Das Erbe des Greifen - Richard Schwartz - E-Book
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Das Erbe des Greifen E-Book

Richard Schwartz

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Beschreibung

Der zweite Band der »Lytar-Chronik« von Bestsellerautor Richard Schwartz: Die Lytarianer haben Belior, den Kanzler von Thyrmantor und seine Helfer, die Priester des dunklen Gottes Darkoth in Alt Lytar zwar geschlagen. Aber sie wissen, dass der Kampf um die Macht und die Krone von Lytar deswegen noch lange nicht gewonnen ist. Um für den nächsten Angriff gerüstet zu sein, brauchen die Lytarianer sowohl Verbündete, als auch Zeit und vor allem die magische Kraft der Krone. Fieberhaft trifft das Dorf seine Vorbereitungen und auch die Freunde Tarlon, Garret, Elyra und Argor machen sich zum ersten Mal mit unterschiedlichen Aufgaben und getrennt voneinander auf den Weg, um das ihre dazu beizutragen. Und Stück für Stück erfährt dabei jeder von ihnen, welches Vergehens sich ihre Vorfahren vor Jahrhunderten wirklich schuldig gemacht haben und dass auch die Geschichte ihres Agressors Belior und die ihrer Helferin Meliande vom Silbermond eng damit zusammenhängt ...

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Prolog

Als Lamar di Aggio, Gesandter des Reiches und Mitglied des Ordens von Seral, an diesem Morgen die Augen öffnete, bereute er es sofort. Die Nacht zuvor war lang gewesen, der Wein überreichlich geflossen, obwohl einer der besten, den er je getrunken hatte. Sein Kopf pochte, die Sonne schien ihm durch die Schlitze des Fensterladens direkt ins Gesicht und es war zu still. Für einen langen Moment wusste er nicht, wo er sich befand. Hier polterten keine Kutschen über die Pflastersteine, wurden keine Waren lautstark angepriesen.

Lytara. Er befand sich in Lytara, einem Dorf, dessen Namen er vor wenigen Wochen nicht einmal gekannt hatte. Schwerfällig erhob sich Lamar von seinem Lager und gähnte, tappte verschlafen zu dem Waschstand hin und tunkte den Kopf in die Waschschüssel. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und gähnte erneut. Seit drei Tagen lauschte er einem verschrobenen alten Mann, der hier im Gasthaus eine lange Geschichte erzählte, von der Lamar noch nie zuvor etwas vernommen hatte. Eine Geschichte von der Wiedergeburt eines untergegangenen Reichs, einem Zwist der Götter und einem Krieg, den es nie gegeben hatte.

Und dennoch … es hatte einst einen Kanzler mit Namen Belior gegeben und einen Prinzen, der zu jung gewesen war, um zu regieren. Es gab diese zerstörte Stadt weit südlich der Kronstadt von Thyrmantor, vor allem gab es noch immer den Drachen Nestrok, der auch heute noch dem Paladin des Reiches diente. Wenn Lamar in die Kronstadt zurückkehrte, sollte er vielleicht den Mut aufbringen, Sera Sineale aufzusuchen und sie zu fragen, was ihr Drache von alledem noch wusste. Doch es waren die Worte des Prinzen selbst, die ihn am meisten ins Grübeln brachten. Sein Cousin, Prinz Teris.

Cousin war irreführend, denn die Bezeichnung war nichts weiter als eine Höflichkeit, um den Umstand zu vertuschen, dass Lamar im falschen Laken gezeugt worden war. Zum einen verkehrte der Prinz in anderen Kreisen als er, der sich eher als Gelehrter denn als Krieger verstand, zum anderen wusste Lamar nur zu gut, dass der Prinz ihn nicht ausstehen konnte. Als er damals mit schlotternden Knien an den Königshof gekommen war, stand der Prinz schon da und sah verächtlich auf Lamar herab. Ist man sechs Jahre alt, trifft es einen, wenn die Person, die man aus der Ferne bewundert hatte, einen als »Eine Unachtsamkeit meines Vaters« vorstellte. Bis zum heutigen Tage hatte der Prinz sich nicht die Mühe gemacht, sich Lamars Namen zu merken.

In den folgenden Jahren hatten sie wenig miteinander zu tun gehabt, bis in einer Nacht ein königlicher Bote ihn aus dem Bett geholt hatte, um ihn davon zu unterrichten, dass der Prinz ihn zu sehen wünschte. Während des Morgens danach und den größten Teil des Tages war Lamar zu Pferd unterwegs gewesen, um den Prinzen in seinem Sommerpalast aufzusuchen. Kaum angekommen, wurde er sofort zu ihm bestellt.

Schlank, wohlgestalt, mit pechschwarzen Haaren, dunklen Augen und einem sinnlichen Mund, war er der Liebling des Hofes, vor allem die Weiblichkeit war ihm zugetan. Drei Dutzend und acht Jahre alt, war er ein Kriegspferd, das an seinem Geschirr zerrte. Seit Jahren lag sein Vater, der König, krank danieder, doch noch immer hielt er an dem Leben und der Krone fest. Sein Körper mochte ihn im Stich gelassen haben, doch sein Geist war noch so wach wie eh und je. Doch jeder im Königreich wusste, dass es bald mit ihm zu Ende gehen würde.

»Cousin«, hatte der Prinz damals ohne Umschweife begonnen, als Lamar vor ihm auf die Knie ging. »Ihr müsst mir helfen.«

»Jawohl, Hoheit«, hatte Lamar geantwortet. Er war vom Reiten erschöpft gewesen, sein Knie tat weh, er war durstig, es wäre ihm lieber gewesen, hätte er sich nach dem Ritt erfrischen können. Der Prinz indes war für seine Geduld nicht sonderlich bekannt.

»Gestern kam eine dieser Priesterinnen Mistrals zu mir. Sie besaß die Unverschämtheit, mich in meinem Schlafgemach aufzusuchen, und forderte zudem, dass ich ihr meine Aufmerksamkeit unter vier Augen gewähren sollte.« Der Prinz war ruhelos zu einer Anrichte gegangen, wo er sich großzügig einen Wein einschenkte, um dann seiner Verärgerung weiter Ausdruck zu verleihen. »Dass die Priesterschaft zur königlichen Familie einfach so Zugang erhält, war schon immer etwas, das mich störte. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie herablassend sie mich ansah.«

Lamar hatte sich gehütet, dazu Stellung zu nehmen, kniete weiter und hörte zu.

»Sie teilte mir mit, dass es mit dem König zu Ende ginge. Nun müsse man Vorbereitungen für die Krönung treffen. Das war indessen noch der angenehme Part der Nachricht. Jetzt aber teilte sie mir mit, es wäre Tradition, dass der Prinz vor seiner Krönung eine Art Pilgerfahrt zu unternehmen hätte. Er habe ein Dorf im Süden aufzusuchen, eines, das sich Lytara nennt, und dort nach der Krone von Lytar zu fragen. Alles Weitere würde sich ergeben. Ich teilte ihr mit, dass ich für solches keine Zeit hätte. Wie ihr selbst sehen könnt, Cousin Kebel, erwarte ich Gäste.«

»Lamar, Hoheit. Mein Name ist Lamar«, hatte es Lamar gewagt, den Prinzen zu verbessern.

Dieser hatte ihm einen stechenden Blick zugeworfen. »Ich mag es nicht, unterbrochen zu werden, Cousin. Hört zu, dann bringen wir dies schnell zum Ende. Also, diese Priesterin sah über ihre lange Nase auf mich herab und teilte mir mit, dass ich durchaus darauf verzichten könnte, wenn es mir derart wichtig wäre, bräuchte ich nur ein anderes Mitglied der königlichen Familie dorthin zu schicken. Damit erdreistete sie sich, mir den Rücken zuzukehren, und ging ohne ein weiteres Wort davon. Wahrlich, die Arroganz mancher dieser Priesterinnen ist einfach unerträglich.«

Der Prinz nahm einen tiefen Schluck. »Diese eine war fast so unerträglich wie die Sera Sineale, die immer gerne darauf beharrt, der Paladin meines Vaters zu sein und nicht der meine! Ich schwöre Euch, Cousin, die Frau kann mich nicht leiden!«

Auch hierzu hatte sich Lamar jeden Kommentar gespart. Dem Gerücht nach war die Geschichte wenig rühmlich für den Prinzen gewesen, es hieß, er habe ihr ein eindeutiges Angebot unterbreitet, woraufhin sie ihn ausgelacht habe.

