Gesammelte Werke 4 - Arkadi Strugatzki - E-Book

Gesammelte Werke 4 E-Book

Arkadi Strugatzki

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Beschreibung

Die einzigartige Strugatzki-Edition

Arkadi und Boris Strugatzkis Romane sind nicht nur atemberaubende Parabeln über die Stellung des Menschen im Universum, sondern auch schonungslose Abrechnungen mit Ideologiegläubigkeit und Personenkult. Der vierte Band der Werkausgabe enthält fünf Romane aus der Welt des Mittags: "Es ist schwer ein Gott zu sein", "Die dritte Zivilisation", "Der Junge aus der Hölle", "Fluchtversuch" und "Unruhe", alle in völlig neuer Überarbeitung und ungekürzt.

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Arkadi und Boris StrugatzkiWerkausgabe – Vierter BandHerausgegeben vonSascha Mamczak und Erik Simon

ARKADI UND BORIS STRUGATZKI

Fluchtversuch

Es ist schwer,ein Gott zu sein

Unruhe

Die dritte Zivilisation

Der Junge aus der Hölle

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Titel der OriginalausgabenПопытка к бегствуТрудно быть богом Беспокойство МалышПарень из преисподнейDeutsche Übersetzung von Dieter Pommerenke (Fluchtversuch),Arno Specht (Es ist schwer, ein Gott zu sein),David Drevs (Unruhe), Aljonna Möckel (Die dritte Zivilisation),Erika Pietraß (Der Junge aus der Hölle)Ergänzung anhand der ungekürzten und unzensierten Originalversionen von »Fluchtversuch« und »Es ist schwer, ein Gott zu sein«,Übersetzung der Kommentare von Boris Strugatzkisowie Nachdichtungen: Erik SimonTextbearbeitung und Redaktion: Anna Doris Schüller

Deutsche Erstausgabe 4/2012Copyright © 1962, 1964, 1971, 1974, 1990by Arkadi und Boris StrugatzkiCopyright © 2001 des Kommentars by Boris StrugatzkiCopyright © 2012 der deutschen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.www.heyne.deUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsISBN 978-3-641-04201-1V002

FLUCHTVERSUCH

1

»Ein schöner Tag wird das heute!«, sagte Wadim.

Er stand vor der weit geöffneten Hauswand, schlang die Arme um die nackten Schultern und blickte in den Garten. In der Nacht hatte es geregnet; Gras, Büsche und das Dach des Bungalows nebenan waren nass. Der Himmel sah grau aus, und auf dem Weg glitzerten Pfützen. Wadim zog die Badehose straff, sprang auf den Rasen hinaus und lief den Weg entlang. Die feuchte Morgenluft tief und hörbar einatmend, eilte er an nass gewordenen Liegestühlen, Kisten und Ballen vorbei; am Vorgarten des Nachbarn, wo ein halb auseinandermontierter »Kolibri« sein Inneres zur Schau stellte; rannte durch nasses, üppig wucherndes Gebüsch und zwischen feuchten Kiefernstämmen hindurch; lief ohne anzuhalten in einen kleinen See und schwamm zum gegenüberliegenden, mit Riedgras bewachsenen Ufer. Von dort rannte er, erhitzt, aber sehr zufrieden mit sich und sein Tempo weiter steigernd, wieder zurück, sprang über die großen Pfützen, schreckte die kleinen grauen Frösche auf und rannte geradewegs zu der Waldwiese vor Antons Bungalow, wo das Schiff stand.

Das Raumschiff war keine zwei Jahre alt und wie neu. Seine matten schwarzen Flanken waren trocken und vibrierten kaum merklich. Die spitz aufragende Kuppe zeigte eine starke Neigung auf jenen Punkt des grauen Himmels, an dem sich hinter den Wolken die Sonne befand: Das Schiff tankte gerade Energie. Es handelte sich um ein harmloses Raumschiff vom Typ »Tourist«. Das hohe Gras rings umher war mit Reif bedeckt, welk und vergilbt; bei einem regulären Linienraumschiff wäre der Wald im Umkreis von zehn Kilometern über Nacht auf winterliche Temperaturen abgekühlt.

Wadim lief, schlitternd in den Kurven, einmal um das Schiff herum und kehrte dann zurück nach Hause. Ächzend vor Wohlbehagen rieb er sich mit einem Frotteehandtuch ab und sah, wie aus dem Bungalow gegenüber Onkel Sascha trat; in der Hand hielt er ein Skalpell. Wadim winkte ihm mit dem Handtuch zu. Onkel Sascha war hundertfünfzig Jahre alt und werkelte Tag für Tag an seinem Helikopter. Allerdings ohne Erfolg – der »Kolibri« flog immer noch schlecht. Onkel Sascha schaute Wadim nachdenklich an.

»Hast du vielleicht ein paar Bioelemente übrig?«, fragte er.

»Sind Ihre durchgeschmort?«

»Ich weiß nicht. Die Kennkurve ist nicht in Ordnung.«

»Wir könnten Anton anrufen, Onkel Sascha«, schlug Wadim vor. »Er ist gerade in der Stadt. Da kann er Ihnen welche mitbringen.«

Onkel Sascha ging zu seinem Helikopter und schlug mit dem Skalpell gegen den Bug.

»Warum fliegst du nicht, dummes Ding?«, schimpfte er.

Wadim zog sich an.

»Bioelemente!«, knurrte Onkel Sascha und fuhr mit dem Skalpell in die Eingeweide des »Kolibri«. »Was sollen die nützen! Lebendige Mechanismen. Halblebendige Mechanismen. Fast tote Mechanismen. Weder Montage noch Elektronik. Nichts als Nerven! Verzeihung, aber ich bin kein Chirurg.« Der Helikopter zuckte zusammen. »Ruhig, du Tier! Wirst du wohl stillhalten!« Onkel Sascha zog das Skalpell wieder heraus. »Das ist unmenschlich!«, sagte er. »Da wird eine arme, lädierte Maschine plötzlich zum kranken Zahn. Vielleicht bin ich altmodisch? Sie tut mir leid, verstehst du?«

»Mir auch«, murmelte Wadim, während er sich das Hemd überstreifte.

»Wie?«

»Ich sagte: Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«

Eine Weile wanderte Onkel Saschas Blick zwischen dem Helikopter und dem Skalpell hin und her.

»Nein«, erwiderte er dann entschlossen. »Ich will nicht vor den Umständen kapitulieren. Er wird fliegen.«

Wadim setzte sich an den Frühstückstisch, schaltete den Stereovisor ein und legte ein Buch vor sich: »Die neuesten Methoden zum Aufspüren von Tachorgen«; es war ein altes Buch, noch auf Papier gedruckt, und schon von Wadims Großvater immer wieder gelesen worden. Auf dem Einband war eine Landschaft der unter Naturschutz stehenden Pandora abgebildet, mit zwei Ungeheuern im Vordergrund.

Während er aß und in seinem Buch blätterte, betrachtete Wadim die bildhübsche Sprecherin, die von Auseinandersetzungen der Kritiker über das Problem des Emotiolismus berichtete. Die Sprecherin war neu, und Wadim freute sich schon die ganze Woche über den reizvollen Anblick.

»Emotiolismus!«, seufzte er und biss von seinem Ziegenkäsebrot ab. »Liebes Mädchen, das Wort ist ja abscheulich. Schon allein der Klang! Komm lieber mit uns. Wir lassen das Wort auf der Erde, und bis wir wieder zurück sind, ist es bestimmt gestorben, darauf kannst du dich verlassen.«

»Der Emotiolismus ist sehr vielversprechend«, sagte die Sprecherin ungerührt. »Weil nur er heutzutage eine echte, nachhaltige Perspektive bietet, die Entropie der emotionalen Information in der Kunst entscheidend zu verringern. Weil nur er heutzutage …«

Wadim stand auf und trat mit dem Butterbrot in der Hand ins Freie.

»Onkel Sascha«, rief er. »Was empfinden Sie bei dem Wort ›Emotiolismus‹?«

Der Nachbar stand, die Hände auf dem Rücken, vor dem Helikopter, in dem das Unterste zuoberst gekehrt war. Der »Kolibri« schwankte wie ein Baum im Wind.

»Wie?«, fragte Onkel Sascha, ohne sich umzudrehen.

»Das Wort ›Emotiolismus‹«, wiederholte Wadim. »Ich bin sicher, bei diesem Wort hört jeder die Totenglocken läuten, sieht ein Krematorium vor sich und verspürt den Geruch verwelkter Blumen.«

»Du warst schon immer ein feinfühliger Junge, Wadim«, erwiderte der Alte seufzend. »Aber es ist in der Tat ein scheußliches Wort.«

»Vollkommen agrammatisch«, bestätigte Wadim kauend. »Ich freue mich, dass Sie das auch so empfinden. Aber sagen Sie, wo haben Sie denn Ihr Skalpell gelassen?«

»Es ist mir hineingefallen«, antwortete Onkel Sascha.

Wadim beobachtete eine Weile den qualvoll zuckenden Helikopter.

»Wissen Sie, was Sie da getan haben, Onkel Sascha?«, sagte er schließlich. »Sie haben mit dem Skalpell das Verdauungssystem geschlossen. Ich rufe sofort Anton an. Er soll Ihnen ein neues Skalpell mitbringen.«

»Und das alte?«

Wadim winkte mit traurigem Lächeln ab.

»Schauen Sie mal her«, sagte er und hielt den Rest seines Butterbrots hoch. »Sehen Sie?« Er schob sich das Brot in den Mund, kaute und schluckte es hinunter.

»Und?«, fragte Onkel Sascha interessiert.

»Das ist, anschaulich demonstriert, das Schicksal Ihres Skalpells.«

Onkel Sascha starrte auf den Helikopter, der aufgehört hatte zu zucken.

