Gesammelte Werke 5 - Arkadi Strugatzki - E-Book

Gesammelte Werke 5 E-Book

Arkadi Strugatzki

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Beschreibung

Die einzigartige Werkausgabe

Arkadi und Boris Strugatzki zählen zu den bedeutendsten Autoren der osteuropäischen Science Fiction. Einst in Russland verboten, sind ihre Texte heute in mehr als 30 Sprachen übersetzt und haben eine Millionenauflage erreicht. Mit ihren atemberaubenden Romanen haben die Brüder Strugatzki die Science-Fiction-Literatur weit über die Grenzen Russlands hinaus nachhaltig beeinflusst. Der fünfte Band der großen Werkausgabe beinhaltet sieben Romane und Erzählungen aus der Welt des Mittags: "Der Weg zur Amalthea", "Die gierigen Dinge des Jahrhunderts", "Die Erprobung des SKYBEK", "Das vergessene Experiment", "Mittag, 22. Jahrhundert" und "Der ferne Regenbogen".

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Seitenzahl: 1111

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Arkadi und Boris StrugatzkiWerkausgabe – Fünfter BandHerausgegeben vonSascha Mamczak und Erik Simon

Arkadi und BorisSTRUGATZKI

Der Weg zur Amalthea

Die gierigen Dingedes Jahrhunderts

Die Erprobung des SKYBEK

Das vergessene Experiment

Spezielle Voraussetzungen

Mittag, 22. Jahrhundert

Der ferne Regenbogen

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der OriginalausgabenПуть на АмальтеюХищные вещи векаИспытание «СКИБР» / Забытый эксперимент / Частные предположенияПолдень, XXII векДалекая РадугаDeutsche Übersetzung von Traute und Günther Stein (Der Weg zur Amalthea), Heinz Kübart (Die gierigen Dingedes Jahrhunderts), David Drevs (Die Erprobung des SKYBEK),Aljonna Möckel (Das vergessene Experiment; Spezielle Voraussetzungen; Mittag, 22. Jahrhundert; Der ferne Regenbogen)Ergänzung anhand der ungekürzten und unzensierten Originalversionen: Anna Doris Schüller, Matthias Dondl, David DrevsÜbersetzung der Kommentare von Boris Strugatzki sowie Anmerkungen und Nachdichtungen: Erik SimonTextbearbeitung und Redaktion: Anna Doris Schüller

Deutsche Erstausgabe 3/2013Copyright © 1959–65by Arkadi und Boris StrugatzkiCopyright © 2001 des Kommentars by Boris StrugatzkiCopyright © 2013 der deutschen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 Münchenwww.heyne.deCovergestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsISBN: 978-3-641-08920-7V003

INHALT

DER WEG ZUR AMALTHEA

DIE GIERIGEN DINGE DES JAHRHUNDERTS

DIE ERPROBUNG DES SKYBEK

DAS VERGESSENE EXPERIMENT

SPEZIELLE VORAUSSETZUNGEN

MITTAG, 22. JAHRHUNDERT

DER FERNE REGENBOGEN

Anhang

BORIS STRUGATZKIKommentar

Anmerkungen

Die wichtigsten Werke der Brüder Strugatzki

DER WEG ZUR AMALTHEA

Prolog

Amalthea, J-Station

Die Amalthea ist der fünfte Mond des Jupiters und ihm am nächsten. In etwa fünfunddreißig Stunden dreht sie sich einmal um ihre Achse und umkreist Jupiter innerhalb von zwölf Stunden. Deshalb erscheint dieser alle dreizehneinhalb Stunden über dem nahen Horizont.

Der Aufgang des Jupiters ist sehr schön. Man muss nur frühzeitig mit dem Lift zur durchsichtigen Spektralkuppel im obersten Stockwerk hinauffahren. Sobald sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erblickt man eine vereiste Ebene, die sich sanft gewölbt bis zu einem Felskamm am Horizont erstreckt. Der Himmel ist schwarz und mit einem Meer hell strahlender Sterne bedeckt, deren Glanz von der Ebene schwach reflektiert wird. Der felsige Gebirgskamm zeichnet sich vor dem Sternenhimmel als tiefschwarze Silhouette ab, und wenn man genauer hinsieht, kann man sogar die Umrisse der einzelnen bizarren Gipfel erkennen.

Manchmal schweben die gefleckte Sichel des Ganymed oder die silberne Scheibe der Kallisto (oder auch beide, was allerdings ziemlich selten vorkommt) dicht über dem Felskamm. Dann fallen von den Bergen graue ebenmäßige Schatten weit über das schimmernde Eis der Ebene. Erscheint aber am Horizont die Sonne, ein runder, blendend heller Lichttupfen, so färbt sich die Ebene zartblau, die Schatten werden schwarz, und auf dem Eis treten alle Spalten und Risse deutlich hervor. Die kohlschwarzen Kleckse auf dem Raketenstartplatz erinnern dann an langgestreckte zugefrorene Pfützen – ein Anblick, der halbvergessene Assoziationen weckt: Man möchte hinausstürmen, auf der dünnen Eisdecke herumlaufen und sehen, wie sie unter den Magnetschuhen birst, wie haarfeine Risse entstehen und ein Kräuseln, wie es über die heiße Milch läuft, nur dunkler.

Doch all das gibt es auch anderswo, nicht nur auf der Amalthea. Wenn aber der Jupiter aufgeht, ist das ein Schauspiel, das es in dieser Schönheit nur auf der Amalthea gibt, faszinierend, weil der aufgehende Planet die Sonne verjagt. Zuerst flammt hinter den Gipfeln des Gebirgskamms eine grüne Morgenröte auf – die Exosphäre des gigantischen Planeten. Sie erstrahlt immer heller, nähert sich langsam der Sonne und löscht nacheinander die Sterne am schwarzen Himmel. Plötzlich schiebt sie sich in die Sonne hinein – ein Moment, den man auf keinen Fall versäumen darf. Der grüne Strahlenschein der Exosphäre erstrahlt augenblicklich, wie durch Zauberei, blutrot. Auf diesen Anblick wartet man – und doch tritt er jedes Mal völlig überraschend ein. Die Sonne und die vereiste Ebene färben sich rot, und auf dem runden Türmchen der Peilanlage am Rand der Ebene blitzen rote Lichtreflexe auf. Sogar die Schatten der Gipfel füllen sich mit zartem Rosa. Dann wird das Rot allmählich dunkler, färbt sich graubraun, und schließlich erhebt sich über dem felsigen Bergrücken am nahen Horizont der riesige braune Leib des Jupiters. Die Sonne ist noch zu sehen und noch immer rot wie glühendes Eisen, eine kreisrunde, kirschfarbene Scheibe auf graubraunem Grund.

Graubraun gilt für gewöhnlich als unschöne Farbe, dies jedoch zweifellos nur bei Menschen, die den Himmel noch nie haben graubraun erstrahlen und darauf eine scharf konturierte rote Sonnenscheibe haben stehen sehen. Ist die rote Scheibe verschwunden, bleibt nur, riesig, graubraun und zottig, der Jupiter zurück. Er braucht geraume Zeit, um sich über den Horizont zu erheben, schwillt dabei gleichsam an und nimmt schließlich ein Viertel des Himmels ein. Schwarze und grüne Streifen von Ammoniakwolken legen sich quer über den Himmelskörper, und von Zeit zu Zeit zeigen sich winzige weiße Punkte, die sogleich wieder verlöschen – die exosphärischen Protuberanzen.

Leider kann man sich den Aufgang des Jupiters nur selten bis zur letzten Phase ansehen; der Planet lässt sich viel Zeit dabei, während man selbst zur Arbeit muss. Nur wenn man mit der Beobachtung des Aufgangs beauftragt ist, kann man ihn bis zum Ende verfolgen, doch währenddessen bleibt einem kaum Zeit, an die Schönheit zu denken …

Der Direktor der »J-Station« sah auf die Uhr. Der Jupiteraufgang war heute sehr schön und würde gleich noch schöner werden, aber es wurde Zeit, wieder mit dem Lift nach unten zu fahren und darüber nachzudenken, was zu tun war.

Im Schatten der Felsen fing das Gittergerüst der großen Antenne an, sich langsam zu drehen. Die Funkoptiker begannen mit ihren Beobachtungen. Diese hungrigen Funkoptiker …

Der Direktor warf einen letzten Blick auf die wolkige graubraune Wölbung des Jupiters und bedauerte, nicht so lange warten zu können, bis auch die vier großen Jupitermonde – die rötliche Io, die Europa, der Ganymed und die Kallisto – über dem Horizont standen und Jupiter im ersten Viertel zur Hälfte orangefarben und zur Hälfte graubraun war. Dabei fiel ihm ein, dass er Jupiter noch nie hatte untergehen sehen. Das musste auch sehr schön sein: Langsam würde der Strahlenglanz der Exosphäre erlöschen und der nachtende Himmel mit Sternen bestickt sein wie schwarzer Samt mit Diamanten. Aber während des Jupiteruntergangs gibt es normalerweise alle Hände voll zu tun.

Der Direktor betrat den Lift und fuhr bis zur untersten Etage. Die Planetologische Station auf der Amalthea war eine kleine Stadt nur für Wissenschaftler; sie erstreckte sich über mehrere Ebenen, die in die Eisdecke eingelassen und aus Metallplast gegossen worden waren. Hier lebten, arbeiteten und studierten rund sechzig Menschen, um genau zu sein sechsundfünfzig junge Männer und Frauen, alles vortreffliche Leute mit einem vortrefflichen Appetit.

Der Direktor warf einen Blick in die Sporträume, aber es war keiner mehr da. Nur im kugelförmigen Bassin badete noch jemand, und das Echo des Geplätschers hallte von der Decke zurück. Der Direktor ging langsam weiter, denn die Magnetschuhe waren schwer. Auf der Amalthea gibt es fast keine Schwerkraft, was äußerst unbequem ist. Natürlich gewöhnt man sich daran, aber in der ersten Zeit hat man das Gefühl, als sei der Körper mit Wasserstoff gefüllt und wolle aus den Magnetschuhen heraushüpfen. Besonders schwierig ist es anfangs, unter diesen Bedingungen zu schlafen.

