Das Experiment - Arkadi Strugatzki - E-Book

Das Experiment E-Book

Arkadi Strugatzki

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Beschreibung

In Das Experiment erzählen Arkadi und Boris Strugatzki die Geschichte des linientreuen russischen Astronomen Andrej Woronin, der in einer von der Außenwelt abgeschotteten Stadt an einem rätselhaften Experiment teilnimmt. Doch wer sind die anderen Teilnehmer? Welche Geheimnisse verbergen sie? Und was ist eigentlich der Sinn des Experiments? Als sich eigenartige Vorfälle in der Stadt häufen, muss Woronin mit einem Mal alles, woran er bisher geglaubt hat, infrage stellen ...

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Das Buch

Irgendwo, isoliert von der Welt, wie wir sie kennen, liegt eine Stadt, in der Menschen unterschiedlichster Herkunft, Nationalität und politischer Überzeugungen leben. Doch keiner von ihnen weiß, wie sie dort hingekommen sind und was es mit dem rätselhaften »Experiment« auf sich hat, das in der Stadt durchgeführt wird. Merkwürdige Dinge geschehen: Personen verschwinden, tauchen unvermittelt wieder auf, ebenso Häuser und andere Objekte. Was ist der Sinn des Ganzen? Und wer steuert das Experiment? Eine kleine Gruppe von Bewohnern macht sich schließlich auf, das Geheimnis zu ergründen …

Die Autoren

Arkadi (geboren 1925, gestorben 1991) und Boris (geboren 1933, gestorben 2012) Strugatzki zählen zu den bedeutendsten und erfolgreichsten russischen Autoren der Nachkriegszeit. Ihre Romane sind nicht nur faszinierende Parabeln über die Stellung des Menschen im Universum, sondern auch schonungslose Abrechnungen mit Ideologiegläubigkeit und Personenkult. Etliche ihrer Texte, darunter auch »Das Experiment«, durften in der Sowjetunion nicht erscheinen. Inzwischen hat die Gesamtauflage ihrer Werke die fünfzig Millionen überschritten, sie wurden in über dreißig Sprachen übersetzt, und viele ihrer Romane wurden verfilmt.

Mehr über Arkadi und Boris Strugatzki und ihre Romane erfahren Sie auf:

diezukunft.de

ROMAN

Mit einem Vorwort von Dmitry Glukhovsky

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

Град обреченный

Aus dem Russischen von Reinhard Fischer

Ergänzung anhand der ungekürzten und unzensiertenOriginalversion, Übersetzung der Nachbemerkung vonBoris Strugatzki: Erik Simon

Textbearbeitung und Redaktion: Anna Doris Schüller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige Taschenbuchausgabe

Copyright © 1988/89 by Arkadi und Boris Strugatzki

Copyright © 2016 des Vorworts by Dmitry Glukhovsky

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe und Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung des Motivs von hkeita / Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22174-4V002

www.diezukunft.de

VORWORT VON DMITRY GLUKHOVSKY

Kein westlicher Science-Fiction-Autor, ob Amerikaner oder Europäer, wurde jemals so berühmt, wie es die Brüder Strugatzki in der Sowjetunion waren. Wenn in den 1970er-Jahren ein neues Buch von ihnen erschien – in einer Erstauflage von einer halben Million – hatten nur wenige das Glück, dieses auch sofort lesen zu können. Im Jahre 1979 schließlich brachte Andrej Tarkowskis Film Stalker – der auf dem Roman »Picknick am Wegesrand« basiert – den Brüdern Strugatzki auch die Anerkennung der sowjetischen Intelligenzija. Eine Filmadaption des Romans »Der Montag fängt am Samstag an« wurde 1982 ein bislang unerreichter Publikumserfolg. Aber schon lange zuvor standen Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen immer sofort in der langen Schlange an, um eines dieser halben Million Exemplare zu ergattern. Niemand ließ sich vom Warten abschrecken. Wir waren es gewohnt, für wertvolle Dinge Schlange zu stehen. Einen Monat für ein Buch, fünf Jahre für ein Auto, zehn Jahre für eine Wohnung …

Der Unterschied lag allerdings nicht einfach nur im Bekanntheitsgrad der Brüder Strugatzki. Sie waren jedem literaturinteressierten Menschen in der Sowjetunion ein Begriff, aber es gibt natürlich auch westliche Science-Fiction-Autoren, die so gut wie jeder kennt.

Der Unterschied lag in der Erwartungshaltung der Leserschaft.

Im Westen war Science-Fiction immer eher etwas für Träumer. Westliche Science-Fiction-Literatur bedient, damals wie heute, eine Nische, deren Größe Jahr für Jahr schwankt.

In der Sowjetunion war Science-Fiction dagegen ein fester Bestandteil des Mainstreams. Die Kommunistische Partei und die Regierung arbeiteten an einem bombastischen Projekt mit dem Ziel, die Gesellschaft, den Staat, das Individuum und letztlich die ganze Welt komplett umzukrempeln. Gegen ein derart fantastisches Vorhaben waren selbst die kühnsten Schriftstellerfantasien kaum mehr als ein Vorgeschmack auf das, was bald kommen würde. Die gängige sowjetische Science-Fiction-Literatur – darunter auch die frühen Werke der Strugatzkis – nahm uns mit in diese von den Ideologen versprochene strahlende und gerechte Zukunft, in der der Kommunismus den Sieg davongetragen hat und seit langer Zeit Frieden auf der Welt herrscht. Eine Zukunft, in der Russisch die Sprache des internationalen Austauschs ist und sich Erzählenswertes nur noch an abgelegenen Orten unserer Galaxie ereignet, Orte, zu denen die Erdenmenschen Fortschritt und Wohlstand bringen.

Verglichen damit war die Gegenwart in der Sowjetunion hart, aber die Mangelwirtschaft schien gerechtfertigt: Wir alle zusammen, als Nation, standen einfach nur für eine bessere Zukunft in der Schlange an. Und die Science-Fiction-Autoren fühlten sich verpflichtet, uns zu zeigen, was das Schicksal in den strahlenden Schaufenstern des kommunistischen Paradieses bereithielt: Sieh mal, wenn du dich auf die Zehenspitzen stellst, kannst du schon das Ende der Schlange erkennen … In den frühen 1960er-Jahren versprach Chruschtschow die Verwirklichung des kommunistischen Projekts für das Jahr 1980. Fünf Jahre für ein Auto, zehn Jahre für eine Wohnung, zwanzig Jahre für das Paradies. Man musste also nichts weiter tun, als lange genug am Leben zu bleiben. In diesem Paradies würden dann Vernunft und Menschlichkeit triumphieren, dort würde es ehrlich und gerecht zugehen. In diesem Paradies, so versprach man uns, würde alles kostenlos verfügbar sein, die Gesellschaft würde von jedem nur das fordern, was er geben konnte, und jedem das geben, was er brauchte. An diesen Plan wollten wir gerne glauben.

Auch die Brüder Strugatzki wollten gerne daran glauben. Sie waren während des Krieges in Leningrad aufgewachsen und vergaßen nie den Preis, zu dem der Sieg erkauft worden war. Oder den Preis, den wir für die großen kommunistischen Projekte bezahlten. Oder die Härte, die unsere Schäfer an den Tag legen mussten, wenn die Herde auf dem Weg in den Garten Eden störrisch wurde oder gar nicht mehr folgen wollte. Aber zu dieser Zeit schien das Ziel einfach zu bedeutend und zu großartig, um lange über die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel nachzudenken.

Der einzige Ort, an dem man tatsächlich einmal nachdachte, war die Küche, unter Freunden und im Kreis der Familie. Und auch wenn in der Zeit von Chruschtschow und Breschnew niemand für seine Zweifel erschossen wurde, auch wenn die Säuberungsaktionen verurteilt wurden und der Stalin-Kult seinen Nimbus verlor, so waren doch die Zeitung Prawda und das staatliche Radio- und Fernsehkomitee die Einzigen, denen dieses Nachdenken erlaubt war. Und das auch nur, solange es den heimlichen Machtkämpfen innerhalb des Politbüros dienlich war.

Natürlich wurde die Prawda – wie die übrige Presse – nicht einfach nur vom Staat kontrolliert; sie war vielmehr seine Vorhut, ja seine Sturmtruppe. Ebenso wie die sogenannte »ernsthafte« Literatur. Die veröffentlichten Romane und Geschichten erfüllten genau abgezirkelte politische und soziale Aufgaben: die heroische Glorifizierung von Arbeit und Militärdienst, die Darstellung sowjetischer Alltagsfröhlichkeit, die komplexen Wechselwirkungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und Produktionsverhältnissen. Alles andere – von Daniil Charms bis Bulgakow, von Pasternak bis Solschenizyn – wurde nicht als Literatur anerkannt und war praktisch nicht-existent. Autoren sollten nicht schöpferisch tätig sein, sondern dienen und die Vorgaben der Ideologen der Kommunistischen Partei mit Leben erfüllen.

Die Science-Fiction genoss diesbezüglich größere Freiheiten. Denn sie beschrieb ja nicht das Hier und Jetzt und auch nicht die Sowjetunion. Sie äußerte zudem keine Zweifel daran, dass der Kommunismus in der näheren Zukunft triumphieren würde. Ganz offensichtlich steckte sie ihre Nase nicht in gegenwärtige Angelegenheiten, sondern beschäftigte sich mit abstrakten Themen und fernen Welten. Dementsprechend hatte sie andere und nicht so strenge Vorgaben zu erfüllen. Dennoch war die Science-Fiction-Literatur wie alles, was veröffentlicht wurde, der Zensur unterworfen.

