Das Flüstern im Watt - Gerd Kramer - E-Book

Das Flüstern im Watt E-Book

Gerd Kramer

4,9

Beschreibung

Mit akustischem Spürsinn auf der Fährte des Bösen – ein Krimi, der die Melodie der Nordsee einfängt. Hauptkommissar Flottmann hat sich vom Rheinland nach Norddeutschland versetzen lassen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Doch die währt nicht lange. Eine Entführungsserie hält die Region in Atem, die Täter gehen mit äußerster Brutalität vor. Als die Ermittlungen ins Stocken geraten, greift Flottmann zu ungewöhnlichen Mitteln: Er sucht Unterstützung bei Leon Gerber, einem Musiker mit hochsensiblem Gehör. Kann dieser den entscheidenden Hinweis liefern?

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Gerd Kramer wurde 1950 in der Theodor-Storm-Stadt Husum geboren und ist dort aufgewachsen. Nach seinem Physikstudium in Kiel arbeitete er als Akustiker und Software-Entwickler im Rheinland. 1987 gründete er eine eigene Firma, in der er noch heute tätig ist. Einen Teil des Jahres verbringt er in seiner Heimatstadt, die ihm den Stoff für seine Romane liefert.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: gordonBelow/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-279-3

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Für meinen Bruder Manfred

Meeresstrand

Ans Haff nun fliegt die Möwe,

Und Dämmrung bricht herein;

Über die feuchten Watten

Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet

Neben dem Wasser her;

Wie Träume liegen die Inseln

Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes

Geheimnisvollen Ton,

Einsames Vogelrufen –

So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise

Und schweiget dann der Wind;

Vernehmlich werden die Stimmen,

Die über der Tiefe sind.

Theodor Storm, 1817–1888

1

Waldemar Flottmann hatte seinen Lieblingsort gefunden. Hier an der Halbmondwehle tankte er die notwendige Energie für die Arbeit. Eine innere Unruhe, die er nicht begründen konnte, hatte ihn früh aufwachen lassen. Jetzt stand er auf der Fußgängerbrücke, die über den Sielzug führte. In der Ferne grasten Gallowayrinder zwischen Windkraftanlagen, deren Flügel sich mühsam drehten. Die ersten Sonnenstrahlen versuchten den Nebel zu durchdringen und verzauberten die Landschaft – ein seltenes Schauspiel um diese Jahreszeit. Regen hatte die Temperatur über Nacht spürbar absinken lassen. Flottmann zog den Kragen seiner Jacke enger und sog die salzige Seeluft geräuschvoll durch die Nase ein.

Das Schöpfwerk spiegelte sich im ruhigen Gewässer. Er stieß mit dem Fuß einen Kieselstein von der Brücke, und von einer Sekunde auf die andere stimmte das Spiegelbild nicht mehr mit der Realität überein. Das Gebäude krümmte sich und zerfloss vor seinen Augen. Nach einiger Zeit ordnete es sich erneut. Manchmal, so ging es dem Kriminalbeamten durch den Kopf, fügten sich auch die Puzzlestücke langwieriger Ermittlungen auf ähnlich wunderbare Weise zu einem stimmigen Bild.

Er lehnte sich über das Geländer und blickte in sein eigenes Antlitz: Hauptkommissar Waldemar Flottmann, geschieden, seit einem halben Jahr bei der Husumer Polizei, siebenundvierzig Jahre alt, kaum graue Strähnen in den schwarzen, zurückgekämmten Haaren, maximal zwanzig Kilogramm zu viel auf den Rippen. Aber ein aufrechter Kerl, der den Kollegen in Bonn nur wenige ungeklärte Fälle zurückgelassen hatte. Alles in allem war er an diesem Morgen mit sich zufrieden. Die kühle Nordseeluft hatte seine innere Unruhe hinweggeblasen und neue Lebensgeister geweckt.

Er warf einen letzten Blick in Richtung Schöpfwerk. Erst jetzt nahm er eine Gestalt wahr, die reglos am Ufer der Wehle kauerte. Er setzte das Fernglas an: eine junge Frau mit blonden, schulterlangen Haaren, viel zu dünn gekleidet für den kühlen Morgen.

Flottmann verließ die Brücke und ging die schmale Straße entlang. Sie bemerkte ihn nicht einmal, als er vor ihr stand. Sein Blick fiel auf ihre linke Hand, die auf dem Knie ruhte. Vom Ringfinger war nur ein fleischiger Stumpf zu sehen. Ihr T-Shirt war mit Blut getränkt. Er wollte etwas sagen, doch der Anblick raubte ihm für einen Moment die Sprache. Als Kriminalist hatte er so manches erlebt, aber die Szene hatte etwas, das ihn tief berührte.

Die Frau drehte langsam den Kopf zur Seite. Ihre glasigen Augen starrten ihn an. Dann stieß sie einen Schrei aus, der nicht enden wollte. Er stolperte rückwärts auf die Straße. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Aber es dauerte nicht lange, bis professionelle Routine die Gefühle in den Hintergrund drängte. Er zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte die 112. Mit präzisen Worten übermittelte er die erforderlichen Informationen an die Rettungsleitstelle.

Flottmann traute sich nicht, erneut auf die junge Frau zuzugehen und sie anzusprechen. Er stand wie angewurzelt am Straßenrand und ließ sie nicht aus den Augen. Nur ab und zu ging sein Blick Richtung Bundesstraße, aus der der Rettungswagen kommen würde. Erleichtert atmete er auf, als die Hilfe endlich eintraf. Aus dem Fahrzeug stiegen ein junger Mann in Sanitätskleidung und eine Ärztin mit strohblonden Haaren und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Sie stellte sich als Lena Abendroth vor.

Nachdem Flottmann die Situation geschildert hatte, ging sie auf die Patientin zu und setzte sich neben sie. Vor der Ärztin schien die junge Frau keine Angst zu haben. Flottmann beobachtete die Szene aus der Entfernung. Er konnte nicht hören, was gesprochen wurde, hatte aber den Eindruck, dass es Lena Abendroth gelungen war, eine Verbindung zu ihr aufzubauen.

»Sie ist gut«, sagte der Sanitäter. »Sie versteht etwas von Menschen und bleibt immer ruhig, egal, was passiert.«

Nach einigen Minuten kamen die beiden Frauen zu ihnen herüber. Als das Mädchen in den Transporter stieg, traf Flottmann ein Blick, traurig, verstört, hilfesuchend.

Der Blick verfolgte ihn noch während der Fahrt ins Büro und brachte Erinnerungen aus seinem langen Berufsleben hervor, die er hatte zurücklassen wollen. Fast immer waren seine Ermittlungen mit Schicksalen verbunden gewesen, die für die Beteiligten nur schwer zu ertragen gewesen waren. Und so manches Mal hatte er nicht die notwendige Distanz zu den Ereignissen aufgebracht. Aber das hier war etwas anderes. Das Mädchen lebte und würde voraussichtlich genesen. Trotzdem war ihm die Begegnung nahegegangen, mehr, als er es für möglich gehalten hätte.