»Wie auch immer«, hatte der Prinz den Faden wieder aufgenommen. »Ihr seid mit mir verwandt, also werdet Ihr Euch dorthin begeben und nach dieser Krone fragen. Lasst sie Euch aushändigen und bringt sie mir. Einfach genug. Ihr dürft Euch entfernen.«

Mühsam hatte sich Lamar erhoben, seit einem Sturz neigte sein rechtes Knie dazu, schnell zu schmerzen. »Eines noch«, hatte der Prinz hinzugefügt, während er sich vom Wein nachschenkte. »Die Greifenlande sind tiefste Provinz, weit im Süden gelegen. Die Leute dort sind eigenbrötlerisch, zeigen wenig Respekt vor dem Adel und besitzen nur wenige Manieren. Ein unzivilisiertes Pack. Wundert Euch also nicht, wenn man Euch im Kuhstall schlafen lässt.«

Mit diesen Worten war Lamar endgültig entlassen gewesen.

Während sich Lamar ankleidete, sah er sich in dem großzügig ausgestatteten Raum um. Dieser war sauber und gepflegt, nur gab es keine polierten Möbel, auch die Brokattapeten konnte man vermissen, und die Seife neben der Waschschüssel roch nur leicht nach Rosen. Bislang hatte er hier nicht einen einzigen Menschen gesehen, der eine Perücke trug, und wenn die Leute sich unterhielten, verzichteten sie darauf, sich über den neuesten Klatsch bei Hofe die Mäuler zu zerreißen. Lamar zog sein Hemd zurecht und erlaubte sich ein kleines Lächeln. Wie der Prinz schon sagte, ein unzivilisiertes Pack! Als er die Treppe zum Gastraum hinunterstieg, kam ihm ein kleines Mädchen entgegen und strahlte ihn an. »Guten Morgen und der Göttin Gnade mit Euch, Lamar«, rief sie fröhlich und mit blitzenden Augen. Sie griff nach seiner Hand und zog ihn fast hinter sich her. »Wir warten alle schon darauf, dass Ihr kommt, Großvater sagt, er würde nicht weitererzählen, bevor Ihr nicht da seid!«

»Auch Euch einen guten Morgen, Saana«, antwortete Lamar, dem es schien, als habe alleine schon das Lächeln des jungen Mädchens den größten Teil seines Kopfschmerzes genommen. »Erlaubt Ihr mir, zuerst mein Frühstück zu mir zu nehmen?«

»Warum nicht?«, lachte Saana. »Er kann ja erzählen, während Ihr speist.« Sie stieß die Tür zur Gaststube auf. »Er ist da! Großvater, wie ging es weiter?«

Wie bereits am Vortag war der Gastraum voll, es herrschte eine beinahe festliche Stimmung. Der große Raum bot vielen Leuten Platz und fast jeder Tisch war gut gefüllt, nur an einem, in der Mitte des Raumes, stand ein freier Stuhl für ihn. Der grauhaarige Geschichtenerzähler unterhielt sich gerade mit einer jungen Frau, die lächelnd aufsah, als Saanas Stimme ertönte.

»Dort ist sie!«, sagte der alte Mann lächelnd. »Sie ist uns also nicht verloren gegangen!«

»Ich habe Lamar wecken wollen, Mama«, teilte Saana den im Gastraum Versammelten fröhlich mit. »Aber er war schon wach!« Freundliches Gelächter empfing Lamar, und auch wenn er einige Gesichter sah, die ihn seltsam prüfend musterten, blickten ihm doch die meisten mit einem aufgeräumten Lächeln entgegen. Am Anfang war dies anders gewesen, da war ihm ein jeder hier fremd erschienen. Doch jetzt, nachdem sie alle schon drei Tage lang der Geschichte des alten Mannes gelauscht hatten, hatte sich das geändert, hier und da erhielt Lamar sogar ein wohlgesinntes Nicken zur Begrüßung, und der Wirt selbst zog ihm mit einem breiten Grinsen den Stuhl heraus.

»Frische Eier, gerösteten Speck und der Tee, der Euch so gut geschmeckt hat, Ser«, teilte ihm der Wirt zuvorkommend mit. »Ich hoffe, es schmeckt Euch weiterhin … der Segen der Göttin Euch und diesem Mahl.«

»Guten Morgen, Ser! Ihr solltet wirklich zugreifen«, meinte der alte Mann und brach sich einen Kanten frischen Brots ab. »Es ist gut und Ihr solltet nicht zu lange zögern, denn heute Morgen habe ich einen mächtigen Appetit!«

Eines war sicher, hier in Lytara nahmen die Leute ihre Geschichtenerzähler ernst.

Nicht ein einziges Mal hatte der alte Mann für seinen Wein und das Essen zahlen müssen, und auch jetzt war der Tisch noch reichlich gedeckt, auch wenn der alte Mann sich schon deutlich an den Eiern und dem Schinken gütlich getan hatte.

Vor wenigen Tagen noch hätte sich Lamar brüskiert gefühlt, doch jetzt lächelte er nur und nahm sich selbst ein Stück des Brots. Er griff nach dem Buttertiegel und hielt inne. In den letzten Tagen hatte er sich daran gewöhnt, dass ihm ein großer Teil der Aufmerksamkeit der Leute hier galt, doch jetzt schien es ihm, als würden sie etwas von ihm erwarten. Auch der alte Mann sah ihn abwartend an.

»Mistrals Segen für dieses Mahl«, bat Lamar nach kurzem Zögern. Offenbar hatte er die richtigen Worte gefunden, denn hier und da nickten die Leute zustimmend und ihr Lächeln wurde offener.

»Können wir jetzt weitermachen?«, fragte Saana aufgeregt. »Was ist denn jetzt mit Argor und Knorre geschehen?«

»Immer langsam«, lachte der Geschichtenerzähler. »Lass doch Ser Lamar erst zur Ruhe kommen.«

»An mir soll es nicht liegen«, lächelte Lamar und tropfte Honig auf sein Brot. »Ich bin genauso gespannt wie die junge Sera hier!« Er zwinkerte ihr zu und sie lachte. Es war seltsam, dachte Lamar, aber es konnte gut sein, dass Prinz Teris ihm zum ersten Mal in seinem Leben einen Gefallen getan hatte, indem er ihn hierher geschickt hatte.

»Nun«, begann der alte Mann. »Gestern erzählte ich, wie Argor, der Sohn unseres Radmachers Ralik, und Knorre, der Arteficier, ihr eigenes Leben nicht achtend, den alten Staudamm zum Bersten brachten und die Truppen des Grafen Lindor in die See spülten. Zugleich aber, und das sollte sich als um vieles wichtiger erweisen, nahmen sie auch der Verderbnis, die so lange die alte Stadt verseuchte, die Macht.

Wie so oft, wenn Tragisches geschieht, nahm das Wetter keine Rücksicht darauf, denn der Morgen des nächsten Tages versprach einen blauen Himmel und am Himmel kreisten die Möwen … Niemand vermochte indessen, dies als gutes Omen zu sehen. Waren die Möwen doch gekommen, weil ihnen auf dem Platz vor der alten Börse ein überreichliches Mahl geboten wurde …«

»Hat jemand Brotkrumen verteilt?«, fragte Saana neugierig.

»Nicht ganz«, sagte der alte Mann und hob sie auf sein Knie. »Es gab nur viel für sie zum Essen.« Für einen Moment verdüsterte sich sein Gesicht, aber dann lächelte er wieder, als seine Enkelin sich an seinem Wams verkrallte, um sich bequemer auf sein Bein zu setzen. »Und was ist nun mit Argor und Knorre?«, fragte sie.

»Gleich«, lächelte der alte Mann. »Hab etwas Geduld, Prinzessin, denn die Geschichte fängt nun mal an diesem Morgen in der alten Stadt an. Durch Argors und Knorres Tapferkeit hatte die Nacht einen großen Sieg gebracht, doch als die Sonne aufging, war der Preis dafür überdeutlich zu sehen.« Er zögerte etwas und sah zu Saanas Mutter hin.