Die Zeit verging, und das Land verbummelte sie weiter mit Schlangestehen. Und die Bilder der Schaufenster voller Glückseligkeit und Gerechtigkeit verblassten im Dunst der Zukunft. Chruschtschow, der die Verwirklichung des Kommunismus in der absehbaren Zukunft versprochen hatte, wurde gestürzt, und diejenigen, die an seine Stelle traten, reduzierten ihre Versprechen auf sechshundert Quadratmeter große Grundstücke für Datschas. Und das Morgen kam einfach nicht. Vielmehr wurde es wegen »technischer Schwierigkeiten« immer wieder auf Übermorgen verschoben. Unter den Menschen in der Schlange breitete sich ängstliches Geflüster aus, und als die Führer des Landes alt wurden und in die Senilität abdrifteten, wurde das Flüstern lauter. Es wurde offensichtlich, dass wir in der falschen Schlange standen. Und das Erschreckende daran war, dass wir möglicherweise schon immer in der falschen Schlange gestanden hatten.

Auch in den Werken der Brüder Strugatzki war dieses Flüstern nun immer lauter durch die Klänge der Fanfaren zu hören, die eine glückliche kommunistische Zukunft auf Erden verkündeten. Natürlich war auf der Erde immer noch alles in bester Ordnung und frei verfügbar, und jeder sprach Russisch. Aber die Ereignisse an den rückständigen Orten der Galaxie deuteten jetzt eine andere Lesart des aktuellen Prawda-Leitartikels an.

Der Roman »Das Experiment« spielt offensichtlich an einem Ort, der nicht die Erde und auch kein anderer Planet ist, sondern eine eigene Welt – eine in sich geschlossene Welt außerhalb von Zeit und Raum. Die Figuren entstammen unserer Realität, wenn auch verschiedenen Ländern und Zeiten des 20. Jahrhunderts. So gibt es einen britischen Offizier aus dem Ersten Weltkrieg, einen deutschen Soldaten, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, den »Sowjetbürger« Andrej aus den Fünfzigern und einen amerikanischen College-Professor aus den Sechzigern. Alle sprechen offenbar dieselbe Sprache, aber diese Sprache ist nicht Russisch. Sie wurden aus ihrem vertrauten Leben auf der Erde, ihrer Zeit und Kultur herausgerissen und in die »Stadt« gebracht – als Versuchskaninchen in einem Experiment, das weder Anfang noch Ende hat und dessen Ziel und Bedeutung vor den Teilnehmern geheim gehalten wird. Niemand informiert die Testpersonen über die stattfindenden Versuche. Die Organisatoren sehen wie gewöhnliche Leute aus, wie Parteifunktionäre oder Geheimdienstmitarbeiter – sie lächeln genauso freundlich und bitten wie diese um Geduld. Und alle Einwohner der Stadt sind geduldig.

»Das Experiment« wurde 1972 fertiggestellt, aber erst sechzehn Jahre später, nach Beginn der Perestroika, ungekürzt publiziert. Und selbst das überrascht, denn die Anspielungen auf die Sowjetunion sind in diesem Roman so deutlich, dass man sich berechtigte Sorgen machen musste – nicht nur um die Brüder Strugatzki, sondern auch um die Zensoren, die die Veröffentlichung gestatteten.

Dabei spielt es keine Rolle, dass es sich bei den Einwohnern der Stadt nicht nur um Menschen aus dem ehemaligen Russischen Reich handelt, sondern auch um Ausländer. Es spielt keine Rolle, dass sich das Regime dort ändert und die Stadt in manchem ebenso dem Westen ähnelt – vielleicht sogar mehr als der Sowjetunion. Es spielt keine Rolle, dass die Sowjetunion in dem Roman als eigenes Land existiert – und schon deswegen nicht die dargestellte Stadt sein kann. Alle diese erzählerischen Kniffe täuschen nicht darüber hinweg, dass es um ein immerwährendes Experiment an lebenden Menschen geht.

Die Strugatzkis und mit ihnen das ganze Land waren auf der Suche nach einer Antwort auf die Fragen: »Wofür?«, »Warum ist das notwendig?«, »Warum behandeln sie uns so?« Doch als die letzten Versuchsleiter, die sich womöglich noch an den Grund des Experiments erinnern, sterben, stirbt mit ihnen auch die Hoffnung auf eine Antwort. Unsere Opfer und unsere Entbehrungen können uns nicht länger den Eintritt in den Garten Eden erkaufen. Irgendwann war aus sinnvollem Handeln ein leeres Ritual geworden, ein Cargo-Kult, und wir rackerten uns ab und bewegten uns doch nur im Kreis. Die Schlange, in der wir standen, hatte keinen Anfang und kein Ende. Sie biss sich in den eigenen Schwanz und hielt ihn fest zwischen den Zähnen.

All das hätte ich noch vor einiger Zeit über »Das Experiment« geschrieben, mein Lieblingsroman der Strugatzkis.

Aber nach mehreren Besuchen in Sankt Petersburg, der Heimatstadt der Brüder, wurde mir etwas klar: Die Stadt des Romans ist kein abstraktes Bild, sie ist diese Stadt. Es ist Leningrad-Petrograd-Sankt-Petersburg, das auf Anordnung des Zaren in Rekordgeschwindigkeit und unter Inkaufnahme von Menschenleben in den Sümpfen als neue Hauptstadt des Reiches erbaut wurde. Es ist diese düstere und feuchte Stadt, die nicht für Menschen errichtet wurde, sondern um edel und tapfer auszuhalten und starrsinnig in all dem Rost und Nebel zu funkeln. Es ist diese Stadt – die »Wiege der Revolution«, der Schauplatz des bolschewistischen Staatsstreiches, die Stadt, die die endlose Belagerung durch die Nazis überlebte, die Stadt, die von den ökonomisch planenden Deutschen nicht gestürmt, sondern von jeglichem Nachschub abgeschnitten wurde, um ihre Einwohner verhungern zu lassen. Aber sie überlebten und ergaben sich nicht, auch wenn sie zuweilen gezwungen waren, sich gegenseitig zu essen, während die sowjetische Armee woanders mit wichtigeren Dingen beschäftigt war. Dies war nicht das erste Experiment, das an ihnen durchgeführt wurde – und auch nicht das letzte.

Das war also meine Entdeckung: Die Einwohner des dreimal neu benannten Sankt Petersburg bezeichnen ihre Heimat schon immer schlicht als »die Stadt«. Sie lieben sie verzweifelt, und je mehr sie für sie leiden müssen, desto mehr lieben sie sie. Die Brüder Strugatzki haben sie natürlich ganz genau so geliebt. Aber wie kann man Menschen auf ehrliche Art von dieser Liebe erzählen?

Im Westen ist eine Science-Fiction, wie wir sie in der Sowjetunion hatten, schlicht überflüssig – euch ist auch so genug Raum gegeben, um das Schicksal eurer Länder und Völker zu beleuchten. Zum Beispiel in der »ernsten« Literatur. Oder in Talkshows. Aber in einem Land, in dem die führende Zeitung deswegen »Wahrheit« heißt, weil sie randvoll mit Lügen ist, wird Science-Fiction zu einem Mittel, mit dem sich die wahren Zustände zumindest andeuten lassen. Die Menschen erwarteten von den Brüdern Strugatzki ehrliche Prophezeiungen. Der Unterschied zum Westen lag nicht nur darin, dass Millionen von Menschen für ihre Bücher in der Schlange anstanden, sondern auch in dem, was diese Millionen von Menschen in den Romanen der Brüder finden wollten. Und was sie darin auch tatsächlich fanden.

Denn die Prophezeiungen der Brüder Strugatzki traten oft ein. Und waren sie nicht die Ersten, die vorhersagten, dass das Experiment dem Untergang geweiht ist?

Dmitry Glukhovsky ist einer der bekanntesten jungen Autoren Russlands. Sein Roman »Metro 2033« war ein internationaler Bestseller.

DAS EXPERIMENT

Na, Karauschen, geht’s euch fein?

Danke sehr, man lebt sich ein.

Valentin Katajew: Die Radiogiraffe

Ich kenne deine Werke und deine Mühe

und dein Ausharren; ich weiß:

Du kannst die Bösen nicht ertragen,

du hast die auf die Probe gestellt,

die sich Apostel nennen und es nicht sind,

und hast sie als Lügner erkannt.

Die Offenbarung des Johannes

ERSTER TEIL

MÜLLFAHRER

1

Die verrosteten, verbeulten Mülltonnen quollen über. Unter den Deckeln lugten Zeitungsfetzen hervor, hingen Kartoffelschalen heraus. Die Tonnen sahen aus wie die Schnäbel schmutziger, beim Essen nicht eben wählerischer Pelikane. Und sie wirkten so schwer, als könne man sie nicht heben. Doch mit Wang zusammen war es ein Kinderspiel, sie mit einem Ruck zu Donalds ausgestreckten Händen hochzuhieven und auf dem Rand der herabhängenden Ladeklappe abzustellen. Man musste nur auf die Finger achtgeben. Danach konnte man die Fäustlinge zurechtrücken und Luft schöpfen, während Donald die Mülltonne auf der Ladefläche nach hinten ruckelte.

Aus dem weit geöffneten Tor wehte feuchte Nachtluft herüber. Unter der gewölbten Decke des Hausflurs schaukelte an einer schmutzverklebten Schnur eine gelbe Glühbirne. Wang sah in diesem Licht aus, als leide er an Gelbsucht; Donalds Gesicht war im Schatten seines breitkrempigen Texashuts nicht zu erkennen. Graue Wände mit abbröckelndem Putz, von horizontalen Furchen durchzogen. Dunkle Knäuel staubiger Spinnweben unter der Decke. Obszöne Zeichnungen von weiblichen Körperteilen in Lebensgröße. Neben der Tür zur Hauswartswohnung eine wüste Ansammlung leerer Flaschen und Konservengläser, die Wang sammelte, sorgfältig sortierte und beim Altstoffhändler ablieferte …

Als nur noch eine Mülltonne übrig war, nahm Wang Schaufel und Besen und fing an, die Abfallreste auf dem Asphalt zusammenzukehren.