Er bog in die Finkhauschaussee ein und beschleunigte seinen Wagen. Die Strecke bis zur Dienststelle in der Poggenburgstraße legte er zurück, ohne die Umwelt und den Straßenverkehr bewusst wahrzunehmen. Stattdessen verfolgten ihn die inneren Bilder, verbunden mit mehr oder weniger passenden Geschichten über das, was geschehen sein konnte.

Als er auf den Parkplatz fuhr, versuchte er in den Arbeitsmodus umzuschalten. Das Mädchen war in guten Händen, und auf ihn warteten dringende Aufgaben. Den Bericht über den Einbruch in die Apotheke hätte er bereits vor Tagen fertigstellen müssen, um zehn Uhr stand die Vernehmung eines Zeugen in der Brandstiftungssache Papiercontainer an, und mit dem Cannabisanbau in der Kleingartenanlage musste er sich ebenfalls befassen. Zu allem Überfluss landeten zurzeit Vorgänge auf seinem Schreibtisch, die Sache des Dienststellenleiters gewesen wären. Aber der lag wegen Herzproblemen im Kieler Universitätskrankenhaus.

Der Kollege und Mitarbeiter Gustav Hilgersen schlürfte aus einem Becher mit der Aufschrift »Plattschnacker«, als Flottmann das gemeinsame Büro betrat. Die beiden waren nicht nur äußerlich recht verschieden. Der zehn Jahre jüngere Hilgersen war einen Kopf kleiner als Flottmann und von drahtiger Statur. Seine dunkelblonden, kurz geschnittenen Haare wiesen symmetrische Geheimratsecken auf. Seine Nase war leicht gebogen und die Gesichtshaut etwas rötlich, als hätte er einen Schluck zu viel getrunken. Er war meistens redselig und konnte anderen mit seiner Art so manches Mal auf die Nerven gehen. Jedenfalls empfand Flottmann das so.

»Moin«, grüßte dieser und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Moin. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«

»Was?«

»Ich erkenne den Gemütszustand eines Menschen an der Art, wie er das Moin ausspricht.«

»Was für ein Quatsch«, brummte Flottmann.

»Na ja, vielleicht funktioniert das bei dir wegen deines rheinischen Akzents nicht.«

Flottmann hatte keine Lust, etwas zu entgegnen. Das Mädchen von der Halbmondwehle spukte immer noch in seinem Kopf herum. Die Hand mit dem Fingerstumpf, das Blut – das war kein Unfall gewesen. Er blätterte eine Zeit lang in der Akte »Cannabis«, ohne einen zusammenhängenden Satz aufzunehmen. Schließlich klappte er die Mappe zu.

»Ich muss noch mal weg. Du übernimmst den Zeugen. Er kommt um zehn«, rief er Hilgersen im Gehen zu.

»Welchen Zeugen?«

»Papiercontainer, Brandstiftung. Du weißt Bescheid. Der Vorgang liegt auf meinem Schreibtisch.«

Hilgersens Antwort hörte er nicht mehr.

In der Klinik fragte er nach der Ärztin. Sie holte ihn am Empfang ab und führte ihn in einen Aufenthaltsraum. Flottmann zeigte seinen Dienstausweis.

»Setzen Sie sich bitte. Sie sind von der Polizei? Dann hat Sie heute Morgen jemand benachrichtigt?«

»Ich war rein zufällig vor Ort. Das heißt, ich bin oft dort, um mich sozusagen auf den Tag einzustimmen.«

»Eine Art von Meditation?« Sie lächelte und neigte dabei den Kopf ein wenig zur Seite. Flottmann schätzte sie auf Anfang vierzig, aber ihre Ausstrahlung und Gestik wirkten jugendlich unbekümmert. Das passte so gar nicht in das Bild, das er von den Vertretern ihres Berufsstandes hatte.

»Ja, das könnte man so sagen. Der Anblick der Natur hilft manchmal, Dinge ins rechte Licht zu rücken. Wie geht es Ihrer Patientin?«

»Ich bin nicht die behandelnde Ärztin. Aber ich bin informiert. Sie heißt Katrin Lehrbach. Die Eltern wurden benachrichtigt. Sie sind hier.«

»Wissen Sie, was passiert ist?«

»Nein. Sie ist kaum ansprechbar und wird auch in den nächsten Tagen keine Fragen beantworten können.«

»Der Finger?«

»Wurde mit einer stumpfen Klinge abgetrennt. Der Knochen ist zersplittert. Wir werden sie operieren müssen. Eine Wiederherstellung ist natürlich nicht möglich. Selbst wenn wir den Finger gefunden hätten, wäre eine Replantation kaum erfolgversprechend.«

»Ich würde gerne mit ihren Eltern sprechen.«

»Im Moment ist das ungünstig. Sie werden sicher noch einige Stunden bei ihrer Tochter bleiben. Das Wichtigste ist jetzt die psychologische Betreuung. Das Mädchen muss ein traumatisches Erlebnis gehabt haben.«

Flottmann nickte. »Hat sie weitere Verletzungen?«

»Nein, und um Ihre nächste Frage zu beantworten: Es gibt keine Hinweise auf eine Vergewaltigung.«

Flottmann ließ sich die Adresse der Eltern geben und verabschiedete sich. Das Lächeln der Ärztin gefiel ihm. Als er in den Flur trat, konnte er endlich wieder normal atmen. Es hatte ihn angestrengt, unablässig den Bauch einzuziehen.

»Wie lief die Befragung?« Flottmanns Drehstuhl quietschte, als er sich niederließ.

»Der Fall ist fast abgeschlossen«, sagte Hilgersen. »Der Rentner hat den Täter eindeutig erkannt. Es war ein Bengel aus der Nachbarschaft. Die Aussage liegt bei den Akten. Wer schreibt den Bericht?«

»Du natürlich. Es sind deine Lorbeeren.«

»Sehr großzügig.«

»So bin ich.«

»Wie lief es bei dir?«

»Ich war im Krankenhaus.«

»Was Ernstes?«

»Vielleicht.« Flottmann erzählte Hilgersen sein Erlebnis vom Morgen.

»Merkwürdige Sache. Ein Unfall?«

»Nein. Das glaube ich nicht. Wir sollten mit der Familie des Mädchens reden.«

Es war später Abend, als Flottmann und Hilgersen die Eltern aufsuchten. Sie wohnten in einer Doppelhaushälfte am Rande der Stadt. Das Gebäude mochte aus den fünfziger Jahren stammen. Die Tür wurde geöffnet, noch bevor Hilgersen den Klingelknopf drückte. Eine Frau von Mitte vierzig mit zerzaustem Haar und rotem Gesicht stand vor ihnen. Sie trat beiseite und ließ die Männer hinein.