Zwei Astrophysiker kamen mit nassen Haaren vom Duschen, begrüßten den Direktor und eilten weiter zum Lift. Der eine schwankte seltsam und tänzelte – anscheinend waren seine Magnetsohlen defekt. Der Direktor bog zum Speiseraum ab, wo etwa fünfzehn Menschen saßen und frühstückten.

Onkel Walnoga, Koch und Chefgastronom der Station, fuhr mit dem Servierwagen von Tisch zu Tisch. Er hatte schlechte Laune. Von Natur aus schon recht unfreundlich, war er nun seit einigen Tagen ausgesprochen mürrisch, weil von der Kallisto über Funk die Katastrophenmeldung gekommen war, das dortige Lebensmitteldepot sei durch Pilzbefall vernichtet worden. Pilzbefall hatte auch früher schon Schaden angerichtet, aber nun waren alle Lebensmittel bis zum letzten Zwieback und auch die Chlorellaplantagen vernichtet worden.

Auf der Kallisto ist es nicht leicht zu arbeiten. Im Gegensatz zur Amalthea besitzt der vierte Trabant eine Biosphäre, und es gibt bis heute kein Mittel, das Eindringen des Pilzes in Wohnräume zu verhindern. Der Pilz an sich aber ist interessant: Er durchdringt jede Wand und verschlingt alles Essbare – Brot, Konserven, Zucker, besonders aber Chlorella. Gelegentlich befällt er auch Menschen, aber das ist ungefährlich. Zuerst machte man sich deswegen große Sorgen, und sogar die Tapfersten erbleichten, wenn sie auf ihrer Haut den charakteristischen, ein wenig glitschigen Belag entdeckten. Aber der Pilz verursacht im lebenden Organismus weder Schmerzen noch Schaden. Man spricht ihm sogar eine tonisierende Wirkung zu. Dafür aber vernichtet er Lebensmittel umso radikaler.

»Onkel Walnoga«, rief jemand. »Gibt es zum Mittagessen auch Zwieback?«

Der Direktor konnte nicht sehen, wer das gefragt hatte, weil alle, die an den Tischen saßen, nun Onkel Walnoga das Gesicht zuwandten und aufhörten zu kauen. Die hübschen jungen Gesichter waren fast alle tief gebräunt und schienen ein wenig abgemagert. Oder kam es ihm nur so vor?

»Heute Mittag gibt es Suppe«, antwortete Onkel Walnoga.

»Hervorragend!«, sagte jemand. Wer – das konnte der Direktor wieder nicht sehen.

Er ging zu einem Tisch und setzte sich. Walnoga kam mit dem Servierwagen, und der Direktor nahm sich sein Frühstück: einen Teller mit zwei Scheiben Zwieback, eine halbe Tafel Schokolade und eine gläserne »Birne« mit Tee. Obwohl er sehr geschickt hantierte, hüpften die dicken weißen Zwiebäcke hoch und blieben in der Luft hängen. Das birnenförmige, oben geschlossene Glas blieb stehen, weil es einen Magnetstreifen am Fuß hatte. Der Direktor ergriff einen Zwieback, biss ab und hob das Glas an den Mund. Der Tee war kalt.

»Suppe«, sagte Walnoga leise zum Direktor. »Sie können sich vorstellen, was für eine Suppe das ist. Aber die denken womöglich, ich koche ihnen Hühnerbouillon.« Er gab dem Servierwagen einen Schubs, setzte sich an den Tisch und blickte dem Wägelchen nach, das immer langsamer zwischen den Tischen dahinrollte. »Auf der Kallisto essen sie unter anderem auch Hühnersuppe.«

»Wohl kaum«, erwiderte der Direktor zerstreut.

»Wieso nicht?«, wollte Walnoga wissen. »Ich habe ihnen einhundertsechzig Büchsen gegeben. Mehr als die Hälfte unserer Reserve.«

»Und der Rest der Reserve? Haben wir den schon gegessen?«

»Natürlich.«

»Dann haben die Leute auf der Kallisto sie auch schon gegessen. Dort leben doppelt so viele Menschen wie hier«, murmelte der Direktor kauend und dachte: Du schwindelst, Onkel Walnoga! Ich kenne dich gut, mein lieber Chefgastronom. An die zwanzig Büchsen hast du noch für Kranke und sonstige Zwecke versteckt.

Walnoga seufzte. »Ist Ihr Tee nicht kalt geworden?«

»Nein, alles in Ordnung.«

»Die Chlorella lässt sich auf der Kallisto einfach nicht ansiedeln«, erklärte Walnoga und seufzte abermals. »Über Funk haben sie noch einmal zehn Kilo Gärstoff angefordert und mitgeteilt, dass sie schon ein Planetenflugzeug losgeschickt haben.«

»Tja, dann müssen wir ihnen den Gärstoff geben.«

»Natürlich müssen wir das. Aber ich habe schließlich nicht hundert Tonnen Chlorella, und ich muss sie auch wachsen lassen … Jetzt habe ich Ihnen sicherlich den Appetit verdorben?«

»Halb so schlimm«, beruhigte ihn der Direktor. Er hatte überhaupt keinen Appetit.

»Jetzt reicht es aber!«, sagte jemand.

Der Direktor hob den Kopf und erblickte sogleich das verstörte Gesicht Sojka Iwanowas. Neben ihr saß der Kernphysiker Koslow. Die beiden saßen immer zusammen.

»Jetzt reicht’s, hörst du?«, zischte Koslow böse.

Sojka senkte errötend den Kopf; sie schämte sich, weil alle sie ansahen.

»Gestern hast du mir schon deinen Zwieback zugeschoben«, fuhr Koslow fort. »Heute legst du mir deinen unglückseligen Zwieback schon wieder auf den Teller!«

Sojka schwieg. Sie weinte beinahe vor Verlegenheit.

»Schrei sie nicht an, du Stiesel!«, rief der Atmosphärenphysiker Potapow laut vom anderen Ende des Speiseraums. »Soika, warum fütterst du ihn, diesen Trottel? Gib lieber mir den Zwieback, ich esse ihn, ohne dich anzuschnauzen!«

»Ist doch wahr«, sagte Koslow, nun schon etwas ruhiger. »Ich bin dick genug; sie sollte mehr essen als ich.«

»Nein, Walja«, entgegnete Sojka beherrscht.

»Kann ich noch Tee bekommen, Onkel Walnoga?«, fragte jemand.

Walnoga stand auf. Dann hörte man Potapow durch den ganzen Saal rufen: »He, Gregor, machen wir nach der Arbeit ein Spielchen?«

»Einverstanden«, antwortete Gregor.

»Du verlierst ja doch wieder, Wadim«, rief jemand.

»Das Wahrscheinlichkeitsgesetz ist auf meiner Seite«, erklärte Potapow.

Alle lachten.

Ein Mann mit verdrossener Miene lugte in den Speiseraum. »Ist Potapow hier? Wadim, auf dem Jupiter herrscht Sturm!«

»Also los!«, rief Potapow und sprang auf. Rasch erhoben sich auch die anderen Atmosphärenphysiker. Das verdrossene Gesicht an der Tür verschwand, erschien dann aber noch einmal. »Bring meinen Zwieback mit, hörst du?«

»Wenn Walnoga ihn herausrückt«, rief Potapow ihm nach.

»Warum sollte ich ihn dir nicht geben?«, fragte Onkel Walnoga. »Stezenko, Konstantin – zweihundert Gramm Zwieback und fünfzig Gramm Schokolade.«

Der Direktor wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab und stand auf, da fragte Koslow: »Genosse Direktor, was gibt es Neues über die ›Tachmasib‹?«

Alle verstummten und sahen den Direktor an. »Vorläufig nichts«, antwortete er.

Langsam ging er zwischen den Tischen hindurch zur Tür und begab sich in sein Arbeitszimmer. Schlimm, dass ausgerechnet jetzt auf der Kallisto die »Konservenepidemie« ausgebrochen war. Richtigen Hunger gab es vorläufig nicht; die Amalthea konnte sich Chlorella und Zwieback noch mit der Kallisto teilen. Aber wenn Bykow nicht bald mit den Lebensmitteln kam … Bykow war mit der »Tachmasib« irgendwo in der Nähe. Man hatte ihn angepeilt, nun aber schon seit sechzig Stunden nichts mehr von ihm gehört. Man wird die Rationen erneut kürzen müssen, dachte der Direktor. Hier muss man auf alles gefasst sein, und bis zur Marsbasis ist es verflixt weit. Hier kann alles passieren. Manchmal verschwinden Raumschiffe, die von der Erde oder vom Mars starten. Das geschieht zwar selten, nicht häufiger als die Pilzepidemien. Trotzdem ist es schlecht, dass so etwas überhaupt vorkommt. In Anbetracht der Tatsache, dass die Erde Milliarden Kilometer entfernt ist, ist das schlimmer als Dutzende von Epidemien. Es kann Hunger bedeuten, vielleicht sogar das Ende.

I

Der Photonenfrachter »Tachmasib«

1. Das Raumschiff nähert sich dem Jupiter,aber der Kommandant streitet sich mitdem Steuermann und nimmt Sporamin

Alexej Petrowitsch Bykow, der Kommandant des Photonenfrachters »Tachmasib«, schlüpfte aus der Kajüte und lehnte die Tür hinter sich an. Sein Haar war nass, er hatte soeben geduscht, einmal mit Wasser und einmal unter der Ionenbrause. Trotzdem war er nach dem allzu kurzen Schlaf noch ein wenig benommen; gerne hätte er länger geschlafen, er bekam kaum die Augen auf. In den letzten drei Tagen waren ihm höchstens fünf Stunden Ruhe vergönnt gewesen; der Flug erwies sich als ziemlich schwierig.

Der Korridor war hell erleuchtet und menschenleer. Bykow ging zur Steuerzentrale hinüber und hob mühsam die Beine, um nicht zu schlurfen. Er musste durch die Schiffskantine, deren Tür offen stand. Bykow hörte Stimmen. Die Planetologen Dauge und Jurkowski unterhielten sich, wie es schien, ungewöhnlich gereizt und zugleich seltsam dumpf.

Sie haben wieder etwas angestellt, dachte Bykow. Mit den beiden hat man nichts als Ärger! Aber sie ausschimpfen kann ich auch nicht, weil sie trotz allem meine Freunde sind und sich so darüber freuen, dass wir bei diesem Flug zusammen sein können. Es kommt selten vor, dass wir gemeinsam fliegen.