»Aus!«, rief Wadim. »Ihr Skalpell gibt es nicht mehr. Dafür ist Ihr ›Kolibri‹ jetzt aufgeladen. Für dreißig Stunden Dauerbetrieb wird’s reichen.«

Onkel Sascha ging um den Helikopter herum und betastete ihn hier und da. Wadim lachte und kehrte an den Tisch zurück. Er aß noch ein Butterbrot und trank ein Glas saure Milch dazu. Da klickte der Auslöser des Informators, und eine leise, ruhige Stimme sagte: »Keine aktuellen Einladungen und Besuche. Vor Abfahrt in die Stadt wünscht Anton einen guten Morgen und schlägt vor, gleich nach dem Frühstück mit der Loslösung von der Erde zu beginnen. Im Institut sind neun neue Aufgaben eingetroffen …«

»Bitte keine Einzelheiten«, bat Wadim.

»… Aufgabe Nummer neunzehn ist noch nicht abgeschlossen. Pearl Minchin hat das Theorem von der Existenz polynomischer Operationen über dem Q-Feld der Simonjan-Strukturen bewiesen. Adresse: Richmond, 17-17-7. Ende.«

Der Informator klickte, fügte aber nach einer kurzen Pause belehrend hinzu: »Wer neidet, leidet.«

»Trottel!«, zischte Wadim. »Ich bin überhaupt nicht neidisch. Im Gegenteil: Ich freue mich! Hast es geschafft, Pearl!« Gedankenverloren starrte er in den Garten. »Nein«, sagte er schließlich. »Schluss damit! Ich muss mich von allem Irdischen lösen.«

Er warf das schmutzige Geschirr in den Müllschlucker und schrie: »Auf zu den Tachorgen! Schmücken wir Pearl Minchins Arbeitszimmer in Richmond, 17-17-7, mit einem Tachorgenschädel!« und sang:

»Heulen soll vor Angst und Zagender Tachorg, das wilde Biest,denn es naht, um ihn zu jagen,struktureller Linguist.«

»Und jetzt …«, sagte er. »Wo ist das Radiofon?« Er wählte eine Nummer. »Anton? Wie sieht’s aus?«

»Ich stehe hier Schlange.«

»Was sagst du da? Wollen die alle zur Pandora?«

»Viele. Zudem verbreitet jemand das Gerücht, dass man die Jagd auf Tachorge bald verbieten wird.«

»Aber wir werden es noch schaffen?«

»Ja«, erwiderte Anton nach einer Weile.

»Warten da auch Mädchen?«

»Na klar.«

»Werden die es auch noch schaffen?«

»Ich frage mal. – Sie meinen, ja.«

»Bestell ihnen schöne Grüße von einem bekannten strukturellen Linguisten und sag ihnen, ich wäre sechs Fuß groß und von guter Statur. Wart mal, Anton, was wollte ich dir noch sagen? Ach ja! Bring doch bitte ein Skalpell für Onkel Sascha mit. Und ein paar ›BE-6‹ und ›BE-7‹.«

»Und einen neuen Helikopter«, spottete Anton. »Was hat denn der Alte mit seinem Skalpell gemacht?«

»Na, was meinst du, was man damit machen kann?«

»Keine Ahnung«, sagte Anton nach kurzem Überlegen. »Ein Skalpell hält doch ewig. Wie die Tempel von Baalbek.«

»Es ist ihm in den Magen seines ›Kolibri‹ gefallen.«

Im Radiofon ertönte vielstimmiges Gekicher; die ganze Schlange amüsierte sich.

»Na gut«, sagte Anton. »Wart auf mich, ich bin gleich da. Kannst ja inzwischen den Superkargo spielen und mit dem Beladen anfangen.«

Wadim steckte das Radiofon in die Tasche und schätzte durch drei Zimmer die Entfernung bis zum Eingang.

»Die Beine sind schwach«, zitierte er. »Aber die Arme sind willig.«

Er machte einen Handstand, lief auf den Händen bis zur Tür, machte auf der Vortreppe einen Salto und landete auf allen vieren im Gras. Dann stand er auf, säuberte die Hände und deklamierte:

»Ob beim Zweikampf, ob im Kriege,überall er siegreich ist –das Symbol von Glück und Freude –struktureller Linguist.«

Dann ging er gemächlich in den Garten, wo die Kisten und Ballen lagerten – eine ansehnliche Ladung. Sie mussten ja nicht nur Jagdwaffen, Munition und Verpflegung mitnehmen, sondern auch Kleidung für die Jagd. Und für das berühmte »Jägercafé«, das auf dem flachen Gipfel der Ewerina lag: Hier strich der herb duftende Wind ungehindert an den Tischen entlang, und tief unten im Tal ballten sich undurchdringliche schwarze Büsche wie Gewitterwolken; von Dornen zerschrammte Jäger leerten unter Gelächter bauchige Flaschen »Tachorgenblut« und prahlten damit, was sie für Schädel hätten erbeuten können, wenn sie gewusst hätten, an welchem Ende beim Karabiner der Kolben saß; in der dunkelgrünen Dämmerung tanzten auf müden Beinen Paare in »Heiterem Rhythmus«, und am sternlosen Himmel über der »Gebirgskette der Kühnen« gingen verschwommene, abgeplattete Monde auf.

Wadim hockte sich vor die schwerste Kiste, schob sie zurecht und wuchtete sie mit einem Ruck auf die Schultern. Sie enthielt die Waffen: drei automatische Karabiner mit Zielvorrichtung zum Schießen bei Nebel und sechshundert Schuss Munition in flachen Kunststoffmagazinen. Wadim trug die Kiste durch den Garten zum Schiff und ging bei jedem Schritt leicht in die Knie. Er steuerte die Einstiegsöffnung an und stieß mit dem Fuß gegen die Bordwand. Die Membran, die die ovale Luke überspannte, zerriss, und Wadim schob die Kiste ins dunkle Innere, aus dem ihm kühle Luft entgegenschlug.

Auf dem Weg zurück pflückte er große Beeren von den Sträuchern, und jedes Mal regnete eine Ladung kalter Wassertropfen auf ihn herab.

Mindestens fünf Tachorge müssen wir erlegen, überlegte er. Einen Schädel für Pearl Minchin in Richmond, damit sie weiß, dass ich kein Versager bin. Einen Schädel für Mutter. Aber sie wird ihn nicht haben wollen … Dann verschenke ich ihn an das erste Mädchen, das nach zehn Uhr an der Ecke Newski-Prospekt und Sadowaja-Straße an mir vorübergeht. Mit dem dritten werf ich nach Samson, um seine Skepsis zu dämpfen; er hat sich doch so merkwürdig aufgeführt, als ich Nelly vom letzten Ausflug zur Pandora erzählte. Den vierten Schädel kriegt Nelly, damit sie mir glaubt, und nicht Samson. Und den fünften hänge ich mir über den Stereovisor. Genüsslich malte er sich aus, wie wunderbar die bildhübsche Sprecherin unter den gefletschten Zähnen des Untiers aussehen würde.

Er trug zudem vier große Kisten mit lebendem Fleisch, acht Kisten mit Gemüse und Obst und zwei Ballen mit Kleidung zum Schiff, dazu eine große Kiste mit Geschenken für die alteingesessenen Pandoraner, auf der in krakeliger Schrift stand: »Büchse für Pandora«.

Über den Wolken stieg die Sonne immer höher und es wurde langsam heiß. Alles ringsum trocknete; die Frösche verbargen sich im Gras. In den leeren Bungalows öffneten sich geräuschvoll die Wände. Onkel Sascha machte seine Hängematte neben dem »Kolibri« fest, legte sich hinein und begann Zeitung zu lesen. Wadim, der mit dem Verladen der Kisten fertig war, machte es sich neben dem Stachelbeerstrauch bequem.

»Ihr fliegt also jetzt«, sagte Onkel Sascha.

»Ja.«

»Zur Pandora?«

»Ja.«

»Hier steht, dass das Naturschutzgebiet gesperrt werden soll. Für mehrere Jahre.«

»Kein Problem, Onkel Sascha«, versetzte Wadim. »Wir kommen schon noch rechtzeitig.«

Nach einer Weile meinte Onkel Sascha leise: »Allein werde ich mich hier ganz schön langweilen.«

Wadim hörte auf zu kauen. »Wir kommen doch wieder, Onkel Sascha! In einem Monat schon.«

»Trotzdem: Ich werde solange in der Stadt bleiben. Was soll ich hier allein in fünf Bungalows!« Er sah zum Helikopter. »Mit diesem kaputten Esel, diesem …«

Vom Himmel drang leises Brummen.

»Da fliegt noch so einer«, sagte Onkel Sascha.

Wadim hob den Kopf. Dicht über der Siedlung beschrieb ein leuchtend roter »Rhamphorhynchus« behäbig eine Acht. An seinem schmalen Rumpf war deutlich eine weiße Nummer zu erkennen.

»So kann ich das auch«, meinte Onkel Sascha. »Aber flieg mal im Sturzflug, mein Lieber, und zwar weder schief noch schräg, sondern kerzengrade …«

Der »Rhamphorhynchus« entfernte sich. Auf dem betonierten Weg hinter dem Garten knirschten Autoreifen.

»Jetzt kommt Leben in unsere Siedlung«, meinte Onkel Sascha. »Ein Verkehr ist das heute, wie auf dem Newski-Prospekt.«

»Das ist Anton!« Wadim sprang auf und eilte zum Schiff. Anton fuhr den Wagen in die Garage. Als er wieder herauskam, sagte er zerstreut: »Alles in Ordnung, Wadim. Ich habe das Logbuch vorgelegt und grünes Licht bekommen …«

»Aber?«, fragte Wadim scharfsinnig.

»Wieso ›aber‹?«

»Ich habe aus deinen Worten deutlich ein ›Aber‹ herausgehört.«

»Ich war bei Galka«, gestand Anton. »Sie kommt nicht mit.«

»Meinetwegen?«

»Nein.« Und nach einer Pause: »Meinetwegen.«

»Tja«, sagte Wadim vielsagend.

»Wie sieht’s denn mit unserem Gepäck aus, Superkargo?«, erkundigte sich Anton.