Wortlos dirigierte sie die beiden ins Wohnzimmer. Sie setzte sich aufs Sofa und bat die Besucher, in zwei Sesseln Platz zu nehmen.

»Mein Name ist Flottmann. Wir hatten miteinander telefoniert. Mein Kollege Hilgersen. Ihr Mann …?«

»Kommt gleich.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

Herr Lehrbach war von auffallend kleiner, schlanker Statur. Er schien etwas älter als seine Frau zu sein. Aber der Eindruck konnte täuschen. Er stellte sich vor den Couchtisch, die rechte Hand zu einer Faust geballt. Dann öffnete er sie und warf einen Gegenstand auf den Tisch. Flottmann erkannte eine SD-Karte.

Lehrbach ließ sich neben seiner Frau aufs Sofa fallen und ergriff ihre Hand.

»Bitte erzählen Sie uns, was passiert ist.« Flottmann beugte sich vor und nahm die Speicherkarte an sich.

»Man hat Katrin entführt. Vor vier Tagen. Hunderttausend Euro sollten wir zahlen. Wir haben gezahlt und all ihre Anweisungen befolgt.« Lehrbach verstummte.

»Sie sind vermögend?«

»Sieht das hier etwa so aus? Ich bin Handwerker, angestellt, meine Frau arbeitet halbtags beim Bauamt. Die Bank hat uns einen Kredit eingeräumt. Freunde haben uns den Rest des Geldes geliehen.«

»Sie haben die Polizei nicht eingeschaltet?«

»Doch. Wir haben noch in der Nacht angerufen. Falls unsere Tochter bis zum Morgen nicht auftauchen würde, könnten wir eine Vermisstenanzeige aufgeben, hat man uns geraten. Mädchen in ihrem Alter würden schon mal über die Stränge schlagen und eine Nacht fortbleiben. Katrin ist siebzehn, aber sie hätte das nie getan, ohne uns zu benachrichtigen.«

»Wann hatten Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«

»Sie ging am frühen Nachmittag aus dem Haus, zu einer Freundin. Abends wollten die beiden in eine Diskothek. Wir wussten, dass sie erst spät nach Hause kommen würde. Meine Frau schläft in solchen Nächten kaum. Mit einem Ohr horcht sie, ob die Eingangstür geöffnet wird und Katrin zurückkommt. Gegen drei Uhr hat sie mich geweckt. Wir haben zusammen noch eine Zeit lang im Wohnzimmer gewartet. Schließlich haben wir bei Katrins Freundin Sibylle angerufen. Als wir erfuhren, dass sie gar nicht bei ihr angekommen war, haben wir die Polizei benachrichtigt. Dann kam dieser Anruf. Eine verzerrte Stimme sagte, wir würden weitere Anweisungen erhalten. Am Morgen lag der Umschlag mit der SD-Karte im Briefkasten. Auf dem Chip ist ein Video. Wenn Sie das gesehen haben, werden Sie verstehen.« Er unterbrach seine Schilderung und wischte sich mit der Hand die Tränen ab. »Wir haben keine Vermisstenanzeige aufgegeben. Wir waren uns einig.« Er sah seine Frau an. Sie senkte den Kopf und nickte kaum sichtbar.

»Haben Sie den Umschlag noch?«

»Ja. Den gebe ich Ihnen. Sie müssen die Täter fassen, Herr Kommissar. Unsere Tochter hat Schlimmes durchgemacht.«

Flottmann nickte. »Sie haben das Geld übergeben?«

»Ja. Genau abgezählt, in Fünfzig-Euro-Scheinen. Auf diesem schrecklichen Video war der Ort beschrieben, an dem ich das Geld übergeben sollte, eine Wiese in der Nähe von Löwenstedt. Der Punkt war mit einem Steinkreuz markiert. Ich sollte um fünfzehn Uhr dort sein, war aber lange vorher da. Irgendwann kam ein Flugzeug angeflogen.«

»Ein Flugzeug?«

»Ein kleines Ding mit vier Propellern.«

»Ein Quadrocopter?«, fragte Hilgersen.

»Ja. Ich glaube, so nennt man die Dinger. Es blieb in einigen Metern Entfernung in der Luft stehen. An der Unterseite war ein Kasten befestigt. Eine Klappe öffnete sich. Nachdem ich das Geld hineingelegt hatte, ging sie wieder zu, und das Gerät flog davon, Richtung Norden. Zu Hause haben wir auf einen Anruf gewartet. Aber es kam keine Nachricht. Dann rief das Krankenhaus an. Sie waren es, der meine Tochter gefunden hat?« Lehrbach sah Flottmann an.

»Ja. Sie ist stark traumatisiert, nicht wahr?«

»Sie redet noch nicht. Aber das wird wieder, meinen die Ärzte.«

»Haben Sie irgendetwas Besonderes am Übergabeort beobachtet? Ein Fahrzeug vielleicht?«

Lehrbach zögerte einen Moment. »Nein.«

»Wir wollen Sie nicht weiter quälen. Wenn wir noch Fragen haben, rufen wir Sie an. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns.« Flottmann legte eine Visitenkarte auf den Tisch und stand auf. Den Speicher und den Briefumschlag, den Lehrbach brachte, steckte er in eine Schutzhülle und verstaute diese in der Jackentasche.

»Bitte erzählen Sie niemandem von der Verletzung Ihrer Tochter«, sagte Flottmann. »Das ist wichtig für unsere Ermittlungen.«

»Kannst du dir einen Reim darauf machen?«, fragte Hilgersen, während er auf die Bredstedter Straße fuhr. »Wer erpresst Lösegeld von einem einfachen Handwerker? Hunderttausend – viel Risiko für relativ wenig Geld. Eine Übergabe mit einer Drohne. Gab es so etwas schon mal?«

»Nicht dass ich wüsste. Welche Nutzlast können die Dinger tragen?«

»Je nachdem. Ein bis zwei Kilogramm, schätze ich.«

»Eben. Hunderttausend in Fünfzig-Euro-Scheinen ergeben knapp zwei Kilo.«

»Woher weißt du das?«

»Menschen meiner Generation können noch mit dem Kopf rechnen. Eine Fünfzig-Euro-Note wiegt etwas weniger als ein Gramm. Zweitausend Scheine sind dann nach Adam Riese?«

»Zweitausend Gramm. Okay. Die Übergabe ist der kritischste Teil einer Erpressung.« Hilgersen kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Aber warum hat es diese Leute getroffen?«