»Lassen Sie doch das Putzen, Wang«, sagte Donald gereizt. »Immerzu fegen Sie herum. Sauberer wird es davon ja doch nicht.«

»Er muss zusammenkehren, das gehört zu den Pflichten eines Hauswarts«, widersprach Andrej belehrend, drehte dabei seine rechte Hand hin und her und spürte nach: Ihm schien, als habe er sich eine Sehne gezerrt.

»Müllen ja doch wieder alles zu«, sagte Donald hasserfüllt. »Kaum drehen wir ihnen den Rücken zu, laden sie noch mehr ab als vorher.«

Wang schüttete den Müll in die letzte Tonne, drückte ihn mit der Schaufel fest und schlug den Deckel zu.

»Kann sein«, sagte er und blickte zum Hauseingang. Dort war es jetzt sauber. Wang schaute Andrej an und lächelte; dann sah er zu Donald und sagte: »Ich möchte Sie darauf hinweisen …«

»Machen Sie schon, los!«, rief Donald ungeduldig.

Hau-ruck! Andrej und Wang hoben mit einer heftigen Bewegung die Mülltonne an. Und hoch! Donald packte die Tonne, krächzte, ächzte, konnte sie aber nicht halten. Die Tonne kippte und krachte seitwärts auf den Asphalt. Der Inhalt flog wie aus einer Kanone geschossen bis zu zehn Meter weit. Die Tonne rollte über den Hof und entleerte sich weiter. Das dumpfe Echo stieg wie eine Spirale hinauf zum schwarzen Himmel zwischen den Mauern.

»Verdammt noch mal!«, fluchte Andrej, der im letzten Moment noch hatte beiseitespringen können. »Was haben Sie für linke Pfoten!«

»Ich wollte nur darauf hinweisen«, sagte Wang sanft, »dass ein Henkel abgebrochen ist.«

Er nahm Besen und Schaufel und machte sich an die Arbeit. Donald hockte sich am Wagenrand hin, ließ die Arme zwischen die Knie sinken. »Verdammt …«, murmelte er dumpf, »verdammte Gemeinheit.«

Irgendetwas stimmte in letzter Zeit nicht mit ihm – ganz besonders in dieser Nacht. Andrej verkniff sich daher zu bemerken, was er von Professoren und ihrer Tauglichkeit für richtige Arbeit hielt. Er brachte die Tonne zum Wagen, streifte die Handschuhe ab und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Die leere Tonne stank entsetzlich. Hastig zündete er sich eine Zigarette an und reichte Donald die Schachtel. Donald schüttelte schweigend den Kopf. Man musste ihn aufmuntern … Andrej warf das abgebrannte Streichholz in die Tonne und sagte: »Es lebten einmal in einer kleinen Stadt zwei Latrinenreiniger – Vater und Sohn. Kanalisation gab es nicht, bloß Senkgruben. So schöpften sie die Scheiße mit Eimern heraus und gossen sie in ihr Fass, wobei der Vater als der erfahrene Spezialist in der Grube stand und der Sohn ihm von oben den Eimer reichte. Einmal konnte der Sohn den Eimer nicht halten und kippte alles auf seinen Vater. Der wischte den Dreck ab, schaute seinen Sprössling an und sagte bitter: Du hirnamputierter Strohkopf! Aus dir wird nie etwas! Du wirst dein Leben lang oben bleiben.«

Andrej hatte zumindest ein Lächeln erwartet, denn eigentlich war Donald ein lustiger, geselliger Mensch, ganz und gar nicht schwermütig. Manchmal erinnerte er ihn an einen Studenten an der Front. Jetzt aber hüstelte er nur und sagte tonlos: »Alle Gruben kannst du nie leeren!«

Auch Wang, der neben der Tonne herumhantierte, reagierte sonderbar. Er fragte plötzlich interessiert: »Wie viel kostet sie bei euch?«

Andrej verstand nicht. »Was meinst du?«

»Die Scheiße. Ist sie teuer?«

Andrej lachte unsicher. »Wie soll ich sagen … Kommt darauf an, von wem.«

»Ist das bei euch unterschiedlich?«, wunderte sich Wang. »Bei uns nicht. Welche ist am teuersten?«

»Professorenscheiße«, sagte Andrej prompt. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen.

»Ach so!« Wang schüttete wieder eine Schaufel in die Tonne und nickte. »Verstehe. Bei uns auf dem Land gab es keine Professoren, deshalb war der Preis gleich – fünf Yuan der Eimer. Das heißt, in Sichuan. Aber in Jiangxi beispielsweise lagen die Preise bei bis zu sieben oder sogar acht Yuan.«

Jetzt endlich begriff Andrej. Plötzlich hatte er Lust zu fragen, ob es denn stimme, dass sich in China ein Gast, der zum Essen gekommen war, anschließend im Gemüsegarten des Gastgebers entleeren müsse. Aber die Frage war ihm peinlich.

»Wie es jetzt bei uns ist, weiß ich nicht«, fuhr Wang fort, »die letzte Zeit habe ich nicht auf dem Land gelebt. Warum ist die von Professoren bei euch eigentlich teurer?«

»Das sollte ein Witz sein«, sagte Andrej verlegen. »Bei uns wird damit gar nicht gehandelt.«

»Klar wird damit gehandelt«, sagte Donald. »Nicht einmal das wissen Sie, Andrej.«

»Aber dafür wissen Sie es ja«, parierte Andrej.

Noch vor einem Monat hätte er mit Donald einen heftigen Streit angefangen. Es ärgerte ihn schrecklich, dass der Amerikaner ständig Sachen über Russland erzählte, von denen er, Andrej, gar keine Ahnung hatte. Er war damals fest davon überzeugt, dass Donald ihn auf den Arm nahm oder das gehässige Geschwätz von Hearst wiederholte. »Hören Sie doch auf mit diesem Gerede à la Hearst!«, wehrte er ab. Als dann noch dieser Isja Katzman hinzukam, hörte Andrej auf zu streiten und machte nur noch bissige Bemerkungen. Er hatte keine Ahnung, woher sie das alles hatten. Sein Unwissen erklärte er damit, dass er aus dem Jahr einundfünfzig hierhergekommen war, die beiden anderen aber aus dem Jahr siebenundsechzig.

»Ein glücklicher Mensch sind Sie«, sagte Donald plötzlich. Er stand auf und ging zu den Mülltonnen, die beim Fahrerhaus standen.

Andrej zuckte mit den Schultern und versuchte, das unangenehme Gefühl loszuwerden, das während des Gesprächs entstanden war, zog die Fäustlinge an und half Wang beim Aufkehren des stinkenden Mülls. Ich weiß es eben nicht, dachte er. Scheiße also, na und? Und was weißt du von Integralen? Oder sagen wir, von der Hubble-Konstante? Man kann eben nicht alles wissen.

Wang stopfte gerade den letzten Müll in die Tonne, als in der Durchfahrt der tadellos gekleidete Polizist Kenshi Ubukata auftauchte.

»Hierher, bitte«, sagte er zu jemandem über die Schulter hinweg und grüßte Andrej, indem er zwei Finger an den Mützenschirm legte. »Grüß euch, Müllmänner!«

Aus dem Dunkel der Straße trat ein Mädchen in den gelblichen Lichtschein und blieb neben Kenshi stehen. Sie war jung, höchstens zwanzig, und ziemlich klein; dem ebenfalls nicht sehr großen Polizisten reichte sie kaum bis zur Schulter. Sie trug einen dicken Rollkragenpullover und einen engen Rock. Von ihrem blassen, jungenhaften Gesicht hoben sich die stark geschminkten Lippen ab, die langen blonden Haare fielen ihr über die Schultern.

»Keine Angst«, erklärte ihr Kenshi mit höflichem Lächeln. »Das sind nur unsere Müllmänner. In nüchternem Zustand völlig ungefährlich. Wang, das ist Selma Nagel, eine Neue. Sie soll in Nummer achtzehn wohnen. Ist die Achtzehn frei?«

Wang zog im Gehen die Fäustlinge aus und trat auf sie zu.

»Ja«, sagte er. »Schon lange. Guten Tag, Selma Nagel. Ich bin der Hauswart und heiße Wang. Wenn Sie etwas brauchen, dort ist die Tür zur Hauswartswohnung, kommen Sie.«

»Gib mir den Schlüssel«, sagte Kenshi, und zu Selma gewandt: »Ich bringe Sie hinauf.«

»Nicht nötig«, erwiderte sie müde. »Ich finde es selbst.«

»Wie Sie wünschen!« Kenshi hob wieder die Finger zum Mützenschirm. »Hier ist Ihr Koffer.«

Selma nahm den Koffer von Kenshi entgegen, dann den Schlüssel von Wang und warf den Kopf zurück, weil ihr das Haar ins Gesicht gefallen war. »Welcher Aufgang?«

»Geradeaus«, sagte Wang. »Dort unter dem Fenster, wo das Licht brennt. Vierter Stock. Möchten Sie vielleicht etwas essen? Oder Tee?«

»Nein, danke.« Sie warf wieder den Kopf zurück und ging mit klappernden Absätzen direkt auf Andrej zu.

Er trat beiseite. Im Vorbeigehen roch er ihr kräftiges Parfüm. Dann sah er ihr nach, wie sie durch den erhellten Lichtschein ging. Der Rock war sehr kurz, kaum länger als der Pullover. Die Beine waren nackt und weiß und schienen im dunklen Hof zu leuchten, als sie durch den Torbogen in die Dunkelheit des Hofes trat. Und in dieser Dunkelheit sah man nichts, außer ihren weißen Pullover und ihre weißen Beine.