Bykow betrat die Kantine und blieb im Türrahmen stehen. Der Bücherschrank stand offen, und alle Bücher lagen unordentlich auf dem Fußboden. Das Tischtuch war vom Tisch gerutscht. Unter der Couch ragten Jurkowskis lange Beine mit den engen grauen Hosen hervor und zappelten.

»Ich sage dir doch, sie ist nicht hier«, schimpfte Dauge, der nicht zu sehen war.

»Such weiter!«, befahl Jurkowski mit erstickter Stimme. »Du hast sie zuletzt gehabt, also such!«

»Was geht hier vor?«, fragte Bykow unwirsch.

»Aha, da ist er!« Dauge hockte unter dem Tisch und stand langsam auf.

Sein Gesicht war fröhlich, Jacke und Hemdkragen standen offen. Jurkowski kroch mühsam rückwärts unter der Couch hervor.

»Was ist los?«, wollte Bykow wissen.

»Wo ist meine Waretschka?«, fragte Jurkowski und stand auf. Er war wütend.

»Du Unmensch!«, wetterte Dauge.

»Ihr Tagediebe«, sagte Bykow.

»Er, er ist der Tagedieb!«, jammerte Dauge mit tragischem Unterton. »Sieh dir sein Gesicht an! Er ist ein Henker!«

»Ich frage dich das ganz im Ernst«, fuhr Jurkowski fort. »Wo ist meine Waretschka?«

»Wisst ihr was, Planetologen«, schaltete sich Bykow ein. »Schert euch zum Teufel!« Er reckte das Kinn vor und ging zur Steuerzentrale.

»Er hat die Waretschka im Reaktor verbrannt!«, rief Dauge ihm nach.

Krachend schlug Bykow das Schott hinter sich zu. In der Steuerzentrale war es still. Der Steuermann Michail Antonowitsch Krutikow saß, das Doppelkinn auf die rundliche Faust gestützt, auf seinem Platz vor dem Bordcomputer. Der Rechner surrte leise und blitzte mit den Neonkontrolllämpchen. Krutikow sah den Kommandanten freundlich an und fragte: »Gut geschlafen, Ljoscha?«

»Ja«, antwortete Bykow.

»Ich habe einen Funkspruch von der Amalthea bekommen«, informierte ihn Krutikow. »Sie warten dort und warten …« Er schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, Ljoscha, ihre Tagesration besteht aus zweihundert Gramm Zwieback, fünfzig Gramm Schokolade und Chlorellasuppe. Dreihundert Gramm Chlorellasuppe, und die schmeckt dort überhaupt nicht.«

Da müsstest du mal hin!, dachte Bykow. Dann würdest du abnehmen, Dickerchen! Er warf dem Steuermann einen strengen Blick zu, konnte sich aber doch nicht beherrschen und musste lächeln. Die dicken Lippen vorgestülpt, besah sich Krutikow einen linierten blauen Papierstreifen. »Hier, Ljoscha, ich habe unser Finalprogramm zusammengestellt. Prüf es bitte!«

Für gewöhnlich brauchte man die Kursprogramme, die Krutikow zusammenstellte, nicht zu überprüfen. Er war zwar nach wie vor der dickste, aber auch der erfahrenste Steuermann der interplanetarischen Flotte.

»Ich überprüfe es später«, erwiderte Bykow, hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte ausgiebig. »Gib dem Autopiloten das Programm ein!«

»Habe ich schon gemacht, Ljoscha«, gestand Krutikow schuldbewusst.

»Auch gut«, erwiderte Bykow. »Wo sind wir jetzt?«

»In einer Stunde kommen wir in die Endphase«, antwortete Krutikow. »Wir überqueren den Nordpol des Jupiters« – das Wort »Jupiter« sagte er mit sichtlichem Behagen – »in einer Entfernung von zwei Durchmessern und zweihundertneunzig Megametern. Dann setzen wir zur letzten Umkreisung an. Wir sind schon so gut wie angekommen, Ljoscha.«

»Rechnest du die Entfernung von der Mitte des Jupiters aus?«

»Ja.«

»Gib mir in der Endphase alle fünfzehn Minuten die Entfernung von der Exosphäre durch!«

»Zu Befehl, Ljoscha«, sagte Krutikow.

Bykow gähnte noch einmal, rieb sich verdrossen mit den Fäusten die Augen, die ihm andauernd zufallen wollten, und schritt am Pult der Havarie-Signalisation entlang. Hier war alles in Ordnung. Der Motor lief gleichmäßig, das Plasma pulsierte im Arbeitsrhythmus, die Einstellung der Magnettraps war einwandfrei. Für die Magnettraps trug Bordingenieur Shilin die Verantwortung. Ein tüchtiger Bursche, dieser Shilin, dachte Bykow. Hat alles ausgezeichnet reguliert.

Bykow blieb stehen und versuchte, durch eine winzige Kursänderung die Einstellung der Traps zu stören. Aber es trat keine Störung ein. Der weiße Lichtfleck hinter der durchsichtigen Plastscheibe bewegte sich nicht einmal. Wirklich, ein tüchtiger Bursche, dieser Shilin, dachte Bykow erneut. Er ging um die konvexe Wand des Photonenreaktors herum. An der Kombine des Kontrollreflektors stand Shilin mit einem Bleistift zwischen den Zähnen. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Pultrand und steppte sacht mit den Fußspitzen, wobei sich seine mächtigen Schulterblätter im Takt dazu bewegten.

»Guten Tag, Wanja«, begrüßte ihn Bykow.

»Guten Tag, Alexej Petrowitsch!« Shilin drehte sich ruckartig um und fing behände den Bleistift auf, den er zwischen den Zähnen gehabt hatte.

»Wie steht’s mit dem Reflektor?«, erkundigte sich Bykow.

»Er ist in Ordnung«, antwortete Shilin. Trotzdem beugte sich Bykow über das Pult und ergriff den festen blauen Papierstreifen mit den Aufzeichnungen des Kontrollsystems.

Der Reflektor war das wichtigste und empfindlichste Element des Photonentriebwerkes, ein gigantischer Parabolspiegel, der mit fünf Schichten eines höchst widerstandsfähigen Mesomaterials überzogen war. In der ausländischen Literatur wird der Reflektor oft »sail«, also Segel, genannt. Im Brennpunkt des Paraboloids explodieren pro Sekunde Millionen Portionen von Deuterium-Tritium-Plasma, die sich in Strahlung umsetzen. Der Strom der blassvioletten Flamme trifft auf die Oberfläche des Reflektors und erzeugt die Schubkraft. Dabei vollziehen sich in der Schicht des Mesomaterials gigantische Temperaturstürze, und das Mesomaterial verbrennt allmählich, eine Schicht nach der anderen. Außerdem wird der Reflektor unaufhörlich von der meteorischen Korrosion zerfressen. Wenn er bei eingeschaltetem Antrieb im Fundament zusammenbricht, wo das dicke Rohr des Photonenreaktors angeschlossen ist, geht das Raumschiff blitzartig und geräuschlos in Flammen auf. Deshalb wird der Reflektor der Photonenschiffe jeweils nach hundert Astronomischen Einheiten Flug ausgewechselt. Und aus dem gleichen Grund misst das Kontrollsystem ununterbrochen den Zustand der Arbeitsschicht auf der gesamten Oberfläche des Reflektors.

»So«, sagte Bykow, während er den Streifen durch die Finger gleiten ließ. »Die erste Schicht ist verbrannt.«

Shilin schwieg.

»Michail!«, herrschte Bykow den Steuermann an. »Weißt du, dass die erste Schicht ausgebrannt ist?«

»Ja, Ljoscha«, antwortete der. »Ist doch klar, bei einem Oversun!«

Ein »Oversun« oder »Sprung über die Sonne« wurde selten vorgenommen, nur in Ausnahmefällen wie jetzt, weil auf den J-Stationen Lebensmittelknappheit herrschte. Beim Oversun liegt zwischen dem Start- und dem Zielplaneten die Sonne – vom Standpunkt der Kosmogation aus betrachtet eine sehr ungünstige Konstellation. Beim Oversun läuft das Photonentriebwerk mit äußerster Kraft; die Geschwindigkeit des Schiffs steigert sich auf bis zu sechs-, siebentausend Kilometer in der Sekunde, und an den Instrumenten treten Effekte der nichtklassischen Mechanik auf, die bisher kaum erforscht sind. Die Besatzung kommt fast nicht zum Schlafen, Treibstoffverbrauch und Reflektorverschleiß sind ungeheuer groß, und obendrein erreicht das Raumschiff den Zielplaneten meist in der Gegend des Pols, was unbequem ist und die Landung kompliziert macht.

»Oversun! Schöne Bescherung …!«, meinte Bykow. Er kehrte zum Steuermann zurück und sah auf den Anzeiger des Treibstoffverbrauchs.

»Gib mir eine Kopie des Finalprogramms«, bat er.

»Einen kleinen Augenblick, Ljoscha«, antwortete der Steuermann. Er war sehr beschäftigt. Auf dem Tisch häuften sich die blauen Streifen, gedämpft summte das halbautomatische Zusatzgerät des Elektronenrechners. Bykow ließ sich in einen Sessel sinken und beobachtete mit halb geschlossenen Augen, wie Krutikow, ohne von seinen Aufzeichnungen aufzublicken, die Hand zum Pult ausstreckte und die Finger rasch über die Tasten gleiten ließ. Wie eine große weiße Spinne huschte die Hand hin und her. Schließlich schwoll das Summen des Rechners an, die Stoppleuchte blinkte auf, und der Rechner schaltete sich aus.

»Was wolltest du doch gleich, Ljoscha?«, erkundigte sich der Steuermann, den Blick noch immer auf seine Aufzeichnungen geheftet.

»Das Finalprogramm«, antwortete Bykow. Er konnte kaum noch die Augen offen halten.

Langsam schob sich das Tabulogramm aus der Vorrichtung, und Krutikow ergriff es mit beiden Händen.

»Sollst du gleich haben«, rief er emsig. »Sofort!«

Bykow vernahm ein liebliches Gesäusel in den Ohren, das Dunkel hinter seinen geschlossenen Lidern besternte sich mit goldgelben Tupfen, und sein Kinn sank auf die Brust.