Diese nickte. »Sie wird es wissen wollen«, sagte sie leise.

»Gut«, fuhr der alte Mann fort. »Am nächsten Morgen also gingen Meister Pulver, unser Alchemist, und Ralik, unser Radmacher, Argors Vater, von der Anhöhe, auf der wir unser Lager aufgeschlagen hatten, hinunter zu dem großen Platz vor der Börse, um sich ein Bild von der Lage zu machen …«

1 Der Preis des Krieges

»Wir müssen sie verbrennen«, sagte Ralik Hammerfaust mit einer Stimme so rau wie berstender Fels. Er hob den schweren Kriegshammer, der noch vor wenigen Tagen der ganze Stolz seines Sohnes Argor gewesen war, und ließ den Hammerkopf mit einem metallenen Scheppern in die gepanzerte linke Hand fallen. »Wenn wir das Geschmeiß nicht entsorgen, bringen sie uns noch eine Seuche.«

Pulver sah besorgt auf seinen alten Freund herab. Der schlanke, fast schlaksige Alchemist und der breitschultrige Zwerg waren ein ungleiches Paar und doch seit Langem befreundet. So wie jetzt hatte Pulver den stämmigen Zwerg jedoch noch nie erlebt.

Ralik trug einen schweren Helm mit verstärktem Kinnschutz, dieser und der kräftige, dunkelblonde Bart machten es fast unmöglich, die Miene des Radmachers zu lesen. Die grauen Augen, im Schatten des Helmrands nur schwer zu erahnen, waren hart wie polierte Flusskiesel.

»Sie sind erst seit gestern tot, Ralik«, gab Pulver bedächtig zurück. »Es hat noch etwas Zeit. Findest du nicht, dass du vielleicht besser …«

»Was denkst du dir, alter Freund«, unterbrach ihn der Zwerg und sah zu Pulver hoch. »Soll ich zu Elyra gehen und vor ihr weinen? Soll ich mir den Bart zerraufen und meinen Schmerz in die Welt hinausschreien? Meinst du, dies wäre sinnvoll?« Er schüttelte langsam und unerbittlich den Kopf. »Ich werde genug Zeit zum Trauern haben, wenn dies hier getan ist.« Mit einer abrupten Geste hob er den Hammer und zeigte mit dem matt glänzenden Stahlkopf auf den mit Schlamm, Geröll und Toten bedeckten Platz vor ihnen. »Sie liegen hier und werden verrotten. Aber jeder Einzelne von ihnen hat etwas, das wir brauchen.«

Pulver sah hoch zu dem geborstenen Damm links von ihnen. Seit Jahrhunderten schon war er geborsten, doch gestern Nacht hatte der Sohn des Radmachers zusammen mit einem anderen Mann, einem Arteficier namens Knorre, den Pulver gerne kennengelernt hätte, den Damm gänzlich zum Bersten gebracht. Was von dem Damm noch stand, sah aus, als habe ein Riese mit einem Hammer darauf eingeschlagen. Eine breite Spur der Zerstörung führte von dem Damm über den alten Platz hinaus in die See, wo sich einst der Hafen der alten Stadt befunden hatte. Nur ein paar schiefe Masten zeugten noch von den mächtigen Schiffen, die hier vor Kurzem noch vor Anker gelegen hatten.

So groß war die Wucht der Wassermassen gewesen, dass sie sogar die tonnenschweren Steinblöcke, aus denen der Damm einst errichtet worden war, weit vor sich hergetragen hatte. Einer dieser Blöcke hatte es sogar fast bis zu den mächtigen Toren der alten Börse getragen, die als einziges Gebäude noch stand.

Achtlos, wie Puppen hier und dort verstreut, lagen die Toten Beliors auf dem Platz, bedeckt von einer dünnen Schlammschicht, die jedoch nicht ausreichte, um die Gesichtszüge der Toten zu verbergen. Seit dem Morgen waren Leute aus dem Dorf und gut zwei Dutzend der Söldner, die sich Lytara in ihrem aussichtslosen Kampf angeschlossen hatten, dabei, die Toten von Waffen und Rüstungen zu befreien.

Alles, was verwertbar war, kam auf einen von Hernuls großen Wagen, die Toten selbst wurden nahe dem Hafenrand auf einen großen Haufen geworfen, der stündlich höher wuchs. Noch roch es hier nach Wasser, Schlamm und salziger Seeluft, doch es war Sommer, lange würde es gewiss nicht dauern, bis der Geruch des Todes allgegenwärtig war.

»Ich weiß, Ralik, aber …«, begann Pulver, doch der Zwerg ignorierte ihn.

Mit schweren Schritten stampfte Ralik voran und blieb vor einem der toten Soldaten stehen. Eine Krähe hüpfte zur Seite und sah den Zwerg protestierend an, dann wandte sie sich einem anderen Opfer zu, es gab ja genug von ihnen. Ralik bückte sich und griff den Gefallenen am Arm, drehte ihn auf den Rücken. Der Schlamm hatte sich wie eine Maske über das Gesicht des Toten gelegt, unmöglich zu erkennen, ob der Mann jung oder alt gewesen war. Pulver war froh darum. In den letzten Tagen hatte er mehr als genug vom Tod gesehen.

»Die meisten von ihnen wird es in die See hinausgespült haben«, bemerkte der Zwerg nun und ließ den Arm des Toten los, der nur langsam herabsank, die Leichenstarre hatte sich noch nicht ganz wieder gelöst. »Es bleiben dennoch Hunderte.« Er sah auf den toten Soldaten herab. »Schau, wie gut er gerüstet ist«, sagte er dann. »Wir brauchen diese Rüstungen und Waffen. Wir haben zu wenig davon.« Er blickte zu Pulver. »Du brauchst auch eine. Deine Lederjacke dürfte wohl kaum ein tauglicher Schutz gegen einen Schwertstreich darstellen.«

»Ich habe nicht vor, einem Schwert im Weg zu stehen«, sagte Pulver sanft. »Niemand widerspricht dir, Ralik. Wir wissen alle, dass es getan werden muss. Nur nicht jetzt, nicht heute. Nicht von dir.« Er sah zum Horizont, wo die Sonne nur noch einen Finger breit über dem bleiernen Meer stand. »Es wird bald dunkel, Freund Ralik. Wir brauchen deine Weisheit im Rat, dort bewirkst du mehr, als wenn du hier Leichen plünderst.«

Die buschigen Augenbrauen des Radmachers zogen sich unter seinem Helm zusammen. »Was erwartest du von mir, Pulver? Dass ich dem Rat Mut mache? Dass ich mich hinstelle und ihnen sage, was für ein glorreicher Sieg dies war?«

»Aber es war ein Sieg. Ein wichtiger Sieg«, entgegnete Pulver leise. »Wenn dein Sohn nicht …«

Doch der Zwerg hörte nicht zu, sah nur über den schlammbedeckten Platz vor ihm. »Er ist hier irgendwo«, sagte Ralik dann rau und griff seinen Hammer fester. Er sah zu Pulver hoch. »Geh vor, Freund. Ich komme nach, wenn ich ihn gefunden habe.«

»Der Preis des Krieges«, meinte Lamar nachdenklich.

»In der Tat«, nickte der alte Mann und nahm einen tiefen Schluck von seinem Tee. »Selbst ein Sieg kann bitter sein.«

»Er suchte dort also seinen Sohn. Das muss für Ralik schwer gewesen sein. Wo hat er ihn gefunden?«

»Er fand ihn nicht«, erklärte der Geschichtenerzähler. »Es sollte noch länger dauern, bis er die frohe Kunde erhielt.«

»Er hat lange gedacht, Argor wäre tot?«, fragte Saana traurig.

»Ja, Prinzessin.«

»Hat er viel geweint?«

Der alte Mann nickte. »Ich bin mir sicher, dass er es tat«, meinte er dann. »Nur war er stolz und wollte nicht andere mit seinem Schmerz belasten. Ralik war ein tapferer Mann, doch eine solche Prüfung ist für jeden Vater zu hart.«

»Aber Argor lebt noch, nicht wahr?«, fragte Saana ungeduldig. »Ich will jetzt nichts mehr von den Toten hören! Erzähl von Argor und Knorre!« Sie zog am grauen Haar des alten Mannes. »Bitte! Ich mag Knorre, er ist verrückt!«

»Na, wenn das so ist …«, lachte der Großvater. »Erinnerst du dich noch, was Argor sah, als das Wasser über ihn stieg?«

»Ein Licht«, lachte Saana. »Und jemand reichte ihm die Hand! Wer war es denn?«

»Hast du dir das nicht denken können?«, schmunzelte der alte Mann.

