bord des Schiffes. Die eine ist eindeutig Doktor Atlee und die andere vermutlich der Verletzte. Ich … Moment, bitte, Sir … Ich bekomme soeben eine Meldung vom Sicherheitsdienst herein. Die Wache vor der Krankenstation wurde verwundet. Es war der Fremde. Und einer der Computer auf der Krankenstation wurde schwer beschädigt.“

Barnim war nicht dumm. Er konnte sich denken, was sich abgespielt hatte und verfluchte sich für seine Kurzsichtigkeit. „Wissen wir inzwischen, wer dieser Mann ist?“

„Nein, Sir!“

Barnim schimpfte. „Raumstation Mojak Two an unbekanntes Schiff. Hier spricht Thomas Barnim, Commander der Raumstation Mojak Two. Ich verlange, dass Sie meinen Offizier sofort freilassen!“

***

Die Audioübertragung, die durch das ganze Schiff hallte, ließ Conan nur müde den Kopf schütteln. Mit einem schiefen Grinsen setzte er sich an das Steuerpult. „Sicher!“ Er startete die Selbstdiagnose der Shadow, während er gleichzeitig versuchte, gegen die immer stärker werdenden Schmerzen in seinem Bein anzukämpfen. Zudem begannen die Brandblasen einzutrocknen und verursachten ein schreckliches Jucken. „Computer, ist es möglich, die Andockklammern zu sprengen?“

„Eine Sprengung würde große Schäden an dem Schiff verursachen.“

Etwas, das Conan sich nicht leisten konnte. Die Reparaturroboter hatten zwar die gröbsten Schäden beseitigt, aber es war nicht zu umgehen, dieses Schiff überholen zu lassen. Der Antrieb lief nur mit halber Leistung und die Lebenserhaltungssysteme standen kurz vor dem Zusammenbruch. „Lösen Sie die Andockklammern, Commander Barnim! Oder ich öffne die Luftschleuse und Sie können sich einen neuen Arzt suchen!“, drohte er.

 „Sie haben hier überhaupt keine Forderungen zu stellen! Sie haben eines meiner Mannschaftsmitglieder verletzt und ein weiteres als Geisel genommen. Sie können froh sein, wenn Sie je wieder ein Gefängnis von außen sehen!“

„Nun, Commander, offensichtlich habe ich dann ja nichts zu verlieren. Wenn Sie also nicht sofort die Andockklammern lösen, werde ich meine Geisel töten. Und falls Sie dann immer noch nicht kooperativ sein sollten, leite ich die Selbstzerstörungssequenz meines Schiffes ein. Was schätzen Sie, wie viel Prozent Ihrer Raumstation würden mit mir in die Luft fliegen? Dreißig? Vierzig?“

***

Barnim gab seinem Kommunikationsoffizier ein Zeichen, die Verbindung zu unterbrechen, was dieser umgehend tat. Wütend starrte er auf den großen Hauptbildschirm auf der Brücke, auf der das fremde Schiff zu sehen war. „Haben wir nähere Informationen über diesen Mann?“ Die Ader an seiner Schläfe pulsierte immer heftiger. In seinen Augen blitzte es auf. Ungeduldig sah er dabei seinen Ersten Offizier Arvid Larson an. Der schüttelte den Kopf. „Er hat den Computer auf der Krankenstation zerstört, ehe ein DNA-Abgleich stattfinden konnte.“

„Verdammt!“ Barnim ging auf und ab. Er war für Atlees Leben verantwortlich. Und für die Personen, die sich auf der Station befanden. Nervös wischte er seine verschwitzten Hände an der Hose der Uniform ab und versuchte vergeblich, den engen Kragen zu lockern. Warum musste das alles ausgerechnet ein Jahr vor seinem Ruhestand passieren? Ein verdammtes Jahr! Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.

„Also gut! Lösen Sie die Andockklammern, Larson!“

„Aye, Sir!“

Kaum hatte er den Befehl ausgeführt, flackerte überall auf der Raumstation das Licht.

„Larson, was ist los?“

Der Erste Offizier suchte fieberhaft nach der Ursache und einer Antwort. Er versuchte eine Verbindung zu Bud Lancaster, dem Chefingenieur, herzustellen. Vergeblich.

***

Ein kaum wahrnehmbarer Ruck ging durch die Shadow, als sich die Andockklammern lösten.

Conan hatte einigen der Nanoboots befohlen, auf der Station für ein wenig Chaos zu sorgen. Mit Glück gewannen sie somit einen Vorsprung.