»Vielleicht ein zufällig ausgewähltes Opfer, das ohne Aufsehen entführt werden konnte. Hunderttausend bekommt jeder im Notfall irgendwie zusammen. Der abgeschnittene Finger – wer würde da nicht jeden Hebel in Bewegung setzen? Ich befürchte, wir müssen mit weiteren Entführungen rechnen. Lass eine Kopie des Videos anfertigen. Dann geht beides, Umschlag und SD-Karte, zur KTU. Auf dem Umschlag klebt eine abgestempelte Briefmarke. Offensichtlich ist er ganz einfach per Post geschickt worden. Die Täter müssen das Video noch am Tag der Entführung gedreht und versandt haben. Post, die vor siebzehn Uhr in den Briefkasten geworfen wird, erreicht in der Regel am nächsten Morgen den Empfänger, bundesweit.«

»Die Eltern sollten den Film erhalten, bevor sie die Polizei einschalten würden«, sagte Hilgersen. »Aber es wäre doch einfacher gewesen, ihnen das Video per E-Mail zu schicken.«

»E-Mail? Nicht jeder hat so was. Ich auch nicht. Außerdem hinterlässt das elektronische Spuren.«

»Das Telefonat auch.«

»Das wird sich kaum zurückverfolgen lassen. Eine unregistrierte SIM-Karte, Einwahl an irgendeinem Ort. Wie die Geldübergabe mit der Drohne zeigt, sind die Entführer keine Dilettanten. Ihre Methoden sind unkonventionell, aber nicht dumm. Sie müssen nicht einmal mit der Ermordung der Geisel drohen. Das Schockvideo erfüllt seinen Zweck. Je nachdem können sie den Druck sogar noch durch weitere Grausamkeiten erhöhen.«

»Scheißkerle.«

»Da stimme ich dir zu, obgleich wir genau genommen nicht einmal sicher sein können, dass es Kerle sind, mit denen wir es zu tun haben.«

2

Es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr, als Flottmann in der Hafenkneipe eintraf. Er war auf eigenen Wunsch vom Rheinland in den Norden versetzt worden. Nach seiner Scheidung war er dem beruflichen Stress nicht mehr gewachsen gewesen. In der kleinen Stadt Husum würde er eine ruhigere Kugel schieben können. Es sollte eine Art Neuanfang werden, hier und da ein Einbruch, kleine Betrügereien und Taschendiebstähle. So hatte er es sich vorgestellt. Aber er ahnte bereits jetzt, dass seine Erwartungen nicht erfüllt werden würden.

Einmal hatte er mit Monika Urlaub an der Küste verbracht. Es war traumhaftes Wetter gewesen, und aus irgendeinem Grund hatten sie sich während dieser Zeit gut verstanden. Statt über Probleme des Zusammenlebens zu diskutieren, hatten sie den Augenblick genossen. Für kurze Zeit hatte er gedacht, dass sich alles wie durch Zauberhand eingerenkt habe, so wie ein Chiropraktiker mit einem Ruck eine Blockade beseitigte. Aber pünktlich zum Ende der Reise war alles beim Alten gewesen: unterschwellige Vorwürfe, Unterstellungen und der Streit um Nichtigkeiten.

Ob seine Entscheidung, den Neuanfang im hohen Norden zu versuchen, unbewusst mit seinen positiven Urlaubseindrücken zusammenhing, wusste er nicht. Weder das Wetter noch die Menschen zeigten sich im wahren Leben stets von der freundlichen Seite. Immerhin schienen die Uhren hier langsamer zu gehen. Anfangs hatte es ihn genervt, wenn die Frau an der Kasse seelenruhig einen Klönschnack mit einer Kundin hielt, während die Tiefkühlware in seinem Einkaufswagen taute. Auch das Autofahren in der Stadt mit dreißig Stundenkilometern, obwohl Tempo fünfzig erlaubt war, hatte er erst lernen müssen.

Dass er jemals im Norden heimisch werden würde, bezweifelte er. Trotzdem hatte er sich vorgenommen, Land und Leute besser kennenzulernen. Nur so, glaubte er, könne er sich in Opfer und Täter hineinversetzen, und er war überzeugt, dass der richtige Ort für eine derartige »Milieustudie« eine Kneipe sei. Ein oder zwei Bier und eine Konversation mit den Ureinwohnern konnten nicht schaden.

Den Mann neben ihm am Tresen nannten die anderen Gäste Winnie.

»Tourist?«, fragte dieser, nachdem ihm der Gesprächsstoff mit seinem Partner zur Linken ausgegangen war.

»Zugereist. Aus dem Rheinland.«

»Sauerbraten und Karneval?«

»Ich mag beides nicht.«

Die weitere Unterhaltung beschränkte sich auf das Wetter und Winnies Ischiasnerv. Zu den schweigsamen Vertretern Nordfrieslands gehörte Winnie nicht. Obwohl er sich bemühte, Hochdeutsch zu reden, hatte Flottmann Mühe, Winnies Ausführungen zu folgen. Schließlich gab er es auf, nickte jedoch und lachte aus Höflichkeit an mehr oder weniger passenden Stellen des Monologs.

Ihm war ein Mann aufgefallen, der allein an einem Tisch saß. Sein gefülltes Bierglas umfasste er mit beiden Händen, als wollte er den Inhalt erwärmen. Er war von schlanker Statur, Strähnen des dunkelblonden Haars reichten bis zu den Augen. Er schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Seine angespannte Haltung und der starre Blick ins Leere weckten Flottmanns Neugier.

»Der Mann dort …?«

»Dat is Leon. Der sitzt gern alleen. Der hat ’ne Macke. Jeder hier hat eine.« Winnie grinste. »Ein Mensch ohne Eigenarten ist kein Mensch.«

»Konfuzius?«

»Winfried Paulsen.« Winnie zeigte erneut seine gelben Zähne. »Wie heißt du?«

»Waldemar.«

»Den Namen kann ich mir gut merken. Ich hatte mal einen Dackel. Der hieß Waldi. Dat is doch de Abkürzung von Waldemar, ne?«

Flottmann antwortete nicht, sondern bestellte zwei Bier.

»Jedenfalls: Leon is schon wat Besonderes. Er hört die Krokusse wachsen. Heute macht er wieder seine Konfrontationstherapie.«

Winnie war anzusehen, dass er sich über Flottmanns fragende Mimik amüsierte. »Er ist geräuschempfindlich, versucht, sich abzuhärten. Dabei ist er Musiker. Kannst di dat vörstellen?«

»Nein.«

»Ich hab ihn mal in Garding, in der Musikkneipe Lütt Matten, gehört. Der hatte Stöpsel in ’n Ohr. Und dann het he op siener Akustikklampfe speeld – Wahnsinn! Mit Stöpsel im Ohr, dat he keen Lärm und keen Beifall afkrigt.« Winnie trank sein frisch gezapftes Bier und wischte sich den Schaum aus dem Bart. »Aber dat is noch nicht allns. Er sammelt Geräusche wie andere Bierdeckel oder Briefmarken. Er is immer mit ’nem Mikrofon unterwegs, nimmt Möwengeschrei auf, Meeresrauschen, Kirchenglocken und Hundegebell.«

Flottmann tat Paulsen den Gefallen und machte ein noch überraschteres Gesicht.