»Es war bestimmt Knorre!«, meinte Saana überzeugt. »Oder die Frau vom Brunnen.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte der alte Mann überrascht.

»Nur so«, antwortete Saana. »Was war jetzt mit Argor und Knorre?«

»Nun«, begann der Geschichtenerzähler. »So eine mächtige Magie, die in einem tiefen Wasser Zwerge retten kann, ist nicht alltäglich. Zudem darf man nicht vergessen, dass es eine alte Magie war … und nicht dafür gemacht. Dennoch wirkte sie, doch nicht ganz so, wie man es sich hätte erhoffen können.« Er lachte. »Es kommt noch dazu, dass Argor das Wasser nie sonderlich leiden konnte …«

2 Stein, Wasser und Magie

Als Argor erwachte, dachte er, seine Lungen beständen aus flüssigem Feuer. Würgend und hustend krampfte er sich zusammen, zog mit Mühe und Not gerade genug Luft ein, um atmen zu können, während seine Lungen gegen jeden Atemzug protestierten und sein Herz raste, als wäre er zehn Wegstunden ohne Unterlass bergauf gerannt.

Neben ihm wälzte sich hustend und spuckend Knorre, immer noch seinen weißen Stab in der Hand. Elmsfeuer liefen von dem Stab über Knorre, den jungen Zwerg und den halb zerfallenen Raum, in dem sie sich wiederfanden. In der Ferne hörte Argor jemanden schreien, nur im Moment war es ihm herzlich egal, sein Magen hob sich und er hustete zugleich mit seiner armen Seele auch noch einen neuen Schwall Wasser heraus.

»Wie … Wieso leben wir?«, keuchte er dann und brachte sich mühsam in eine sitzende Position. Der Raum, in dem sich beide befanden, war kreisrund und nicht weniger als sieben Schritt im Durchmesser. Ganz gewiss ein Turmzimmer, das deutlich unter dem Zahn der Zeit gelitten hatte, hier und da fehlte ein Dachziegel, bei vier der sechs Fenster befand sich kein Glas mehr im Rahmen.

Knorre wollte wohl etwas sagen, bekam allerdings erst einmal keinen Ton heraus, als auch ihn ein Hustenanfall erschütterte.

»Magie«, röchelte er dann, »im Stab!«

Das, dachte Argor säuerlich, hätte er sich auch selbst denken können, schließlich tanzte noch immer das Elmsfeuer über Knorres Stab und erlosch nur langsam.

Argors Lungen brannten wie Feuer, immer noch zogen sie sich krampfend zusammen, um den letzten Rest Wasser aus ihm herauszudrücken, und er war derart schwach, dass er nichts weiter tat, als dazusitzen und abzuwarten, ob ihn das Wasser nicht doch noch umbrachte … auf jeden Fall fühlte er sich zum Sterben elend.

Knorre indes hatte sich zur Seite und auf den Bauch gewälzt und begann auf allen vieren durch den Raum zu kriechen, einen Moment sah Argor ihm nur stumpfsinnig dabei zu und fragte sich, was das wohl sollte, dann fiel ihm wieder ein, dass Knorre sich im Staudamm das Bein gebrochen hatte. Damit kam ihm dann auch die ganze Erinnerung wieder. Argor stöhnte leise auf und schloss erschöpft die Augen.

Götter, es war ihm absolut unverständlich, wieso er sich hier befinden konnte, seine letzte Erinnerung war die, wie die Treppe im Schacht weggebrochen war und das Wasser anstieg. Wie er inmitten herabfallender Steine und eines berstenden Damms … gestorben war!

Doch dann erinnerte er sich wieder an den Lichtschein und die harte Hand, die ihn ergriff. Wie auch immer er es bewerkstelligt hatte, es war wohl Knorre, der ihn im letzten Moment mit der Magie seines Stabs aus den Tiefen des alten Staudamms gerettet hatte.

Der hagere Arteficier hatte den weißen Stab in einem Tempel der Mistral in den toten Händen eines Großmeisters der Magie des alten Lytars gefunden und an sich genommen. Doch bereits bei dem Versuch, ihn am Altar der Göttin aufzuladen, war etwas schiefgegangen. Damals wäre Argor beinahe einer sich öffnenden Erdspalte zum Opfer gefallen und selbst jetzt noch war er sich nicht sicher, ob es von Knorre eine gute Idee gewesen war, den Stab an sich zu nehmen. Auf der anderen Seite, dachte der Zwerg und spuckte Wasser aus, lebte er noch, ein wenig versöhnte ihn das durchaus mit der Magie. Dennoch, der Stab war einfach zu mächtig, und selbst Knorre waren die meisten der in den Stab gebundenen Magien unbekannt und unverständlich.

Wenn das hier ausgestanden war und er sich wieder mehr wie er selbst fühlte − und nicht wie etwas, das eine streunende Katze durch eine Pfütze gezogen hatte −, sollte er sich bei Knorre bedanken. Aber nicht, bevor er getrocknet war!

Knorre hatte es zwischenzeitlich vermocht, eines der Fenster zu erreichen, und zog sich gerade am Rahmen hoch, einen Moment sah er hinaus, dann ließ er sich wieder herabsinken und lehnte sich an die Wand unter dem Fenster. Er schien nicht erfreut über das, was er soeben gesehen hatte.

»Und?«, hustete Argor. »Wo sind wir?«

»In Berendall. In der Kronburg von Berendall. In einem alten Turm nahe der Kronburg.« Knorre verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »In dem Turm, den die Leute hier den Geisterturm nennen. Und dort unten rennen sie umher wie aufgescheuchte Hühner.« Knorre musste wegen eines Hustenanfalls unterbrechen, es dauerte, bis er mit rauer Stimme weitersprach. »Noch trauen sie sich nicht, hier oben nachzusehen, aber spätestens, wenn einer von Beliors Leuten davon hört, wird sich das ändern.«

Argor sah ihn fassungslos an.

»Berendall? Das ist doch die Hafenstadt im Norden?«, fragte er dann entgeistert. »Wir können nicht dort sein!«

»Ach?«, meinte Knorre. »Und warum nicht?«

»Weil, weil … weil das unmöglich ist!«

»Wenn Ihr es sagt, Freund Zwerg«, meinte Knorre. »Aber vielleicht könntet Ihr so tun, als könnte es so sein. Denn wenn es so wäre, könnte ich nämlich etwas Hilfe gebrauchen.«

»Wobei?«, fragte Argor.

»Uns zu verstecken, wenn jemand die Treppe hinaufkommt … ich habe damit so meine Schwierigkeiten. Mein Bein ist gebrochen!«

Argor blinzelte. »Richtig«, stellte er dann fest. »In der großen Halle des Staudamms ist Euch eine Metallplatte auf das Bein gefallen, ich erinnere mich!«

»Das ist erfreulich«, antwortete Knorre etwas spitz. »Schön, dass es Euch wieder eingefallen ist. Hört Ihr das?«

Argor legte den Kopf schief, in der Ferne waren schwere Schläge und das Geräusch von berstendem Holz zu hören. »Ja. Was tun die da?«

»Sie brechen die Tür zum Turm auf«, erklärte Knorre. »Wenn Ihr Euch jetzt also aufraffen wollt, mir zu helfen, damit wir uns verstecken können, wäre ich Euch dafür dankbar!«

»Ihr wollt, dass wir uns verstecken?«, fragte Argor und sah sich ungläubig um. »Gerne, nur wie? Hier gibt es keine Möglichkeiten dazu!«

»Doch«, widersprach Knorre. »Nur dürfte es Euch wohl kaum gefallen!«

»Also haben sie überlebt!«, rief Saana erfreut. »Das haben sie«, sagte der alte Mann mit einem Lächeln und hob sie kurz hoch, um sie an sich zu drücken, bevor er sie an ihre Mutter zurückgab, die sie zu einem Tisch an der Seite brachte. Saana wäre wohl lieber noch bei ihrem Großvater geblieben, doch diesmal befand die Mutter, dass es genug wäre.