»Alles in Ordnung, Käpt’n. Wir können starten.«

»Und wie sieht es bei uns zu Hause aus? Alles aufgeräumt?«

»In wessen Zuhause?«

»In meinem, zum Beispiel.«

»Nein, Käpt’n. Entschuldigung, Käpt’n! Ich bin eben erst mit dem Einladen fertig geworden.«

Wieder flog der rote »Rhamphorhynchus« dicht über die Dächer hinweg. Anton schaute ihm nach.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er verwundert. »Wieder die ZS-268. Ich habe das Gefühl, ich bin Gegenstand konzentrierter Aufmerksamkeit geworden. Dieser rote ›Rhamphorhynchus‹ verfolgt mich vom Schlossplatz an.«

»Vielleicht steckt eine Frau dahinter?«, mutmaßte Wadim.

»Mir sind die Frauen noch nie nachgelaufen.«

»Einmal könnten sie ja damit anfangen«, versetzte Wadim. Doch dann kam ihm ein neuer Gedanke. »Oder es ist ein Mitglied des Geheimbundes zum Schutz der Tachorge?«

Wieder flog der »Rhamphorhynchus« über ihre Köpfe hinweg, verstummte jedoch plötzlich.

»Eh, der will zu Onkel Sascha«, rief Wadim. »Soll wohl ausgeschlachtet werden. Armer ›Rhamphorhynchus‹! Übrigens, hast du die Sachen mitgebracht?«

»Klar«, antwortete Anton und sah an ihm vorbei zum Gebüsch. Dann sagte er: »Nein, du struktureller Superkargo, der will nicht zu Onkel Sascha.« Hinter dem Gebüsch tauchte ein großer, hagerer Mann auf. Er trug einen weiten weißen Kittel und weiße Hosen, hatte ein braungebranntes schmales Gesicht mit buschigen Augenbrauen und große zimtbraune Ohren. In der Hand trug er eine prall gefüllte Aktentasche.

»Das ist er«, sagte Anton.

»Wer?«

»Na, der Weiße. Die ganze Zeit über ist er um die Schlange herumgeschlichen und hat sich alle genau angesehen.«

»Ich werde ihm gleich erzählen, was Tachorge sind«, sagte Wadim. »Dann wird er es einsehen.«

Der Mann kam direkt auf die beiden Jäger zu und betrachtete sie aufmerksam.

»Wussten Sie, dass Tachorge Menschen anfallen und ihnen dabei schwere Verletzungen beibringen können?«, fragte Wadim. »Zum Krüppel können sie einen machen.«

»Was Sie nicht sagen!«, versetzte der Mann. »Tachorge? Das höre ich zum ersten Mal. Aber das betrifft mich auch nicht. Ich bin mit einer Bitte zu Ihnen gekommen. Guten Tag!« Er legte zwei Finger an die Schläfe.

»Guten Tag!«, erwiderte Anton. »Wollen Sie zu mir?«

Der Unbekannte ließ die große, prall gefüllte Aktentasche fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Aus der Tasche drang ein dumpfes Krachen. »Ja, ich will zu Ihnen«, antwortete er langsam. Er blinzelte und fuhr sich abermals kräftig mit der Hand über das Gesicht. »Aber fragen Sie mich bitte nicht, weshalb ich ausgerechnet zu Ihnen komme. Das ist purer Zufall. Ebenso gut hätte ich mich an jemand anderen wenden können.«

»Da haben wir aber Glück gehabt!«, rief Wadim fröhlich. »Überhaupt haben wir heute Glück!«

Der Unbekannte sah ihn an, ohne zu lächeln.

»Sind Sie der Kapitän?«, erkundigte er sich.

»Potenziell – ja«, antwortete Wadim. »Kinetisch betrachtet bin ich Superkargo und Oberspezialist für Tachorge. Amateurzoologe, wenn Sie so wollen.«

Wadim war jetzt nicht mehr zu bremsen; er musste um jeden Preis ein Lächeln auf das Gesicht des Unbekannten zaubern, sei es auch nur ein höfliches.

»Außerdem bin ich Amateurkopilot«, fuhr er fort. »Für den Fall, dass den Kapitän ein Gichtanfall oder eine Schleimbeutelentzündung ereilt.«

Der Unbekannte hörte schweigend zu, und Anton sagte leise: »Sehr witzig.«

Eine Pause trat ein.

»Wie ich gehört habe, fliegen Sie zur Pandora«, sagte der Unbekannte. Dabei blickte er Anton an.

»Ja, das ist richtig.« Anton schielte nach der Aktentasche. »Wollen Sie etwas mitschicken?«

»Nein«, antwortete der Unbekannte. »Mitzuschicken habe ich nichts. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Sie reisen doch zu Ihrem Vergnügen?«

»Ja«, erwiderte Anton.

»Sofern man eine gefährliche Jagd als Vergnügen betrachten kann«, ergänzte Wadim bedeutungsvoll.

»Es ist ein schöner Urlaub«, sagte Anton. »Touristenreise und Jagd.«

»Eine Touristenreise …«, wiederholte der Unbekannte langsam und ein wenig verwundert. »Wisst ihr, Jungs, ihr seht gar nicht aus wie Touristen … eher wie junge, starke Burschen auf Entdeckungsreise. Was wollt ihr denn auf einem erschlossenen Planeten mit elektrifizierten Dschungeln und Brauseautomaten in der Wüste! Warum nehmt ihr nicht Kurs auf einen unbekannten Planeten?«

Anton und Wadim wechselten einen flüchtigen Blick.

»Und auf welchen Planeten?«, fragte Anton.

»Ist das nicht egal? Irgendeinen. Auf den noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hat.« Plötzlich riss der Unbekannte die Augen auf. »Oder gibt es davon keine mehr?«

Er scherzte nicht, das war offensichtlich. Anton und Wadim wechselten erneut einen kurzen Blick.

»Doch, wieso?«, fragte Anton zurück. »Von solchen Planeten gibt es jede Menge. Aber wir bereiten uns schon seit dem Winter darauf vor, zur Jagd auf die Pandora zu fliegen.«

»Was mich angeht«, warf Wadim ein, »so habe ich die Schädel meiner noch nicht erlegten Tachorge bereits an meine Bekannten verschenkt.«

»Und schließlich: Was sollten wir auf einem nicht erschlossenen Planeten anfangen?«, fragte Anton ruhig. »Wir sind keine wissenschaftliche Expedition und keine Experten. Wadim ist Linguist, ich bin Raumfahrer, Pilot. Wir wären nicht einmal in der Lage, eine wissenschaftliche Erstbeschreibung zu verfassen … Aber vielleicht haben Sie etwas Bestimmtes vor?«

Der Unbekannte runzelte die Stirn.

»Nein, ich habe nichts vor«, erwiderte er schroff. »Ich muss bloß auf einen unbekannten Planeten, und die Frage lautet: Können Sie mir helfen oder nicht?«

Wadim zog den Reißverschluss seiner Jacke nervös auf und zu. Der Ton des Unbekannten behagte ihm nicht – so redete normalerweise niemand mit ihm. Trotzdem war die Situation nicht ganz einfach: Jemand, der seinem Amüsement nachgehen möchte, hat es schwer, mit jemandem zu streiten, der geschäftlich verreisen muss. Da Wadim keine stichhaltigen Argumente einfielen, wollte er sich schon über die Manieren des Unbekannten beschweren, als etwas Sonderbares geschah.

Zuerst fing hinter den Bäumen ein Hund an zu bellen. Es war Trofim, Onkel Saschas Airedaleterrier, ein alter, blöder Köter mit lautem Organ, der Merkmale aristokratischer Degeneration zeigte. Wahrscheinlich bellte er, weil sich eine Wespe auf seine Nase gesetzt hatte und er nicht wusste, was er machen sollte. Auf einmal verzerrte sich das Gesicht des Unbekannten, er duckte sich und sprang mit einem langen Satz beiseite. Noch ehe Wadim begriffen hatte, was vor sich ging, richtete sich der Unbekannte wieder auf und kehrte mit betont langsamen Schritten dahin zurück, wo er eben gestanden hatte. Auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen. Wadim sah rasch zu Anton hinüber, der ruhig und nachdenklich dreinblickte.

»Also gut«, lenkte er ein. »Im zweiten Bezirk gibt es viele gelbe Zwerge mit recht passablen Planeten vom Typ Erde. Wir könnten dorthin fliegen, zum EN 7031 beispielsweise. Dorthin war schon einmal ein Flug geplant, der aber wieder verschoben wurde. Die Sache schien zu uninteressant. Die Freiwilligen haben für die gelben Zwerge nichts übrig; sie wollen Riesen, am besten Mehrfachsterne. Sagt Ihnen der EN 7031 zu?«

»Durchaus«, antwortete der Unbekannte. Er hatte sich wieder gefasst. »Vorausgesetzt, der Planet ist tatsächlich unbewohnt.«

»Das ist kein Planet«, korrigierte ihn Anton höflich. »Es ist ein Stern. Eine Sonne. Aber dort gibt es auch Planeten, allem Anschein nach unbewohnte. Übrigens, wie heißen Sie?«

»Ich heiße Saul«, antwortete der Unbekannte und lächelte zum ersten Mal. »Saul Repnin. Ich bin Historiker. 20. Jahrhundert. Aber ich werde mir alle Mühe geben, mich nützlich zu machen. Ich kann Essen zubereiten, Landmaschinen bedienen, nähen, Schuhe reparieren, schießen …« Er machte eine Pause. »Außerdem weiß ich, wie man das früher gemacht hat. Ferner beherrsche ich mehrere Sprachen: Polnisch, Slowakisch, Deutsch, ein wenig Französisch und Englisch …«

»Schade, dass Sie kein Raumschiff steuern können«, meinte Wadim seufzend.