Während er im weiteren Verlauf des Abends eine unbestimmte Anzahl Flensburger trank, hörte er sich die Szenen einer gescheiterten Beziehung an. Zu diesem Thema hätte auch er etwas beitragen können, wäre aber vermutlich nicht zu Wort gekommen. Kurz nach Mitternacht beendete er seine Milieustudie. Der einsame Gast hatte das Lokal bereits verlassen.

Die Kopfschmerzen am nächsten Morgen hielten sich in Grenzen. Sorgen bereiteten Flottmann eher die Kalorien, die er am Vorabend zu sich genommen hatte. Dem umsatzfördernden Spruch auf den Bierdeckeln »Bier macht schlank« traute er nicht so recht. Sein übergewichtiger Hausarzt hatte ihm verordnet, fünfzehn Kilogramm abzuspecken. Anderthalb Kilo hatte er in zwei Wochen geschafft. Nach einfacher Hochrechnung würde er bereits in viereinhalb Monaten das Ziel erreicht haben. Rückschläge wie gestern waren bei dieser Kalkulation allerdings nicht berücksichtigt.

Täglich rief er Dr. Lena Abendroth vom Büro aus an, um sich nach dem Zustand des Mädchens zu erkundigen. Die Ärztin versicherte ihm auch diesmal, dass er sie mit seinen Fragen nicht nervte. Die Patientin sei jedoch noch nicht in der Lage, über die Ereignisse zu sprechen. Die Operation am Finger sei gut verlaufen. Über die psychischen Verletzungen könne sie nichts sagen. Sie wies auf ihre Schweigepflicht hin, versprach aber, sich zu melden, sobald sich Katrins Zustand stabilisiert habe.

»Ist sie nett?«, fragte Hilgersen mit einem Grinsen.

»Wer?«

»Die Ärztin. Man sieht deinem Gesichtsausdruck an, dass sie nett ist.«

»Hobby-Freud, kümmere dich lieber um den Containerbrand.«

»Hab schon mit den Eltern gesprochen. Die können sich nicht vorstellen, dass ihr Junge so etwas getan hat.«

»Hab ich mir gedacht. Wie alt ist er?«

»Er wird in zwei Monaten vierzehn.«

»Verstehe. Nicht strafmündig. Also konzentrieren wir uns auf den Entführungsfall. Das Gutachten der KTU ist da.« Flottmann druckte das Dokument, das er per E-Mail erhalten hatte, aus und las es aufmerksam durch. Auf dem Briefumschlag waren DNA-Spuren einer männlichen Person gefunden worden, die aber zu keinem Treffer in der Datenbank geführt hatten. Das Video wies einige Besonderheiten auf. Es war mit einer hochwertigen Kamera gedreht worden. Die Kollegen hatten sogar Hersteller und Typ bestimmen können. Flottmanns besonderes Interesse galt jedoch den Ergebnissen der phonetischen Untersuchung, die vom BKA Wiesbaden durchgeführt worden war.

»Und? Was steht drin?«, fragte Hilgersen.

»Männliche Stimme, zirka dreißig Jahre alt, regionalsprachliche Prägung: Norddeutschland.«

»Regio-was?«

»Zumindest einer der Entführer stammt aus der Gegend.«

»Unsinn. Ein Norddeutscher würde so etwas nie tun. Ich tippe auf Osteuropäer. Die Stimmen waren doch verzerrt. Woher will man wissen …?«

»Viel interessanter ist, was die Analyse der Hintergrundgeräusche ergeben hat. Das Versteck muss in der Nähe einer Bahnlinie liegen. Es ist ein vorbeifahrender Zug zu hören«, unterbrach Flottmann seinen Kollegen.

»Das ist ’n Ding. Wie viele Strecken gibt es in Schleswig-Holstein?«

»Zu viele.«

»Aber wenn Datum und Uhrzeit eingeblendet wurden, können wir den Ort genau ermitteln.«

»Ja, wenn. Wurden aber nicht.«

»Ja, wenn. Wenn Kohschiet Bodder weer, brukten wi nix zu koopen.«

»Was?«

»Wenn Kuhscheiße Butter wäre, brauchten wir nichts zu kaufen. Das ist eine alte norddeutsche Weisheit.«

»Weisheit. Soso.«

3

Leon Gerber stand mit geschlossenen Augen an der Kreuzung. Dieses Mal wollte er eine Viertelstunde dort aushalten. Das wären zwei Minuten länger als in der letzten Woche.

Er wusste, dass ihn Menschen anstarrten. Manchmal wurde er angesprochen. Aber er reagierte weder auf die Stimmen, die ihm Hilfe anboten, noch auf Provokationen und Beschimpfungen. Das gehörte zu seiner selbst entwickelten Therapie. Mit der Zeit würden sich die Leute an ihn gewöhnen. Wenn er sich auf die vorbeifahrenden Autos konzentrierte, konnte er die Stimmen ausblenden. Sie erreichten dann nicht mehr sein Bewusstsein, und er konnte seine Aufmerksamkeit mühelos auf einzelne Geräusche fokussieren.

Er stand neben der Fußgängerampel und zählte die Fahrzeuge: Pkws, Kleintransporter, Lkws. Die Zählung würde exakt sein. Auch waren die Autotypen leicht zu unterscheiden. Vor seinem inneren Auge entstanden ganz spezifische Bilder, geometrische Figuren und Farben. Aber er konnte sie nicht in allen Fällen einer bestimmten Marke zuordnen. Manchmal öffnete er kurz die Augen, um die inneren und äußeren Bilder in Übereinstimmung zu bringen. Dann sah er, dass die verzerrten Dreiecke mit den roten Punkten und dem giftgrünen Rand zu einem Daimler der C-Klasse gehörten und die gekreuzten Linien mit den blauen und grauen Rechtecken zu einem Golf GTI der Modellreihe VII. An diesem Tag lief es nicht gut. Gerber spürte Übelkeit aufsteigen, als mehrere Einsatzwagen mit eingeschaltetem Martinshorn an ihm vorbeirasten. Nach weniger als zehn Minuten brach er seinen Versuch ab. Wieder einmal musste er eine Niederlage einstecken.

Als Kind hatten Ärzte seine Geräuschempfindlichkeit mit Autismus in Verbindung gebracht. Heute würde man vermutlich den Begriff Hochsensibilität verwenden. Aber auch diese »Diagnose« traf nur begrenzt zu. Sie erklärte zwar seine Empfindlichkeit, aber nicht seine gleichzeitige Faszination für Geräuschereignisse jeglicher Art und schon gar nicht, dass er beim Hören Figuren und Farben wahrnahm. Erst als Erwachsener wurde ihm klar, dass er auch in dieser Beziehung anders war als die Mehrzahl seiner Mitmenschen.