»Ljoscha!« Der Steuermann langte über den Tisch und klopfte Bykow auf die Schulter. »Ljoscha, hier – das Programm!«

Bykow zuckte zusammen, hob den Kopf, blickte verstört um sich und ergriff die beschriebenen Bogen.

»Hm-hm …« Er räusperte sich und hob mehrmals die Brauen. »Aha … Also wieder Theta-Algorithmus …« Schlaftrunken starrte er auf die Aufzeichnungen.

»Ljoscha, du solltest eine Sporamin nehmen«, riet ihm der Steuermann.

»Warte mal«, sagte Bykow. »Moment! Was ist denn das nun wieder? Bist du verrückt geworden, Steuermann?« Krutikow sprang auf, lief um den Tisch herum und beugte sich über Bykows Schulter. »Wo denn, was denn?«, fragte er. »Wohin fliegst du?«, fragte Bykow giftig. »Denkst du vielleicht, du fliegst übungshalber zum Siebten Himmel?«

»Was soll das heißen, Ljoscha?«

»Oder vielleicht bildest du dir ein, auf der Amalthea hätte man einen Tritium-Generator für dich aufgebaut?«

»Was den Treibstoff betrifft«, entgegnete Krutikow. »Der reicht für drei Programme dieser Art.«

Jetzt war Bykow hellwach. »Ich muss auf der Amalthea landen, anschließend mit den Planetologen zur Exosphäre starten, wieder auf der Amalthea landen und dann zur Erde zurückkehren. Das wird wieder ein Oversun!«

»Warte mal«, bat Michail Antonowitsch. »Einen kleinen Augenblick …«

»Du hast mir ein Programm aufgestellt, als warteten überall Treibstoffdepots auf uns!«

Das Kabinenluk wurde halb geöffnet. Bykow drehte sich um. Dauge sah herein, blickte sich in der Steuerzentrale um und fragte: »Hört mal, ist Waretschka vielleicht bei euch?«

»Raus!«, raunzte Bykow.

Der Kopf verschwand augenblicklich, und das Schott wurde leise geschlossen.

»Faulpelze«, murrte Bykow. »Also hör zu, Steuermann! Wenn der Treibstoff nicht für den Oversun zur Rückkehr reicht, geht’s dir dreckig!«

»Schrei mich bitte nicht an!«, entgegnete Krutikow gekränkt und setzte nach einigem Überlegen hochrot im Gesicht hinzu: »Verdammt noch mal!«

Schweigen trat ein. Der Steuermann kehrte auf seinen Platz zurück, und sie sahen einander schmollend an.

»Den Abstecher in die Exosphäre habe ich genau berechnet«, erklärte er. »Die Berechnung des Rückkehr-Oversuns habe ich auch fast fertig.« Er legte die flache Hand auf einen Stoß Papier. »Aber wenn du Bedenken hast, können wir immer noch auf dem Antimars tanken …«

Antimars nannten die Kosmogatoren den künstlichen Planeten, der sich fast genau auf der Umlaufbahn des Mars bewegte, aber auf der anderen Seite der Sonne. Im Grunde genommen war er ein riesiges Treibstoffdepot, eine vollautomatische Tankstelle.

»Es ist jedenfalls völlig unnötig mich anzuschreien«, schloss Krutikow. Das Wort »anzuschreien« flüsterte er beinahe. Schließlich beruhigte er sich wieder.

»Also gut«, sagte Bykow, der sich inzwischen auch besonnen hatte. »Entschuldige, Mischa.«

Und schon lächelte der Steuermann wieder.

»Ich war ungerecht«, setzte Bykow hinzu.

»Ach, Ljoscha«, sagte Krutikow rasch. »Halb so wild. Schon vergessen … Aber schau mal, was für eine überraschende Kurve sich ergibt. Aus der Vertikalen« – er verdeutlichte den Kursverlauf durch eine langsame Handbewegung – »über der Ebene der Amalthea und unmittelbar über der Exosphäre in der Trägheitsellipse zum Punkt der Begegnung. Die relative Geschwindigkeit beträgt am Punkt der Begegnung alles in allem vier Meter pro Sekunde, die maximale Überbelastung im ganzen zweiundzwanzig Prozent und die Dauer der Schwerelosigkeit höchstens dreißig, vierzig Minuten. Die Abweichungen von den errechneten Daten können nur sehr gering sein.«

»Durch den Theta-Algorithmus.« Bykow nickte. Er wollte dem Steuermann etwas Nettes sagen. Der Theta-Algorithmus war nämlich von Krutikow entwickelt und erstmalig verwendet worden.

Der Steuermann brummte etwas Unverständliches vor sich hin; die Bemerkung des Kommandanten schmeichelte ihm und machte ihn zugleich verlegen. Bykow sah das Programm bis zum Ende durch und nickte mehrmals. Nachdem er die Aufzeichnungen wieder auf den Tisch gelegt hatte, rieb er sich mit den großen sommersprossigen Fäusten die Augen.

»Ich muss gestehen«, sagte er, »ich bin nicht im Geringsten ausgeschlafen.«

»Dann nimm doch Sporamin, Ljoscha«, bat Krutikow nochmals eindringlich. »Ich nehme alle zwei Stunden eine Tablette und bin überhaupt nicht müde. Wanja genauso. Warum quälst du dich denn?«

»Ich mag diese Chemie nicht.« Bykow sprang auf und ging in der Steuerzentrale auf und ab. »Hör mal, Mischa, was geht eigentlich hier auf meinem Schiff vor sich?«

»Was soll denn sein, Ljoscha?«, fragte der Steuermann.

»Immer diese Planetologen«, erklärte Bykow.

»Ihre Waretschka ist verschwunden«, erklärte Shilin. Er stand hinter dem Photonenreaktor.

»Na und?«, erwiderte Bykow. »Endlich ist sie weg!« Er ging wieder auf und ab. »Kinder sind sie, große Kinder!«

»Ärgere dich nicht über sie, Ljoscha!«

»Wisst ihr, Genossen« – Bykow setzte sich in einen der Sessel –, »das Schlimmste auf einer Fahrt sind die Passagiere. Und die schlimmsten Passagiere sind alte Freunde. Ach, Mischa, gib mir bitte doch eine Sporamin!«

Flugs zog Krutikow eine Schachtel aus der Tasche. Bykow sah ihm schläfrig zu.

»Gib mir gleich zwei«, bat er.

2. Die Planetologen suchen Waretschka, undder Funkoptiker erfährt, was ein Nilpferd ist

»Er hat mich rausgeworfen«, beschwerte sich Dauge, als er Jurkowskis Kajüte betrat.

Jurkowski stand mitten in seiner Kajüte auf einem Stuhl und betastete mit der flachen Hand die weiche, aufgeraute Decke. Auf dem Fußboden lag zertretenes Zuckergebäck.

»Hier muss sie sein!« Jurkowski sprang vom Stuhl, wischte sich weiße Krümel vom Knie und jammerte: »Ach, Waretschka, mein Leben, wo bist du nur?«

»Hast du schon versucht, dich ruckartig in die Sessel zu setzen?«, fragte Dauge. Er ging zur Couch und ließ sich, die Hände an der Hosennaht, stocksteif darauf fallen.

»Du bringst sie um!«, zeterte Jurkowski.

»Hier ist sie nicht«, stellte Dauge fest und legte die Beine auf die Rückenlehne der Couch. »So eine Operation müssen wir an allen Couchs und Sesseln durchführen! Waretschka kuschelt sich gern in weiche Polster.«

Jurkowski zog den Stuhl näher an die Wand heran. »Nein. Während des Fluges verkriecht sie sich lieber in Wände und Kajütendecken. Wir müssen durch das ganze Schiff gehen und die Decken abtasten.«

»Meine Herren!« Dauge seufzte. »Auf was für Ideen ein Planetologe verfällt, wenn er vor lauter Müßiggang nicht mehr weiß, was tun!« Er setzte sich, musterte Jurkowski von der Seite und flüsterte mit unheilvollem Unterton: »Ich bin sicher, Ljoscha war es. Er hat sie immer gehasst.«

Jurkowski blickte Dauge unverwandt an.

»Ja«, fuhr Dauge fort. »Schon immer, das weißt du! Und warum? Wo es doch so ein stilles Tierchen ist, und ein so liebes dazu.«

»Du bist ein Trottel, Grigori«, schalt ihn Jurkowski. »Blödelst hier herum. Mir würde es jedenfalls sehr leidtun, wenn sie nicht mehr da wäre.«

Er ließ sich auf den Stuhl sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die geballten Fäuste. Die hohe, kahle Stirn legte sich in Falten, und er setzte eine tragische Miene auf.

»Na, na«, sagte Dauge. »Wie sollte sie denn von Bord verschwinden können? Sie wird sich schon noch einfinden.«

»Nein«, widersprach Jurkowski. »Sie müsste jetzt fressen. Aber sie kommt nie betteln, also wird sie verhungern.«

»Die und sterben?« Dauge zweifelte.

»Sie hat schon zwölf Tage nichts gefressen. Seit dem Start. Das ist für sie furchtbar schädlich.«

»Wenn sie fressen will, kommt sie«, entgegnete Dauge überzeugt. »Wie alles, was da kreucht und fleucht.«

Jurkowski schüttelte den Kopf. »Nein, sie wird nicht kommen, Grigori.« Er kletterte auf den Stuhl und tastete erneut Zentimeter um Zentimeter die Decke ab. Es klopfte. Die Tür wurde behutsam aufgeschoben, und herein trat der kleine schwarzhaarige Funkoptiker Charles Mollard.

»Treter ein?«, fragte er.

»Klar«, antwortete Dauge.

Mollard klatschte in die Hände. »Mais non!«, rief er, vergnügt lächelnd. Er lächelte immer vergnügt. »Non ›Treter ein?‹ Ich wollte erfahren: ›Eintretten?‹«

»Natürlich«, bejahte Jurkowski vom Stuhl her. »Natürlich, eintretten, Charles. Was denn sonst?«

Mollard kam herein, schob die Tür zu und legte neugierig den Kopf in den Nacken. »Woldemar«, sagte er herrlich radebrechend. »Lernen Sie an Decke laufen?«

»Oui, Madame«, parierte Dauge mit entsetzlichem Akzent. »Will sagen, Monsieur. Eigentlich, il cherche la Waretschka.«

»Nein, nein!«, rief Mollard und fuchtelte mit den Händen. »Nur nicht so. Nur auf Russisches. Ich spreche doch auch nur auf Russisches!«

Jurkowski stieg vom Stuhl. »Charles, haben Sie nicht meine Waretschka gesehen?«

Mollard drohte ihm mit dem Finger. »Sie mir immer lustik scherzen«, sagte er mit sehr eigenwilliger Betonung. »Sie mir schon zwölf Tage scherzen.« Er setzte sich neben Dauge auf die Couch. »Was ist Waretschka? Ich habe oft gehört: Waretschka. Heute suchen sie, aber ich habe sie nicht ein einziges Mal gesehn. Nun?« Er sah Dauge an. »Ist das kleines Vogel? Oder Katze? Oder … ein …«

»… Nilpferd«, ergänzte Dauge.