»Ja, schade«, pflichtete ihm Saul bei. »Aber halb so schlimm, denn Sie können es ja.«

»Seufz nicht, Wadim«, sagte Anton. »Auch für dich wird es langsam Zeit, dass du die seltsamen Landschaften namenloser Planeten zu sehen bekommst. In einem Café tanzen kann man auch auf der Erde. Bewähre dich, wo es keine Mädchen gibt, du Schwerenöter!«

»Ich seufze ja vor Wonne«, versetzte Wadim. »Was ist schon ein Tachorg! Ein allseits bekanntes plumpes Vieh.«

»Hoffentlich habe ich Sie nicht zu Ihrem Einverständnis gezwungen?«, vergewisserte sich Saul liebenswürdig. »Ich hoffe, Ihre Zustimmung ist in entscheidendem Maße freiwillig und unabhängig?«

»Gewiss doch«, erwiderte Wadim. »Was ist denn Freiheit? Einsicht in die Notwendigkeit. Alles Übrige sind Nuancen.«

»Passagier Saul Repnin«, sagte Anton. »Start um zwölf Uhr null null. Sie haben Kabine drei, sofern Sie nicht lieber Kabine vier, fünf, sechs oder sieben beziehen möchten. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«

Saul bückte sich nach der Aktentasche. Dabei rutschte ihm ein großer schwarzer Gegenstand aus der Jacke und fiel schwer ins Gras. Anton runzelte die Stirn, Wadim ebenso, als er näher hingesehen hatte. Bei dem Gegenstand handelte es sich um einen Scorcher, eine schwere, langläufige Desintegratorpistole, die mit Millionen Volt feuerte. Solche Waffen hatte Wadim bisher nur im Kino gesehen. Auf der ganzen Erde existierten nicht mehr als hundert Exemplare, und sie wurden nur an Kapitäne von Raumschiffen der Fernerkundung ausgegeben.

»Ich Tolpatsch«, murmelte Saul, nahm den Scorcher und klemmte ihn unter die Achsel. Dann hob er die Aktentasche auf und meinte: »Ich bin bereit.«

Einen Augenblick sah Anton ihn an, als wollte er ihn etwas fragen, dann sagte er: »Gehen wir, Saul. Und du, Wadim, bring zu Hause alles in Ordnung und gib dem Alten das Skalpell. Es liegt im Kofferraum.«

»Zu Befehl, Käpt’n«, parierte Wadim und ging in die Garage.

Es ist schwer, ein Optimist zu sein, überlegte er. Aber was ist das – ein Optimist? Wenn ich mich recht erinnere, heißt es in einem alten Lexikon, Optimismus sei eine zuversichtliche, bejahende Lebensauffassung, bei der der Mensch an die Zukunft und an seinen Erfolg glaube. Es ist gut, Linguist zu sein: Da ist einem gleich alles verständlicher. Mir bleibt also nichts weiter zu tun, als meine zuversichtliche, bejahende Lebensauffassung mit der Anwesenheit eines schwerbewaffneten Schlafwandlers an Bord unseres Raumschiffs in Einklang zu bringen.

Er holte das Skalpell und die Bioelemente aus dem Kofferraum und begab sich zu Onkel Sascha. Der Alte hockte unter dem roten »Rhamphorhynchus«.

»Onkel Sascha«, sagte Wadim. »Hier haben Sie ein neues Skalpell und …«

»Nicht mehr nötig«, entgegnete Onkel Sascha. Er kroch unter dem »Rhamphorhynchus« hervor. »Danke. Aber ich habe den da geschenkt bekommen.« Er klopfte auf die polierte Flanke des »Rhamphorhynchus«. »Soll gut in Schuss sein, habe ich gehört.«

»Geschenkt bekommen?«

»Ja, von einem jungen Mann, der weiß angezogen war.«

»Ach, sieh einer an«, wunderte sich Wadim. »Er war also fest überzeugt, dass er mit uns fliegen würde. Oder wollte er sich unter Umständen gewaltsam Zutritt zum Schiff verschaffen?«

»Wie?«, fragte Onkel Sascha.

»Wissen Sie, was ein Scorcher ist, Onkel Sascha?«, wollte Wadim wissen.

»Ein Scorcher? Natürlich weiß ich das. Das ist eine Mikroentladungsvorrichtung bei Stoffrobotern. Heutzutage gibt es keine mehr, aber so vor siebzig Jahren, erinnere ich mich noch. Ist der Mann etwa ein alter Weber?«

»Vielleicht ist er auch ein Weber; aber der Scorcher, den er hat, Onkel Sascha, feuert nicht mit Mikroentladungen …«

Nachdenklich ging Wadim zu seinem Bungalow. Dort warf er die Bettwäsche in den Müllschlucker, schaltete die Hauswirtschaftsautomatik auf Urlaubsbetrieb um und schrieb mit Bleistift an die Haustür: »Bin im Urlaub. Bitte nicht neu belegen.« Anschließend räumte er Antons Bungalow auf und hing weiter seinen Gedanken nach. Es ist noch nicht alles verloren, dachte er. Und wenn ich ehrlich bin, so habe ich die Tachorge bereits gründlich satt. Die Pandora ist zudem nichts weiter als ein hochmoderner Kurort. Man kann nur staunen, dass ich es dort drei Urlaube lang ausgehalten habe. Eine Schande!, dachte er plötzlich. Es gab eine Zeit, wo ich mit Halsschmuck aus Tachorgenzähnen großtat und unglaublichen Pandora-Unsinn schwatzte. Mit einem Tachorgenschädel nach Samson zu werfen – wie banal! Samson hat Besseres verdient und wird in die Unsterblichkeit eingehen. Ein unbekannter Planet ist ein unbekannter Planet. Und dort treiben sich auch unbekannte Tiere herum. Die Ärmsten wissen nicht einmal, wie sie heißen – aber ich weiß es: Dort werde ich den ersten »unpaarbeinigen membranohrigen Samson« der Geschichte erlegen … Und dass man Samson einen Samsonschädel an den Kopf schleudert, hat es noch nicht gegeben.

Als Wadim auf die Waldwiese zurückkehrte, war das Schiff startklar. Seine spitze Kuppe folgte nun nicht mehr der Sonne, und der Reif auf dem Gras ringsum war verschwunden.

Wadim machte es sich in der Einstiegsluke bequem und ließ die Beine herabbaumeln. Sein Blick wanderte von Antons Bungalow zu den grünen Kronen der Kiefern und den tief hängenden Wolken, in denen sich hier und da hellblaue Löcher zeigten und wieder verschwanden. Tja, Freund Samson, unpaarbeiniger Bruder!, dachte er rachsüchtig. Gegen einen biblischen Löwen magst du ja nicht schlecht sein, aber wie kannst du dich mit einem strukturellen Linguisten messen … Es ist doch zu komisch: Mir wäre nie im Traum eingefallen, mich auf einem unbekannten Planeten erholen zu wollen, wäre nicht dieser Unbekannte gewesen. Was sind wir doch für ein geistig träges Volk – selbst die besten von uns strukturellen Linguisten! Immerzu zieht es uns zu bereits erschlossenen Planeten.

Trofim, der Airedaleterrier, kam auf die Waldwiese gelaufen. Er blinzelte mit seinen tränenden gutmütigen Augen, gähnte, setzte sich hin und kratzte sich mit dem Hinterlauf am Ohr. Das Leben war schön und facettenreich. Nehmen wir zum Beispiel Trofim, dachte Wadim. Er ist alt, dumm und gutmütig, vermag jedoch noch immer Angst einzujagen. Aber vielleicht fürchten sich alle Schlafwandler vor Hundegebell? Wadim starrte Trofim an. Wie komme ich eigentlich darauf, dass Saul Repnin ein Schlafwandler ist – oder wie man das sonst nennt? Warum diese völlig aus der Luft gegriffene Vermutung? Dabei liegt es doch viel näher anzunehmen, dass der Historiker Saul in Wirklichkeit gar kein Historiker ist, sondern ein Spion einer humanoiden Rasse, der die Erde auskundschaftet. Wie Benny Durow auf der Tagora. Nicht schlecht – einen ganzen Monat lang fremde Planeten und geheimnisvolle Unbekannte beobachten! Und diese Annahme würde alles erklären: Alleine kann er die Erde nicht verlassen, er hat Angst vor Hunden und muss auf einen unbekannten Planeten, damit sie ihm ein Raumschiff dorthin schicken können – auf neutralen Boden sozusagen. Dann kehrt er nach Hause zurück und berichtet: So und so sieht es auf der Erde aus. Es sind gute Menschen, voller Optimismus, und zwischen ihnen und uns werden sich gute humanoide Beziehungen entwickeln …

Wadim besann sich und schrie in den Gang hinein: »Anton, ich bin an Bord!«

»Endlich!«, antwortete er. »Ich dachte schon, du wärst desertiert.«

Zwischen den Bäumen tauchte plötzlich der klapprige rote »Rhamphorhynchus« auf, zuckte grässlich mit dem Schwanz und drehte, unnatürlich aufheulend, eine Ehrenrunde um das Schiff. Onkel Sascha öffnete die Tür und winkte mit etwas Weißem. Wadim winkte zurück.

»Wir starten!«, warnte Anton.

Mit einem leichten Ruck hob das Schiff vom Boden ab – Wadim schaffte es gerade noch, sich mit dem Fuß von der Erde abzustoßen. Dann schwebte das Schiff zum Himmel.

»Wadim!«, rief Anton. »Mach die Luke dicht. Es zieht.«

Wadim winkte Onkel Sascha ein letztes Mal zu, stand auf und ließ die Luke zuwachsen.

2

Anton überließ die Steuerung dem Kyberpiloten, faltete die Hände über dem Bauch und schaute nachdenklich auf den Panoramabildschirm. Das Schiff flog den Meridian entlang nach Norden. Ringsum war der dunkelviolette Himmel der Stratosphäre zu sehen, und tief unten schimmerte mattweiß der Wolkenschleier. Er schien glatt und ebenmäßig; nur hier und da erahnte man die Öffnungen der gigantischen Trichter über den Großwetterstationen, wo die Meteorologen nun die Wolken zurück in die Falle trieben, nachdem sie es über Nordeuropa hatten regnen lassen.

