Das Fliegenroulette - Hans K. Stöckl - E-Book

Das Fliegenroulette E-Book

Hans K. Stöckl

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Beschreibung

Die Initialzündung für "Das Fliegenroulette" erfolgte während einer halben Stunde Kaffee-Small-Talk mit einem Geschäftsmann aus Sizilien. Auf die neckend gemeinte und leicht hingeworfene Frage, was er als Sizilianer mir, einem Österreicher, über die Mafia sagen könne, breitete er die Arme weit aus, drehte den Oberkörper hin und her und sagte lachend, die ganze Welt einschließend: "Schau dich um! Alles was du sehen kannst ist Mafia!" Wie recht er damit hatte galt es zu ergründen. Wenn man Mafia nicht als mystischen Geheimbund versteht, sondern als System ganz kleiner bis ganz großer Ungesetzlichkeiten, und wenn man bei der eigenen kleinen Steuermanipulation beginnt, und bei der mit Polyesterkitt zurecht geschminkten Rostlaube, die man einem naiven Mitmenschen als fast neuwertiges Auto andreht, und wenn man den Faden dann immer weiter spinnt, und die Spirale immer höher schraubt, landet man letzten Endes bei den großen Kriegen auf dieser Welt. Bei den gewaltsamen Regimechanges, um an die Ressourcen eines anderen Landes heran zu kommen. Man landet bei den Waffenschiebern, die ihre Panzer und Flugzeuge mit rein gewaschenen Milliarden aus Drogengeschäften finanzieren. Und wenn man das dann alles durchschaut hat, erkennt man tief seufzend, dass man auch als höchst motivierter, engagierter Ritter ohne Furcht und Tadel, nichts, aber auch gar nichts dagegen tun kann! Diese Mafia ist wie die Fliegen. Unausrottbar und unsterblich solange es Menschen geben wird. (Hans K. Stöckl)

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Das Fliegenroulette

Das FliegenrouletteProlog-1--2--3--4--5--6--7--8--9--10--11--12--13--14--15--16--17--18--19--20--21--22--23--24--25--26--27--28--29--30-Über den AutorVon Hans Karl Stöckl bereits erschienene BücherImpressum

Das Fliegenroulette

Alles ist Mafia

Hans K. Stöckl

Roman

Sämtliche Handlungsabläufe, sowie alle Personen der Handlung und deren Namen und Daten sind völlig frei erfunden! Jedwede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, sowie Ereignissen und Zusammenhängen wäre rein zufällig und ist vom Autor in keiner Weise beabsichtigt!

... Omertà, Omertà(... Schweigen, Schweigen,Chista e‘leggi i societàdas sind die Gesetze der Gesellschaft.‘Leggi chi non perdunaGesetze, die nicht vergebenA cu faci infamitàdem der sie verrät.‘Surdu mutu orbu sugnuTaub, blind und stumm bin ich.Al‘ onorata ci appartegnuDer ehrenwerten Gesellschaft gehöre ich anSocietà che nta nu pugnudie wie eine Faust istCi cumanda tuttu u regnuund das ganze Land regiert.E l‘omu chi parra assaiUnd der Mann der zuviel sprichtSi trova sempri ‘nta li guaiwird immer Probleme haben.Chi è surdu orbu e taciWer aber taub und blind ist und schweigt,Campa pi cent‘ anni in pacilebt hundert Jahre in Frieden.)1

aus einem sizilianischen „canto di malavita“

Prolog

Totenstille lastete auf der Lagune, wie eine schwere Tuchent. Kein Laut, außer das Glucksen der kleinen Wellen, die sich an den Stufen zur Kaimauer der Fondamente Nuove brachen, als zages Flüstern.  Die schwarzen Silhouetten der vertäuten Vaporetti. Wie gestrandete Wale. Geschmolzenes Blei die Wasserfläche. Kaum ein Aufglitzern.  Längst verglüht die letzten Feuerblumen über S. Giorgo Maggiore, zur alljährlichen Ehre des Erlösers.  „Und erlöse uns von dem Übel, amen!“  Nach jedem Krach das freudig staunende „Ahhh!“ der fressenden und saufenden Menge. Krach! Applaus! Krach! Applaus!  Jeden dritten Sonntag im Juli. Das große Danksagen für das große Klimpern in den Kassen. Doch für heuer war er verklungen, der verschwenderische Freudendonner...  Endlich. San Michele, schwarzer Scherenschnitt eines maurischen Wüstenpalastes...  Ewige Schlafstätte der Endlichen. In weicher Ferne Murano. Der Faro, im blauschwarzen Himmel verschwimmend. Sein Scheinwerfer, nutzlos jetzt, ausgeschaltet. Glühwürmchen gleich nur noch die winzigen Leuchtpunkte der Positionslampen. Venedig schlief sich aus nach einem von Tausenden tosenden Tagen voll stampfender Horden wilder Besichtiger und dennoch Nichtsseher, Pizza- und Tüteneis-Schmatzer, Selfiefotografierer, Gassenverstopfer und Dreckhinterlasser. Barbarischer, weißblonder Nichtsversteher in japanischen Plastikschlapfen, halb nackt, mit peinlich albernen Sonnenhüten, fettschwabbelnd, Schwachsinn schwatzend, bleich und gepierct und tätowiert, wandelnde Reklamesäulen, die billigen T-Shirts beschriftet mit den Botschaften der Ellenbogengesellschaft. „Bier formte diesen schönen Körper! “, „I like myself!“, „Don‘t worry, be happy!“, „Mitmachen – gewinnen!“, „Just for fun...“ Dem globalen Nepp huldigend und über den kleinen Nepp des Ansichtskartenverkäufers in Hysterie verfallend.  Flut und Ebbe...  In ein paar Stunden würde die elefantische Heuschreckenplage von vorne beginnen. „Sei ore l‘ acqua sale, sei ore l‘ acqua scende…“Venezianische Poesie. Weise weinende, philosophische, resignierende Poesie der alten Venezianer. Keiner kennt sie mehr. Auch die neuen Venezianer kennen sie nicht mehr...