»Was ist der Nilpferd?«, wollte Mollard wissen.

»C’est … so ein Lirondej«, antwortete Dauge. »Eine Schwalbe.«

»Oh, l’hirondelle!«, rief Mollard. »Hm – ein Nilpferd?«

»Yes«, sagte Dauge. »Natjürlisch.«

»Non, non! Nur auf Russisch!« Er wandte sich an Jurkowski. »Sagt Grégoire die Wahrheit?«

»Grégoire quatscht Blech«, antwortete Jurkowski aufgebracht. »Blödsinn.«

Mollard sah ihn aufmerksam an. »Sie sind verstimmt, Wolodja. Kann ich helfen?«

»Wahrscheinlich nicht, Charles. Waretschka muss einfach gesucht werden. Alles abtasten, wie ich es mache!«

»Warum tasten?« Mollard wunderte sich. »Sie sagen, wie sie aussieht, und ich fange an zu suchen.«

»Ha«, versetzte Jurkowski. »Wenn ich nur wüsste, wie sie jetzt gerade aussieht!«

Mollard lehnte sich auf der Couch zurück und bedeckte mit der Hand die Augen. »Je ne comprends pas«, sagte er mitleiderregend. »Ich verstehe nicht. Ist sie nicht zu sehen? Oder verstehe ich auf Russisches nicht?«

»Nein, es ist alles richtig, Charles«, antwortete Jurkowski. »Sie ist natürlich zu sehen. Nur sieht sie immer wieder anders aus, verstehen Sie? Wenn sie an der Decke sitzt, sieht sie wie die Decke aus. Wenn sie auf der Couch sitzt – wie die Couch …«

»Wenn sie auf Grégoire ist, ist sie wie Grégoire«, sagte Mollard. »Sie lustik scherzen doch.«

»Er sagt die Wahrheit«, bestätigte Dauge. »Waretschka verändert ständig ihre Körperfarbe. Mimikry. Sie tarnt sich wunderbar, verstehen Sie? Mimikry.«

»Mimikry bei einer Schwalbe?«, fragte Mollard bitter.

Es klopfte wieder.

»Eintretten!«, rief Mollard fröhlich.

»Heruin!«, übersetzte Jurkowski.

Ein wenig verlegen trat der stämmige rotwangige Shilin ein.

»Entschuldigen Sie, Wladimir Sergejewitsch«, sagte er leicht nach vorn geneigt. »Ich …«

»Oh!«, rief Mollard und ließ sein Lächeln erstrahlen. Er fand den Bordingenieur sehr sympathisch. »Le petit ingénieur! Wie ist das Leben, gu-ud?«

»Gut«, antwortete Shilin.

»Wie sind die Mettchen, gu-ud?«

»Gut«, sagte Shilin. Er hatte sich schon an Mollards Redensarten gewöhnt. »Bon.«

»Herrlich prononciert«, lobte Dauge neidisch. »Apropos, Charles, warum fragen Sie Shilin immer, wie die Mädchen sind?«

»Ich liebe die Mettchen sehr«, erklärte Mollard ernst. »Mich interessiert immer sehr Mettchen.«

»Bon«, sagte Dauge. »Je vous comprends.«

Shilin wandte sich an Jurkowski. »Wladimir Sergejewitsch, der Kommandant schickt mich. In vierzig Minuten fliegen wir durchs Perijorium, in unmittelbarer Nähe der Exosphäre.«

Jurkowski sprang auf. »Endlich!«

»Wenn Sie beobachten, stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

»Danke, Wanja.« Jurkowski wandte sich an Dauge. »Los, Johannytsch, vorwärts!«

»Nicht so hitzig, alter Junge!«, mahnte Dauge.

»Les hirondelles, les hirondelles«, trällerte Mollard vor sich hin. »Ich werde gehen, um Mittagessen vorzubereiten. Heute ich Küchendienst, und es gibt Suppe. Essen Sie gern Suppe, Wanja?«

Shilin konnte nicht antworten, weil das Raumschiff plötzlich schlingerte und er an die Tür taumelte; mit knapper Not konnte er sich am Türpfosten festhalten. Jurkowski stolperte über die ausgestreckten Beine Mollards, der auf der Couch lag, und fiel auf Dauge. Dauge ächzte.

»Hoppla«, rief Jurkowski. »Ein Meteorit!«

»Steh auf, Mann!«, sagte Dauge.

3. Der Bordingenieur gerät in Begeisterung überHelden, und der Steuermann entdeckt Waretschka

Das enge Observatorium war bis zum Äußersten mit den Geräten der Planetologen vollgestopft. Dauge hockte vor einem großen, glänzenden Apparat, der wie eine Fernsehkamera aussah und Exosphärenspektograf genannt wurde. Die Planetologen setzten große Hoffnungen auf ihn. Er war völlig neu, gerade vom Werk gekommen, und arbeitete synchron mit einer Bombenabwurfvorrichtung. Die mattschwarze Ladekammer der Vorrichtung nahm die Hälfte des Raums ein. Daneben lagen auf leichten Metallstellagen flache brünierte Ladestreifen mit Sondenbomben. Jeder Streifen enthielt zwanzig Stück und wog vierzig Kilo. Eigentlich sollte er automatisch in die Bombenabwurfvorrichtung eingeführt werden, aber der Photonentransporter »Tachmasib« eignete sich nicht für tiefergehende wissenschaftliche Untersuchungen – für den Ladeautomaten reichte der Platz nicht aus. Shilin bediente die Bombenabwurfvorrichtung.

Jurkowski kommandierte: »Laden!«

Shilin klappte den Verschluss der Ladekammer auf, ergriff den ersten Ladestreifen, hob ihn mühsam von der Stellage und schob ihn in die rechteckige Öffnung der Ladekammer. Lautlos glitt der Ladestreifen in die Kammer. Shilin klappte den Verschlussdeckel zu und ließ das Schloss einschnappen. »Fertig.«

»Auch fertig«, sagte Dauge.

»Michail, ist es bald so weit?«, fragte Jurkowski durchs Mikrofon.

»Noch ein halbes Stündchen«, antwortete der Steuermann mit heiserer Stimme.

Das Raumschiff schlingerte erneut. Der Fußboden sackte unter den Füßen weg.

»Wieder ein Meteorit«, stellte Jurkowski fest. »Das ist schon der dritte.«

»Ziemlich viel«, meinte Dauge.

Jurkowski fragte ins Mikrofon: »Michail, sind hier viele Mikrometeoriten?«

»Ja, Wolodja«, antwortete Krutikow. Seine Stimme klang besorgt. »Schon dreißig Prozent über der mittleren Dichte, und es werden immer mehr.«

»Mischa, mein Lieber, miss recht oft, ja?«, bat Jurkowski.

»Es wird dreimal pro Minute gemessen«, erwiderte der Steuermann; dann sagte er etwas, halb vom Mikrofon abgewandt, und man hörte Bykow mit seiner tiefen Stimme antworten: »Das geht.«

»Wolodja«, rief der Steuermann. »Ich schalte um auf zehn Messungen pro Minute.«

»Danke, Mischa«, sagte Jurkowski.

Das Raumschiff schlingerte abermals.

»Hör mal, Wolodja«, rief Dauge leise. »Das ist doch nicht normal.«

Shilin war der gleichen Meinung. In Lehrbüchern und Nachschlagewerken war nirgends von einer Zunahme der Meteoritendichte in unmittelbarer Nähe des Jupiters die Rede. Allerdings hatte sich bisher auch kaum jemand in unmittelbarer Nähe des Jupiters aufgehalten.

Shilin setzte sich auf die Ladekammer und warf einen Blick auf die Uhr. Bis zum Perijorium blieben noch zwanzig Minuten, nicht mehr. In zwanzig Minuten würde Dauge den ersten Sondensatz abschießen. Er fand, es sei ein ungewöhnliches Schauspiel, wenn ein Satz Sondenbomben explodierte. Vor zwei Jahren hatte er mit solchen Sondenbomben die Atmosphäre des Uranus untersucht. Shilin drehte sich zu Dauge um. Schwarzhaarig, hager, spitznasig und mit einer Narbe auf der linken Wange kauerte er vor dem Spektografen, seine Hände ruhten auf den Hebeln der Seitensteuerung. Von Zeit zu Zeit reckte er den langen Hals und hielt bald das linke, bald das rechte Auge ans Okular des Suchers, wobei jedes Mal ein orangefarbener Lichttupfen über sein Gesicht huschte. Shilin ließ den Blick weiterwandern … Die Augen am Periskop, trat Jurkowski unaufhörlich von einem Bein aufs andere. Auf seiner Brust pendelte an einem dunklen Band das eiförmige Mikrofon. Das waren sie, die bekannten Planetologen Dauge und Jurkowski …

Vor einem Monat hatte der Stellvertretende Direktor der Hochschule für Kosmonautik, Tschen Kun, den Absolventen Iwan Shilin zu sich gebeten. Die Interplanetarier nannten Tschen Kun den »eisernen Tschen«. Er war über fünfzig, doch Shilin fand, dass er in seiner blauen Jacke mit dem offenen Kragen viel jünger wirkte. Man hätte ihn für gut aussehend gehalten, wären da nicht die rosa Flecken auf Stirn und Kinn gewesen. Spuren eines Strahlenstoßes, in den er vor langer Zeit geraten war. Tschen Kun eröffnete ihm, die Dritte Abteilung des Hauptkomitees Interplanetarischer Verkehr brauche dringend einen tüchtigen Nachwuchsbordingenieur, und die Wahl des Hochschulrats sei auf den Absolventen Shilin gefallen. (Der Absolvent Shilin war vor Erregung wie gelähmt, denn er hatte während des fünfjährigen Studiums stets befürchtet, zum Praktikum auf die nicht sonderlich reizvolle Mondroute geschickt zu werden.) Tschen Kun wies darauf hin, dass dies für den Absolventen Shilin eine große Ehre sei; denn er werde gleich beim ersten Einsatz an Bord eines Raumschiffes kommen, das per Oversun zum Jupiter fliege (Shilin hätte vor Freude beinahe einen Luftsprung gemacht), und zwar mit Lebensmitteln für die J-Station auf dem fünften Jupitermond, der Amalthea. Dort drohe eine Hungersnot, erklärte Tschen Kun.