Anton sann über die menschlichen Eigenheiten nach und musste an all die kuriosen Menschen denken, denen er schon begegnet war. An Jakow Ossinowski, den Kapitän der »Herkules«, der Glatzköpfe nicht ausstehen konnte; er verachtete sie einfach. »Versucht nicht, mich umzustimmen«, pflegte er zu sagen. »Zeigt mir lieber einen Glatzkopf, der was taugt.« Wahrscheinlich hatte er mit Glatzköpfen schlechte Erfahrungen gemacht, über die er jedoch nie ein Wort verlor. Ja, er änderte nicht einmal dann seine Meinung, als er bei der Katastrophe von Sarandak selbst alle Haare verlor. Er rief nur immerzu mit deutlicher Bitternis: »Der Einzige! Wohlgemerkt, der Einzige unter ihnen!«

Walter Schmidt von der Basis »Gatteria« stand hingegen mit den Ärzten auf Kriegsfuß. »Ärzte«, stieß er mit abgrundtiefer Verachtung hervor, »sind immer Quacksalber gewesen, und werden immer Quacksalber bleiben. Waren es früher staubbedeckte Spinngewebe und verfaultes Schlangenblut, so ist es heute das psychodynamische Feld, von dem keiner eine Ahnung hat. Wen geht es etwas an, wie es in mir aussieht?! Die Kopffüßer kommen seit Jahrtausenden ohne Ärzte aus und sind bis zum heutigen Tag die unumstrittenen Herrscher der Tiefen geblieben.«

Wolkow nannte man Dreadnought, und das war ihm nur recht: Dreadnought Adamowitsch Wolkow. Kaneko aß niemals heiße Speisen. Ralf Pinetti glaubte an die Levitation und übte sich hartnäckig darin. Der Historiker Saul Repnin schließlich hatte Angst vor Hunden und wollte nicht mit anderen Menschen zusammenleben. Es sollte mich nicht wundern, dachte Anton, wenn sich herausstellte, dass er nicht mit anderen Menschen zusammenleben will, weil er Angst vor Hunden hat. Merkwürdig, nicht wahr? Aber das macht ihn nicht schlechter als andere.

Absonderlichkeiten … Nein, es gibt keine Absonderlichkeiten – nur Unregelmäßigkeiten. Sie bringen die unsichtbare tektonische Tätigkeit zum Vorschein, die in den Tiefen der menschlichen Natur wirkt, dort, wo die Vernunft erbittert gegen Vorurteile kämpft und die Zukunft mit der Vergangenheit ringt. Wir dagegen wollen unbedingt, dass alle um uns herum einfach und unkompliziert sind – so, wie wir sie uns in unserer armseligen Fantasie ausmalen, und wünschen uns, alle ließen sich mithilfe der Grundkategorien kindlicher Vorstellungen beschreiben: ein guter Onkel, ein geiziger Onkel, ein langweiliger Onkel, ein angsteinflößender Onkel. Ein Dummkopf.

Saul aber findet es nicht im Geringsten absonderlich, dass er Angst vor Hunden hat. Und Kaneko erscheint es keineswegs absonderlich, dass er nichts Heißes mag. Ebenso käme es Wadim nie in den Sinn, jemand könnte seine albernen Verse absonderlich statt lustig finden. Galka zum Beispiel.

Kommen wir zu mir: Ich hatte eigentlich vor, zur Pandora zu fliegen. Hätte Kapitän Malyschew das erfahren, hätte er mich verwundert angeblickt und gesagt: »Wenn du dich erholen willst, findest du dafür keinen besseren Ort als die Erde. Möchtest du dagegen arbeiten, nimm das schwarze System EN 8742, das laut Plan an der Reihe ist, oder den Riesen EN 6124, für den sich, warum auch immer, die Fachleute auf der Tagora interessieren.« Und Malyschew hätte recht. Damit er mich verstünde und aufhörte, mich verwundert anzusehen, müsste ich ihm erklären, dass ich unbedingt mit Wadim fahren wollte, und Wadim nun einmal Lust hatte, auf Tachorge zu schießen.

Anton lächelte. Warum so kompliziert? Heutzutage fliegen doch alle zur Pandora, und einmal sagte sogar Galka, sie würde hinfliegen. Es ist heute so einfach zu reisen, und genauso einfach ist es, seine Pläne wieder über den Haufen zu werfen … Aber könnte ich Malyschew gegenüber eingestehen, dass Galka der wahre Grund für alles ist? Warum lernt der Mensch partout nicht, einfach zu sein? Irgendwoher, aus bodenlosen patriarchalischen Tiefen, steigen unentwegt Eitelkeit, Ehrgeiz und gekränkter Stolz herauf. Und aus unerfindlichen Gründen gibt es immer etwas zu verbergen, und es gibt immer etwas, dessen man sich schämt.

Anton blickte auf das Nelkensträußchen, das vor dem Bildschirm lag. Ach, Galka!, dachte er. Er hauchte auf das Pult und schrieb mit dem Finger auf den schwindenden matten Fleck: Ach du, Galka … Doch die Buchstaben verblassten so schnell, dass er schon kein Ausrufezeichen mehr dahinter setzen konnte. Da hauchte er noch einmal auf das Pult und fügte eines hinzu. Dann lehnte er sich wieder im Sessel zurück und versuchte zum hundertsten Mal, folgende Aufgabe logisch zu lösen: Ich liebe ein Mädchen, aber das Mädchen liebt mich nicht. Es ist jedoch nett zu mir. Was soll ich machen?

Was würde sich eigentlich ändern, wenn sie sich in mich verlieben würde? Ich könnte sie umarmen und küssen. Ich könnte immer mit ihr zusammen sein. Ich wäre stolz. Das wäre allerdings alles, wie’s scheint. Dumm, aber es wäre alles. Es hätte sich einfach nur ein weiterer Wunsch erfüllt. Wie erbärmlich es aussieht, wenn man es logisch betrachtet! Aber anders kann ich es nicht betrachten. Ich bin ein hohler Mensch, ein Zyniker. Er sah Galka vor sich, wie sie sprach: ein wenig über die Schulter und die Augen etwas von den Wimpern bedeckt. Warum ist nur alles so dumm eingerichtet: Vor nebensächlichen Übeln – Krankheit, Gleichgültigkeit, Tod – kann man einen Menschen bewahren, nicht aber vor dem echten Unglück – der Liebe. Nichts und niemand vermag ihm zu helfen; es gibt zwar tausend gute Ratschläge, aber jeder wird raten, was für ihn selbst das Beste ist. Und der Verliebte, der Dummkopf? Will eigentlich gar nicht, dass man ihm hilft, es ist schrecklich …

»Darf man fragen, wo Sie hinwollen?«, erkundigte sich Saul mit lauter Stimme.

»In die Steuerzentrale«, antwortete Wadim.

»Warten Sie. Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt.«

Die Tür zur Steuerzentrale stand offen, und so hörte Anton die ganze Zeit über mit halbem Ohr, wie in der Gemeinschaftskajüte etwas von Tachorgen, dichtem Gestrüpp und der Theorie historischer Abfolgen gemurmelt wurde. Bald lauschte er aufmerksamer.

»Sie heißen doch Wadim, wenn ich mich recht erinnere?«, fragte Saul.

»Normalerweise, ja«, erwiderte Wadim ernst. »Manchmal nennt man mich auch Strukturalissimus oder Fliegender Stier, und in besonderen Fällen Dimotschka.«

»Also Wadim. Und wie alt sind Sie?«

»Zweiundzwanzig lokal-irdische Jahre.«

»Lokal … Nun ja, natürlich. Wie sagten Sie gleich? Lokal-irdisch?«

»Ja. An den frühen Sternenflügen habe ich nicht teilgenommen.«

»Natürlich. Das habe ich angenommen. Und Ihr Vater, verzeihen Sie, der wäre was?«

»Was der wäre? Er ist Meliorator und wird es wohl auch bleiben.«

»Äh … Verstehe, verstehe. Das hatte ich auch im Sinn.«

Eine Pause trat ein.

»Ein sehr schöner Tisch«, meinte Saul verlegen.

Wieder eine Pause.

»Der Tisch ist gut. Stabil.«

»Und Ihre Frau Mutter?«

»Meine Mutter? Die ist … Stationsvorsteherin. Sie arbeitet in einer Mesonuklearstation.«

Anton hörte, wie Saul nervös mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte.