»Sie sind nicht die Einzigen gewesen, die überlebten, nicht wahr?«, fragte Lamar. »Habt Ihr nicht erzählt, dass der Graf Lindor mit seinem Drachen davonflog? Wie ist es ihm ergangen?«

»Nun, auch wenn der Drache sich nicht ganz von dem Pfeil erholt hatte, den ihm Garret Grauvogels Großvater ins Auge schoss, so sind Drachen doch recht zähe Biester. Der Graf selbst wusste auch, dass der Kanzler von Thyrmantor wenig erfreut sein würde. Dennoch zögerte er nicht, zu ihm zurückzufliegen, um ihm Bericht zu erstatten. Dennoch denke ich, dass Lindors Gedanken während des langen Flugs wohl weniger bei Belior verweilten als bei dem Prinzen, dem Belior der Regent war. Als Lindor in der Kronstadt landete, erwartete ihn bereits die Order, beim Kanzler vorstellig zu werden.«

»Der wusste schon davon?«, fragte Lamar überrascht.

»Ja«, antwortete der alte Mann knapp. »Belior wusste vieles, was er nicht hätte wissen dürfen. Aber auch dazu später mehr. Hier kehrte nun also Graf Lindor, der selbst der Vernichtung seiner Regimenter nur knapp entronnen war, zu einem Mann zurück, der wenig Scheu davor zeigte, jemanden wegen nichtigerer Dinge hinrichten zu lassen.«

»Ich kann den Grafen nicht mögen, aber er war wohl ein tapferer Mann«, meinte Lamar nachdenklich.

»Bildet Euch ein eigenes Urteil, Ser«, gab der alte Mann etwas kühler als erwartet zurück. »Was ich nun erzähle, erfuhren wir erst um vieles später. Ob es sich jedoch wirklich so zugetragen hat, kann ich Euch nicht sagen.« Der alte Mann zuckte die Schultern. »Hört einfach zu …«

3 Ein neuer Befehl

Belior, Kanzler des mächtigsten Reichs der bekannten Weltenkugel, stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah auf den Rosengarten hinaus, den die Großmutter des Prinzen vor vielen Jahren hatte anlegen lassen. Hinter ihm, auf ein gepanzertes Knie niedergelassen, den Kopf tief gebeugt, erstattete Graf Lindor dem Kanzler Bericht über die Geschehnisse in Lytar. Wie üblich trug der Kanzler eine schmucklose schwarze Hose, Stiefel und Wams, das schwarze, volle Haar war akkurat auf Schulterlänge getrimmt, und als einziges Zeichen seiner Macht lag ihm die schwere goldene Kette auf der Brust, das Zeichen seines Amtes als Kanzler von Thyrmantor.

Ohne auch nur die geringste Regung hörte der Regent zu, wie der Graf die mächtige Welle beschrieb, die seine Truppen in das Meer gespült hatte, nur einmal strich er sich über den sorgsam gestutzten Bart.

Am Ende seines Berichts angelangt, verharrte der Graf und schwieg. Langsam drehte sich Belior um und sah auf den knienden Grafen herab.

»Ihr habt mich erneut bitter enttäuscht«, sagte er in einem kalten Tonfall. »Ich hielt mehr von Euch. So wie es scheint, seid Ihr mir und Eurem Prinzen doch nicht von so viel Nutzen, wie man mir glauben machen wollte … Ihr wisst, was mit jenen geschieht, deren Nutzen mir gering erscheint?«

»Ja, Ser«, sagte Lindor, der damit beschäftigt war, seine Überraschung zu verbergen. Der Graf hatte mit einem Wutanfall Beliors gerechnet, nicht aber mit dieser kühlen Reaktion. Dennoch zweifelte er nicht daran, dass sein Leben nun verwirkt war, und hatte bereits auf dem Weg hierher damit abgeschlossen. Er konnte nur hoffen, dass die Götter ihm gegenüber Gnade walten lassen würden.

Eine Weile schwieg der junge Mann am Fenster.

»Graf Lindor, was soll ich nur mit Euch machen«, sagte er dann in scheinbar bedauerndem Tonfall. »Ihr und Euer Drache habt mir weitaus mehr Sorgen bereitet, als ich es je für tragbar gehalten hätte. Als ich von den Vorfällen hörte, wünschte ich mir nichts mehr als Euren Kopf auf einem Spieß. Wie soll ich Unfähigkeit dulden, wenn es darum geht, die Geschicke der Welt zu ordnen? Zu meiner Überraschung fand sich jedoch ein unerwarteter Fürsprecher, der mich bewog, Euch zu gestatten, Euren Fehler wiedergutzumachen.« Er wartete, doch Lindor regte sich nicht.

»Ihr seid nicht überrascht?«, fragte der Kanzler. »Wollt Ihr nicht wissen, wer Euer Fürsprecher ist?«

»Ja, Herr«, antwortete Lindor und hielt es diesmal für angebracht, zu gleichen Teilen sowohl Angst als auch Hoffnung in seine Stimme zu legen, Futter für die Gier des schlanken Mannes.

»Kommt herein, Kriegsmeister«, sagte Belior nachlässig. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich mit einem leisen Knarren. »Ihr dürft Euch erheben, Graf«, fügte er hinzu. »Dies geht Euch etwas an.«

Lindor richtete sich schweigend auf. Sein linkes Bein war eingeschlafen, da er so lange gekniet hatte, aber nichts davon zeigte sich in seinem schmalen Gesicht. Dennoch fiel es ihm schwer, sich nichts von seiner Überraschung anmerken zu lassen, denn dort stand der Kriegsmeister vor ihm. Eines jener echsenähnlichen Wesen, die seit einiger Zeit in den Diensten Beliors standen. Das letzte Mal, als er dieses Wesen gesehen hatte, war es gerade von der Sturzflut aus dem Staudamm erfasst worden, um im nächsten Moment an den Steinen der alten Börse zerschmettert zu werden. Dass der Kriegsmeister überlebt hatte, schien ihm gänzlich undenkbar und doch stand das Wesen vor ihm. Lindor meinte sogar, in den unmenschlichen Augen so etwas wie Spott erkennen zu können.

»Euer Herrsscher brauchte nur einen kleinen Hinweiss von mir, um zu ssehen, dass Ihr ihm einen großen Diensst erwiessen habt«, sagte das Wesen, fast ohne zu lispeln. »Schließlich offenbarte sich auf diesse Weisse, wo ssich der Schatz von Lytar befindet … in den Händen dieser Dorfbewohner! Vielleicht war es sogar die Macht der Krone, die den Staudamm bersten liess, einess ist jedoch ssicher: Diese Menschen aus dem Dorf wissen, wo ssich die Schätze Lytarss befinden. Es ist zu Eurem Vorteil, dass ssie wohl nicht wissen, wie man ssie benutzt, denn nur einer der Kriegsfalken Lytars wurde bisher gessichtet. Doch diess bedeutet auch, dass ess nun nicht mehr vonnöten isst, die alte Stadt zu durchforssten. Ganz gewiss wird man Euch zeigen können, wo ssich die alten Kriegssmaschinen befinden, sso Ihr nur nachdrücklich genug fragt.« Ein zischelndes Geräusch entsprang der Kehle des Kriegsmeisters, es war, wie Lindor nun wusste, nicht mehr als das Lachen des Kronoks. »Hättet Ihr auf meinen Rat mehr Wert gelegt, Graf, und mir die beiden Menschlinge zur Befragung übergeben, wer weiss, vielleicht wäre es nicht nötig gewessen, in Schande zu Eurem Herrn zurückzukehren!«

»Das mag so sein«, antwortete Lindor, als er fühlte, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde. »Ich jedoch hege Zweifel daran. Es waren die Blitze eines Gewitters und nicht eine magische Macht, die den Staudamm zerstörten!«

»Oder eine Form der Magie, die weit jenseits dessen liegt, was sich Euer armseliger Geist vorzustellen vermag, Graf«, ergänzte Belior spöttisch. »Nun, wie dem auch sei, es ist vorbei. Neue Aufgaben warten auf Euch, Lindor. Der Kriegsmeister erwähnte mir gegenüber ein kleines Problem, das es zu lösen gilt. Ebenjenes Problem ist Eure Gelegenheit, mir Euren Wert zu beweisen. Es gibt, wie Ihr wohl wisst, nördlich von Lytar eine kleine befestigte Stadt an der Küste. Berendall. Mir scheint, Ihr wäret es selbst gewesen, der mir vor einiger Zeit vorschlug, diese Stadt uns untertan zu machen.« Der Kanzler lächelte in kühler Erheiterung. »Wenn ich mich recht erinnere, nanntet Ihr diesen Marktflecken einen Ort von hoher strategischer Bedeutung und wagtet sogar, mir zwei Mal zu widersprechen, als ich Euch mitteilte, dass das, was ich suchte, nicht dort läge. Doch jetzt hat sich die Lage geändert, und Ihr werdet mir diesen Marktflecken zu Füßen legen!«

Der Kanzler sah hinüber zu dem Kriegsmeister, der wieder zischelnd lachte.