Sei ore l‘acqua sale (Sechs Stunden steigt das Wassersei ore l‘acqua scende sechs Stunden sinkt das WasserE‘il respiro del tempo Es ist das Atmen der Zeitche negli oceani mugghi das in den Ozean dröhnte qui, nella laguna irresoluta und hier in der ungelösten Lagunepalpita lieve: sanft pocht:finge di mondare le miserie es täuscht vor, das Elend der Stadt,della città arresa al proprio male. die sich dem eigenen Übel ergeben hat, zu beseitigen. Sei ore l‘acqua sale Sechs Stunden steigt das Wassersei ore l‘acqua scende. sechs Stunden sinkt das Wasser.)

Jetzt war Ebbe. Träge, stille, schlafende, ruhende, nachtschwarze Ebbe. Nichts, aber auch gar nichts darf in solchen Ruhenächten geschehen! Wehe dem, der ihre Heiligkeit verletzt!

-1-

Das Boot tauchte mit gedrosseltem Motor aus dem Schwarz des Rio dei Gesuiti kommend unter dem Ponte Dona hervor und glitt ohne Bugwelle dem Schatten von San Michele zu. Nur für ein paar kleine Minuten zerkratzte das leise Röcheln der Schraube die Nachtruhe.  An der Westmauer San Micheles entlang gab der Fahrer ein wenig Gas, und als er aus dem Schatten der Nekropolis die offene Lagune erreichte, legte er noch etwas mehr Fahrt zu. Vorerst hielt er Kurs auf Murano, drehte aber dann das Rad nach Steuerbord und gab Vollgas. Die Buglampe hatte er abgeblendet. Das Boot schoss mit Kurs Nordost eine Zeit lang im seichten Wasser dahin.  Er hatte die markierte Fahrstraße verlassen und musste höllisch aufpassen, nicht aufzulaufen. Murano lag jetzt bereits weit hinter ihm; er passierte S. Erasmo, wobei er in Ufernähe wieder Gas wegnahm, und erreichte schließlich, östlich an Burano vorbei, die Palude del Tralo und bald darauf die Palude Maggiore. Jetzt drosselte er den Motor auf Standgas herunter und ließ das Boot gleiten. Er durchsuchte mit den Augen die Finsternis.  Endlich erkannte er Backbord voraus seine Insel.  Es war tatsächlich seine Insel. Sein Besitz.  Vor ein paar Jahren während eines Badeausflugs mit einheimischen Freunden hatte er sie entdeckt und erkundet, nicht ahnend, welch makabres Drama sie dereinst für ihn bereit halten sollte. Sie war nicht viel größer als ein Fußballfeld, ragte jedoch verhältnismäßig hoch aus dem Wasser und hielt somit auch dem acqua alta1 stand. Es gab einige Reste von Gemäuer irgend eines militärischen Wachtpostens aus der Zeit der Seerepublik und sogar einen marmornen Brunnenschacht. Für‘s Nutzwasser würde der Brunnen sicher zu reaktivieren sein. Trink- und Kochwasser könnte das Tankboot bringen.  Nach eingehender Beratung mit seinen venezianischen Freunden hatte er das nahezu wertlose Grundstück schließlich über einen einheimischen Kumpel, der als Strohmann fungierte, gekauft. Und von diesem mietete er nun sein eigenes Land pro forma zurück.. Als Ausländer ersparte er sich mit diesem nicht unüblichen Trick einiges, und nicht nur Bürokratisches! Ja, hier wollte er sich seinen Lebenstraum erfüllen und mit eigenen Händen ein kleines Häuschen bauen. Vorerst für seine Urlaube. Später, so hoffte er, würde er für immer hierher ziehen und sich nur noch dem Schreiben widmen. Endlich seinen großen Roman schreiben. Schluss mit dem „investigativen Journalismus“! Schluss damit, im Dreck zu wühlen. In exotischen Schützengräben. Und Schluss mit all den Bundes- und Logenbrüdern, Golf- und Saunaklubfreunderln, mit dem nadelgestreiften Ganovenklüngel der Chefetagen und hohen Amtsräume. Schluss mit den ewigen Presseprozessen wegen „Verleumdung“, „Herabminderung“ und „Geschäftsstörung“! Endlich Ruhe! Allein sein, weil er das so wollte.  Und!: Nie wieder eine zweite Zahnbürste in seinem Becher! Keine eingeweichten BHs und Höschen im Waschbecken, wenn er sich die Hände waschen wollte. Keine Schachteln mit Tampons in seinem Toilettenschrank! Kein „Hast-du-meine-Haarbürste-benutzt!?“, was sich immer anhörte wie: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“. Kein Gemaule, warum er erst jetzt nach Hause käme. Niemand, der in seinen Sachen herumschnüffelte, ewig auf der Suche nach Argumenten für schwachsinnigen Streit. Nur um einen Vorwand zu finden, abzuhauen ins nächste fremde Bett!  Keine kindischen Diskussionen über die Gestaltung des Abends: „Du weißt doch, dass ich diesen Film nicht sehen will!“ Und auch einmal, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen, ein Fußballmatch ansehen können und dabei die nackten Füße auf den Rauchtisch legen, und auch ein drittes Bier trinken dürfen. Und einer Kellnerin genussvoll und ausführlich in den Ausschnitt schauen dürfen bis zum Höschen, wenn sie sich über den Tisch beugte um die Rechnung zu schreiben...  „Und du wirst dich an keinen Hochzeitstag mehr erinnern müssen, und schon gar nicht an einen Kennenlerntag! Geburtstag, Namenstag, Valentinstag, Frauentag, ihre Tage! Du wirst dich nie wieder betrügen lassen müssen...  Und, wenn es einmal unbedingt sein muss, zum Vögeln findest du dir alle Tage eine! Bald, mein Freund, bald wird das Leben wieder ein Leben! Vorausgesetzt, du bringst diese scheußliche Sache hier ohne ernsthafte Konsequenzen hinter dich...“  Er ließ das Boot an der Südseite sacht auf den Ufersand auflaufen, stellte den Motor ab und sprang an Land. Dann nahm er die Bugleine und band sie an den nächsten Baumstamm, holte den Spaten aus dem Werkzeugkasten unter dem Bootsrücksitz und lief damit zwischen den Uferbüschen zur Ruine hinauf. Er legte die Taschenlampe so auf einen Mauervorsprung, dass ihr Lichtstrahl auf den Boden zeigte, und begann zu graben.  Schon nach wenigen Minuten war er schweißgebadet. Die Erde war zäh und mit Ziegelschutt und Wurzeln durchsetzt, was die Arbeit erheblich erschwerte. Er stieß den Spaten für eine kurze Verschnaufpause in den Erdhaufen.  Da machte es irgendwo hinter dem Gebüsch „plopp!“. Was war das? Er lauschte angespannt in die Dunkelheit hinein. Aber nichts regte sich. Hemd und Hose klebten auf der Haut.  Wohl irgend ein Vogel! Oder ein morscher Ast ist heruntergefallen...  Und er grub weiter, bis die Grube weit und tief genug war. Weit und tief genug...  „Six feet under ground... “ kam in irgend einer Ami-Ballade aus den Sechzigern vor...  Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein, als er sich endlich mit pfeifenden Lungen und fliegendem Puls auf den Rücken fallen ließ und zwei Minuten lang in den Himmel starrte. Rote, singende Kreise rotierten in seinem Kopf. „Für das Fundament werd‘ ich mir ein paar Arbeiter leisten müssen... Aber das Aufmauern lass‘ ich mir nicht nehmen! Das hat was unglaublich Geiles! Mörtel auflegen, Ziegel einbetten, mit dem Maurerhammer in die Waage klopfen... Allein das Geräusch! Und am Abend herrlich müde sein und das Tagewerk betrachten. Ein paar Gläser Chianti, schwarze Oliven und ein Stück Parmesan... Und in die riesige, blutrote Scheibe schauen, die dort drüben hinter der Landebahn des Aeroporto Marco Polo wabernd in den Abenddunst taucht, bis sie aussieht wie eine in der Mitte gefaltete Pizza Margherita...“  Er dachte an so etwas, weil er nicht daran denken wollte, was er hier tun musste. „Also, gut!“, sagte er, noch immer keuchend, vor sich hin und erhob sich. Taumelnd stolperte er zum Boot hinunter, verharrte noch einmal kurz durchatmend und kletterte an Bord. Er packte entschlossen den in einen dünnen Teppich gerollten leblosen Körper, hievte ihn auf die Deckskante, sodass er zur Hälfte außen an den Planken herab baumelte und sprang wieder an Land. Schloss für einen Moment die Augen, presste die Kiefer aufeinander, dass die Zähne knirschten.  „Komm schon!“, sagte er. „Wir haben‘s gleich!“ Damit zerrte er den Teppich samt Inhalt auf seine Schulter und stieg schwankend unter der Last zur Ruine hinauf. Am Rand der Grube ließ er den verpackten Körper zu Boden gleiten, schlug den Teppich auseinander und schob den Körper in die Grube hinunter. Dort blieb er auf dem Rücken liegen, die Beine ausgestreckt. Der Mann mochte an die Vierzig sein, südländischer Typus, stark gebräunte Haut, schlank und drahtig-muskulös. Keine besonderen Merkmale. Jeans, Sportschuhe, dunkelgrünes Poloshirt... Genau in der Mitte der Brusttasche der dunkle, glänzende Fleck...  Seine Augen standen offen. Schwarze, glänzende Lichter...  Der Mann mit dem Spaten starrte minutenlang in diese Augen. Sie schienen seinen Blick herausfordernd zu erwidern....  „Ob ich das aushalten werde, mit dir zusammen hier zu wohnen?... Wirst du herauskriechen aus deinem Grab, in den Nächten, und wieder und wieder in mein Zimmer stürmen, die Pistole in der Faust? Und werde ich dich immer und immer wieder erschießen müssen, bis ans Ende meiner Tage? Ich habe dir nichts getan! Ich habe dir nur dein Leben genommen, im Tausch gegen das meine! Wir sind also quitt! Lass mich gefälligst in Ruhe!“ Er schüttelte sich und wandte sich wie ferngesteuert ab. Zum x-ten Mal wischte er sich den Schweiß von Stirn und Nacken, rollte mechanisch den Teppich zusammen und trug ihn hinunter zum Boot. Er würde ihn sorgfältig mit Trichlor reinigen, bevor er ihn wieder in sein Zimmer in der Calle del fumo legen konnte...!  Obwohl,... eigenartig!... Es hatte sehr wenig Blut gegeben... Für einen Herzschuss! „Zuschaufeln!“, befahl er sich und wollte soeben wieder zurück...  