Dann quietschte die Tür und krachte zu. Andrej nahm mechanisch eine Zigarette aus der Schachtel und begann zu rauchen. Dabei stellte er sich vor, wie diese zarten weißen Beine die Treppe hinaufstiegen, Stufe für Stufe, glatte Waden, die Grübchen in den Kniekehlen, ganz benommen konnte man davon werden … Wie sie höher und höher stieg, Stockwerk um Stockwerk, und vor der Achtzehn stehen blieb, direkt gegenüber der Sechzehn. Zum Teufel, ich muss wenigstens die Bettwäsche wechseln, drei Wochen habe ich das nicht getan, der Bezug ist schon grau wie ein Fußlappen. Was hat sie eigentlich für ein Gesicht? Nein, so was, ich erinnere mich überhaupt nicht an ihr Gesicht. Nur ihre Beine haben sich mir eingeprägt …

Plötzlich fiel ihm auf, dass alle schwiegen, sogar der verheiratete Wang. Im selben Moment aber unterbrach Kenshi die Stille: »Ich habe einen Onkel, er ist der Cousin meiner Mutter, Oberst Maki. Ehemaliger Oberst der ehemaligen Kaiserlichen Armee. Erst war er Adjutant des Herrn Oshima und saß zwei Jahre in Berlin. Dann wurde er amtierender Militärattaché in der Tschechoslowakei und war beim Einmarsch der Deutschen in Prag dabei.«

Wang nickte Andrej zu. Dann hievten sie die Tonne ruckartig hoch und beförderten sie auf die Ladefläche.

»Dann«, fuhr Kenshi bedächtig fort und zündete sich eine Zigarette an, »hat er ein bisschen in China gekämpft, ich glaube irgendwo im Süden, Richtung Kanton. Anschließend befehligte er eine Division, die dann auf den Philippinen landete. Und er war einer der Organisatoren des berühmten Todesmarsches von fünftausend amerikanischen Kriegsgefangenen – entschuldigen Sie, Donald. Anschließend kam er in die Mandschurei und wurde Chef des Festungsdistrikts von Xianghe, wo er unter anderem zwecks Geheimhaltung achttausend chinesische Arbeiter in einen Schacht getrieben und in die Luft gesprengt hat – entschuldige, Wang. Dann geriet er in russische Gefangenschaft. Aber anstatt ihn aufzuhängen oder ihn, was dasselbe gewesen wäre, an China auszuliefern, haben sie ihn bloß für zehn Jahre in ein Konzentrationslager gesteckt.«

Während Kenshi erzählte, kletterte Andrej auf den Wagenaufbau und half Donald, die Tonnen ordentlich hinzustellen, klappte die Rückwand hoch und hakte sie ein. Dann sprang er wieder hinunter und spendierte Donald eine Zigarette. Nun standen alle drei vor Kenshi und hörten ihm zu: Donald Cooper, ein langer, hagerer Mann in ausgebleichtem Overall, mit einem langen Gesicht, Falten um den Mund, einem spitzen Kinn und spärlichen grauen Bartstoppeln. Wang war breitschultrig und stämmig, steckte in einem akkurat geflickten Watteanzug und hatte einen kurzen Hals, ein breites braunes Gesicht, eine Stupsnase, ein wohlwollendes Lächeln und dunkle Schlitzaugen mit leicht geschwollenen Lidern.

Andrej überkam plötzlich große Freude bei dem Gedanken, dass hier all diese Menschen aus verschiedenen Ländern und Zeiten zusammengekommen waren, um gemeinsam an einer wichtigen Aufgabe zu arbeiten – jeder auf seinem Posten.

»Jetzt ist er schon ein alter Mann«, endete Kenshi, »und behauptet, die besten Weiber, die er jemals kennengelernt hat, waren Russinnen. Emigrantinnen in Harbin.«

Kenshi verstummte, ließ die Zigarettenkippe fallen und zertrat sie sorgfältig mit dem Absatz seines blitzenden, kurzen Stiefels.

Andrej sagte: »Das ist doch keine Russin – Selma, und dann noch Nagel …«

»Stimmt, sie ist Schwedin«, erklärte Kenshi, »aber egal. Das habe ich nur so assoziiert.«

»Los, wir fahren weiter«, sagte Donald und stieg ins Fahrerhaus.

»Hör mal, Kenshi«, sagte Andrej, die Hand an der Wagentür, »was warst du früher?«

»Qualitätskontrolleur in der Eisengießerei, und davor Minister für kommunale …«

»Ich meine nicht hier, sondern dort …«

»Ach dort? Dort war ich literarischer Mitarbeiter im Verlag Hayakawa.«

Donald ließ den Motor an. Der alte Lkw knatterte und vibrierte und stieß dabei blaue Qualmwolken aus.

»Das rechte Begrenzungslicht brennt nicht!«, schrie Kenshi.

»Das hat noch nie gebrannt«, erwiderte Andrej.

»Dann repariert es! Beim nächsten Mal gibt’s eine Strafe.«

»Dass euch Bullen doch allesamt …«

»Was? Ich höre nichts!«

»Banditen sollst du fangen, keine Müllfahrer!«, schrie Andrej, der den Motorenlärm zu übertönen versuchte. »Was kümmert dich unser Licht! Wann werden sie euch Schmarotzer endlich davonjagen!«

»Bald!«, rief Kenshi. »Schon bald – dauert keine hundert Jahre mehr!«

Andrej drohte ihm mit der Faust, dann winkte er Wang und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Wagen setzte sich in Bewegung, streifte beim Hinausfahren aus dem Hof die Hauswand, fuhr auf die Hauptstraße und bog dann scharf nach rechts.

Andrej brauchte eine Weile, bis er sich bequem hingesetzt hatte, weil eine Stahlfeder unangenehm aus dem Sitz ragte. Er betrachtete Donald von der Seite: Der Amerikaner saß aufrecht da, die linke Hand am Lenkrad und die rechte am Schaltknüppel, den Hut hatte er in die Stirn gezogen, das spitze Kinn vorgereckt, er gab Vollgas. So fuhr Donald immer – mit der höchstzulässigen Geschwindigkeit, ohne auch nur daran zu denken, vor den Schlaglöchern abzubremsen. Die Mülltonnen auf der Ladefläche krachten bei jedem Schlagloch aneinander, die durchgerostete Motorhaube schepperte, und Andrej, der sich mit den Beinen abzustützen versuchte, wurde hochgeschleudert und fiel direkt auf die Spitze dieser verdammten Feder. Sonst war das alles von lustigem Schimpfen begleitet worden, jetzt aber schwieg Donald. Seine schmalen Lippen waren zusammengekniffen, und er sah Andrej nicht einmal an; fast schien es, als stecke hinter dem üblichen Ruckeln nun eine böse Absicht.

»Was ist mit Ihnen, Don?«, fragte Andrej schließlich. »Zahnschmerzen?«

Donald zuckte kurz mit der Schulter und antwortete nicht.

»Nein, wirklich, Sie sind in den letzten Tagen irgendwie verändert. Das sehe ich doch. Habe ich Sie vielleicht ungewollt beleidigt?«

»Hören Sie auf, Andrej«, zischte Donald. »Als ob es etwas mit Ihnen zu tun hätte …«

Wieder hörte Andrej aus diesen Worten Unfreundlichkeit, ja, sogar etwas Kränkendes heraus: Glaubst du, Rotznase, etwa, du könntest mich, einen Professor, beleidigen?

Doch da fuhr Donald fort: »Ich habe Ihnen nicht ohne Grund gesagt, dass Sie ein glücklicher Mensch sind. Man kann Sie wirklich nur beneiden. Alles prallt an Ihnen ab. Oder geht spurlos an Ihnen vorüber. Ich dagegen fühle mich, als hätte mich eine Dampfwalze überrollt. Kein Knochen ist heil geblieben.«

»Was meinen Sie? Ich verstehe nichts.«

Donald schwieg, seine Lippen waren verzerrt. Andrej schaute ihn an, blickte geistesabwesend auf die Straße, sah dann wieder zu Donald, kratzte sich hinter dem Ohr und sagte verdrossen: »Ehrenwort, ich begreife nichts. Es läuft doch alles gut.«

»Deshalb beneide ich Sie ja«, sagte Donald schroff. »Und jetzt genug davon. Kümmern Sie sich nicht darum.«

»Was heißt hier ›Kümmern Sie sich nicht darum?‹«, erwiderte Andrej verstimmt. »Wie kann ich das? Wir sind die ganze Zeit zusammen. Sie, ich, die Jungs. Nun ja, Freundschaft – das ist ein großes Wort, vielleicht zu groß. Dann sind wir eben Kumpel. Ich zum Beispiel würde erzählen, wenn mir … Jeder hilft doch dem anderen! Wenn mir etwas zustieße und ich Sie um Hilfe bäte, würden Sie es mir abschlagen? Bestimmt nicht, habe ich recht?«

Donald ließ den Schaltknüppel los und klopfte Andrej leicht auf die Schulter. Andrej schwieg gerührt. Es war wieder alles gut, alles in Ordnung. Donald war in Ordnung. Ihn hatte wohl einfach die Schwermut gepackt. Ein Mensch kann doch mal schwermütig sein? Bei Donald war es der verletzte Stolz: Er war immerhin Professor für Soziologie – und jetzt Müllfahrer, davor Lagerarbeiter. Das war ihm natürlich unangenehm. Es kränkte ihn – umso mehr, als er mit niemandem darüber reden konnte. Es hatte ihn ja niemand gezwungen hierherzukommen, und sich zu beschweren wäre ihm peinlich … Es ist eben leichter gesagt als getan, wenn es heißt: Mach deine Sache gut, egal wo man dich hinstellt. Na ja, lassen wir das. Er wird sich schon noch zurechtfinden.