Es gab Künstler, die ihre inneren Bilder mit Farbe und Pinsel auf die Leinwand bringen konnten. Leider fehlte ihm dieses Talent. Die Musik war sein Ding, Gitarrenmusik. Er konnte Töne und Lärm in Kompositionen verwandeln. Oft entstanden beim Gitarrenspiel dann ähnliche Farben und Muster in seinem Kopf wie beim ursprünglichen Geräuscherlebnis, jedoch waren sie ruhiger, friedlicher und harmonischer. Einige Male hatte er vor Publikum gespielt, Beifall, zuletzt aber auch Pfiffe geerntet, weil er den Vortrag zu oft unterbrochen hatte, um seine Gitarre zu stimmen. Seither konzentrierte er sich auf seinen Job als Studiomusiker, mit dem er finanziell ganz gut über die Runden kam. Er wurde nur von Musikern gebucht, die akzeptierten, dass er meistens mehrere Takes benötigte, bevor er mit seiner Arbeit zufrieden war, und keiner seiner Stammkunden diskutierte mit ihm darüber, wann das der Fall zu sein hatte. Leon Gerber hatte sich in den letzten Jahren in der Szene einen Namen gemacht, und immer öfter wurde er auf dem Plattencover einer Band als Gastmusiker erwähnt, was ansonsten eher unüblich war.

Er wohnte östlich der Stadt in der Ortschaft Rosendahl, in einem alten Haus, das er selbst in jahrelanger Kleinarbeit renoviert hatte. Als er die schwere Holztür öffnete, empfing sie ihn mit den gewohnten Geräuschen. Jeder andere hätte die Scharniere geölt, aber Gerber würde das vertraute Knarren vermissen, ebenso wie das Knacken im Gebälk, das Rauschen der Heizkörper im Winter und das monotone Ticken der Küchenuhr. Nur der schallisolierte Anbau, den er als Tonstudio nutzte, besaß keine eigene akustische Aura. Aber wenn er auf seiner Gitarre spielte, Lieder komponierte oder Geräusche bearbeitete, die er der Umwelt entlockt hatte, erwachte das Tonstudio zum Leben.

Manchmal kam die sechsjährige Sophia vorbei, die zwei Häuser weiter wohnte. Das Erraten von Geräuschen war eines ihrer Lieblingsspiele. Sie saß dann mit dem überdimensionalen Kopfhörer auf einem Drehstuhl, den er bis zum Anschlag hochgestellt hatte. »Hast du ein Kissen für mich?«, hatte sie ihn einmal gefragt. Nein, er besaß kein einziges. Auf Sophias »Warum?« hatte er spontan geantwortet, er habe Angst vor Kissen. Sie hatte gelacht. Vielleicht hatte sie die Antwort als Scherz aufgefasst oder sie einfach akzeptiert. Wenn er über seine irrationalen Ängste nachdachte, fand er sie selbst lächerlich. Aber Verstand und Gefühl konnten weit auseinanderliegen. Irgendwann würde er die Ursache für seine Probleme finden. Das würde helfen, sie zu bekämpfen.

Sophias freudiges Lachen, wenn sie richtig geraten hatte, konnte ihn aus jeder noch so tiefen Depression holen. Sie hatte das Lachen ihrer Mutter Laura, die alleinerziehend war und halbtags in einer Apotheke arbeitete. Gerber kannte Laura aus der Schulzeit. Er hatte sie nett gefunden, und vielleicht wäre sie für ihn erreichbar gewesen. Aber seine Schüchternheit hatte ihm im Wege gestanden. Seine späteren, meist nur kurz andauernden Beziehungen waren stets vom anderen Geschlecht ausgegangen. Die Initiative zu ergreifen war nicht sein Ding. Das erforderte Mut. Man musste das Risiko eingehen, abgelehnt, vielleicht sogar ausgelacht zu werden. Von diesen Demütigungen hatte er in seiner Kindheit genug erfahren.

Er machte es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich, zündete eine Kerze an und schenkte sich ein Glas Wein ein. Leises Hundegebell drang von draußen durch die doppelverglasten Fenster. Dann wurde es still. Für einen Moment war nur noch das Flackern der Kerze zu hören. Aber die Stille würde nicht lange andauern. Stets wurde sie nach kurzer Zeit unterbrochen. Auch jetzt konnte er sie nicht genießen, sondern wartete mit Unbehagen auf das nächste Geräusch, das im ungünstigsten Fall der Nachbar lieferte, den Gerber nicht mochte.

Um dem Angriff zuvorzukommen, schaltete er den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Er blieb an einem Beitrag hängen, bei dem es um eine Fahndung der Polizei ging. Mehrmals wurde ein einziger Satz eingespielt: »Wenn Sie unseren Anweisungen folgen, ist sie bald wieder bei Ihnen – keine Polizei.«

Hektisch notierte er sich die eingeblendete Telefonnummer. Im Halbdunkel kritzelte er sie mit einem Bleistift auf den Rand einer Zeitung. Er schaltete den Fernseher aus und lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. Nein, die Stimme kannte er nicht. Aber da war etwas anderes. Ein Geräusch im Hintergrund. Sicher hatten die Spezialisten der Polizei es genau untersucht. Aber vielleicht – wenn er die Originalaufnahme hätte …

Er verwarf seinen Gedanken und ging ins Bett.

Aber die Idee vom Vorabend kehrte zurück, als Gerber aufwachte. Sie war auch noch da, als er frühstückte, und wurde übermächtig, als er in seinem Tonstudio die ersten Akkorde auf der Gitarre spielte. Er begab sich ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und wählte die Nummer, die er am Vortag aufgeschrieben hatte. Die Frau am anderen Ende der Leitung verstand ihn nicht. Es gehe allein um die Stimme, er könne gerne wieder anrufen, wenn ihm dazu etwas einfalle. Die Stimme sei von der Kriminaltechnik aufbereitet worden. Er könne sich die Aufnahme jederzeit im Internet anhören. Sie nannte ihm die Adresse und bedankte sich für seinen Anruf.

Gerber war es gewohnt, Enttäuschung und Ärger hinunterzuschlucken. Aber in manchen Fällen konnte er hartnäckig sein. Es war nicht schwer, die Durchwahl des zuständigen Kommissars herauszufinden.

»Kripo Husum, Hauptkommissar Flottmann«, meldete sich ein Mann, dessen Atemgeräusche beim Sprechen deutlich zu hören waren.

»Mein Name ist Gerber. Ich rufe wegen des Falls Katrin L. an.«

»Wegen unseres Aufrufs? Sie kennen die Stimme?«

»Nein. Aber vielleicht kann ich trotzdem helfen.«

Gerber hörte ein leises Knacken in der Leitung und einen kaum vernehmbaren Widerhall seiner letzten Worte.