Was war das?! War da nicht wieder ein Geräusch...? Da war doch... ein... als wäre etwas...  Er hielt inne und lauschte. Nichts!  Nur das Dröhnen seines Pulses. Aber, es hat doch geklungen wie...  „Du spinnst! Du bist allein mit einem Toten auf einer gottverlassenen Insel, die so klein ist, dass du sie in einen Swimmingpool einbauen könntest und sie würde nicht einmal stören...  Aber...  Nix ‚aber‘! Sei nicht blöd! Was soll denn schon...!?“ Er erreichte die Grube. Die Taschenlampe warf ihren Schein wie zuvor nach unten. Er langte nach dem Spaten, stieß ihn in den Aushub und machte eine Drehung mit dem Oberkörper, um die Erde in die Grube zu schleudern, da fiel sein Blick — zwanghaft — noch einmal auf den Toten...  Im selben Augenblick explodierte sein Adrenalinreservoir und drängte sämtliches Blut aus dem Hirn. In der Grube lag ein Anderer!  Ein korpulenter Mann um die Fünfzig, graue Hose, weißes Hemd, das Gesicht voller Blut, der Einschuss über dem linken Auge...  Kommerzialrat Erwin Popp. Ehrenwerter, oft und hoch dekorierter österreichischer Großgeschäftsmann, Politikerfreund, internationaler Waffenschieber, Geldwäscher, schillernder Partylöwe, enfant terrible, Mafiakollaborateur.  „Keine Panik...! Nur jetzt keine Panik!“ Er schleuderte den Spaten von sich, drehte sich um und rannte gebückt, im Zickzack zum Boot hinunter, sprang an Bord und griff nach der Pistole im Fach unter dem Armaturenbrett. Entsichern, durchladen!  „Was läuft hier...? Verdammt, was läuft hier?! Wo ist der Andere...? Wer...? “ Er warf sich auf den Bauch und robbte vorwärts. Seine Steuerung hatte auf Autopilot geschaltet. Trainiert, eingetrichtert, eingedrillt, eingeschliffen, eingebrannt in sieben Jahren Sonderkommando Mungo...  Der Atem ging fliegend. Der Puls hämmerte. „Die Mungos! Schlangentöter! Ein Haufen, ja, ein Haufen! In jenem heldenmythischen Sinn... Ledernackiger Landserjargon... Bis zum Blödsinn trainierte Machokumpels. Spezialeinheit, überall dort eingesetzt, wo der menschliche Irrsinn seine hintertürigen Katastrophen produziert. Terroristenbekämpfung mit potenzierten Terrormethoden. Augen um Auge, Zähne um Zahn! Blendgranaten und Rauchbomben als Handwerkszeug. Das klare Feindbild stets im sonnenbrillenfinsteren Blick: Schwarz, dunkelbraun, fremdsprachig, südöstlich. Anders als wir. Die Razzia, damals in dem halblegalen Flüchtlingslager, mir wird heut‘ noch schlecht...! Türen einschlagen, Männer und Weiber auf den Boden treten, die Springerstiefel ins Genick, dass Nasen und Lippen aufspringen, wenn die Gesichter auf den Fußboden knallen. Den Negerweibern gleich vor allen Anderen sämtliche Fetzen vom Leib reißen,... Was? Die genieren sich, weil sie Mohammedanerinnen sind?... Na, und! Das ist eine Amtshandlung! Also, ohne Federlesen und ohne Handschuhe immer hinein in die stinkende Intimität! — Neger waschen sich ja bekanntlich nicht! — Dort muss es sein, das Präservativ, mit Schnee gefüllt! Ist es aber nicht! Also wird folgerichtig die Wohnungseinrichtung zertrümmert; alles, was sich ungebührlich bewegt, grün und blau geprügelt und das ganze schwarze Pack zur Strafe, weil es kein Rauschgift besitzt, in Schubhaft genommen und dorthin zurückgeschickt, wo es gefälligst zu verhungern hat, wenn es nicht eh einer ihrer schwarzen Häuptlinge im Suppentopf kocht...“  Seine Beschwerde beim Innenminister persönlich hatte sofortige Konsequenzen: Man legte ihm den einvernehmlichen Abschied nahe: „Oberstleutnant Alfred Jöstl, Sie sind den Anforderungen, die der Beruf an Sie stellt, psychisch nicht gewachsen!“ „Meingott, Jöstl!“, rief der Polizeipräsident und schlug die Hände zusammen. „Da sind Sie im Auswahlverfahren unter zweihundert Bewerbern als einer der besten fünf zum Offizierslehrgang gekommen..., haben den Theoriekurs, einschließlich Strafrecht, bravourös gemeistert. Der absichtlich erzeugte Prüfungsstress war Ihnen völlig wurscht...! Von vierhundert Prüfungsfragen über Allgemeinwissen haben Sie in... äh... Was steht hier? In etwas mehr als nur einer Stunde!... haben Sie dreihundertsechsundachtzig von vierhundert richtig beantwortet! Das war noch nie da! Das hätt‘ nicht einmal ich viel besser hingekriegt! Sie haben in Psychologie brilliert und waren bei sämtlichen körperlichen Tests immer absolute Spitze! Bester Schütze der Einheit! In kürzestmöglichen Zeitabständen befördert! Jüngster Oberleutnant!... Sie könnten der ideale Polizist sein!... Was Ihnen nur leider, leider fehlt, ist eine gewisse... Anpassung! Sie haben für diesen Beruf nicht die richtige... Einstellung! Sie können doch bei Ihrem Aufgabenbereich nicht den Gutmenschen spielen... “ Der Herr Minister wünschte ihm für seinen weiteren Lebensweg blabla...  „Und nicht zu vergessen: Er wisse ja, er habe einen Amtseid geleistet! Er sei zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet! Der Corpsgeist, nichtwahr! Sollte er nur ein einziges Sterbenswörtchen... da könne er sich beruflich, also, existenzmäßig, ja? Da könne er sich gleich vergessen, könne er sich da!...  Sieben Jahre deines damals noch jungen Lebens, perdu!  Gut so! Hätte schon viel früher passieren müssen!  Nein! Hätte alles überhaupt nicht passieren müssen. Dürfen. War nie deine Welt gewesen! Warst immer ein Friedtier. Hattest nur immer was dahergeträumt von Robin Hood, Zorro, Rächer der Enterbten, Beschützer von Witwen und Waisen. Ritter der Tafelrunde... Scheiße! Hineingerutscht in die Falle. Hundsjung, ohne Vater aufgewachsen, stattdessen dummgefüttert mit Westernfilmen...  Und dafür das legale Mordhandwerk perfekt erlernt. Mit allen Schikanen. Jede Menge Auszeichnungen. ‚Bester Combatschütze der Einheit‘, ‚Mungo des Jahres‘, wegen deines ‚umsichtigen Verhaltens‘ bei einer Geiselbefreiung im Zuge eines Banküberfalls...  Medaillen, Pokale, Urkunden.  Alles irgendwo auf einem verstaubten Dachboden. Flohmarktware für die nächste Träumergeneration...“  Also hatte er die Waffen gewechselt. Hatte die Glock 18, Kaliber 9 mm, mit ihrem 33-schüssigen Langmagazin, und das Stg 77 mit verkürztem Lauf in die Waffenkammer getragen und sich stattdessen einen IBM-Home-PC mit hoher Speicherkapazität sowie einen Internetanschluss besorgt. Und setzte den Kampf gegen Gauner und Gesindel vom Schreibtisch aus und auf eigene Faust fort. „Gott, siebzehn Jahre ist das jetzt her...“  Dann begann seine steile Karriere als Auf­deckungsjour­nalist...  Unbequemer denn je, kompromisslos, und immer illusionsloser. „Gedankenfetzen... Blitzlichter... weg damit! Konzentrier‘ dich!“ „Wo ist das Schwein...!?“, keuchte er. Von irgendwo her schwang, kaum hörbar, der Klang von Kirchenglocken über die nächtliche Lagune. Der Horizont begann sich zaghaft zu röten. „Bleib cool, Alter!“, suggerierte er sich gewaltsam. „Hexen gibt‘s nicht! Nur verrückt spielende Nerven. Es gibt für alles eine logische Erklärung!... Hab ich mich also doch nicht getäuscht; es war ein schallgedämpfter Schuss...!“ Dabei schaute er hektisch um sich, konnte jedoch absolut nichts Verdächtiges wahrnehmen. „Wie, zum Teufel, kommt jetzt der Popp in die Grube!? Und wo ist...?! Wer, ist noch hier?!“ Und jetzt vernahm er doch ganz eindeutige Geräusche! Er fasste die Pistole mit beiden Fäusten, zielte im Halbkreis auf das Gebüsch und die Mauerreste und schrie plötzlich, um den unsichtbaren Gegner zu irgendetwas zu provozieren, los: „Komm heraus, du Arschloch!... Zeig‘ dich...!“ Wieder nur ein paar sachte, scharrende Geräusche...  Er griff nach einem Stein und warf ihn in die Dunkelheit. Minutenlang geschah nichts. Das Blut strömte mit gewaltigem Rauschen zurück in seinen Kopf.  Und als er endlich ruhiger zu werden begann und sich so etwas wie eine Strategie zurecht legen wollte, flammten plötzlich ringsum grelle Handscheinwerfer auf, gebellte Kommandos...: „Fermarsi! Mani sulla testa!2“…  Martialische, schwarze Gestalten warfen sich auf ihn... Ein Gewehrkolben krachte auf sein linkes Schulterblatt... „Lei e‘ arrestato! Mani sulla schiena! Sie sind verhaftet! Hände auf den Rücken!“ Sie drehten ihm die Arme aus den Schultergelenken nach hinten... einer setzte ihm den Stiefel ins Genick... Sand, Erde, Dreck im Mund... Die Handschellen schnitten in seine Gelenke. Er schrie auf. Wohl mehr aus Wut. „Non cacarti sotto!... Vigliacco! Scheiß‘ dich nicht an!... Feigling!“, blaffte ihn einer der Polizisten an. Jöstl bäumte sich auf und knurrte: „Chi ti credi di essere, piedipatti! Was glaubst du, wer du bist, du Plattfuß!“ Der Schimpfname für einfache Straßenpolizisten trifft einen Angehörigen einer Spezialeinheit besonders. Der Polizist hieb ihm die Faust auf den Hinterkopf und schrie: „Ti rompo le gambe, pezzo di merda! Ich brech‘ dir die Beine, du Stück Scheiße!“ Jöstl konnte nur noch „Va‘ a fare una cacata, puzzo! Geh‘ scheißen, du Stinker!“ hervorquetschen, dann traf ihn ein neuerlicher Schlag auf den Kopf. Das Morgenrot und alles andere ringsum wichen einem singenden, gnädigen Schwarz. Sie schleiften ihn hinüber auf die andere Seite der Insel, wo das Polizeiboot seit zwei Stunden vertäut gewartet hatte. Warfen ihn über die Bordwand ins Innere und er schlug mit dem Gesicht auf, und aus Nase und Lippen quoll Blut.