»Ich bitte Sie, Wadim«, sagte er. »Sie sollten dem keine Beachtung schenken. Ich mag mich etwas sonderbar ausdrücken, für Ihre Ohren vielleicht sogar lächerlich, doch Sie müssen wissen: meine Lebensweise … mein Modus vivendi … Ich bin äußerst spezialisiert – ausschließlich auf das 20. Jahrhundert. Ein Bücherwurm, wie man es damals nannte. Immerzu in Museen, immerzu in alten Wälzern lesend …«

»Der Einfluss des Milieus.«

»Ja, ja, genau. Ich komme selten unter Menschen. Und da passierte mir Folgendes … Kennen Sie Professor Arnautow?«

»Nein.«

»Ein bedeutender Fachmann. Mein geistiger Rivale. Er hat mich gebeten, einige Aspekte seiner neuen Theorie einer Prüfung zu unterziehen. Das konnte ich nicht gut ablehnen, nicht wahr? Und so musste ich also mein Studierstübchen verlassen. So ist das. Doch was sprechen wir immer nur von mir! Sie sind also struktureller Linguist?«

»Ja.«

»Eine interessante Arbeit?«

»Gibt es denn auch uninteressante Arbeit?«

»Natürlich. Und womit beschäftigen Sie sich genau?«

»Mit Strukturanalysen. Aber vergessen Sie nicht, Saul, dass ich mich von allem Irdischen losgesagt habe. Lassen Sie mich lieber noch etwas über Tachorge erzählen.«

»Nein, nein, vielen Dank. Bitte nichts mehr von Tachorgen. Erzählen Sie mir lieber, wie Sie arbeiten.«

»Aber ich sagte doch, dass ich mich davon gelöst habe, Saul.«

»Was heißt: mich davon gelöst? Denken Sie jetzt überhaupt nicht mehr an Ihre Arbeit?«

»Im Gegenteil. Ich denke die ganze Zeit daran. Ich denke immer an die Arbeit, mit der ich mich gerade beschäftige. Zurzeit bin ich Superkargo und Kopilot – dies für den Fall, dass Anton plötzlich einen Gichtanfall bekommt. Aber das sagte ich ja bereits … Daher habe ich jetzt das dringende Bedürfnis, eine Weile das Schiff zu steuern.«

»Das läuft Ihnen schon nicht davon, Wadim. Sie brauchen mir auch nichts über die Art Ihrer Arbeit zu erzählen, sondern nur über die äußere Form: Sie kommen also zur Arbeit, ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag …«

»Schön. Ein Arbeitstag. Ich komme, lege mich auf den Rechner und denke nach.«

»Wie das? Auf den Rechner? Nun ja, ich verstehe. Sie sind Linguist, und Sie legen sich auf … Und was geschieht dann?«

»Ich denke eine Stunde lang nach. Dann eine zweite, eine dritte …«

»Und schließlich?«

»Ich denke fünf Stunden lang nach, aber es kommt nichts dabei heraus. Dann stehe ich vom Rechner auf und gehe.«

»Wohin?«

»In den Zoo, zum Beispiel.«

»In den Zoo? Weshalb denn in den Zoo?«

»Nur so. Ich liebe Tiere.«

»Nun ja, und die Arbeit?«

»Was soll damit sein?! Ich komme am nächsten Tag wieder und denke erneut nach.«

»Wieder fünf Stunden lang, und danach geht es abermals in den Zoo?«

»Nein. Gewöhnlich kommen mir über Nacht Ideen, die ich dann am nächsten Tag nur noch zu Ende denke. Und dann brennt der Rechner durch.«

»Und Sie gehen wieder in den Zoo?«

»Wieso denn in den Zoo? Nein, wir reparieren den Rechner. Bis zum nächsten Morgen.«

»Und dann?«

»Dann geht der Alltag zu Ende, die Feiertage beginnen, und jeder hat nur einen Gedanken: Jetzt gerät alles ins Stocken, und dann kann man mit dem Denken wieder von vorne anfangen.«

»Na schön. Das ist der Alltag. Aber man kann ja nicht immer nur arbeiten …«

»Nein, kann man nicht«, bestätigte Wadim mit Bedauern. »Ich jedenfalls kann es nicht. Irgendwann kommt man nicht mehr weiter und muss sich erholen.«

»Wie denn?«

»Wie’s einem gefällt. Ich fahre zum Beispiel oft Segelschlitten. Fahren Sie auch gern Segelschlitten?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.«

»Was Sie nicht sagen, Saul! Ich werde Sie einmal mitnehmen. Was haben Sie für einen Gesundheitsindex?«

»Gesundheitsindex? Ich bin kerngesund. Woran arbeiten Sie denn zurzeit?«

»An Bündeln isolierter Strukturen.«

»Und wozu ist das notwendig?«

»Was heißt: wozu?«

»Nun, wer hat einen Nutzen davon?«

»Jeder, der daran interessiert ist. Zurzeit wird ein Universaltranslator projektiert. Er muss isolierte Strukturen bündeln können.«

»Sagen Sie, Wadim: Kann man hier, im Schiff, auch Musik hören?«

»Natürlich. Was mögen Sie? Die ›Triller‹ von Schejer? Dabei lässt sich das Schiff besonders gut steuern.«

»Und Bach?«

»Hm, Bach! Soviel ich weiß, haben wir auch Bach. Wissen Sie, Saul, mit Ihnen Musik zu hören, muss ein Hochgenuss sein.«

»Weshalb?«

»Weiß nicht. Sie sind bestimmt ein großer Musikkenner. Mögen Sie Mendelssohn-Bartholdy?«

»Sie kennen Mendelssohn?«

»Aber Saul! Mendelssohn ist doch der Beste von den Alten! Ich hoffe, Sie mögen ihn. Allerdings kann man seine Musik im Schiff schlecht anhören. Sie wissen, was ich meine?«

»Vermutlich ja. Ich pflege Mendelssohn in meinem behaglichen Arbeitszimmer zu hören.«

Endlich sind sie ins Gespräch gekommen, dachte Anton. Er warf einen Blick auf die Uhr. Das Schiff trat in die Startzone über dem Nordpol ein. Auf dem Bildschirm tauchten in der violetten Tiefe dunkle Punkte auf – Raumschiffe, die auf ihren Abflug warteten.

»Entschuldigt, dass ich euch unterbreche«, rief Anton durch die Tür. »Wir starten bald. Wadim, bitte zeig Saul, wie die Antiträgheitskammer funktioniert.«

Anton forderte bei der Kontrollstation das Programm für den bevorstehenden Flug an und erhielt nach einer halben Stunde, während der das Schiff zusammen mit zwei Dutzend anderen großen und kleinen Raumschiffen in der Stratosphäre schwebte, ein Programm für den Hinflug sowie sieben Varianten für den Rückflug und die Genehmigung zum Übertritt in den Subraum. Dann bat er die Passagiere, sich in ihre Kabinen zu begeben, suchte seine eigene auf und gab dem Schiff das Startkommando.

Wie jedes Mal überkam Anton starke Übelkeit. Den ganzen Körper durchflutete es heiß, und auf Gesicht und Rücken trat kalter Schweiß. Mit mattem Blick verfolgte er, wie der rote Zeiger, der die rasch steigende Raumkrümmung anzeigte, auf der Skala ruckweise nach oben sprang. Zweihundert Riemann … vierhundert … achthundert … eintausendsechshundert Riemann pro Sekunde … Der Raum rings um das Schiff krümmte sich immer stärker. Anton wusste, wie das aus der Ferne aussah: Der fest umrissene schwarze Konus des Schiffs würde unscharf werden, dann langsam verschwimmen und auf einmal verschwunden sein; an seiner Stelle würde in der Sonne eine große Wolke fester Luft aufleuchten. Im Umkreis von hundert Kilometern würde die Temperatur jäh um fünf bis zehn Grad sinken … Dreitausend Riemann. Der feuerrote Zeiger blieb stehen. Die Epsilon-Deritrinitation war beendet und das Schiff in den Zustand des Subraums eingetreten. Vom Standpunkt eines irdischen Beobachters sah es jetzt über die gesamten hundertfünfzig Parsek von der Sonne bis zum EN 7031 »verschmiert« aus. Nun stand noch der umgekehrte Übergang bevor.

Beim Wiederaustritt aus dem Subraum bestand stets die Gefahr, dass man sich in allzu großer Nähe einer stark gravitierenden Masse befand oder sogar in ihr. Diese Gefahr war allerdings eine rein theoretische. Die Wahrscheinlichkeit war weitaus geringer als die, beim Herausfallen aus einem Stratoplan über Leningrad genau in einem Kamin der Ermitage zu landen. Jedenfalls hatte sich im Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte bisher weder das eine noch das andere ereignet. Das Schiff sprang, zwei astronomische Einheiten vom gelben Zwerg EN 7031 entfernt, wohlbehalten in den normalen Raum zurück.

Anton holte tief Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verließ seine Kabine. In der Steuerzentrale schien alles in Ordnung. Er wanderte am Pult entlang, warf einen Blick auf den Panoramabildschirm und schaltete die Übertrittsautomatik ab. Vor dem Bildschirm lag immer noch das Nelkensträußchen. Anton blieb stehen. »Schade!«, murmelte er und stupste das Sträußchen mit dem Finger an. Da zerfielen die Blumen zu einem grünlichen Pulver. Die Ärmsten!, dachte er, haben’s nicht ausgehalten. Aber wer hält das schon aus! Er ging zur Gemeinschaftskajüte hinunter, um nach den Passagieren zu sehen.

Der Raum war rund; hierher führten die Türen aller acht Kajüten sowie die Luke zur unteren Etage, wo sich die Vorratskammern, die Synthetisatorküche, der Duschraum und weitere Räume befanden. Anton warf einen flüchtigen Blick auf Tisch und Sessel, rückte den Deckel des Müllschluckers zurecht und ging zu Wadim. Als er den Riegel der Kammertür aufschob, fiel ihm Wadim entgegen; er war schweißgebadet und weiß wie eine Wand.

»Ist dir schlecht?«, erkundigte sich Anton teilnahmsvoll.

Wadim aber sang mit Grabesstimme:

»Des Winds Geheul in weiter Ferne,ein Pfeifen, das unheimlich ist –den Unterraum durchmaß der Sterneder strukturelle Linguist.«

Sofort klappte er das Sofa herunter und setzte sich.

»Deswegen bin ich auch kein Raumfahrer geworden«, sagte er ein wenig heiser und legte sich hin.

»Das sagst du jedes Mal«, bemerkte Anton. Als Wadim nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: »Dann gehe ich jetzt mal zu Saul und befreie ihn.«

»Hast du unsere Unterhaltung mit angehört?«, fragte Wadim mit geschlossenen Augen.

»Ja.«

»Interessanter Mensch, was?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Anton. »Irgendetwas scheint ihn zu bedrücken.«

»Sonst hättest du ihn ja auch nicht an Bord genommen. Kaum wollen wir zu zweit verreisen, spielst du den Uneigennützigen. Halt, geh noch nicht.«

Anton blieb in der Tür stehen. »Du redest blühenden Unsinn«, sagte er, »während es Saul wahrscheinlich ziemlich schlecht geht. Ich glaube, er ist noch anfälliger als du, wobei das ja fast unmöglich ist …«

»O du Blinder!«, rief Wadim plötzlich mit tragischem Unterton. »Bitte, bleib hier – mir geht es auch schlecht. Hast du immer noch nicht begriffen, was das für einer ist?«

»Wie meinst du das?«

Wadim richtete sich auf.