»Ihr Kommandant ist ein berühmter Mann der interplanetarischen Raumfahrt, der ebenfalls an unserer Hochschule studiert hat: Alexej Petrowitsch Bykow. Ihr Chef-Steuermann ist der mehr als erfahrene Michail Antonowitsch Krutikow. Unter ihrer Leitung werden Sie eine erstklassige praktische Schule durchlaufen, und ich freue mich aufrichtig für Sie.«

Dass bei dieser Fahrt auch Grigori Johannowitsch Dauge und Wladimir Sergejewitsch Jurkowski an Bord sein würden, erfuhr Shilin erst später, auf dem Raketenflugplatz Mirza Tcharlé. Was für berühmte Namen! Jurkowski und Dauge, Bykow und Krutikow, Bogdan Spizyn und Anatoli Jermakow – eine furchteinflößende und schöne, von Kindesbeinen an vertraute Legende! Diese Männer haben der Erdbevölkerung einen gefährlichen Planeten unterworfen. Mit einem vorsintflutlichen Schiff, der »Chius«, einer Photonenschildkröte mit nur einer einzigen Schicht Mesomaterial auf dem Reflektor, haben sie die stürmische Atmosphäre der Venus durchquert und im schwarzen Ursand den Atomvulkan Golkonda entdeckt, der durch den Aufprall eines gigantischen Meteoriten aus Antimaterie entstanden war.

Natürlich kannte Shilin auch andere berühmte Menschen, den Raumfahrttestpiloten Wassili Ljachow zum Beispiel, der im dritten und vierten Kurs an der Hochschule Vorlesungen über die Theorie des Photonenantriebs gehalten hatte. Ljachow organisierte seinerzeit für die Absolventen ein dreimonatiges Praktikum auf einer Spu-20, die die Interplanetarier »Sternchen« nannten. Das war sehr interessant. Dort wurden die ersten Linearstrom-Photonenantriebe getestet und automatische Aufklärungslote in die Zone des absolut freien Fluges ausgebracht. Auch das erste Interstellarraumschiff »Chius-Molnija« wurde dort gebaut. Einmal führte Ljachow die Absolventen in einen Hangar; darin hing ein gerade zurückgekehrter automatischer Photonentanker, der ein Jahr zuvor in die Zone des absolut freien Fluges entsendet worden war. Der Tanker, ein riesengroßer, plumper Apparat, hatte sich einen Lichtmonat von der Sonne entfernt. Alle überraschte vor allem seine Farbe. Die Außenhaut war türkisgrün und blätterte ab, sobald man sie mit der Hand berührte. Sie zerkrümelte wie Brot. Aber die Steuerungssysteme funktionierten einwandfrei. Andernfalls hätte der Aufklärer natürlich ebenso wenig zurückkehren können wie jene drei von neunzehn Aufklärern, die in die Zone des absolut freien Fluges geschickt worden waren. Die Kursteilnehmer fragten Ljachow, wie das zu erklären sei, aber Ljachow wusste darauf keine Antwort.

»In den großen Entfernungen von der Sonne gibt es etwas, was wir bis jetzt nicht kennen«, erklärte er, und Shilin dachte an die Piloten, die wohl ein paar Jahre später mit einer »Chius-Molnija« dahin starten sollten, wo es etwas gab, was man noch nicht kannte.

Komisch, dachte Shilin, ich habe sogar schon einiges erlebt, etwa, wie im vierten Kurs beim Probestart einer geodätischen Rakete einmal der Antrieb versagte, und ich mit ihr in ein Sowchosfeld bei Nowojenissejsk stürzte. Stundenlang irrte ich dort zwischen automatischen Starkstrompflügen umher, bis ich gegen Abend endlich einem Menschen begegnete, einem Telemechanikoperator. Wir lagen die ganze Nacht im Zelt und beobachteten die kleinen Positionslampen der Pflüge, die über das dunkle Feld zogen; ein Pflug kam mit lautem Dröhnen nah an uns vorbei und hinterließ den Geruch von Ozon. Der Operator lud mich ein, ein Gläschen einheimischen Wein mit ihm zu trinken, und es gelang mir beim besten Willen nicht, den lebenslustigen Mann davon zu überzeugen, dass Sternenfahrer keinen Tropfen Alkohol trinken. Am nächsten Morgen kam ein Transporter, um die Rakete zu holen. Der »eiserne Tschen« schimpfte mich später fürchterlich aus, weil ich mich nicht hinauskatapultiert hatte … Oder der Diplomflug mit einer Spu-16 Erde–Mond. Dabei versuchte ein Mitglied der Prüfungskommission, uns aus dem Konzept zu bringen, und rief, nachdem er die Einweisung gegeben hatte, mit markerschütternder Stimme: »Asteroid dritter Größe von rechts! Annäherungsgeschwindigkeit zweiundzwanzig!« Wir waren sechs Prüflinge, und er ging uns fürchterlich auf die Nerven. Nur Jan, der Gruppenälteste, bemühte sich, uns davon zu überzeugen, dass man den Menschen ihre kleinen Schwächen verzeihen müsse. Dagegen hatten wir im Prinzip nichts einzuwenden, mochten aber seine Schwächen trotzdem nicht entschuldigen. Anfangs hielten wir den Flug für völlig problemlos, und so erschrak auch niemand, als das Raumschiff plötzlich mit vierfacher Überbelastung in einer furchtbaren Spirale in die Tiefe stürzte. Als wir in den Steuerraum kamen, hing der Mann von der Kommission in seinem Sessel, als hätte ihn die Überbelastung das Leben gekostet. Wir fingen das Schiff ab und brachten es wieder auf Kurs. Da zwinkerte uns der Prüfer mit einem Auge zu und sagte: »Gut gemacht, Interplanetarier!« Im selben Augenblick hatten wir ihm seine Schwächen verziehen, denn bis dahin hatte uns noch niemand außer unseren Müttern und Mädchen Interplanetarier genannt (und dabei sagten sie immer: »Mein lieber Interplanetarier …«, und machten ein Gesicht dabei, als liefe ihnen ein eisiger Schauer über den Rücken).

Die »Tachmasib« schlingerte auf einmal so heftig, dass Shilin stürzte und mit dem Hinterkopf gegen die Stellage schlug.

»Verdammt!«, wetterte Jurkowski. »Klarer Fall, da stimmt was nicht! Wenn das Schiff so erschüttert wird, können wir nicht arbeiten!«

»Na ja …« Dauge hielt die Hand ans rechte Auge. »Was ist das hier schon für eine Arbeit.«

Anscheinend kreuzten immer mehr große Meteoriten den Kurs des Raumschiffs, und die hektischen Kommandos der Meteoritenabwehrlokatoren an den Autopiloten warfen das Schiff immer häufiger von einer Seite zur anderen.

»Ist das etwa ein Schwarm?«, fragte Jurkowski, an die Griffe seines Periskops geklammert. »Arme Waretschka! Sie verträgt Erschütterungen so schlecht.«

»Dann hätte sie zu Hause bleiben sollen«, meinte Dauge böse. Sein rechtes Auge schwoll an, er betastete es und schimpfte auf Lettisch vor sich hin. Er kauerte nun nicht mehr, sondern lag auf dem Fußboden und hatte die Beine gespreizt, um festeren Halt zu bekommen.

Shilin hielt sich an der Ladekammer und der Stellage fest. Ganz plötzlich sackte ihm der Boden unter den Füßen weg, dann schnellte er mit einem Ruck, dass die Fersen schmerzten, wieder hoch. Dauge ächzte, Shilin knickte in den Knien ein. Heiser krächzte Bykow im Lautsprecher: »Bordingenieur Shilin, in die Steuerzentrale! Alle Passagiere in die Druckkammern!«

Shilin trabte taumelnd zur Tür. Hinter ihm sagte Dauge: »Was denn – in die Druckkammern?«

»Himmeldonnerwetter!«, fluchte Jurkowski.

Scheppernd rollte etwas über den Boden. Shilin stürmte auf den Korridor hinaus. Das Abenteuer hatte begonnen.

Das Raumschiff schaukelte unaufhörlich wie ein Holzspan auf den Wellen. Shilin rannte durch den Korridor und dachte: Der da ist vorbei, und der ist auch vorbei, an der Bordwand abgerutscht … Und der auch … Kein Volltreffer! Da zerbarst etwas hinter ihm und fing an zu zischen und zu fauchen. Er warf sich rücklings gegen die Wand und drehte sich um. Im leeren Korridor ballte sich, zehn Schritt von ihm entfernt, eine dichte weiße Dampfwolke, als wäre dort ein Ballon mit flüssigem Helium geplatzt. Das Zischen verstummte bald, und durch den Korridor zog eisige Kälte.

»Treffer!« Fluchend riss sich Shilin von der Wand los. Die weiße Wolke kroch hinter ihm her und senkte sich langsam.

In der Steuerzentrale war es kalt. Shilin sah, dass Fußboden und Wände wie mit einem vielfarbig schimmernden Reif bedeckt waren. Krutikow saß mit puterrotem Nacken vor dem Rechner und wertete neue Aufzeichnungen aus. Bykow war nicht zu sehen, er stand hinter dem Reaktor.

»Wieder ein Treffer!«, rief der Steuermann mit dünner Stimme.

»Wo bleibt denn der Bordingenieur?«, fragte Bykow hinter dem Reaktor.

»Hier bin ich«, antwortete Shilin.

Er lief durch die Steuerzentrale und rutschte dabei mehrmals auf dem Reif aus. Bykow eilte ihm entgegen; seine roten Haare standen zu Berge. »An die Kontrolle des Reflektors!«

»Zu Befehl!«, bestätigte Shilin.