Hochwasser

Stehenbleiben! Hände über den Kopf!

-2-

Hofrat Dr. Andreas Dörfler wischte mit der Hand über den Telefonhörer um die Fliege zu verscheuchen, die ihm bereits seit geraumer Zeit auf die Nerven ging. Die Fliege hob ab, nicht eben besonders eilig, sie schien genau zu wissen, wie schnell, oder aus ihrer Sicht, wie langsam sich die menschliche Hand zu bewegen vermochte. So zog die Fliege eine kleine, spöttische Schleife und landete, als betrachte sie es als ihr gutes Recht, wieder auf dem Telefonhörer. Der Hofrat kapitulierte seufzend.  Wie auf Bestellung erscholl in diesem Augenblick das Düdlüdlüdl. Die Fliege, so registrierte Dörfler erstaunt, war bereits einen winzigen Sekundenbruchteil vor dem ersten Ton gestartet und steil nach oben davon gezischt. Sie kreiste zweimal in atemberaubendem Tempo um die weiße Deckenlampe, nahm dann Kurs auf das gerahmte Bild des Bundespräsidenten und setzte sich genau in dessen rechte Pupille. Hofrat Dörfler griff nach dem Hörer des bermudablauen Telefonapparats. „Dörfler. Ja...? Wer?... No, legen‘s mir‘n auf die Privatleitung! “ Er legte auf, hob den Kopf und rief durch die offene Bürotür ins Vorzimmer: „Geh‘n S‘, Frau Kobinger, machen‘s die Tür zu, ja!“ Frau Kobinger machte die Polstertür zu. Der Hofrat nahm den Hörer des beigefarbenen Telefonapparats ans Ohr. „Ja?... Servus, was gibt‘s?“ Er lauschte einige Sekunden, dann straffte sich langsam sein Oberkörper, sein Kinn schob sich vor und er griff mechanisch nach einer Zigarette. „Ui! Na, das is‘ aber gar net lustig!... Wann?“, fragte er knapp. „Wo?“ Wieder lauschte er. Sog an seiner Zigarette. „Und er is‘ eindeutig identifiziert?... “ Mehrere Minuten lang sagte Dörfler nichts, außer „Mhm... ja... mhm... “, schüttelte immer wieder den Kopf und verdrehte die Augen. Endlich war sein Informant fertig mit dem Bericht. Dörfler fragte: „Is‘ der Minister schon informiert?... Ah, nur der... Na, was sagt der Sektionschef?... Aha... “ Er drückte die halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und blies den Rauch in Richtung der Fliege, die jetzt auf die Nase des Bundespräsidenten gekrochen war.  „Also, hör‘ zu, ich mach‘ folgendes:“, sagte er kurz entschlossen. „Ich red‘ einmal mit den Italienern. Vielleicht kriegen wir ihn heraus, bevor... “  Sein Gesprächspartner machte einen Einwand. Aber Dörfler schüttelte energisch den Kopf und fuhr fort: „No, immerhin is‘ er ein Bundesbruder vom Minister... Was?... Na, eben! Schau, ich verhandel‘ einmal mit den Itakern... Was?!... Aber, geh‘! Doch nicht den Jöstl! Der Jöstl is‘ mir doch völlig wurscht! Das is‘ nur ein Journalist. Eh ein staatliches Ärgernis! Der soll ruhig in Italien im Häfen bleiben. Wenn er schon so ein Dilettant is‘ und sich auch noch erwischen lässt, der blöde Hund... Was?... Spezialausbildung?... Ja, weiß ich doch! Aber das‘ is‘ Jahre her! Da war er fast noch ein Bub... Abenteuerlust und so! Bissl ein Weltverbesserer. Hat sich eingebildet, dass er als Reserve-Hemingway... als dichtender Kriegsberichterstatter... Ein Spinner halt!... Außerdem, geh‘! Plaudern! Was kann der plaudern? Der kann plaudern was er will...! Wird mit der rauchenden Pistole am selbstgeschaufelten Grab vor seinem Opfer verhaftet! Was immer der auch sagt, kein Mensch wird ihm irgend ein Wort glauben... Wie meinst du das? Anwalt? Geh, bitt‘ dich! Da schicken wir ihm einen von uns! Nein, nein, den Jöstl kannst vergessen!...  Ha? Was für Unterlagen?... Rechercheunterlagen?... Wie brisant sind denn die?...  Aha,... mhm,... aha,... Najaaa...! Na, gut! Muss ich dir jetzt erklären wie man so was macht, eine Festplatte austauschen...? USB-Sticks verschwinden lassen... Na, mein‘ ich doch!“ Er klemmte den Hörer unters Kinn und zündete sich eine neue Zigarette an.  Dann sprach er weiter: „OK, ich kümmer‘ mich drum!... Was aber viel wichtiger is‘: Wir müssen schauen, dass wir die Leich‘ vom Erwin... äh... vom Kommerzialrat Popp herauskriegen, bevor die da unten zu ermitteln anfangen...“ „Kruzifix!“ schrie er plötzlich zornig und schlug sich auf die Stirn. Aber die Fliege war natürlich wieder schneller. „Was?... Aber, nein! Nur so eine depperte Fliege... und ich erwisch‘s net!...  Ha? Wie meinst du das?... Na, schau‘, ich muss den Italienern halt einreden, dass der Popp ein stinknormales Mordopfer is‘. Was weiß ich, Raubmord halt... Eifersucht, Erpressung... oder... da fallt mir schon was ein. Wär‘ nicht das erste Mal... “ Die Fliege krabbelte auf seinem fleischigen Handrücken herum. Er schlug automatisch mit der anderen Hand, in welcher er aber die Zigarette hielt, nach ihr und verbrannte sich die Finger. „Herrgottnoamal!... Was!?... Ah, nix, nur die Flie... No, das weiß ich selber, dass es nicht einfach zu erklären sein wird, was ein honoriger Wiener Industrieller mitten in der Nacht auf einer lächerlichen venezianischen Laguneninsel zu suchen hat... wo wir‘s doch selber noch nicht wirklich genau wissen...  Ob ich waaas?... Ein vertrauliches Gespräch unter Farbenbrüdern?!... Also, jetzt hör‘ auf, gell! Warum sollt‘ ich mitschneiden? Nein, nein! Das bleibt absolut alles unter uns!... Und meine Telefonleitung is‘ todsicher!“ Kurze Verabschiedung, der Hofrat legte den Hörer langsam aus der Hand und drückte die „Stop-Taste“ des Rekorders. Dann legte er den Zeigefinger auf die Sprechtaste des bermudablauen Telefonapparats.  „Frau Kobinger, bringen‘s mir einen Kaffe, ja!“ „Jawoll, sofort, Herr Hofrat!“