»Nun, Graf«, meinte die Echse jetzt. »Durch Euer unbedachtes Handeln isst der alte Hafen von Lytar nicht mehr für unssere Schiffe nutzbar. Wäre ess möglich, würde ich mich sselbst um die Befriedung diesser Stadt kümmern, doch ihr Menschen sscheint eine gewisse Abneigung gegen mich und meine Eibrüder zu hegen! Eure Aufgabe wird ssein, den Grafen von Berendall davon zu überzeugen, ssich dem Banner von Thyrmantor zu beugen.«

»Drei Wochen«, sagte Belior nun. »Drei Wochen habt Ihr Zeit, mir zu beweisen, dass Ihr und Eure Bestie imstande seid, eine solch einfache Aufgabe zu lösen. In vier Wochen wird meine Flotte in Berendall eine Armee anlanden, die diese Stadt nehmen oder halten wird, je nachdem, ob man uns die Tore öffnet oder nicht! Eine weitere Woche danach läuft die Flotte ein, die Euch die Truppen bringt, die Ihr benötigt, um diesen Dörflern mein Erbe zu entreißen. Ich rate Euch wohl, den Grafen Torwald von Berendall davon zu überzeugen, dass es in seinem Interesse ist, wenn wir die Tore seiner Stadt weit geöffnet vorfinden und er uns nicht nötigt, sie ihm einzuschlagen!«

Beliors dunkle Augen musterten den Grafen Lindor mit hartem Blick. »Wenn Ihr diesmal wieder versagt, werfe ich Euch Eurem eigenen Drachen zum Fraß vor. Geht mir aus den Augen, Graf!«

»Ja, Herr«, antwortete Graf Lindor und verbeugte sich tief. Rückwärts fand er den Weg zu der schweren Tür des Gemachs, mit einer letzten Verbeugung zog er sie hinter sich zu. Draußen, unter den kalten Blicken der zwei riesigen Kronoks, weitere Wesen aus der Brut des Kriegsmeisters, die diese Tür bewachten, drehte er sich um und ging gemessenen Schrittes davon.

Doch die Gedanken des Grafen überschlugen sich, als er verstand, dass er doch noch leben würde! Solange sein Herz schlug, solange gab es auch noch eine Möglichkeit, einen Weg, eine Gelegenheit, sein Ziel zu erreichen. Jetzt galt es nur, diesen Weg zu finden!

»Also verlor Graf Lindor nicht seinen Kopf«, stellte Lamar fest. »Dieser Graf war wohl genauso zäh wie sein Drache. Ihr wisst, dass Nestrok noch immer lebt?«

»Ja«, antwortete der Geschichtenerzähler. »Aber es ist nicht so, dass sich Garret nicht bemüht hätte, diesen Zustand zu ändern. Ihr werdet dazu später noch mehr erfahren.«

»Hhm«, meinte Lamar. »Ich muss mich da wohl etwas in Geduld üben. Dennoch, es wird interessant. Jetzt also hatte Lindor den Auftrag, Berendall einzunehmen. Auch wenn Kanzler Belior nur spöttische Worte für den Grafen fand, scheint es mir doch, als ginge der Kanzler davon aus, dass Graf Lindor damit kein Problem haben würde.«

»Ihr vergesst den Kriegsmeister«, sagte der alte Mann. »Diese Kreatur war dazu geboren, hinterhältige Pläne zu schmieden … manche Strategien erscheinen einem einfach, aber nur, weil man das Spiel, das sich hinter dem Spiel verbirgt, nicht sieht. Ihr habt indessen recht, gut sah es für den Grafen von Berendall wahrlich nicht aus. Auf der anderen Seite hatte er bereits Hilfe erhalten, von der selbst er noch nichts wissen konnte …«

4 Bein und Stein

Nachdem die Stadtwachen das alte Turmzimmer durchsucht hatten und wieder gegangen waren, ließ Argor den Arteficier langsam durch das Dach zurück auf den Boden des Turmzimmers herab. Als unter Argors Bauch das alte Gebälk knarrte, erstarrte der junge Zwerg und kniff die Augen zusammen.

»Ihr könnt mich loslassen«, schlug Knorre leicht belustigt vor. »Es ist nur noch eine Handbreit!«

Argor zwang sich, nach unten zu sehen, stellte fest, dass der Arteficier recht hatte, und ließ ihn erleichtert los. Knorre landete mit einem unterdrückten Schmerzenslaut auf seinem gesunden Bein und humpelte zur Seite. Er sah durch das Loch im Dach hinauf zu dem Zwerg, der noch immer auf den alten Dachziegeln lag und nicht die geringsten Anstalten machte, sich zu bewegen.

»Ihr solltet vielleicht selbst herunterkommen, Freund Argor«, schlug Knorre vor. »Nur die Göttin weiß, wie lange diese alten Balken Euer Gewicht noch tragen werden.«

»Musstet Ihr mir das so überdeutlich sagen?«, beschwerte sich der Zwerg. »Ich würde lieber hierbleiben!«

»Dort oben auf dem Dach? Ihr könntet abrutschen und über den Rand fallen, es ist ein weiter Weg nach unten!«

»Danke, dass Ihr mir solchen Mut zusprecht!«, knurrte Argor, doch Knorres Äußerungen waren ihm Antrieb genug, jetzt auch selbst langsam und vorsichtig durch das Loch herunterzuklettern und sich dann herabzulassen, bis er mit ausgestreckten Armen an dem alten Dachbalken hing, seine Füße gut anderthalb Schritt über dem Boden des Turmzimmers.

So verblieb er.

»Wollt Ihr den ganzen Tag dort hängen bleiben?«, fragte Knorre offenkundig erheitert. »Ihr könnt loslassen, es ist kaum mehr als die Höhe eines Tisches. Ihr habt den größten Teil bereits geschafft!«

»Das weiß ich«, presste Argor zwischen seinen Zähnen hervor. »Ich sehe es ja auch!«

»Aber?«, fragte Knorre und humpelte zu einem der besser erhaltenen Stühle hin, um sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf diesem niederzulassen. Durch den Treppenaufgang hörten sie entfernte Stimmen, als die Soldaten dem Hauptmann Bericht erstatteten. »Was hindert Euch?«

»Ich kann nicht«, antwortete Argor knirschend. »Ich will ja, aber meine Hände öffnen sich nicht!«

Knorre warf dem baumelnden Zwerg einen zweifelnden Blick zu, während er seinen Dolch zog. »Es ist einfach«, sagte er. »Ihr müsst nur loslassen.«

»Ihr seid kein Zwerg«, knirschte Argor. »Ihr versteht das nicht. Wir sind zu weit oben, nicht unter der Erde, wo ich hingehöre!«

»Wenn Ihr unter der Erde an einem Spalt über einer unterirdischen Schlucht hängen würdet, wäre dies kein Problem für Euch?«, fragte Knorre neugierig und musterte, mit dem Dolch in der Hand, skeptisch den stabilen Stiefel an seinem linken Fuß.