»Steuermann, gibt es einen Lichtblick?«

»Nein, Ljoscha. Weit und breit ein und dieselbe Dichte. Da haben wir uns ganz schön was eingebrockt!«

»Stell den Reflektor ab! Ich gehe auf Havarieschaltung.«

Krutikow schwenkte schnell auf seinem Drehsessel zum Steuerpult herum, welches sich hinter ihm befand. Er legte die Hand auf die Tasten und sagte: »Vielleicht könnte …« Er stockte. Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Entsetzen. Die Platte mit der Steuertastatur wölbte sich nach oben, wurde wieder gerade und glitt geräuschlos auf den Fußboden. Shilin hörte Krutikow aufschreien und stürzte verstört hinter dem Reaktor hervor. An der Wand der Steuerzentrale saß, an den Polsterbezug geklammert, die anderthalb Meter große Marseidechse Waretschka, Jurkowskis Liebling. An ihren Flanken war der Abdruck der Steuerungstasten noch deutlich zu erkennen, und auf ihrem furchterregenden dreieckigen Maul leuchtete noch das rote Stopplämpchen. Michail Antonowitsch starrte die eigentümlich gemusterte Waretschka an, schluchzte auf und griff sich ans Herz.

»Scher dich weg«, herrschte Shilin die Eidechse an.

Da rutschte sie blitzschnell von der Wand und war verschwunden.

»Ich schlag sie tot!«, brüllte Bykow. »Shilin, auf deinen Platz, zum Teufel!«

Shilin drehte sich um, und in dem Augenblick ereilte die »Tachmasib« ein Volltreffer.

Amalthea, J-Station

Die Wasserholer unterhalten sich über den Hunger,und der Chefgastronom schämt sich seiner Küche

Nach dem Abendessen kam Onkel Walnoga in den Freizeitbereich und sagte, ohne dabei jemanden anzusehen: »Ich brauche Wasser. Meldet sich jemand freiwillig?«

»Klar«, antwortete Koslow.

Potapow blickte vom Schachbrett auf. »Klar.«

»Natürlich melden sich welche«, sagte Kostja Stezenko.

»Kann ich auch mit?«, fragte Sojka Iwanowa scheu.

»Bitte«, erwiderte Walnoga, den Blick zur Decke gerichtet. »Kommen Sie …«

»Wie viel Wasser wird gebraucht?«, wollte Koslow wissen.

»Nicht viel«, antwortete Onkel Walnoga. »Zehn Tonnen.«

»Gut«, meinte Koslow. »Wir kommen gleich.«

Onkel Walnoga ging hinaus.

»Ich komme auch mit«, sagte Gregor.

»Bleib lieber hier sitzen, und denk über deinen Zug nach!«, riet ihm Potapow. »Du bist nämlich dran und denkst jedes Mal eine halbe Stunde lang über jeden Zug nach.«

»Egal«, meinte Gregor. »Dazu habe ich nachher noch Zeit.«

»Galja, komm mit!«, rief Stezenko.

Galja lag bequem im Sessel vor dem Magnetvideofon und antwortete träge: »Meinetwegen.« Sie stand auf und räkelte sich behaglich. Galja war achtundzwanzig Jahre alt, groß, brünett und sah sehr gut aus. Sie war die schönste Frau hier, und die Hälfte der Männer auf der Station war in sie verliebt. Sie leitete das astrometrische Observatorium.

»Gehen wir«, sagte Koslow. Er schloss die Schnallen an seinen Magnetschuhen und wandte sich zur Tür. Sie gingen zum Lager und holten sich dort Pelzjacken, Elektrosägen und einen Elektrokarren. »Eisgrotte« hieß die Stelle, an der die Station Trink- und Brauchwasser entnahm.

Die Amalthea, eine abgeflachte Kugel mit einem Durchmesser von einhundertdreißig Kilometern, bestand aus kompaktem, gewöhnlichem Eis wie auf der Erde, nur dass auf seiner Oberfläche ein wenig Meteoritenstaub lag sowie Stein- und Eisklumpen. Über die Entstehung des kleinen Planeten wusste niemand Genaueres zu sagen. Wer in der Kosmogonie nicht sonderlich bewandert war, ging davon aus, Jupiter hätte in ferner Vorzeit von einem Planeten, der ihm zu nahe gekommen war, die Wasserhülle abgezogen. Andere waren geneigt, die Bildung des fünften Mondes auf die Kondensation von Wasserkristallen zurückzuführen. Wieder andere glaubten, die Amalthea gehöre nicht zu unserem Sonnensystem, sondern sei aus dem interstellaren Raum gekommen und Jupiter habe sie an sich gefesselt. Wie dem auch sei, die unerschöpflichen Eisvorräte auf der Amalthea waren für die J-Station sehr nützlich.

Der Elektrokarren rollte durch den Gang der unteren Ebene und blieb vor dem breiten Tor der »Eisgrotte« stehen. Gregor sprang vom Karren, ging zum Tor und suchte nach dem Kontaktknopf für den Öffner. Er war kurzsichtig.

»Tiefer, weiter unten!«, befahl Potapow. »Blinder Uhu.«

Gregor fand den Knopf, und die Torflügel schoben sich auseinander. Der Elektrokarren fuhr in die »Eisgrotte« – eine Höhle aus Eis, ein Tunnel, der in das kompakte Eis geschlagen worden war. Drei Neonröhren beleuchteten den Tunnel, und das Licht spiegelte sich an den Eiswänden und an der Decke wider, brach sich und funkelte auf allen Scharten und Kanten, als erstrahlten in dem Gewölbe unzählige Kronleuchter.

Da der Boden nicht magnetisiert war, musste man vorsichtig gehen. Ungewöhnlich kalt war es hier.

»Eis«, sagte Galja, während sie um sich blickte. »Wie auf der Erde.«

Sojka zog fröstelnd die Schultern zusammen, obwohl sie eine Pelzjacke trug. »Wie in der Antarktis«, murmelte sie.

»Ich war schon in der Antarktis«, erklärte Gregor.

»Wo bist du denn nicht gewesen!«, versetzte Potapow. »Überall warst du schon!«

»Los, Leute!«, kommandierte Koslow.

Die Männer mit den Elektrosägen gingen zu der hinteren Wand und sägten Eisblöcke ab. Wie heiße Messer in die Butter glitten die Sägeblätter ins Eis und versprühten dabei Eisspäne. Sojka und Galja traten interessiert näher.

»Lass mich auch mal«, bat Sojka mit einem Blick auf Koslows gebeugten Rücken.

»Kommt nicht infrage«, entgegnete Koslow, ohne sich umzudrehen. »Du verletzt dir womöglich die Augen.«

»Wie der Schnee auf der Erde«, stellte Galja fest, als sie die Hand unter die sprühenden Eisspäne hielt.

»Von unserem guten Eis gibt es überall viel«, meinte Potapow. »Auf dem Ganymed zum Beispiel ist so viel Schnee, wie du willst.«

»Ich war auf dem Ganymed«, erklärte Gregor.

»Das ist ja zum Verrücktwerden.« Potapow stellte seine Säge ab und wälzte einen großen Eisblock von der Wand. »Das hätten wir.«

»Schneide ihn in Stücke!«, riet Stezenko. »Auf keinen Fall!«, widersprach Koslow. Er stellte ebenfalls die Säge ab und wälzte einen Eisblock von der Wand. »Im Gegenteil.« Er versetzte dem Block mit aller Kraft einen Stoß, sodass er langsam zum Tunnelausgang schlitterte. »Für Walnoga ist es nämlich bequemer, wenn die Blöcke recht groß sind.«

»Eis«, seufzte Galja. »Ganz wie auf der Erde. Ich werde jetzt immer nach der Arbeit hierherkommen.«

»Sehnen Sie sich sehr nach der Erde?«, fragte Sojka schüchtern.

Sojka war zehn Jahre jünger als Galja, arbeitete als Laborantin im astrometrischen Observatorium und empfand eine gewisse Scheu vor ihrer Chefin.

»Sehr«, antwortete Galja. »Auf der Erde kannst du im Gras sitzen, am Abend durch den Park gehen, tanzen … Nicht unsere Lufttänze hier, sondern einen richtigen Walzer. Aus normalen Gläsern kannst du trinken und nicht aus den albernen Birnen … Du kannst ein Kleid tragen, brauchst nicht immer in Hosen herumlaufen. Ich sehne mich schrecklich nach einem ganz gewöhnlichen Rock.«

»Ich auch«, meinte Potapow.

»Ein Rock – ja, das ist etwas Schönes«, bestätigte Koslow. »Schwätzer«, zischte Galja. »Ihr seid doch noch ganz grün hinter den Ohren.« Sie hob ein Stück Eis auf und warf es nach Potapow. Der sprang auf, stieß mit dem Rücken an die Decke und taumelte gegen Stezenko.

»Pass doch auf!«, ärgerte sich der. »Du kommst noch in die Säge!«

»So, jetzt reicht es«, sagte Koslow. Er wälzte den dritten Block von der Wand. »Aufladen, Kinder!« Sie schoben das Eis auf den Elektrokarren. Plötzlich packte Potapow mit der einen Hand Galja, mit der anderen Hand Sojka und warf beide auf den Stapel Eis. Sojka kreischte vor Schreck auf und klammerte sich an Galja, die in Gelächter ausbrach.

»Abfahrt!«, rief Potapow. »Jetzt gibt euch Walnoga eine Prämie: eine Schüssel Chlorellasuppe pro Nase!«

»Ich werde sie nicht zurückweisen«, brummte Koslow.

»Du warst früher schon kein Kostverächter«, witzelte Stezenko. »Na, und jetzt erst recht nicht, wo wir den Riemen enger schnallen müssen.«

Der Elektrokarren fuhr aus der »Eisgrotte«, und Gregor schob die Torflügel zu.

»Hungern wir etwa?«, fragte Sojka vom Gipfel des Eisblockbergs herunter. »Ich habe erst vor Kurzem ein Buch über den Krieg gegen die Faschisten gelesen – damals war wirklich Hungersnot. In Leningrad, während der Blockade.«

»Ich war in Leningrad«, erklärte Gregor.

»Wir essen Schokolade«, fuhr Sojka fort. »Dort aber gab es nur hundertfünfzig Gramm Brot pro Tag. Und was für ein Brot! Zur Hälfte aus Sägemehl.«

»Ach was – Sägemehl!«, sagte Stezenko ungläubig.