-3-

Auf einer Bank in den Mailänder Giardini pubblici saß ein schlanker, drahtig-muskulöser Mann anfang der Vierzig und studierte scheinbar gelangweilt ein paar Tageszeitungen. Er wirkte unauffällig in seinen Jeans und Sportschuhen und seinem dunkelgrünen Poloshirt. Dunkelgrün, so hatte sein Psychologielehrer dereinst erklärt, sei die vertrauenerweckendste aller Farben. Und diejenige, die man sich am wenigsten merke. Zeugen können sich mitunter an alle möglichen Details erinnern, fragt man sie aber nach der Farbe des Hemdes, beginnen sie oft zu stottern: „Äh... dunkelblau...?... Nein... braun, glaube ich..., oder...?“  Es war dunkelgrün! Und er besaß ein paar Dutzend davon. Der Mann hieß Enrico Bardellini, oder Faisal Abdel Rashdir, oder Jean Claude Villeneuve, oder Ramon Gayoso, oder Aram Chadurjan, oder, oder, oder...  Interpol, FBI und westliche Geheimdienste führten ihn in ihren Computerkarteien unter seinem „Kriegsnamen“: Tornado. Tornado stammte aus Korsika, so viel hatte man herausgefunden. Seinen wirklichen Namen konnten sämtliche Jäger nur vermuten. Man hatte seinen bisherigen Lebensweg bis zum Waisenhaus von Porto Vecchio in groben Zügen zurückverfolgen können, aber ab hier war Schluss. Laut Aussage der damaligen Direktorin war der Junge im Alter von acht Jahren eines Tages von einem fahrenden Händler abgeliefert worden, der angab, er habe ihn auf der Straße aufgelesen. Später behauptete der Knabe, der Mann sei sein Onkel gewesen, von dem er jedoch nur den Vornamen kenne, Rino. Er habe eigentlich „immer“ mit ihm zusammen gelebt. Woher er selber stamme und wer seine Eltern gewesen seien, wisse er nicht. Onkel Rino habe eines Tages eine Frau gefunden, mit der er zusammen leben wollte und der sei der Junge im Weg gewesen. Deshalb habe der Onkel ihn einfach im Waisenhaus abgeliefert. Eine Zeit lang gab es Gerüchte, Tornado sei in Wahrheit das Kind eines Bischofs und einer Nonne. Darüber gingen die Fahnder allerdings mit einem trockenen Lachen hinweg. Die Ermittler nach dem ersten Bombenattentat, mit dem man Tornado in Zusammenhang gebracht hatte, lieferten eine andere Version seiner Herkunft: Er sei möglicherweise der Sohn eines korsischen Mafia-Paten, der seinerseits in einer Fehde zweier „Familien“ um Gebietsansprüche erschossen worden war. Bei jenem „Rino“ habe es sich um einen der wenigen das Gemetzel überlebenden Getreuen des Paten gehandelt...  Für diese Version sprach einiges: Das Waisenhaus erhielt, kaum dass Tornado sein Bett bezogen hatte, eine monatliche Überweisung beträchtlicher Summen, mit der Auflage, dem Buben die bestmögliche Ausbildung zu gewährleisten. Gut, sagten sich manche, das könnte auch vom Bischof kommen...  Dass es das mit Sicherheit nicht tat, zeigte sich spätestens, als Tornado, der bis dahin den amtlichen Namen Ronaldo Cavalli – nach seinem staatlich bestellten Vormund – führte, seine Matura bestanden hatte: Da war er von einem Tag auf den anderen plötzlich spurlos verschwunden.  Erst Jahre später, als er bereits eine gewisse „Berühmtheit“ erlangt hatte, behauptete ein V-Mann des amerikanischen CIA, er verfüge über verlässliche Informationen, Tornado sei in jener Zeit nach Libyen gebracht worden, wo er in einem Spezial-Ausbildungscamp zur Killermaschine erzogen worden wäre.  Das heizte die Spekulationen erneut an. Wer waren die Hintermänner Tornados? Wer war sein überaus gönnerhafter Pate, der offenbar über immense Geldmittel und äußerst weit reichenden Einfluss verfügen musste? Die italienische Mafia schied von vorne herein aus. Es gab keinerlei Hinweis darauf, dass jemals ein Mafiakiller, auch unter noch so guter Tarnung, in einem libyschen Trainingscamp ausgebildet worden wäre! Was man aber seit langem wusste war, dass von der nordirischen IRA bis hin zu den palästinensischen Freiheitskämpfern, alles in Libyen trainierte, was nur in irgendwelchen politischen Blutopern eine Rolle spielte. Bedenkt man aber, was im allgemeinen von CIA-Informationen zu halten ist, kann man ebenso gut zu der Überzeugung gelangen, dass Tornado niemals auch nur in der Nähe Libyens gewesen ist...  Was aber, so oder so, zu denken gab: Tornados „Speisekarte“ beinhaltete absolut kein explizit politisch einzuordnendes Delikt, beziehungsweise deutete alles einmal in diese, dann wieder in die entgegengesetzte Richtung! Er musste demnach so etwas wie ein Anwalt des generell „Bösen“ sein, den man, je nachdem, für viel, viel Geld mieten konnte. Und dem es völlig gleichgültig schien, wen er auf wessen Auftrag ins Jenseits beförderte. Ebenso wie es einem Anwalt des generell Guten völlig gleichgültig ist, ob er einen Kinderschänder oder ein vergewaltigtes Mädchen vor Gericht vertritt, wenn nur die Kohle stimmt. Und der als glänzender Anwalt gilt, wenn er den Kinderschänder mittels gefinkelter Tricks frei bekommt, und wenn er dem vergewaltigten Mädchen zu einer Serie von Fernsehauftritten bis zum Nervenzusammenbruch, und zu einem ghostgewriteten Bestseller verhilft, an dem er, Ehre wem Ehre gebührt, kräftig mitschneidet.  