»Nein, dann wäre es kein Problem!«, knurrte Argor und warf dem hageren Mann einen bösen Blick zu. »Erheitert Ihr Euch über mich?«

»Nur ein wenig«, antwortete Knorre und zog scharf die Luft ein, als selbst die scharfe Klinge seines Dolches Mühe hatte, das zähe Leder des Stiefels zu zerschneiden. »Stellt Euch doch einfach vor, der Turm wäre unter der Erde.«

»Wäre er unter der Erde, wäre es kein Turm, sondern ein Keller!«, stellte Argor erzürnt fest und warf dem hageren Mann einen wütenden Blick zu.

»Nun, wenn dies ein Keller wäre, könntet Ihr dann loslassen?«

»Bei den Göttern, natürlich könnte ich das!«, fluchte Argor. »Haltet Ihr mich für dumm?«

»Nein«, sagte Knorre und sah zu Argor hoch. »Ihr seid einer der mutigsten Männer, die ich jemals kennengelernt habe.« Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe es nur nicht. Der Boden ist nicht tiefer unter Euren Füßen, als wenn Ihr in einem Keller hängen würdet. Und irgendwie ist so ein Turmzimmer auch etwas wie ein Keller. Zu beiden führen Treppen hin … nur ist ein Turm etwas höher.«

»Etwas?«, knirschte Argor und sah empört zu Knorre hinüber.

»Für einen Riesen wäre es wohl wenig Unterschied«, vermutete dieser.

»Götter«, rief Argor. »Ich gebe auf, bevor Ihr mich noch wahnsinnig macht!« Er ließ los und landete hart genug, dass der Boden vibrierte und Staub und eine morsche Dachschindel auf sie herunterregneten.

»Wie kann man nur einen Turm mit einem Keller vergleichen!«, beschwerte er sich, als er sich aufrichtete und sich die Hände abklopfte.

»Wie Ihr seht, war es möglich!«, antwortete Knorre gepresst, während er vorsichtig das Leder seines Stiefels aufklappte und dann hart schluckte.

»Ist es schlimm?«, fragte Argor.

»Schlimm genug, dass ich mir überlege, ob ich nicht doch besser ohnmächtig werde«, antwortete Knorre mit einem schiefen Grinsen. Er sah auf sein Bein hinab, der dicke Wollstrumpf glänzte blutig. Unter dem Stoff zeichnete sich eine Erhebung ab, die dort ganz gewiss nicht hingehörte.

Argor streckte die Hand aus. »Lasst mich das machen.«

Dankbar reichte Knorre Argor den Dolch. Der junge Zwerg kniete sich vor den Arteficier, hob dessen Bein vorsichtig an und schnitt den Strumpf auf. Sie waren beide bis auf die Knochen durchnässt, doch von Knorre tropfte das Wasser rot auf die alten Bodendielen.

Sorgsam schnitt Argor an der Seite entlang, dann löste er den aufgeschnittenen Strumpf langsam ab. Entsetzt hielt er inne, als er den weißen Knochen sah. Dann atmete er tief ein und hob den Rest des Strumpfes von der Wunde ab.

»Ich glaube, mir wird schlecht«, flüsterte Knorre. Das Gesicht des Arteficiers war bleich, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, seine Hände waren mit weißen Knöcheln in die Lehnen des alten Stuhls gekrallt.

»Wie konntet Ihr damit nur gehen?«, fragte Argor beeindruckt.

»Fragt mich das ein anderes Mal«, antwortete Knorre gepresst. Fasziniert blickte er auf das Stück bleichen Knochen, das bestimmt zwei Finger breit aus der Haut herausstand.

»Ihr müsst damit zu einem Heiler. Und bald, bevor es schwärt und man Euch den Fuß abnehmen muss.«

»Da einhundertundzwölf Stufen vor mir liegen, trifft es sich gut, dass ich selbst ein Heiler bin«, antwortete Knorre und zog scharf die Luft ein, als er den Knochen vorsichtig betastete.

»Einhundertundzwölf? Woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich kenne den Turm«, antwortete Knorre, während er sich suchend umsah. »Ihr wisst, dass ich Artefakte suche. Diesem Turm hier sagt man nach, dass er magisch sei und verflucht. Er stammt noch aus den Tagen Lytars und angeblich befinden sich hier zwei legendäre magische Artefakte aus jener Zeit. Unermesslich wertvoll sollen sie sein, alle beide. Vielleicht, hieß es, sogar noch anderes. Die Mauern sind dick, also dachte ich, es könnte etwas hier versteckt sein.«

»Habt Ihr etwas gefunden?«

»Der Stuhl dort.«

»Der Stuhl ist ein Artefakt?«, fragte Argor ungläubig und sah den Stuhl erstaunt an. Er sah aus wie ein einfacher Stuhl. Für ihn zu hoch, um bequem darauf sitzen zu können, das Leder alt und brüchig.

»Die Stuhlbeine«, erklärte Knorre geduldig. »Sie sehen stabil genug aus, um daraus Schienen zu fertigen. Aber nein, ich fand nichts. Nur Ratten und Taubendreck.«

Argor sah an sich herab. »Von Taubendreck gibt es hier reichlich. Müsste man den Bruch nicht vorher richten?«

»Ich glaube, das ist in der Tat so üblich«, sagte Knorre und sah zweifelnd auf den offenen Bruch herab. »Wenigstens sieht es aus, als hätte ich Glück gehabt.«

Argor stand auf und ging zu dem Stuhl hinüber. Er nahm ihn, zog an einem der Beine und nickte zustimmend. »Scheint stabil zu sein.« Er zog fester, es knirschte, und er hielt ein Stuhlbein in der Hand, einen Moment später hatte er das zweite Bein gelöst. Er sah zu dem Arteficier hin.

»Wie meintet Ihr eben? Das nennt Ihr Glück haben?«

»Es hätte auch eine Ader zerreißen können, dann hätte es schlecht um mich gestanden«, antwortete der Arteficier. Er beugte sich vor und fasste vorsichtig seinen Fuß, bewegte ihn leicht und zog erneut scharf die Luft ein.

»Das Wadenbein ist noch ganz«, stellte er heiser fest. »Ich muss nur …« Er zog fester, stöhnte und sackte schwer atmend nach hinten in den Stuhl. Der hagere Mann war schweißgebadet und so weiß wie ein Laken.

Argor stand da, die Stuhlbeine in den Händen, und fühlte sich nutzlos.

»Kann ich …?«, begann er, aber Knorre schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich bin in der besten Position zu wissen, wenn der Knochen richtig sitzt.« Er sah mit einem schiefen Grinsen zu Argor auf. »Es wird mir überdeutlich gemeldet.«

Langsam, in vier Anläufen, richtete Knorre den Knochen, immer wieder unterbrochen von Pausen, in denen er versuchte, erneut Mut und Kraft zu sammeln. Beim dritten Anlauf verschwand der weiße Knochen wieder unter der Haut und als der hagere Mann zum letzten Mal Hand anlegte, sackte auch Argor beinahe das Blut weg, als er Knochen auf Knochen knirschen hörte.

Währenddessen hatte Argor das Leder des alten Stuhls, den er zerbrochen hatte, in doppelt daumendicke Streifen geschnitten. Das Leder war alt, aber zumindest dazu noch zu gebrauchen.

»Fertig?«, fragte Argor, als Knorre sich schweißnass, aber mit einem erleichterten Seufzer zurücklehnte. Der junge Zwerg betrachtete die Wunde an Knorres Bein. Das Bein wirkte gerade, wenn auch ein wenig dürr. Kein Wunder, dachte er, dass Menschen so zerbrechlich waren. Blut quoll aus der Wunde heraus, aber es war überraschend wenig.

»Ich hätte gedacht, dass es mehr blutet«, stellte Argor fest. »Kann ich etwas für Euch tun?«

»Es ist nur die Haut, die durchstoßen wurde, ich sagte ja, ich habe Glück gehabt. Ja, gewiss. Unter uns befindet sich ein Schlafzimmer. Dort gibt es einen großen Schrank und dort findet Ihr Bettwäsche aus Seide. Ich wäre Euch verbunden, würdet Ihr sie mir bringen.«

»Die dürfte verrottet sein«, vermutete Argor, aber er stand dennoch auf.

»Es liegt Magie auf dem Schrank«, erklärte Knorre abwesend, während er vorsichtig die Wundränder abtastete. »Ich sagte ja bereits, der Turm ist verwunschen.«

Argor nickte und beeilte sich, nach unten zu gehen.