»Stell dir vor – ja, Sägemehl!«

»Schokolade hin, Schokolade her«, meinte Koslow. »Jedenfalls wird es für uns verdammt hart, wenn die ›Tachmasib‹ nicht kommt.« Er schulterte die Elektrosäge wie ein Gewehr.

»Sie wird kommen«, war Galja überzeugt. Sie sprang vom Karren, und Stezenko fing sie geistesgegenwärtig auf. »Danke, Kostja … Die ›Tachmasib‹ kommt, Jungs, bestimmt!«

»Trotz allem glaube ich, wir sollten dem Chef vorschlagen, die Tagesrationen zu kürzen«, gab Koslow zu bedenken. »Wenigstens für die Männer.«

»Unsinn«, widersprach Sojka. »Ich habe gelesen, dass Frauen Hunger bedeutend besser ertragen können als Männer.«

Langsam fuhr der Elektrokarren durch den Gang. Sie folgten ihm.

»Das mag für Frauen zutreffen«, sagte Potapow. »Aber nicht für Kinder.«

»Sehr witzig«, konterte Sojka. »Geradezu umwerfend.«

»Nein, er hat recht, Leute«, pflichtete ihm Koslow bei. »Wenn Bykow morgen nicht kommt, müssen wir alle zusammentrommeln und um Zustimmung für die Kürzung der Rationen bitten.«

Stezenko nickte. »Ich nehme an, keiner wird Einspruch erheben.«

»Ich werde nicht dagegen stimmen«, erklärte Gregor.

»Das ist gut«, sagte Potapow. »Ich habe mir schon den Kopf darüber zerbrochen, was wir machen sollen, wenn du plötzlich dagegen stimmst!«

»Gruß den Wasserholern!«, rief der Astrophysiker Nikolski im Vorübergehen.

Nach einer Weile bemerkte Galja ärgerlich: »Ich verstehe nicht, wie man sich so ungeniert um seinen Bauch sorgen kann – als wäre auf der ›Tachmasib‹ kein einziger lebender Mensch.«

Potapow errötete und wusste nicht, was er erwidern sollte. Schweigend gingen sie weiter. In der Kombüse saß Onkel Walnoga niedergeschlagen neben der riesigen Ionenaustauschanlage zur Trinkwasseraufbereitung. Der Elektrokarren hielt an.

»Ladet ab«, bat Onkel Walnoga, den Blick auf den Fußboden geheftet. In der Kombüse herrschte ungewohnte Stille und Kühle, und es duftete nach nichts. Onkel Walnoga litt unter dieser Verödung.

Schweigend luden die freiwilligen Helfer die Eisblöcke vom Elektrokarren und schoben sie in die Öffnung des Wasserreinigers.

»Danke«, brummte Walnoga, ohne den Kopf zu heben.

»Schon gut, Onkel Walnoga«, sagte Koslow. »Kommt, Kinder!«

Schweigend machten sie sich auf den Weg zum Lager, um den Karren wegzubringen, und kehrten dann schweigend in den Freizeitbereich zurück. Galja nahm ein Buch zur Hand und setzte sich wieder in den Sessel vor dem Magnetvideofon. Stezenko blieb unschlüssig neben ihr stehen und sah zu Koslow und Sojka hinüber, die sich wieder an den Schreibtisch setzten (Sojka war Fernstudentin am Institut für Energetik, und Koslow half ihr), seufzte und ging langsam in sein Zimmer.

»Los! Du bist am Zug!«, sagte Potapow zu Gregor.

II

Menschen über dem Abgrund

1. Der Kommandant macht eine unerfreuliche Mitteilung,aber der Bordingenieur bekommt keine Angst

Allem Anschein nach hatte ein großer Meteorit den Reflektor getroffen. Die Symmetrie der Schubkraftverteilung auf dem Paraboloid wurde augenblicklich gestört, und die »Tachmasib« fing an, sich im Kreis zu drehen. In der Steuerzentrale war nur noch der Kommandant bei Bewusstsein. Zwar war er schmerzhaft zuerst mit dem Kopf und dann seitlich irgendwo aufgeprallt und konnte eine Zeit lang nicht atmen, aber es gelang ihm, sich mit Händen und Füßen am Sessel festzuklammern, in den ihn der erste Stoß geworfen hatte, und sich unter Aufbietung aller Kräfte zäh und verbissen zwischen den Arbeitstischen und Geräten hindurch bis zum Steuerpult zu hangeln. Rings um ihn her kreiste und wirbelte alles mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Shilin, alle viere von sich gestreckt, schwebte gerade von oben herab und flog an ihm vorüber; Bykow konnte keine Spur von Leben mehr in ihm erkennen. Dann beugte er sich über das Armaturenbrett der Steuerung, visierte angestrengt die entscheidende Taste an und drückte sie mit dem Zeigefinger herunter.

Der Autopilot setzte die Havarie-Wasserstofftriebwerke in Gang, und Bykow fühlte einen Stoß, als hätte gerade ein Zug in voller Fahrt gebremst und angehalten – nur viel heftiger. Er hatte damit gerechnet und sich mit aller Kraft gegen den Fuß des Steuerpults gestemmt; deswegen schleuderte ihn die ruckartige Bewegung nicht aus dem Sessel. Ihm wurde nur schwarz vor den Augen, und er hatte plötzlich den Mund voll von abgesplittertem Zahnschmelz. Die »Tachmasib« hörte auf, sich zu drehen, und beruhigte sich. Bykow steuerte das Raumschiff mitten durch eine Wolke von Stein- und Eisensplittern; auf dem Bildschirm des Beobachtungssystems wimmelte es von umherwirbelnden blauen Tupfen. Es waren viele, sehr viele, aber das Raumschiff hatte aufgehört zu schlingern – die Meteoritenabwehr war abgeschaltet und irritierte den Autopiloten nicht mehr. Obwohl es Bykow in den Ohren dröhnte, hörte er mehrmals ein jähes fauchendes Zischen, woraufhin ihn eisiger Dampf einhüllte. Er zog seinen Kopf zwischen die Schultern und kroch halb unter das Pult. Einmal bollerte etwas hinter ihm und zerbarst. Nach einer Weile lichtete sich das blaue Gewimmel auf dem Bildschirm; dann torkelten nur noch vereinzelte blaue Tupfen darüber, und schließlich verschwanden auch sie. Die Meteoritenattacke war vorüber.

Bykow warf einen Blick auf den Kursografen. Die »Tachmasib« verlor zusehends an Höhe. Sie flog durch die Exosphäre des Jupiters, aber ihre Geschwindigkeit war bedeutend geringer als die Umdrehungsgeschwindigkeit des Planeten, und so trudelte sie in immer engeren Spiralen auf ihn zu. Während des Meteoritenangriffs war sie – wie immer bei solchen Attacken – langsamer geworden und deswegen vom Kurs abgekommen. Dergleichen geschieht mitunter auch im normalen Linienverkehr Jupiter – Mars oder Jupiter – Erde bei der Durchquerung eines Asteroidengürtels. Dort ist das nicht weiter gefährlich. Verlor man aber hier, über dem Jupiter, an Tempo, so bedeutete es den sicheren Tod. Sobald ein Raumschiff in die kompakten Schichten der Jupiter-Atmosphäre eindringt, geht es in Flammen auf; so war es vor zehn Jahren Paul Danget ergangen. Fängt das Raumschiff hingegen kein Feuer, stürzt es in die Wasserstoffkluft, aus der es ebenfalls keine Wiederkehr gibt – ein Schicksal, das Anfang des Jahres Sergej Petruschewski ereilte.

Einzig und allein mit dem Photonentriebwerk konnte es gelingen, der unheilvollen Nähe des Riesenplaneten zu entkommen. Mechanisch drückte Bykow auf die gerillte Startertaste, aber auf dem Armaturenbrett flammte kein Lämpchen auf. Der Reflektor war beschädigt, und der Havariecomputer blockte den unverständlichen Befehl. Das ist das Ende, dachte Bykow. Er wendete das Schiff nach allen Regeln der Kunst, ging auf Gegenkurs und schaltete die Havarietriebwerke auf äußerste Kraft. Die fünffache Überbelastung presste ihn in den Sessel. Das Einzige, was er im Augenblick tun konnte, war, die Fallgeschwindigkeit auf ein Minimum zu reduzieren, damit das Schiff in der Atmosphäre nicht in Brand geriet. Dreißig Sekunden lang saß er unbeweglich da und blickte unverwandt auf seine Hände, die durch die Überbelastung schnell anschwollen. Dann drosselte er die Treibstoffzufuhr, und die Überbelastung ließ nach. Die Havarietriebwerke würden das Tempo des Sturzfluges etwas abbremsen – solange der Treibstoff reichte. Aber der ging zur Neige, und mithilfe der Havarieraketen war über dem Jupiter noch nie ein Schiff gerettet worden. Über Mars, Merkur und Erde – vielleicht, über dem Riesenplaneten jedoch noch nie.

Bykow erhob sich mühsam und spähte über das Pult. Auf dem Fußboden lag inmitten von Plastscherben der Steuermann Krutikow auf dem Rücken.

»Mischa«, rief Bykow flüsternd. »Lebst du, Mischa?«

Hinter dem Reaktor knirschte und kratzte etwas, und auf allen vieren kam Shilin hervorgekrochen. Er sah sehr mitgenommen aus. Grübelnd musterte er den Kommandanten, den Steuermann, die Zimmerdecke und setzte sich dann mit untergeschlagenen Beinen hin.

Bykow kroch hinter dem Pult hervor und hockte sich, obwohl die Knie schmerzten, neben den Steuermann. Er rüttelte ihn sacht an der Schulter. »Lebst du, Mischa?«

Krutikow verzog das Gesicht und leckte sich über die Lippen, ohne allerdings die Augen aufzuschlagen.

»Ljoscha«, sagte er mit schwacher Stimme.

»Tut dir etwas weh?«, erkundigte sich Bykow und tastete den Steuermann ab.

»Au!« Krutikow riss die Augen auf.

»Hier?«

Der Steuermann stöhnte.

»Und hier?«

»Au, hör auf!« Der Steuermann richtete sich halb auf, und sein Kopf sank zur Seite. »Wo ist Wanja?«, fragte er.

Bykow blickte um sich. Shilin war nicht da. »Wanja!«, rief er halblaut.