Wie auch immer, bei allen Versuchen einer Rekonstruktion von Tornados Biografie war man ausschließlich auf sehr vage Indizien und nicht wirklich überprüfbare Behauptungen angewiesen. Und wie verzweifelt man auch danach suchte, es gab nirgends ein Foto, weder des jetzigen, noch des jungen Tornado aus seiner dokumentierten Jugend in Korsika. Er fand sich auf keinem einzigen Gruppenbild. Weder aus der frühen Schulzeit, noch etwa von der Maturafeier, oder von einem Schulball! Es schien, als hätte er sich jedes Mal sofort versteckt, sobald ein Fotograf am Horizont auftauchte. FBI-Spezialisten schlossen nicht zuletzt aus diesem Detail, er habe bereits zu jener Zeit von außen seine Direktiven erhalten. Ehemalige Mitschüler beschrieben ihn als kleingroßen, schmalrundgesichtigen, glattgelockten, helläugigen, faulen Streber mit schwarzen Augen, irgendwie bleich, na, eben stets braun gebrannt. Von Interpol bis Mossad, von KGB bis FBI existierte lediglich ein äußerst nichtssagendes Phantombild, angefertigt von einem Berliner Polizeizeichner. Dieser wiederum hatte sich lediglich auf ein paar kümmerliche Angaben von „Augenzeugen“ stützen können, von denen nicht einmal hundertprozentig sicher war, ob sie überhaupt in der Nähe des Tatorts gewesen waren. Jenes Tatorts in Berlin Wannsee nämlich, wo am 18. Oktober 1983 acht Menschen in einem Flammenmeer elend verbrannten, weil auf einem Parkplatz ein Auto explodiert war. Das Auto gehörte Hansjürgen Lopke, seines Zeichens Bundestagsabgeordneter und Aufsichtsratsvorsitzender der OPCOMM, einer Finanzierungsbank, deren Hauptkunde wiederum die ARMEX-International war. Eine Waffenhandelsgesellschaft mit Hauptsitz in Brüssel.  Hunderte Telefongespräche aller möglicher Großkrimineller und Terror-Drahtzieher waren seither im Lauf der Jahre in verschiedensten Zusammenhängen weltweit abgehört worden und immer wieder war der Name Tornado gefallen. Vereinzelt hieß es auch: „Der Korse... “. Und viel zu selten für die Ermittler hatte es da und dort winzige Hinweise zu seiner Charakteristik gegeben. So war sein Nimbus gewuchert. Und die Legenden. Alles in allem jedoch war Tornado für die internationalen Behörden eben nicht viel mehr als ein Phantom... Ein schrecklich gefährliches Phantom. Alles, was man genau wusste war, dass es existierte. Das Phantom erhob sich gelassen, faltete flüchtig die Zeitungen zusammen und schlenderte den Kiesweg entlang Richtung Piazza Cavour. Unterwegs ließ er die Zeitungen in einen Abfalleimer fallen. Er bog links in die Via Palestro ein, und weil gerade eines daherkam, hielt er das Taxi an. „Aeroporto Malpensa!“, befahl er. Es herrschte der typische Mailänder Wochentagsverkehr. Die lähmend langsamen städtischen Busse, die Müllabfuhr, die Straßenbahnen, jede Menge Verkehrsampeln, aus- oder einladende Lieferanten, unzählige Mopedfahrer...  Der Chauffeur versuchte ein Gespräch zu beginnen, bekam aber keine Antworten. Er machte einen Blick in den Rückspiegel, von seinem Fahrgast war nichts zu sehen. Der hatte sich hinter ihn, auf die linke Seite des Fonds gesetzt. „Aha.“, dachte der Chauffeur. Er hatte so seine Erfahrungen... Mailand ist mitunter bereits ziemlich amerikanisiert...  Instinktiv glitt seine Rechte tiefer, dorthin, wo zwischen den Sitzen die Gaspistole steckte. Dann schaltete er das Sprechfunkgerät auf „Senden“.  „Ich fahre wohl am besten über die Via Manzoni...?“, sagte er laut. „Und biege dann... “ Er konnte natürlich nicht sehen, wie Tornado grinste. Die Fahrt zog sich. Als er den Lancia endlich vor der Abflughalle zum Stehen brachte, atmete der Taxifahrer hörbar auf. „Macht vierunddreißig Euro, Signore.“ Er drehte sich nach hinten. Tornado war aber bereits im Aussteigen begriffen. Durch das offene Fenster drückte er dem Fahrer einen Fünfzigeuroschein auf die Brust und war im nächsten Augenblick zwischen den durcheinander eilenden Passagieren verschwunden. „Also, wenn mich jetzt einer fragen würde,“, dachte der Taxilenker, „ich könnte nicht einmal sagen, ob das ein riesiger dicker Schwarzer, oder ein kleiner, dürrer Chinese gewesen ist... Höchstens vielleicht, dass er ein dunkelbraunes Hemd trug... “ Tornado ließ sich durch die Menschenmenge gleiten, immer darauf achtend, dass ihn keiner anrempelte. Sein geschulter Blick suchte nach den Polizisten mit ihren Maschinenpistolen. An Ihrer Anzahl, ihrer strategischen Verteilung und an ihrem Gehabe konnte er unschwer ablesen, dass sie in erhöhter Bereitschaft standen.  Er wusste aber, dass dies nichts mit der Sache in Venedig, und schon gar nicht mit ihm, zu tun haben konnte. Die Brigate rosse hatten sich in den letzten Tagen wieder mit ein paar kleinen Aktionen bemerkbar gemacht, hatte er gehört. Er lachte in sich hinein. Vor ein paar Jahren waren die auch an ihn herangetreten. Er wollte aber mit diesem dilettantischen Haufen blöder, linker Politwichser nichts zu tun haben und hatte sie einfach ignoriert.  Nein, nein! Das Polizeiaufgebot war harmlos für ihn.  Er ging zum Check-in-Schalter und legte der Beamtin seinen Pass hin. „Ich habe telefonisch gebucht.“, sagte er. Die junge Frau nahm den Pass, betrachtete kurz Foto und Personaldaten, tippte dann ein bisschen in ihrem PC herum und sagte höflich: „Ja, Signor Capelli! Sie haben Businessclass... Äh... Sie fliegen um 10:30 Uhr mit ALITALIA, Flugnummer AZ 920. Sie haben einen Fensterplatz.“  Sie überreichte ihm das Ticket und die Bordkarte. „Ihr Gepäck können Sie gleich... “ „Ich habe kein Gepäck.“, sagte Signor Capelli freundlich. Die Frau zog ein wenig erstaunt die Augenbrauen hoch. „Aha?“ „Ich habe bereits gestern alles vorausgeschickt.“, erklärte Signor Capelli. „Es war etwas zu viel für einen Passagierflug. Ich war ein bisschen einkaufen im Weltzentrum des Luxus. Wenn ich schon in Italien bin... Man gönnt sich ja sonst nichts!“