Sie … Ihm fiel dieser Arzt wieder ein. Er blieb noch eine Weile sitzen und sah auf das Display, bis er sicher war, dass man ihn nicht verfolgte. Dann erhob er sich und ging zu der Zelle; öffnete sie.

Silian saß auf der schmalen Pritsche und stand auf, als die Tür aufging. Er hatte gemerkt, dass sich das Schiff wieder in Bewegung gesetzt hatte. Kam dieser Mann, um ihn zu töten? War er überflüssig geworden? Nur noch ein Hindernis? Die Angst schnürte ihm fast die Kehle zu.

Conan richtete sich zu seiner vollen Größe auf und füllte damit fast gänzlich den Eingang aus. Er war eine imposante Erscheinung. Groß. Breitschultrig – sofern die Rüstung die Wahrheit darunter widerspiegelte und nicht mehr Schein als Sein war. „Ich werde Sie auf dem nächsten Planeten, an dem wir vorbeikommen, gehen lassen.“

Silian blinzelte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. „Danke!“

Als Conan sich zum Gehen wandte, fasste Silian allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte. Egal, was dieser Mann getan hatte, er war Arzt und hatte einen Eid geschworen. „Warten Sie!“

Conan hielt inne. Er drehte sich wieder zu ihm um und sah ihn fragend an.

„Sie … Sie sind verletzt. Sie brauchen … medizinische Versorgung. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, es … es steckt ein … Metallstück in Ihrem Oberschenkel.“ Dem Arzt war es ein Rätsel, weshalb sein Gegenüber noch immer auf den Beinen stand. Jeder normale Mensch wäre längst zusammengebrochen. Und vielleicht … wenn er ihm half … wenn er sich als nützlich erwies …

Der Arzt hatte recht. Er brauchte wahrscheinlich Hilfe bei der Versorgung der Wunde. „Es gibt so etwas wie eine Krankenstation an Bord. Kommen Sie mit!“

Silian folgte ihm. Es war ein kleiner Raum, in dem nicht viel mehr als eine schmale Behandlungsliege und einige medizinische Geräte Platz hatten. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt und sah aus, als wäre es das letzte Mal vor Jahrzehnten benutzt worden.

„Computer, Desinfektionsprogramm!“

Ein feiner, fast unsichtbarer Strahl glitt durch den gesamten Raum und hinterließ glänzende, sterile Oberflächen.

Conan setzte sich auf den Rand der Liege, umfasste das Metallteil, das in seinem Oberschenkel steckte und zog es mit einem Ruck heraus. Achtlos ließ er es fallen. Es klirrte und winzige Blutspritzer bedeckten den Boden und seine Hose. In dem Material seiner Rüstung blieb ein großes Loch zurück. Er löste die Platte und legte sie zur Seite. Blut quoll aus der Wunde.

Silian konnte Muskeln und Sehnen erkennen. Er schluckte und konnte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Dieser Mann …

„Wollen Sie nun die Blutung stoppen oder weiterhin auf mein Bein starren und hoffen, dass ich draufgehe?“

Der scharfe Ton ließ Silian zusammenzucken. Dann suchte er in dem Wirrwarr der veralteten medizinischen Instrumente nach einem geeigneten Gerät. Als er endlich etwas gefunden hatte, begann er mit der Behandlung der Wunde. „Wie heißen Sie?“ Trotz seiner Geiselnahme war Silian nicht ohne Mitleid für diesen Mann. Außerdem fiel ihm ein Kurs ein, den er während seines Medizinstudiums besucht hatte. Psychologie bei einer Entführung: Stelle eine Beziehung zu dem Geiselnehmer her, so dass du nicht mehr anonym bist; umso schwerer fällt es ihm, dich zu töten. Nun, vielleicht war es an der Zeit zu testen, ob sein Dozent recht gehabt hatte.

Conan sah keine Notwendigkeit mehr, seine Identität weiterhin geheim zu halten. Wahrscheinlich hatte der Arzt ohnehin Verdacht geschöpft. „Man gab uns in den Laboratorien von Assandur keine Namen, nur Nummern.“

Atlee hielt mitten in der Bewegung inne. Assandur! Das hieß, dieser Mann war ein … Kurōn, ein Klon, erschaffen, um zu töten.

„Sie können mich Conan nennen. Ich gehörte zur Gamma-b-Versuchsreihe, falls Ihnen das etwas sagt.“

„Nein. Ich … Ich kenne nur einige Gerüchte. Die Allianz schweigt bis heute darüber, was auf Assandur geschah.“ Mit zitternden Händen beendete er seine Arbeit und trat dann einen Schritt zurück. Hatte er sich überflüssig gemacht? Würde dieser Kurōn ihn jetzt töten?