»Er hat nicht die geringste Ahnung von Linguistik!«, erklärte er. »Ich hoffe, das hast du bemerkt?«

»Und was verstehst du von Geschichte?«

»Jetzt erzähl mir bloß noch, er sei ein Bücherwurm. So einen Bücherwurm kennen wir: Er heißt Benny Durow. Unterhalt dich mal mit den Tagoranern über ihn.«

Anton musste lächeln. »Na schön«, sagte er. »Aber halt dich trotzdem zurück. Ich ertrage dich ja in beliebigen Dosen, aber auf neue Bekannte machst du manchmal einen deprimierenden Eindruck. Etwas weniger überschäumenden Optimismus und ein bisschen mehr Taktgefühl, bitte.«

»Zu Befehl, Käpt’n«, sagte Wadim ernst. »Wird gemacht, Käpt’n.«

Anton verließ die Kajüte. Als er um den Tisch herumging, musste er abermals lächeln – mit Wadim war es nie langweilig. In Kajüte drei klappte er erst das Sofa herunter, bevor er die Tür zur Kammer öffnete. Er war darauf gefasst, einen Mann auffangen zu müssen, doch stattdessen schlug ihm blauer Qualm entgegen. Anton wich zurück.

»Was, jetzt schon?«, hörte er Sauls Stimme aus den Rauchschwaden sagen.

Anton blickte genauer hin: Saul saß auf seiner aufrecht stehenden Aktentasche und rauchte eine lange schwarze Pfeife. Er machte einen gleichmütigen, unbekümmerten Eindruck.

»Ist Ihnen nicht schlecht?«, fragte Anton, trat ein paar Schritte zurück und setzte sich aufs Sofa.

»Überhaupt nicht. Darf ich rauskommen?«

»Ich bitte darum«, antwortete Anton.

Saul stand auf, nahm seine Aktentasche und trat gebückt aus der Kammer in die Kajüte.

»Wir sind fast am Ziel«, sagte Anton. »Wir müssen uns nur noch einen Planeten aussuchen und entscheiden, wo wir landen wollen.«

Saul setzte sich neben Anton aufs Sofa. »Sind wir sehr weit von der Erde entfernt?«, erkundigte er sich.

»Hundertfünfzig Parsek. Viel weiter kommen wir nicht mit unserem Schiff.«

»Saul!«, brüllte Wadim aus seiner Kabine. »Bestehen Sie auf einem erdähnlichen Planeten. Im Raumanzug wird es Ihnen kaum gefallen, und mit Sauerstoffmaske ist es auch nicht besonders.«

Anton stand auf und schloss die Tür.

»Welcher Planet, ist mir ganz gleich«, sagte Saul leise. »Aber natürlich wäre mir lieber, wenn man dort atmen könnte.« Auf einmal lächelte er. »Es ist sehr wichtig, dass man dort atmen kann.« Anton sah ihn aufmerksam an. »Aber Hauptsache – er ist unbewohnt.«

»Hören Sie, Saul«, begann Anton. »Wir werden einen Planeten für Sie finden; das ist eine Kleinigkeit. Wir haben auch eine Wohnkuppel für sechs Personen an Bord und einen Gleiter, ferner einen Nahrungsvorrat zum Initiieren eines Zyklus sowie eine gute Funkstation. Wir helfen Ihnen, sich einzurichten, und fliegen dann sofort wieder los. Einverstanden?«

Saul saß mit gesenktem Kopf da.

»Ja«, erwiderte er heiser. »So wird es am besten sein. Sicher.«

»Gut, dann ist ja alles in Ordnung.« Anton stieß die Tür auf. »Ich gehe jetzt in die Steuerzentrale, und Sie … Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen.«

In der Zentrale schaltete Anton den Bordkatalog ein und sah sich die Daten an, die über das System EN 7031 vorlagen. Sie waren nicht von Interesse. Um den gelben Zwerg kreisten vier Planeten und zwei Asteroidengürtel. Am ehesten kam wohl der zweite Planet infrage: Er war der Erde ähnlich und anderthalb astronomische Einheiten von seiner Sonne entfernt. Anton gab dem Kyberpiloten die Ephemeriden ein.

Aus der Mannschaftskajüte tönten Stimmen herüber.

»Wie haben Sie den Übertritt verkraftet, Saul?«

»Welchen Übergang? Ich habe nichts gemerkt.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Was?«

»Dass Sie es nicht merken würden. Wollen Sie sich duschen?«

»Nein. Wird es noch lange dauern?«

»Wahrscheinlich nicht. Merken Sie was?« Das Schiff geriet plötzlich in Bewegung, und der Boden glitt ihnen unter den Füßen weg. »Jetzt schwenken wir auf den neuen Kurs ein. Gehen wir in die Steuerzentrale, ja?«

»Stören wir dort nicht?«

»Aber nein, es handelt sich doch um einen Touristenflug. In einem Forschungs- oder Linienschiff dürften wir natürlich nicht hinein … Weshalb nehmen Sie die Aktentasche immer mit?«

»Mir liegt viel an ihr …«

»Dann sollten Sie sie nicht auf den Deckel des Müllschluckers stellen.«

Anton betrachtete auf dem Panoramabildschirm aufmerksam den Planeten. Er war hellblau wie die Erde und von einem weißen Wolkenschleier überzogen, nur die Kontinente waren anders verteilt: Ein großer Kontinent erstreckte sich längs des Äquators und ein zweiter, etwas kleinerer, zog sich zu einem der Pole hin.

»Das ist Ihr Planet, Saul«, sagte Anton und griff nach einem Blatt, das aus dem Schlitz des Antennenanalysators gefallen war. »Ein guter Planet. Keine Abplattung. Der Tag hat achtundzwanzig Stunden. Masse eineinzehntel. Keine schädlichen Gase. Viel Sauerstoff. Etwas wenig Kohlendioxid, aber das braucht Sie nicht zu beunruhigen.«

Er blickte zu Saul, der seinen Planeten mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck musterte: Die buschigen Brauen hatten sich zu Bögen aufgewölbt, und Anton schien, als sei er den Tränen nahe.

»Genossen!«, rief Wadim plötzlich. »Lasst uns den Planeten ›Saula‹ nennen.«

»Jawohl, wir taufen ihn ›Saula‹!«, erklärte Anton.

Er bog den Diffusor des Logbuchs zu sich herüber und diktierte: »Julianisches Datum: 25-42-967. Der zweite Planet des Systems EN 7031 wird auf den Namen Saula getauft – nach einem Mitglied unserer Besatzung, dem Historiker Saul Repnin.«

Das Ganze war allerdings ohne jede Bedeutung. Man benannte Planeten nach Schiffen und Städten, Lieblingsromanhelden und Instrumenten, oder man belegte sie einfach mit Namen aus pompös klingenden Lautverbindungen. Und wer nicht genügend Fantasie besaß, nahm irgendein Buch zur Hand, schlug eine x-beliebige Seite auf, wählte ein Wort aus und veränderte es ein bisschen. Dabei kam so etwas heraus wie Lachowina, Rauferia oder Taubenuss.

Aber Saul war außerordentlich bewegt. Er murmelte: »Danke, danke, liebe Freunde« und drückte Wadim die Hand. Es war rührend.

Unterdessen wurde der Planet immer größer. Als auf dem Bildschirm nur noch der Kontinent zu sehen war, der sich längs des Äquators erstreckte, fragte Anton: »Wo wollen wir denn landen, Saul?«

Der tippte mit dem Finger mitten ins Festland, und Anton hatte den Eindruck, dass er dabei die Augen zukniff.

»Nein, Genossen«, rief Wadim, »bitte etwas näher an der Küste.«

Es zog ihn offenbar zum Wasser. Anscheinend wollte er im Ozean der Saula baden – in Wellen, die bisher noch keinen Erdenbürger umspült hatten, ja vielleicht nicht einmal ein vernunftbegabtes Wesen.

»Na, dann eben näher an der Küste«, sagte Saul unsicher. Er blickte Anton an. »Für meine Zwecke …« – er hüstelte – »… ist die Wahl des Ortes unwesentlich.«

»Wunderbar!«, rief Wadim und schwang sich neben Anton auf den Sessel. »Es ist so weit!«, erklärte er. »Der Kapitän wurde vom Schlag getroffen und ist in bedenklichem Zustand in seine Kabine geschafft worden. Der stattliche Kopilot mit den breiten Schultern übernimmt die Steuerung.« Er legte seine Finger auf die Kontakte der Biosteuerung, und das Schiff stürzte sofort in die Tiefe. Der Kontinent auf dem Bildschirm begann sich zu drehen, dass einem übel davon werden konnte. Und Wadim rezitierte feierlich:

»Jeder vor Entsetzen zittertwie des Ofens Blechgerüst,denn das Raumschiff lenkt erbittertstruktureller Linguist.«

Saul ließ seine Aktentasche fallen und hielt sich an Antons Schulter fest.

»Sag uns wenigstens, wo du hinwillst, Wadim!«, bat Anton.

»Dorthin, wo die blauen Wellen den Sand liebkosen«, erklärte Wadim.

Das Schiff schwenkte nach Steuerbord.

»Sachte, sachte«, mahnte Anton. »Weniger Gefühl, sonst verfehlst du noch den Kontinent.«

»Ich werd’s schon schaffen!«

»Bremsen! Du siehst doch, dass wir vom Kurs abkommen!«

»Ich sehe alles.«

»Oje, gleich stürzen wir ab«, sagte Anton ins Leere.

»Keine Angst, keine Angst!«, beruhigte ihn Wadim.

Der Bildschirm trübte sich. Das Schiff trat in die Atmosphäre ein. In den dichteren Luftschichten leuchtete ein Regenbogen auf und verschwand wieder. Schwarze und weiße Flecken flimmerten.