Der kleine Lkw rumpelte über die Pflastersteine aus Grünstein, die glitschig waren vom sich herabsenkenden Nebel. Die Gebäude an den Straßenrändern wurden niedriger und sahen verfallen aus. Die Straßenlaternen verbreiteten nun ein trüberes Licht und standen in immer größeren Abständen voneinander entfernt, weiter vorne verschwammen sie zu einem nebligen Fleck. Auf der Straße und den Bürgersteigen war keine Menschenseele zu sehen, selbst die Hauswarte fehlten. Nur an der Ecke der Siebzehnten Gasse, vor einem eingeschossigen plumpen Hotel, bekannt unter dem Namen »Wanzenbude«, stand ein Leiterwagen mit einem traurigen Pferd, und auf dem Wagen schlief jemand, den Kopf in eine Zeltplane gehüllt. Es war vier Uhr nachts – die Zeit des tiefsten Schlafs, und kein einziges Fenster in den schwarzen Stockwerken war erhellt.

Links tauchte aus einer Durchfahrt ein Lkw auf. Donald blinkte mit den Scheinwerfern und raste vorbei. Der Lkw, ebenfalls ein Müllwagen, bog auf die Straße ein und versuchte sie einzuholen, aber da war er an den Falschen geraten: Mit Donald konnte er sich nicht messen. Erst strahlten die Scheinwerfer noch durchs hintere Fenster, dann blieb der Wagen zurück. Sie überholten einen weiteren Müllwagen in den Ausgebrannten Vierteln – gerade noch rechtzeitig, weil gleich hinter dem Stadtteil das Kopfsteinpflaster anfing und Donald dort langsamer fahren musste, damit der alte Lkw nicht auseinanderfiel.

Jetzt begegneten ihnen Wagen, die leer von der Müllkippe zurückkamen und es nicht mehr eilig hatten. Doch plötzlich löste sich von einer Laterne vor ihnen eine undeutliche Gestalt und trat auf die Fahrbahn. Andrej griff schon unter den Sitz, um den großen Schraubenschlüssel hervorzuholen, als er erkannte, dass es ein Polizist war. Er bat sie, ihn zur Krautgasse mitzunehmen. Weder Andrej noch Donald kannten diese Gasse, aber der Polizist, ein derber Kerl, dessen helle Haarsträhnen unordentlich unter der Uniformmütze hervorschauten, sagte, er werde ihnen den Weg zeigen.

Er stellte sich auf das Trittbrett neben Andrej und hielt sich am Rahmen fest. Unterwegs rümpfte er jedoch ständig die Nase, als röche er sonst was, und das, obwohl er selber nach altem Schweiß stank. Aber da fiel Andrej ein, dass dieser Stadtteil ja bereits von der Wasserversorgung abgetrennt war …

Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Der Polizist pfiff eine Operettenmelodie vor sich hin, und dann erzählte er mir nichts, dir nichts, dass man an der Ecke von Krautgasse und Zweiter Linker heute um Mitternacht einen Mann abgemurkst und ihm alle Goldzähne herausgebrochen hatte.

»Ihr arbeitet schlecht«, sagte Andrej böse.

Solche Fälle machten ihn wütend. Der Polizist sprach zudem in einem Ton, dass Andrej ihn am liebsten verprügelt hätte; offensichtlich waren ihm der Mord, der Tote und seine Mörder vollkommen gleichgültig.

Der Polizist wandte Andrej sein breites Gesicht zu und fragte: »Willst du mir etwa beibringen, wie ich zu arbeiten habe, he?«

»Ja, vielleicht«, erwiderte Andrej.

Der Polizist kniff böse die Augen zusammen, pfiff einmal kurz und sagte: »Lehrer, überall Lehrer! Wo man hinguckt – Besserwisser. Steht da und gibt Ratschläge. Ist schon ein Müllfahrer, will aber immer noch andere belehren …«

»Ich belehre dich nicht …«, sagte Andrej mit erhobener Stimme, aber der Polizist ließ ihn nicht weiterreden.

»Jetzt fahr ich aufs Revier«, erwiderte er gelassen, »rufe deine Garage an und sage, dass die rechte Begrenzungsleuchte nicht brennt. Sein Scheinwerfer ist kaputt, und er will einen Polizisten belehren, wie er arbeiten soll, der Grünschnabel!«

Donald lachte plötzlich los, trocken, krächzend. Der Polizist brach ebenfalls in Gelächter aus und erklärte dann versöhnlich: »Ich bin ganz alleine – für vierzig Häuser, verstehst du? Und sie haben uns verboten, Waffen zu tragen. Was erwartest du da von uns? Bald werden sie die Leute zu Hause umbringen, nicht bloß auf der Straße.«

»Und was tut ihr dagegen?«, fragte Andrej schockiert. »Ihr müsstet protestieren, Forderungen stellen …«

»Protestieren«, wiederholte der Polizist giftig. »Forderungen stellen … Du bist hier wohl neu, was? He, Chef!«, rief er Donald zu. »Halt an, ich bin da.«

Er sprang vom Trittbrett und verschwand, ohne sich umzusehen, in einem dunklen Spalt zwischen den schiefen Holzhäusern; am anderen Ende dieses Spalts brannte eine einzige Laterne, und darunter stand ein Häuflein Menschen.

»Sind die denn völlig verblödet, oder was?«, ereiferte sich Andrej, als der Wagen wieder losfuhr. »In der Stadt wimmelt es von Gesindel, und die Polizei läuft ohne Waffen herum! Das gibt’s doch nicht. Kenshi hat eine Pistolentasche am Gürtel, aber was ist da drin – etwa Zigaretten?«

»Stullen«, antwortete Donald.

»Ich verstehe das nicht.«

»Es gab eine Anordnung. ›Im Zusammenhang mit den sich häufenden Überfällen von Gangstern auf Polizisten zum Zwecke der Waffenerbeutung …‹ und so weiter.«

Eine Zeit lang hing Andrej seinen Gedanken nach. Er hatte sich so gut es ging mit den Füßen festgestemmt, um nicht vom Sitz geschleudert zu werden; das Kopfsteinpflaster hatte schon fast aufgehört. »Meiner Meinung nach ist das schrecklich dumm«, sagte er schließlich. »Was meinen Sie?«

»Dasselbe«, sagte Donald, der mit einer Hand mühsam versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.

»Und dann sprechen Sie so ruhig darüber?«

»Ich habe mich schon genug aufgeregt. Diese Anordnung gibt es seit Langem, da waren Sie noch gar nicht hier.«

Andrej kratzte sich hinter dem Ohr und legte die Stirn in Falten. Wer weiß, vielleicht hatte die Anordnung ja einen Sinn? Ein Polizist allein war in der Tat ein verlockender Köder für dieses Pack. Aber wenn man schon die Waffen abschaffte, musste man sie allen abnehmen. Letztlich ging es jedoch nicht nur um diese Anordnung, sondern darum, dass es zu wenig Polizisten und Razzien gab; mit einer einzigen großen Razzia müsste man all den Unrat auskehren. Die Bevölkerung mit einbeziehen. Ich würde mitmachen, natürlich. Donald auch. Man müsste an den Bürgermeister schreiben … Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke.

»Hören Sie, Don«, sagte er. »Sie sind doch Soziologe. Ich finde zwar, dass die Soziologie keine Wissenschaft ist, das habe ich Ihnen schon gesagt … und auch keine Methode. Aber Sie wissen sicher viel mehr als ich. Erklären Sie mir bitte: Woher kommt dieser Abschaum in unserer Stadt? Wie sind diese Mörder, Gewalttäter, dieses ganze Diebespack, hierhergelangt … Haben die Mentoren etwa nicht gewusst, wen sie da riefen?«

»Natürlich haben sie das gewusst«, antwortete Donald gleichgültig und raste durch eine gefährliche Grube, in der schwarzes Wasser stand.

»Also warum?«

»Niemand wird als Dieb geboren, zum Dieb wird man. Und außerdem: ›Woher sollen wir wissen, was für das Experiment notwendig ist? Das Experiment ist das Experiment …‹« Donald schwieg einen Augenblick. »Fußball ist Fußball, der Ball ist rund, das Spielfeld rechteckig, der Bessere soll siegen.«

Die Straßenlaternen endeten, die bewohnten Stadtviertel lagen hinter ihnen. Rechts und links von der maroden Straße lagen verlassene Ruinen: Reste unförmiger Kolonnaden, die in das mürbe Fundament eingesackt waren; durch Balken gestützte Wände mit gähnenden Löchern anstelle von Fenstern; hoch wucherndes Gras; Stapel verfaulter Balken; große Büsche von Nesseln und Kletten und sieche, von Lianen halb erstickte Bäumchen inmitten schwarz gewordener Ziegelhaufen. Und dann war durch den Nebel vor ihnen wieder ein Leuchten zu sehen. Donald bog nach rechts ab und wich dann vorsichtig einem entgegenkommenden leeren Lastwagen aus. Mit durchdrehenden Rädern steuerte er den Lkw durch die tiefen, morastigen Fahrrinnen und bremste schließlich scharf vor den rot leuchtenden Rücklichtern des letzten Müllwagens in der Schlange. Er stellte den Motor ab und schaute auf die Uhr. Andrej tat es ihm gleich. Es war halb fünf.

»Ein Stündchen werden wir wohl stehen«, sagte Andrej munter. »Kommen Sie, wir sehen nach, wer vor uns ist.«

Hinter ihnen hielt ein weiterer Wagen.