Etwas später kam er wieder, mit geweiteten Augen und einem Seidenlaken in der Hand.

»Im Raum unter uns ist ein Skelett in den Boden eingebrannt!«

»Ich weiß«, meinte Knorre. »Das ist der Magier, der zuletzt versuchte, die Geheimnisse des Turms zu erkunden. Wie Ihr seht, ist es ihm nicht bekommen. Zugegeben, es war aber auch eine tückische Falle. Hätte mich beinahe auch erwischt. Ist die Seide noch gut?«

»Sieht so aus. Wie seid denn Ihr der Falle entkommen?«, fragte Argor neugierig, während Knorre die Seide aufschnitt, zusammenlegte und vorsichtig auf die Wunde presste.

»Er ging voran, also traf es ihn«, antwortete Knorre abwesend. »Könnt Ihr mir helfen, die Schienen anzulegen?«

»Geht es so?«, fragte Argor etwas später, als der Arteficier versuchte zu stehen, schwer auf seinen weißen Stab gestützt. Vorsichtig belastete Knorre den Fuß und nickte dann grimmig.

»Es muss ja gehen.« Er sah zweifelnd zum Treppenabgang. »Einhundertundzwölf verdammte Stufen«, grummelte er.

»Habt ihr sie gezählt?«

»Ich habe jede einzelne untersucht. Manchmal verstecken Leute etwas unter Stufen.«

»Sagtet Ihr nicht, Ihr hättet nichts gefunden?«, fragte der junge Zwerg.

»Richtig.«

»Habt Ihr Euch nicht gewundert, dass in dem Raum unter uns eine Falle war?«

Knorre zuckte die Schultern.

»Ich habe den Schrank durchsucht, aber da war nichts außer der Bettwäsche. Vielleicht hing der Vorbesitzer an seiner Seide?«

»Und hinter dem Schrank?«, fragte Argor. »Was habt Ihr dort im Fach in der Wand gefunden?«

»Fach in der Wand?«, fragte Knorre überrascht. »Es gibt keine Geheimfächer in der Wand. Ich habe danach gesucht. Auch dort. Wenn auch eher flüchtig«, gestand er ein und schüttelte sich angewidert, als er sich erinnerte. »Es stank zu sehr nach Spanferkel.«

»Nun, dort ist eines. Ein geheimes Fach, meine ich. Es war nicht schwer zu finden. Jeder Zwerg hätte es im Stein gefühlt.«

Knorre legte den Kopf zur Seite und blickte Argor interessiert an.

»Na, wenn das so ist …«

»Einen Schatz habe ich mir anders vorgestellt«, meinte Argor enttäuscht, als mit einem leisen Klicken unter Knorres geschickten Händen die kleine Holzschatulle aufsprang, die sie aus dem Fach in der Wand geborgen hatten.

»Ihr täuscht Euch, Freund Argor«, stellte Knorre fest, als er den silbernen Armreif und den Kettenhandschuh aus schwarzem Stahl mit einem breiten Grinsen und einem Leuchten in den Augen musterte. »Euer Gewicht in Gold wäre weniger wert.« Mit spitzen Fingern nahm Knorre den Armreif aus der Schatulle und wog ihn in der Hand.

»Es gibt Schriften und magische Abhandlungen über diese beiden Gegenstände. Bis jetzt galten sie als verloren. Ich habe sie schon ewig lange gesucht. Wisst Ihr, beide wurden von meinem Vorfahr gefertigt. Sie wurden irgendwann gestohlen.«

»Geht es um ebenjenen Vorfahr, der noch verrückter war, als Ihr es seid?«

»Genau um jenen«, schmunzelte Knorre. »Aber spottet nicht zu sehr. Dieser Armreif hier könnte vielleicht sogar auch Euch nützlich sein.«

Der Zwerg hob abwehrend die Hand.

»Ich will mit Magie nichts zu tun haben.«

»Auch nicht, wenn es Euch vor dem Ertrinken bewahren kann?«, fragte Knorre mit einem spitzbübischen Grinsen. »Dieser Armreif erlaubt das Atmen auch unter Wasser.«

Argor sah den Armreif zweifelnd an.

»Ich habe nicht vor, die nächsten zweihundert Jahre auch nur einer Pfütze zu nahe zu kommen. Was vermag der Handschuh zu tun?«

»Ihr wisst von den Animatons, die es in der alten Stadt gab?«

Argor nickte. Er konnte sich noch gut an die metallenen Ungeheuer im Depot erinnern.

»Damit kann man sie kontrollieren. Jeden Einzelnen von ihnen.« Knorre legte den Armreif wieder in die Schatulle und klappte sie zu. »Mein Vorfahr fertigte ihn, als er herausfand, dass die Animatons, nun … unzuverlässig waren.«

»Unzuverlässig ist eine nette Umschreibung.« Argors buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich denke, dass Belior dann wohl alles dafür geben würde, diesen Handschuh zu besitzen?«

»So ist es, mein junger Freund. Zumal es hier in der Stadt noch einen Animaton gibt, der früher die Stadt verteidigte. Doch heutzutage weiß niemand mehr, wie er zu bedienen ist. Mit diesem Handschuh allerdings mag es auch heute noch gelingen.« Er reichte die Schatulle an Argor, der sie zweifelnd ansah. »Ihr habt beide Beine zur Verfügung und die Magie wird Euch wohl kaum versuchen. Nehmt die Schatulle und seht zu, dass Belior sie nicht in die Hände bekommt!«

»Das«, sagte Argor mit einem harten Gesichtsausdruck, als er die Schatulle an sich nahm, »wird nicht geschehen.« Er richtete sich an den hageren Mann. »Was jetzt?«

»Noch einhundertundeine Stufen bleiben! Dann suchen wir eine alte Freundin von mir auf. Sie wird uns weiterhelfen. Hoffe ich«, knurrte Knorre.

Ganz sicher, dachte Argor, war sich der Arteficier offenbar nicht.

»Was ist mit den Wachsoldaten?«

»Die werden froh sein, Abstand von dem Turm halten zu können.« Knorre lachte. »Aus irgendeinem Grund haben die meisten Leute Angst, den Turm zu betreten. Nach dem letzten Vorfall wurde er zugenagelt.«

Argor sah auf die in die Bodenfliesen eingeschmolzenen braunen Knochen hinunter.

»Irgendwie kann ich das sogar verstehen.«

»In den Balladen brechen sich die Helden niemals ein Bein«, stellte Lamar erheitert fest. »Da wird auch mal aus einem Turm gesprungen oder von einer Klippe und niemand geschieht etwas.«

»Wenn Ihr eine Ballade hören wollt, nur zu«, lachte der Geschichtenerzähler. »Ich habe einen Enkel, der vortrefflich singen kann.«

»Ich bin zu faul!«, rief ein junger Mann an einem in ihrer Nähe stehenden Tisch und hob grinsend seinen Becher zum Gruß. »Erzähle du nur weiter, Großvater.«

»Zu Tanz und Gesang bestand nun wirklich kein Anlass«, fuhr der alte Mann fort, nachdem er den Neffen mit einem bösen Blick bedacht hatte. »Auf beiden Seiten nicht. Denn nachdem der Graf Lindor beim Kanzler vorstellig geworden war, stand auch ihm noch ein schwerer Gang bevor.«

»Noch jemand, der ihm den Kopf abschlagen lassen will?«, feixte Lamar, doch der alte Mann schüttelte nur ernst den Kopf. »Nein, so war es nicht.«

5 Der Prinz von Thyrmantor

Graf Lindor musterte Nestroks Auge sorgfältig. Bei dem Angriff auf das Dorf hatte ein Pfeil Lindors Drachen im Auge getroffen. Auch wenn die Heilungskräfte des Biests mehr als außergewöhnlich waren, war es doch notwendig geworden, den Pfeil herauszuschneiden, zu sehr hatte das Auge geeitert. Nestrok blinzelte mit einem äußeren und einem inneren Augenlid.

Du bist zu nah, das stört mich, beschwerte sich der Drache mit einem leicht beleidigten Unterton. Bislang hatte Nestrok noch nicht zugeben wollen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihm den Pfeil aus dem Auge zu entfernen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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