»Anblasen!«, riet Anton.

»Ich weiß.«

»Du holperst und torkelst vielleicht!«

»Hände weg vom Steuer, sonst kündige ich dir die Freundschaft!«, rief Wadim schnell.

»Sie sollten jetzt wirklich keinen Fehler machen, Wadim«, schaltete sich Saul vorsichtig ein.

Das Karussell auf dem Bildschirm kam zum Stehen. Rasch näherte sich ein weißes Feld; dann verdunkelte sich der Bildschirm und erlosch. Das Schiff erzitterte.

»Das war’s«, sagte Wadim. Er reckte sich und knackte mit den Fingern.

»Wie – das war’s?«, wollte Saul wissen. »Sind wir abgestürzt?«

»Nein, gelandet«, entgegnete Anton. »Herzlich willkommen auf der Saula!«

»Sie sind aber ein waghalsiger Pilot!«, wandte sich Saul an Wadim.

»Ziemlich waghalsig«, pflichtete ihm Anton bei. »Weißt du, um wie viel du dein Ziel verfehlt hast, Wadim? Um zweihundert Kilometer! Aber den Bildschirm hast du noch rechtzeitig abgeschaltet, du Teufelskerl.«

»Gewohnheit«, versetzte Wadim lässig.

Anton stand auf. »Also gut«, sagte er. »Gehen wir nach draußen.«

Alle drei verließen die Steuerzentrale.

Anton öffnete die Lukenmembran. Beißende Frostluft strömte ins Schiff. Saul stieß Wadim beiseite und rief: »Halt, warten Sie! Lassen Sie mich bitte durch!«

Anton, der schon einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, blieb stehen, und Saul zwängte sich an ihm vorbei; den Scorcher hielt er dabei hoch über seinen Kopf.

»Wollen Sie als Erster hinaustreten?«, fragte Anton lächelnd.

»Ja«, murmelte Saul. »Das ist besser.«

Er kletterte durch den schmalen Ausstieg, blieb aber gleich darauf stehen, sodass Anton, der ihm gefolgt war, mit dem Kopf gegen ihn prallte.

»Vorwärts, Saul«, verlangte er.

Doch Saul stand da wie versteinert. Wadim klopfte Anton ungeduldig auf den gebeugten Rücken.

»Lassen Sie uns bitte durch, Saul«, bat Anton.

Endlich trat Saul beiseite, und Anton kletterte hinaus. Ringsum lag Schnee, und es schneite träge und in großen Flocken. Das Schiff stand inmitten gleichförmiger runder Hügel, die sich kaum von der weißen Ebene abhoben. Kurzes, mattgrünes Gras ragte aus dem Schnee hervor sowie viele kleine hellblaue und rote Blumen. Doch zehn Schritt vom Ausstieg entfernt lag, nur leicht vom Schnee bedeckt, ein Mensch.

3

Wadim kletterte als Letzter aus dem Schiff und bemerkte, dass Saul den Scorcher schussbereit hielt; der Lauf lag auf seinem abgewinkelten Unterarm. Saul sah besorgt aus, sein Blick huschte hin und her. Wadim schaute sich ein wenig um und entdeckte nun ebenfalls den Menschen.

»Da haben wir’s«, murmelte er bestürzt.

Anton ging zu dem am Boden liegenden Mann, doch Saul rührte sich nicht von der Stelle. Sollte ich ihn etwa bei der Landung getötet haben?, überlegte Wadim entsetzt. Alles in ihm krampfte sich bei dem Gedanken zusammen. Er eilte hinter Anton her und beugte sich wie dieser über den leblos Daliegenden. Nach einem kurzen Blick richtete er sich wieder auf und schaute zur Seite. Ringsum erhoben sich trist und einsam verschneite Hügel, der Himmel war von tief hängenden Wolken bedeckt, und am Horizont zeichneten sich vage die matten Konturen eines Gebirgszuges ab. Was für ein trauriger Planet!, dachte Wadim.

Felder und Hügelhat der Schnee still gestohlen.Gleich ist alles leer.

Anton ließ sich auf die Knie nieder und berührte vorsichtig die Hand des Menschen. Schmal und weiß sah sie aus, die Finger waren schlank, wie aus Porzellan, und die langen Nägel schimmerten golden.

»Und?«, fragte Wadim und schluckte.

Anton stand auf. »Erfroren. Vor ein paar Tagen schon. Ist furchtbar abgezehrt.«

»Keine Hoffnung mehr?«

»Nein. Er ist schon wie Stein.«

»Wie Stein …«, wiederholte Wadim. »Wie ist das nur möglich? Sieh mal, er ist ja noch ein halbes Kind.« Er zwang sich, den Toten anzusehen. »Er hat Ähnlichkeit mit Walerka. Erinnerst du dich an Walerka?«

Anton legte Wadim die Hand auf die Schulter. »Ja, er sieht ihm ähnlich.«

»Ich habe mich so erschrocken. Ich dachte schon, ich hätte ihn bei der Landung getötet.«

»Nein, er liegt schon etliche Tage hier. Er ist vor Schwäche hingefallen und erfroren.«

»Warum hat er denn nur ein Hemd an?«

»Das weiß ich nicht. Lass uns zum Schiff zurückgehen.«

Wadim rührte sich nicht von der Stelle. »Ich verstehe das nicht. Wir sind also nicht die Ersten hier?«

Er sah sich nach Saul um; doch er war nicht mehr da.

»Vielleicht hast du dich geirrt, Anton. Vielleicht ist ja doch noch was zu machen?«

»Komm, Wadim.«

»Wie ist das nur passiert?«

»Woher soll ich das wissen? Komm jetzt.«

Da entdeckten sie Saul. Er kam langsam einen Hügel herab und glitt im nassen Schnee immer wieder aus. Sie warteten auf ihn. Saul sah traurig aus; auf seinen Wangen tauten große Schneeflocken, und die Knie waren voller Schnee. Er nahm die erloschene Pfeife aus dem Mund und sagte: »Es sieht nicht gut aus, Jungs. Da liegen noch vier.« Er blickte auf den Toten. »Die haben auch nichts an. Was gedenkt ihr jetzt zu tun?«

»Gehen wir erst zum Schiff zurück«, schlug Anton vor. »Dort können wir uns alles gründlich überlegen.«

Sie setzten sich in die Mannschaftskajüte und schwiegen eine Weile. Wadim fröstelte. »Das ist vielleicht ein Planet!«, stieß er hervor. »Ich verstehe gar nichts mehr. Und dabei hieß es, hier sei noch niemand gewesen. Und vor allem: Er ist noch ein Junge. Wie kommt er nur hierher?« Er verstummte und schloss die Augen, um das Bild des mit Schnee bedeckten Gesichts zu verscheuchen.

Anton stand auf und ging mit gesenktem Kopf um den Tisch herum. Saul stopfte seine Pfeife.

»Gestatten Sie, dass ich rauche?«, fragte er.

»Ja, bitte«, erwiderte Anton zerstreut und blieb stehen. »Wir machen jetzt Folgendes«, sagte er entschlossen. »Wir haben einen Gleiter an Bord. Den packen wir jetzt voll mit Lebensmitteln und Kleidung und starten eine lückenlose Suchaktion rund um das Schiff. Auf den Hügeln können noch Überlebende sein.«

In Antons Stimme schwang ein fester Unterton mit, den Wadim noch nicht an ihm kannte.

»Seht mal, Genossen«, fuhr Anton nun sanfter fort. »Von einer Touristenreise kann keine Rede mehr sein. Es handelt sich hier meiner Ansicht nach um außergewöhnliche Umstände. Da werde ich euch wohl oder übel Befehle erteilen müssen, und ihr müsst sie ausführen.« Er blickte Saul an und breitete bedauernd die Arme aus. »Sie sehen ja, da kann man nichts machen.«

»Ja«, pflichtete Saul ihm bei. »Ja, natürlich. Ich bin bereit, Kapitän. Befehlen Sie.«

»Ja, weißt du denn schon, was hier los ist?«, fragte Wadim.

»Darüber reden wir später«, entschied Anton. »Jetzt müssen wir erst den Gleiter startklar machen. Komm, Wadim.«

Saul legte die Pfeife hin, erhob sich ebenfalls und rückte den Riemen seines Scorchers auf der Schulter zurecht.

»Danke, Saul«, hielt Anton ihn zurück. »Wir schaffen das allein.«

»Ich möchte aber gern mitkommen«, entgegnete Saul. »Ich werde Sie nicht stören, Kapitän.«

Sie trugen das »Ei« hinaus und legten es in einiger Entfernung auf der Kuppe eines Hügels nieder. Der Schnee fiel jetzt dichter. Die Schneeflocken kitzelten auf den Wangen, und Wadim wischte sie sich ärgerlich aus dem Gesicht. Es wehte ein eisiger Wind, und Wadim fröstelte, als er Anton dabei zusah, wie er die Aktivatoren sorgfältig an der glatten Oberfläche des mechanischen Embryos befestigte. Die Kälte schmerzte auf den nackten Armen und Beinen, und Wadim musste daran denken, dass vielleicht zur gleichen Zeit irgendwo hinter den Hügeln barfüßige Menschen in langen grauen Hemden durch den tiefen Schnee stapften.

Anton richtete sich auf und hauchte sich in die geröteten Hände.

»Ich glaube, so geht’s«, sagte er. »Sieh mal nach, Wadim.«

Wadim prüfte die Verteilung der Aktivatoren. Es war alles in Ordnung. Sie kehrten zum Schiff zurück. Saul, der die ganze Zeit hinter ihnen gestanden hatte, folgte ihnen. Das Schiff tankte schon Energie; wie ein schwarzer Berg ragte es aus dem weißen Schnee auf, und seine geneigte Spitze folgte dem unsichtbaren EN 7031. Unterwegs riss Wadim ein paar Blumen ab. Sie taten ihm leid, so armselig und blass waren sie.

Lebende, Totehat der Schnee still gestohlen.Gleich ist alles leer.