»Gehen Sie allein«, sagte Donald, lehnte sich auf dem Sitz zurück und zog die Hutkrempe ins Gesicht.

Da lehnte sich auch Andrej zurück, bog die Feder zurecht und begann zu rauchen. Vorn wurde mit aller Kraft entladen – Tonnendeckel klapperten, der Registrator schrie mit hoher Stimme: »… acht … neun …« An einem Mast schaukelte eine Tausend-Watt-Birne unter einem flachen Blechschirm. Dann auf einmal lautes Geschrei: »Wohin, he, wohin, verdammt! … Los, fahr zurück! Selber blind, du Idiot! … Willst du was in die Fresse?« Rechts und links vom Lkw türmten sich Berge von Müll, der schon zu einer festen Masse zusammengebacken war, und der Nachtwind trug fürchterlich fauligen Gestank herüber.

Plötzlich hörte Andrej direkt neben sich eine bekannte Stimme. »Seid gegrüßt, Scheißefahrer! Wie läuft das große Experiment?«

Es war Isja Katzman höchstpersönlich – ungepflegt, dick, nachlässig gekleidet und wie immer unerträglich jovial.

»Habt ihr schon gehört? Es gibt ein Projekt zur endgültigen Lösung des Kriminalitätsproblems. Die Polizei wird abgeschafft! Stattdessen lässt man nachts die Verrückten auf die Straße. Das ist das Ende für Banditen und Rowdys – jetzt wagen sich nachts nur noch Verrückte aus dem Haus!«

»Nicht sehr witzig«, sagte Andrej trocken.

»Nicht?« Isja stieg aufs Trittbrett und steckte den Kopf in die Fahrerkabine. »Im Gegenteil! Sehr, sehr witzig! Keine zusätzlichen Kosten! Die Hauswarte haben die Aufgabe, die Irren morgens zu ihrem Wohnsitz zurückzubringen.«

»Im Gegenzug erhalten die Hauswarte eine zusätzliche Ration von einem Liter Wodka«, spann Andrej den Faden weiter, womit er Isja in unerklärliche Begeisterung versetzte: Isja kicherte, gluckste, spuckte und rieb sich die Hände.

Donald begann plötzlich laut zu fluchen, riss die Tür auf, sprang hinaus und verschwand im Dunkeln.

Isja hörte sofort auf zu kichern und fragte besorgt: »Was hat er denn?«

»Weiß nicht«, erwiderte Andrej missmutig. »Vielleicht wurde ihm schlecht von dir … Aber es geht schon ein paar Tage so.«

»Wirklich?« Isja sah über die Fahrerkabine hinweg in die Richtung, in die Donald verschwunden war. »Schade. Er ist ein guter Mensch. Hat sich nur leider nicht an die Umstände angepasst.«

»Und wer hat sich angepasst?«

»Ich habe mich angepasst, du hast dich angepasst, und Wang. Neulich hat sich Donald unheimlich aufgeregt: Warum muss er anstehen und warten, um den Müll abzuladen? Wozu braucht man hier einen Registrator? Was registriert er?«

»Er hat recht«, sagte Andrej. »Das ist wirklich Schwachsinn.«

»Aber dich regt es nicht auf«, entgegnete Isja. »Du weißt, dass der Mann seine Arbeit nicht freiwillig tut. Man hat ihn dafür hierherbeordert, also registriert er. Und weil er mit dem Registrieren nicht nachkommt, bildet sich eine Schlange. Und eine Schlange ist eben eine Schlange.« Isja gluckste und spuckte wieder. »Hätte Donald etwas zu sagen, würde er eine gute Straße zur Müllhalde bauen, mit Einfahrten fürs Abladen. Den Registrator, ein Mann wie ein Schrank, würde er zur Polizei schicken, damit er mit den Banditen fertigwird. Oder an die vorderste Front, zu den Farmern.«

»Und?«, fragte Andrej ungeduldig.

»Was – und? Donald hat nichts zu sagen.«

»Und warum machen die da oben es nicht so?«

»Warum sollten sie?«, fragte Isja feixend. »Denk doch selber! Wird der Müll weggeschafft? Er wird. Wird der Transport registriert? Wird er. Systematisch? Systematisch. Am Monatsende liegt die Abrechnung vor: Es wurden soundso viel Tonnen mehr Müll weggeschafft als im Vormonat. Der Minister ist zufrieden, der Bürgermeister ist zufrieden, alle sind zufrieden, und wenn Donald unzufrieden ist? Niemand hat ihn gezwungen herzukommen – er ist freiwillig hier!«

Der Lkw vor ihnen stieß graue Qualmwolken aus und fuhr fünfzehn Meter weiter. Andrej setzte sich eilig ans Steuer und blickte um sich. Donald war nirgends zu sehen. Da schaltete er vorsichtig den Motor an und fuhr mit Ach und Krach die fünfzehn Meter vor; den Motor würgte er dabei dreimal ab. Isja begleitete ihn zu Fuß und sprang erschrocken beiseite, wenn der Wagen schlingerte. Dann begann er etwas von der Bibel zu erzählen, aber Andrej hörte kaum zu – er war schweißnass vor Anspannung.

Weiter vorn, unter der grellen Lampe, klapperten noch immer die Mülltonnen, wurde geflucht. Etwas schlug auf das Kabinendach auf und sprang fort, aber Andrej achtete nicht darauf. Von weiter hinten war der riesengroße Oskar Heidemann herangetreten und bat um Feuer. Neben ihm stand sein Beifahrer Silva, ein Schwarzer aus Haiti, der in der Dunkelheit fast unsichtbar war, nur seine weißen Zähne blitzten.

Isja unterhielt sich mit ihnen. Silva nannte er aus irgendeinem Grund »Tonton Macoute«, und bei Oskar erkundigte er sich nach einem gewissen Thor Heyerdahl. Silva zog furchterregende Grimassen, formte mit den Fingern eine Brille und tat so, als feuere er aus einer Maschinenpistole. Isja fasste sich an den Bauch und tat, als sei er auf der Stelle niedergestreckt worden – Andrej begriff nichts, Oskar offenbar auch nicht. Aber bald stellte sich heraus, dass Isja Haiti mit Tahiti verwechselt hatte.

Über das Dach rollte wieder etwas, und plötzlich schlug ein Dreckklumpen auf die Kühlerhaube und platzte auseinander.

»He!«, schrie Oskar in die Finsternis hinein. »Hört auf damit!«

Vorn wurde wieder aus zwanzig Kehlen gebrüllt, Fluch über Fluch. Man beschimpfte sich auf das Ärgste. Da war etwas im Gange. Isja ächzte, fasste sich an den Leib und krümmte sich – diesmal nicht zum Scherz. Andrej öffnete die Tür und wollte aussteigen, als ihm eine leere Konservendose an den Kopf flog. Es tat zwar nicht weh, aber es kränkte ihn … Silva schlüpfte geduckt in die Dunkelheit. Andrej schützte Kopf und Gesicht und blickte sich um.

Er konnte nichts sehen. Von den Müllhaufen zur Linken kamen verrostete Dosen und verfaulte Holzstücke angeflogen, alte Knochen und sogar Ziegelbrocken. Klirrend zersplitterte Glas. Dann hörte man wildes Gebrüll: »Welcher Mistkerl erlaubt sich da einen Spaß?«, schrien sie fast im Chor. Die Motoren heulten, die Scheinwerfer flammten auf. Mehrere Lastwagen bewegten sich ruckartig hin und her – offensichtlich versuchten die Fahrer zu wenden, um die Müllhaufen anzuleuchten, von denen es nun schon ganze Ziegelsteine und leere Flaschen hagelte. Einige Männer rannten wie Silva geduckt in die Finsternis.

Andrej sah, dass sich Isja mit schmerzverzerrtem Gesicht neben der Hinterachse krümmte und seinen Bauch betastete. Da griff er unter den Sitz, zog den großen Schraubenschlüssel hervor und sprang hinaus. Er würde den Schuften eins auf den Schädel geben, ja, auf den Schädel! Rund ein Dutzend Müllmänner krochen wütend auf allen vieren den Hang hinauf. Einem Fahrer war es gelungen, seinen Wagen querzustellen, und das Scheinwerferlicht erhellte den unebenen Kamm, der mit Gerümpel, Lumpen, Papierfetzen und glitzerndem zerbrochenem Glas bedeckt war. Darüber ragte eine Baggerschaufel in den schwarzen Himmel. Etwas bewegte sich auf dieser Schaufel, etwas Großes, Graues, silbrig Schimmerndes. Andrej erstarrte, als er es sah, und in dem Moment übertönte ein entsetzter Schrei das Stimmengewirr.

»Das sind Teufel! Teufel! Rettet euch!«

Jetzt stürzten Menschen in panischer Angst den Hang hinunter, Hals über Kopf in einem Wirbel von Staub, Lumpen und altem Papier – Menschen mit wahnsinnigen Augen, aufgerissenen Mündern, fuchtelnden Händen. Ein Mann, der seinen Kopf mit den Armen schützte, rannte brüllend an Andrej vorbei, rutschte in den tiefen Reifenfurchen aus, fiel hin, sprang wieder auf und stürzte in Richtung Stadt davon. Ein anderer versuchte, sich keuchend zwischen dem Kühler von Andrejs Lkw und der Rückwand des Wagens vor ihm hindurchzuzwängen, blieb stecken, versuchte loszukommen und schrie ebenfalls auf wie am Spieß. Dann wurde es stiller, nur die Motoren brummten. Aber da knallten, satt wie Peitschenhiebe, Schüsse durch die Nacht. Andrej sah im bläulichen Scheinwerferlicht einen groß gewachsenen hageren Mann auf der Müllhalde stehen. Er stand mit dem Rücken zu den Lastwagen, hielt mit beiden Händen eine Pistole fest und feuerte immer wieder hinaus in die Dunkelheit.