»Es ist okay, wenn Sie das Gespräch aufzeichnen«, sagte er.

»Was? Was wollen Sie?« Der Kommissar klang unwirsch.

»Im Hintergrund ist ein Zug zu hören.«

»Hm. Sie haben ein feines Gehör, Herr …«

»Gerber.«

»Herr Gerber. Die Sache mit der Bahn ist uns bekannt. Uns geht es um die Stimme. Rufen Sie bitte unsere Hotline an.«

»Der Zug fährt an einem Hindernis vorbei, vielleicht an einem Haus.«

»Was? Ich verstehe nicht.«

Gerber antwortete nicht sofort. Er war sich sicher, dass der Kommissar ihn verstanden hatte. »Die gesendete Aufnahme ist nur ein Ausschnitt, nicht wahr?«

»Hm – ja.«

»Bitte geben Sie mir die vollständige Aufnahme.«

»Das ist leider nicht möglich. Was wissen Sie über den Fall? Haben Sie irgendwelche Informationen …?«

»Nein.«

Es trat eine Pause ein. »Kommen Sie in mein Büro. Ein Streifenwagen wird Sie abholen. Ihre Adresse?«

Gerber gab seine Adresse durch und legte auf.

Die Nachbarschaft würde eine mehr oder weniger plausible Geschichte konstruieren, um den Streifenwagen vor seiner Haustür zu erklären. Da war Gerber sich sicher. Der Musiker, Eigenbrötler, den man schon mal mit geschlossenen Augen an der Ampel hatte stehen sehen, musste etwas ausgefressen haben. Früher oder später war das zu erwarten gewesen.

»Leon«, hörte er eine Frauenstimme rufen, als er gerade in den Fond des Autos einsteigen wollte. Es war Laura, Sophias Mutter. »Kann ich – kann ich was für dich tun?«

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich bin nicht verhaftet.« Demonstrativ streckte er beide Hände aus und grinste. Sie lächelte.

»Moin«, grüßte einer der beiden Polizisten und stieg auf der Beifahrerseite ein.

Wie hübsch sie ist, dachte Gerber, als er Laura bei der Abfahrt am Straßenrand stehen sah. Ihm kam es vor, als hätte er das gerade neu entdeckt.

Hauptkommissar Flottmann starrte Gerber an. »Sie?« Endlich ergriff er die angebotene Hand. »Äh – danke, dass Sie gekommen sind. Bitte nehmen Sie Platz.«

»Mein Kollege Hilgersen«, stellte er seinen Mitarbeiter vor, der zur Tür hereinkam. »Schießen Sie los.«

Flottmann setzte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme. Der Drehstuhl ächzte und quietschte unter seinem Gewicht. Gerber schloss für einen Moment die Augen. Das Geräusch war ihm durch Mark und Bein gefahren.

»Ich bin Musiker und besitze ein gutes Gehör«, begann er, während er ängstlich auf den Schreibtischstuhl starrte. »Vielleicht könnte ich aus Ihrer Aufnahme etwas heraushören, das Ihnen weiterhilft.«

»Unsere Techniker haben alles versucht. Die Stimme wurde mit einem Verzerrer verfälscht. Trotzdem konnten sie den Klang weitgehend rekonstruieren.«

»Die Hintergrundgeräusche …«

»Auch die wurden genau analysiert. Wir wissen, dass ein Zug im Hintergrund zu hören ist.«

»Baureihe 648 oder 218?«

Flottmann zog die Augenbrauen hoch und gab seine lässige Sitzposition auf. »Was meinen Sie?«

»Mit etwas Erfahrung kann man den Lokomotiventyp heraushören.«

»Hm. Interessant. Aber ich denke, unsere Spezialisten mit ihren teuren Geräten hätten es ebenfalls zustande gebracht, wenn es möglich gewesen wäre.«

»Glauben Sie mir, Herr Kommissar, das Gehör eines Menschen ist Ihrer Technik weit überlegen.«

Flottmann sah zu Hilgersen hinüber. Der zuckte mit den Schultern.

»Es gibt weitere Aufnahmen, nicht wahr?«, fragte Gerber.

»Es handelt sich um die Tonspur eines Videos von zirka acht Minuten Dauer.«

»Sie sollten mir das komplette Video geben.«

Flottmann lachte. »Wie stellen Sie sich das vor? – Das ist unmöglich. Aber wir werden auf Sie zukommen, wenn wir Ihre Hilfe brauchen.«

Er stand auf.

Gerber blieb sitzen. Nach einer Weile ließ sich auch der Kommissar wieder in den Drehstuhl fallen, der einige Male quietschend auf und ab wippte. Gerber zuckte erneut zusammen. Als Kind hatte er fluchtartig das Klassenzimmer verlassen, wenn die Kreide auf der Tafel ähnliche Töne erzeugte. Seine Mitschüler hatten bald herausgefunden, wie man sie halten musste, um den maximalen Effekt zu erzielen. Damals hatte er die ersten Strategien entwickelt, um sich gegen solche Angriffe zu wehren. Vor Unterrichtsbeginn zerbrach er die langen Kreidestücke in zwei Teile und senkte damit die Eigenfrequenz. Leider gab es selten solche einfachen Möglichkeiten, sich zu wehren, und wenn sie sich ergaben, traute er sich meist nicht, sie zu nutzen.

Viele Geräusche lösten Unwohlsein in ihm aus, aber nur eines rief panische Angst hervor, Todesangst. Es wurde begleitet durch schwarze Figuren mit krähenartigen Silhouetten. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, als er jetzt daran dachte.

»Alles in Ordnung?« Der Kommissar musste seine Reaktion bemerkt haben.

Gerber schloss kurz die Augen.

»Ja, natürlich. Haben Ihre Leute den Raum berücksichtigt, in dem das Video gedreht wurde?«

»Keine Ahnung – und keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Haben Sie schon einmal in der Badewanne gesungen, Herr Kommissar?«

»Äh – nein.«

»Das würde sich anders anhören, als wenn Sie im Freien sängen.«

»Abgesehen davon, dass beides schrecklich klingen würde – Sie meinen den Hall. Im Bad würde es hallig klingen.«

»Ja. Im Tonstudio erzeugt man solche Effekte elektronisch.«

»Klar. Aber ich weiß immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Hintergrundgeräusche so korrigieren, dass sie unverfälscht wären, also der Raumeinfluss kompensiert würde.«

»Das wäre theoretisch denkbar.« Flottmann drehte eine Runde mit seinem Drehstuhl. »Und dann?«

»Die Geräusche, zumindest der Zuglärm, drangen von außen ein. Durch ein gekipptes oder geschlossenes Fenster.«

»Es war geschlossen. Das ist auf dem Video zu sehen.«

»Das Fenster beeinflusst nicht nur die Lautstärke, sondern auch die Frequenzzusammensetzung. Speziell die hohen Frequenzen werden durch die Schalldämmung weggefiltert.«

Die beiden Kommissare sahen sich an.