Er schoss fünf- oder sechsmal in völliger Stille. Dann drang aus der Dunkelheit ein tausendstimmiges, ganz und gar unmenschliches Gebrüll – böse, miauend, wimmernd, als schrien tausend Katzen gleichzeitig in einen Lautsprecher. Der hagere Mann wich zurück, fuchtelte ungelenk mit den Armen und glitt rücklings den Hang hinab. Andrej trat im Vorgefühl von etwas unerträglich Schrecklichem ebenfalls zurück und sah, wie der Kamm der Müllhalde in Bewegung geriet.

Dort wimmelte es von silbergrauen, ungeheuer hässlichen Gespenstern, Tausende von Augen funkelten blutunterlaufen, Millionen gefletschte Reißzähne blitzten, ein Gewirr langer zottiger Arme fuchtelte in der Luft herum. Im Scheinwerferlicht sah man eine dichte Wand von aufgewirbeltem Staub, und es hagelte Holzstücke, Steine, Flaschen und Dreckbrocken auf die Wagenkolonne.

Andrej hielt es nicht aus. Er sprang in die Kabine, presste sich in eine Ecke, hielt den Schraubenschlüssel vor sich und erstarrte vor Angst wie in einem Albtraum. Sein Denken setzte aus, und als ein dunkler Körper auf die offene Tür zukroch, brüllte er los, ohne die eigene Stimme zu hören, und fing an, mit dem Eisen auf das Weiche, Schreckliche einzuprügeln, das sich wehrte, auf ihn zukroch … bis ihn Isjas klägliches Geschrei wieder zu sich brachte: »Idiot, das bin doch ich.« Und da kroch Isja in die Kabine, schlug die Tür hinter sich zu und erklärte mit ruhiger Stimme: »Weißt du, was das ist? Das sind Affen. Diese Mistviecher!«

Zunächst verstand ihn Andrej nicht. Dann begriff er, wollte es aber nicht glauben.

»Wirklich?« Er stellte sich aufs Trittbrett und schaute über die Kabine hinweg.

Richtig: Es waren Affen. Sehr große, sehr langhaarige und anscheinend sehr erboste Affen. Keine Teufel und Gespenster – nur Affen. Andrej wurde heiß vor Scham und Erleichterung, und in dem Moment streifte ihn ein Stein am Ohr, und etwas Schweres schlug aufs Dach.

»Alle in die Fahrzeuge!«, brüllte jemand mit Kommandostimme. »Schluss mit der Panik! Es sind Paviane! Nichts Schlimmes! In die Fahrzeuge und Rückwärtsgang!«

Jetzt brach die Hölle los: Auspuffe knatterten, Scheinwerfer leuchteten auf und erloschen, die Motoren heulten, graue Qualmwolken stiegen zum sternenlosen Himmel auf. Aus der Dunkelheit tauchte plötzlich ein Gesicht auf, zwei Hände packten Andrej an der Schulter, schüttelten ihn wie einen jungen Hund und stießen ihn seitlich in die Kabine. Da ruckte der vordere Lkw zurück und krachte gegen den Kühler, der Lkw von hinten schnellte vor und schlug auf den Wagenkasten wie auf eine Trommel, sodass die Mülltonnen laut schepperten. Isja aber rüttelte Andrej an der Schulter und drängte: »Kannst du fahren oder nicht? Andrej! Kannst du?«, und aus dem grauen Qualm schrie jemand durchdringend: »Sie bringen mich um! Hilfe!«, und die Kommandostimme brüllte ununterbrochen: »Schluss mit der Panik! Letzter Wagen, Rückwärtsgang! Los!« Und von oben, von rechts und von links prasselten die Wurfgeschosse, krachten auf die Motorhauben, schepperten auf die Mülltonnen, schlugen krachend durch die Scheiben. Pausenlos heulten die Hupen auf, und das scheußlich miauende Geschrei schwoll immer mehr an.

Isja sagte plötzlich: »Also, ich gehe …« Er stieg aus, den Kopf vorsorglich mit den Armen schützend, und endete beinahe unter einem Wagen, der in Richtung Stadt raste; zwischen den hüpfenden Mülltonnen tauchte das verzerrte Gesicht des Registrators auf. Dann verschwand Isja, und Donald tauchte auf – ohne Hut, abgerissen und völlig verdreckt –, er schleuderte die Pistole auf den Sitz, setzte sich ans Lenkrad, warf den Motor an und schaltete in den Rückwärtsgang.

Anscheinend kam nun doch Ordnung zustande: Das panische Geschrei verstummte, nur die Motoren heulten, und die ganze Kolonne fuhr ein Stück zurück. Sogar der Hagel aus Steinen und Flaschen schien nachzulassen. Die Paviane sprangen auf der Müllhalde herum, kamen aber nicht herunter – sie schrien, rissen ihr Maul auf und wandten der Wagenkolonne wie zum Spott ihre im Scheinwerferlicht rot glänzenden Hinterteile zu.

Der Lkw rollte immer schneller, wieder drehten die Räder im Schlamm durch, dann erreichte er die Straße und wendete. Donald schaltete zähneknirschend, gab Gas, schlug die Tür zu und ließ sich gegen die Lehne fallen. Im Dunkel hüpften die roten Rücklichter der Wagen vor ihnen.

Wir sind freigekommen, dachte Andrej erleichtert und betastete vorsichtig sein Ohr. Es war geschwollen und pulsierte. Nicht zu glauben – Paviane! Wo kamen die her? Dazu so große, in solchen Massen! Hier hat es nie Paviane gegeben – wenn man von Isja Katzman einmal absieht. Und warum ausgerechnet Paviane? Warum keine Tiger? … Dann wurde der Wagen heftig geschüttelt. Andrej flog hoch und landete auf etwas Hartem; er zog die Pistole hervor. Eine Minute lang betrachtete er sie verständnislos. Die Pistole war schwarz, klein, hatte einen kurzen Lauf und einen geriffelten Griff.

Dann sagte Donald plötzlich: »Vorsicht. Geben Sie sie her.«

Andrej gab ihm die Pistole und sah eine Weile zu, wie Donald sich bemühte, die Waffe in die Gesäßtasche zu stecken.

Plötzlich begann Andrej zu schwitzen. »Also, Sie haben dort … geschossen?«, fragte er krächzend.

Donald antwortete nicht. Er blinkte mit dem heil gebliebenen Scheinwerfer und überholte einen Lkw. Unmittelbar vor dem Kühler huschten mehrere Paviane mit gekrümmten Schwänzen über die Kreuzung, aber Andrej kümmerten sie bereits nicht mehr.

»Woher haben Sie die Waffe, Don?«

Donald antwortete wieder nicht, sondern machte nur eine seltsame Geste: Er versuchte, den nicht mehr vorhandenen Hut in die Stirn zu ziehen.

»Also, Don!«, sagte Andrej jetzt entschieden. »Wir fahren sofort zur Stadtverwaltung. Sie geben dort die Waffe ab und erklären, wie Sie dazu gekommen sind.«

»Hören Sie auf, dämlich zu quatschen«, erwiderte Donald. »Geben Sie mir lieber eine Zigarette.«

Andrej nahm das Päckchen heraus.

»Das ist kein Quatsch«, sagte er. »Ich will nichts wissen. Sie haben geschwiegen – gut, das ist Ihre Sache. Eigentlich vertraue ich Ihnen … Aber in der Stadt haben nur die Banditen Waffen. Damit will ich nichts andeuten, aber ich verstehe Sie nicht … Sie müssen Ihre Waffe abgeben und alles erklären. Und Sie brauchen nicht so zu tun, als wäre das Quatsch. Ich merke doch, wie Sie sich in letzter Zeit verändert haben. Lieber hingehen und alles erzählen.«

Donald wandte eine Sekunde lang den Kopf und blickte Andrej ins Gesicht. Andrej konnte diesen Blick nicht deuten – lag Spott oder Schmerz darin? Donald wirkte sehr alt in diesem Moment, gebrechlich und irgendwie gehetzt. Andrej war verwirrt und verlegen, wiederholte jedoch beharrlich: »Abgeben und alles erzählen. Alles!«

»Ist Ihnen klar, dass die Affen in die Stadt kommen?«

»Und was heißt das?«, fragte Andrej ratlos.

»Ja, wirklich … Was heißt das?«, erwiderte Donald mit unangenehmem Lachen.

2

Die Affen waren schon in der Stadt. Sie liefen auf Häusersimsen, hingen wie Trauben an Laternenpfählen, tanzten in pelzigen Horden auf Kreuzungen, klebten an Fenstern, warfen mit Pflastersteinen, jagten verwirrte Menschen, die in Unterwäsche auf die Straße gerannt waren.

Mehrere Male hielt Donald an, um Flüchtlinge aufzuladen. Die Mülltonnen hatten sie längst abgeworfen. Das Pferd, das vor den Leiterwagen gespannt gewesen war, galoppierte eine Zeit lang wie im Wahnsinn vor ihrem Lkw her; auf dem Leiterwagen schlief niemand mehr: Dort saß ein kräftiger silbergrauer Pavian, der mit seinen langen haarigen Armen herumfuchtelte und durchdringend schrie. Andrej sah, wie der Wagen krachend gegen einen Laternenpfahl prallte; das Pferd lief mit abgerissenem Geschirr weiter, der Pavian sprang geschickt auf die nächste Dachrinne und verschwand.

Auf dem Platz vor dem Rathaus herrschte Panik. Automobile fuhren vor und wieder weg, Polizisten rannten herum, verwirrte Leute in Unterwäsche schlichen umher. Am Eingang wurde ein Beamter gegen die Wand gepresst, man schrie auf ihn ein, stellte Forderungen; er aber wehrte sich mit Spazierstock und Aktentasche.

»Drunter und drüber«, sagte Donald und sprang aus dem Wagen.

Sie liefen ins Rathaus und verloren sich in dem Gewühl von Menschen sofort aus den Augen. Überall standen Leute in Zivil herum, in Polizeiuniformen oder in Unterwäsche, tausendfaches Gewirr von Stimmen, und vom Tabakqualm tränten Andrej die Augen.

»Verstehen Sie doch! Ich kann doch nicht so – nur in Unterhosen …!«

»Öffnen Sie sofort das Arsenal und teilen Sie die Waffen aus! Zum Teufel, geben Sie wenigstens den Polizisten Waffen!«

»Wo ist der Polizeichef? Eben war er doch da …«

»Meine Frau ist noch dort, verstehen Sie? Und die alte Schwiegermutter!«

»Hören Sie, es ist nichts Schlimmes. Affen sind eben Affen …«

»Stell dir vor, ich wache auf, und auf dem Fensterbrett sitzt einer …«

»Und wo ist der Polizeichef? Pennt der Fettwanst etwa noch?«

»Bei uns an der Ecke stand eine Laterne. Die haben sie umgerissen.«

»Kowalewski! Auf Zimmer zwölf, schnell!«

»Das werden Sie doch einsehen, dass ich nicht in Unterhosen …«

»Wer kann Auto fahren? Chauffeure! Alle auf den Platz! Zur Litfaßsäule!«

»Wo ist denn nun zum Teufel der Polizeichef? Geflüchtet, der Hund?«

»Also. Geh mit ein paar Männern in die Gießerei. Dort nimmst du diese … na, diese Stangen für die Parkzäune. Nimm alle! Und komm gleich wieder her!«

»… Also, da hau ich ihm eins auf die haarige Schnauze, verstauche mir sogar die Hand dabei, und er brüllt: ›Herrgott! Was machst du? Das bin doch ich, Freddy!‹ So ein Mist aber auch …«

»Ob sich Luftgewehre eignen?«

»Ins zweiundsiebzigste Viertel – drei Wagen! Ins dreiundsiebzigste – fünf …«

»Lassen Sie Uniformen ausgeben! Gebrauchte. Nur gegen Quittung, damit wir sie danach wiederkriegen!«

»Hören Sie, haben die Schwänze? Oder ist mir das nur so vorgekommen?«

Andrej wurde gestoßen, geschubst, an die Wände des Korridors gedrückt; man trat ihm auf die Füße, und auch er drängelte und schubste. Erst suchte er Donald, um als Zeuge der Verteidigung bei der reuigen Waffenabgabe dabei zu sein, dann aber begriff er, dass die Invasion der Paviane wohl eine ernste Sache war, wenn hier solch ein Durcheinander herrschte. Sogleich bedauerte er, dass er keinen Lkw fahren konnte, und er wusste auch nicht, wo sich die Gießerei mit den geheimnisvollen Stangen befand. Mit gebrauchten Uniformen konnte er auch niemanden ausstatten – eigentlich war er hier zu nichts nütze. Dann aber wollte er wenigstens mitteilen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, vielleicht waren diese Angaben von Bedeutung. Doch die einen wollten überhaupt nicht zuhören, andere unterbrachen ihn, kaum dass er angefangen hatte, und erzählten selber.

Bekümmert stellte er fest, dass er in diesem Durcheinander aus Uniformen und Pyjamas kein bekanntes Gesicht entdecken konnte – nur einmal sah er kurz den schwarzen Silva, dessen Kopf mit einem blutigen Lappen verbunden war. Inzwischen aber wurde offensichtlich etwas unternommen: Jemand bestellte jemand anderen hierher und schickte ihn dann irgendwohin, die Stimmen wurden lauter, selbstsicherer, und man sah immer weniger Unterhosen, während die Zahl der Uniformen deutlich zunahm. Einen Augenblick lang glaubte Andrej, gleichmäßige Stiefelschritte und ein Marschlied zu hören, aber man hatte nur einen tragbaren Safe fallen gelassen, der nun die Treppe hinunterpolterte und in der Tür der Verpflegungsabteilung stecken blieb.

Da erblickte Andrej ein bekanntes Gesicht – einen Beamten und ehemaligen Kollegen aus der Buchhaltung des Eichamtes. Andrej zwängte sich durch die Menge hindurch bis zu ihm hin, presste den Mann an die Wand und erklärte ihm in einem Atemzug, dass er, Andrej Woronin – erinnern Sie sich, wir waren Kollegen? –, zurzeit Müllfahrer, hier niemanden finden könne, aber setzen Sie mich irgendwo ein, es werden doch sicherlich Leute gebraucht … Der Beamte hörte eine Zeit lang zu, wobei er hektisch zwinkerte und schwache Versuche machte, sich loszureißen, schließlich stieß er Andrej fort und schrie: »Wo soll ich Sie denn einsetzen? Sehen Sie denn nicht – ich bringe Akten zur Unterschrift!« Und dann flüchtete er den Korridor entlang.

Andrej unternahm noch einige Versuche, bei organisierten Aktionen mitzuwirken, wurde aber stets zurückgewiesen. Alle hatten es schrecklich eilig, und es gab niemanden, der einfach ruhig dagestanden und zum Beispiel Listen von Freiwilligen zusammengestellt hätte. Andrej war darüber sehr aufgebracht. Er fing an, alle Türen aufzureißen in der Hoffnung, wenigstens eine verantwortliche Person zu finden, die nicht rannte, nicht schrie und nicht mit den Armen fuchtelte – es war doch klar, dass sich hier irgendwo ein Stab befinden musste, der dieses ganze Treiben lenkte.

Das erste Zimmer war leer. Im zweiten brüllte ein Mann im Schlafanzug in den Telefonhörer. Ein anderer zog fluchend einen engen Bürokittel über; unter dem Kittel schauten Polizeihosen und geflickte Polizeischuhe ohne Schnürsenkel hervor. Als Andrej in den dritten Raum hineinsah, schlug ihm irgendetwas Rosafarbenes mit Knöpfen ins Gesicht; er erhaschte einen Blick auf ein paar recht beleibte, weibliche Körper und zuckte zurück. Dafür traf er im vierten Raum den Mentor an.

Er saß auf dem Fensterbrett, hielt seine Knie umfasst und schaute in die Finsternis hinaus, wo hin und wieder Scheinwerfer aufleuchteten. Als Andrej eintrat, wandte der Mentor ihm sein gutmütiges rotwangiges Gesicht zu, zog wie immer ein wenig die Brauen hoch und lächelte. Dieses Lächeln besänftigte Andrej sogleich: All seine Wut und Erbitterung verflogen, und er wusste, dass nun alles ins Lot kommen und gut ausgehen würde.

»Sehen Sie«, sagte Andrej, breitete ratlos die Arme aus und erwiderte das Lächeln. »Ich bin völlig überflüssig. Auto fahren kann ich nicht, wo sich die Gießerei befindet, weiß ich nicht. Es herrscht totales Durcheinander, man versteht überhaupt nichts.«

»Ja«, stimmte ihm der Mentor voller Mitgefühl zu. »Ein schreckliches Durcheinander.« Er nahm die Füße vom Fensterbrett, setzte sich auf seine Handflächen und ließ die Beine baumeln wie ein Kind. »Geradezu unanständig. Man muss sich schämen. Erwachsene Menschen, mit Erfahrung! Also stimmt die Organisation nicht. Habe ich recht, Andrej? Wichtige Fragen wurden dem Selbstlauf überlassen. Ungenügende Vorbereitung … mangelhafte Disziplin. Und die Bürokratie natürlich.«

»Ja!«, sagte Andrej. »Natürlich! Wissen Sie, was ich beschlossen habe? Ich werde jetzt niemanden mehr suchen, nichts mehr erklären, ich nehme einen Stock und ziehe los. Ich reihe mich irgendwo in eine Abteilung ein. Und wenn die mich nicht aufnehmen – dann geh ich eben allein. Dort sind doch Frauen zurückgeblieben … und Kinder …«

Bei jedem Wort nickte der Mentor, er lächelte nicht mehr, seine Miene war jetzt ernst und mitfühlend.

»Nur eines noch«, sagte Andrej stirnrunzelnd. »Was ist mit Donald?«

»Mit Donald? Ach, mit Donald Cooper!« Er lachte. »Sie denken natürlich, Donald Cooper sei schon verhaftet worden und bereue seine Verbrechen. Nichts dergleichen. Donald Cooper organisiert gerade eine Freiwilligenabteilung, um diese schändliche Invasion zurückzuschlagen. Er ist kein Bandit und hat auch keinerlei Verbrechen begangen, die Pistole hat er auf dem Schwarzmarkt gegen eine alte Uhr mit Schlagwerk eingetauscht. Was soll er machen? Er ist sein Leben lang mit einer Waffe herumgelaufen – er ist daran gewöhnt!«

Andrej war erleichtert. »Alles klar! Ich habe es ja selber nicht geglaubt, habe nur gemeint, dass … Schon gut!« Er drehte sich um, hielt dann aber inne. »Sagen Sie – natürlich nur, wenn es kein Geheimnis ist: Wozu das alles? Ich meine die Affen? Woher kommen sie? Was sollen sie beweisen?«

Der Mentor seufzte und sprang vom Fensterbrett.

»Sie stellen mir wieder Fragen, Andrej, auf die …«

»Nein! Ich verstehe alles!«, erwiderte Andrej nachdrücklich, und er presste die Hände an die Brust. »Ich wollte nur …«

»Warten Sie! Sie stellen mir Fragen, auf die ich einfach keine Antwort weiß. Begreifen Sie das endlich. Ich weiß es nicht!