»Sie können diese Korrekturen berechnen?«, fragte Hilgersen mit hörbarem Zweifel in der Stimme.

»Nein.«

»Okay. Hätte mich auch sehr gewundert.«

»Ich kann sie hören.«

»Aha.« Hilgersen grinste.

»Wenn ich die Umstände kenne, höre ich das Originalgeräusch, das, was außen vor dem Fenster ankommt.«

»So ein Unsinn. Wie können Sie etwas hören, was nicht da ist?« Flottmanns Tonfall klang genervt.

»Schließen Sie die Augen und konzentrieren Sie sich auf Beethovens Neunte. Versuchen Sie es. Sie werden die Streicher hören, die Piccoloflöte, die Triangel und die drei Posaunen. Wir hören nicht mit unseren Ohren, Herr Hauptkommissar. Wir hören mit unserem Gehirn.«

Flottmann sagte nichts, aber seine Miene hatte sich verändert. Er erhob sich, trat hinter seinen Schreibtischstuhl und stützte die Arme auf die Rückenlehne. »Wir müssen nachdenken, Herr Gerber. Ich werde Sie anrufen. Versprochen. Das Video beinhaltet Material, das nicht für Außenstehende zugänglich sein darf. Außerdem ist es nichts für schwache Nerven.«

Er ging auf Gerber zu und gab ihm zum Abschied die Hand. »In jedem Fall danke ich Ihnen.«

4

Gerber glaubte, den Kommissar zumindest ein wenig beeindruckt zu haben. Natürlich war er sich nicht sicher, ob er tatsächlich bei dessen Ermittlungen helfen konnte. Aber es wäre eine Genugtuung, könnte er seine »Fähigkeiten«, die ihm bisher nur Schwierigkeiten eingebracht hatten, für etwas Nützliches einsetzen.

Das Beispiel mit dem Badezimmer war ihm spontan eingefallen. Vor einiger Zeit hatte er sich intensiv mit dem Klang von Räumen beschäftigt. Jede Umgebung antwortete anders auf einen Ton, ein Treppenhaus anders als ein Dachboden, eine möblierte Wohnung anders als ein leeres Zimmer, und ein Konzertsaal mit Zuhörern unterschied sich wesentlich von einem ohne Publikum.

Die Raumrückwirkung wurde bestimmt durch die Absorption an den Wänden, an Decke und Boden, durch Reflexion und Streuung an Einrichtungsgegenständen und natürlich durch die Abmessungen der Lokalität. Das Zusammenspiel dieser Größen war so komplex, dass eine exakte Berechnung der Akustik nicht möglich war. Aus solchen Gründen war für die Feinabstimmung des Großen Saals der Elbphilharmonie ein Modell im Maßstab eins zu zehn gebaut und mit zweitausend Filzpuppen bestückt worden, um durch Variation der Brüstungsneigungen das Klangverhalten zu simulieren.

Hunderte Räume hatte Gerber besucht. Wann immer er konnte, hatte er seine Gitarre mitgenommen, in der Turnhalle seiner alten Schule gespielt, in Schlafzimmern, Garderoben und Aufzügen, in der Iberger Tropfsteinhöhle und in leer stehenden Industriehallen. Bereits nach dem ersten Akkord offenbarte jeder Ort seinen Charakter. Um dessen gesamtes akustisches Wesen zu erfassen, spielte er seine eigens für diesen Zweck komponierten Stücke, schloss die Augen und betrachtete die inneren Bilder. Auch nach Jahren würde er jeden dieser Orte an dessen Eigenton wiedererkennen.

Der Musiker war überzeugt, dass jedem Land und jedem Ort auf der Welt ein spezifisches Klangbild innewohnte, das durch die Natur und den Menschen mit seinen industriellen Errungenschaften geprägt war. Auch jedes Zeitalter hatte eine charakteristische Geräuschkulisse. Im Prinzip waren Ort und Zeit in gewisser Weise akustisch bestimmt.

Gerber hasste den Lärm, aber gleichzeitig faszinierte ihn der Sound eines vorbeifahrenden Zuges. Er hasste es, wenn der Nachbar den Rasenmäher anwarf, aber er liebte das fast ebenso laute Quaken der Frösche im eigenen Teich. Es gab böse und gute Geräusche, Wohlklänge und Lärm. Bei der Einordnung mochten Lautstärke, Frequenzen und Impulse eine Rolle spielen, aber das Gehirn entschied oft nach anderen Kriterien, wie Vermeidbarkeit und Verursacher. Und jedes Gehirn tickte in dieser Beziehung anders. Seines tickte sehr viel anders als die der Mitmenschen. Das wusste er, und es bestätigte sich jeden Tag und jede Nacht aufs Neue. Insbesondere der Straßenverkehr machte ihn krank. In einer Großstadt hätte er nicht überleben können. Aber auch in der kleinen Stadt Husum waren die lärmenden Autos allgegenwärtig, besonders im Sommer, wenn die Touristen kamen. Man hätte die Zahl der Besucher vermutlich am Geräuschpegel ablesen können.

Da es für ihn keine Möglichkeit gab, dem Lärm vollständig auszuweichen, musste er an sich arbeiten und seine Konfrontationstherapie fortsetzen.

Die ganze Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen zeigte sich auch darin, dass er vor einigen Jahren die Jagd nach Geräuschen und Klängen begonnen hatte. Mit einem Aufnahmegerät bewaffnet, hatte er die verschiedensten Orte aufgesucht, stundenlang an einer Bahnstrecke gestanden, um vorbeifahrende Züge aufzunehmen, hatte Flugzeuge am nahe gelegenen Flugplatz in Schwesing bei Start und Landung erfasst, aber auch die Melodien von Wind und Sturm festgehalten und Tierstimmen mit dem Richtmikrofon eingefangen.

So war eine umfangreiche Geräuschesammlung auf Festplatten und CDs entstanden. Wichtiger als die digitale Speicherung der Daten aber war die Speicherung in seinem Gedächtnis. Dort wurden sie dauerhaft verknüpft mit Empfindungen, äußeren und inneren Bildern, Farben und geometrischen Figuren. Sie waren in Millisekunden abrufbar, schneller und zuverlässiger als in einem elektronischen Archiv.

Gerber sammelte Geräusche aller Art. Das erfüllte keinen Zweck, aber immer öfter wurde er um Hilfe gebeten, wenn ein Tonstudio für die Produktion eines Hörbuchs das Zirpen einer Grille oder das Knattern eines Geigerzählers benötigte.

Bei anderen stieß er mit diesen und anderen Aktionen auf Unverständnis. Rebecka, seine letzte Lebensabschnittsgefährtin mit den blonden Locken und der solariumgebräunten Haut, hatte ihn zunächst interessant, aber irgendwann wohl einfach nur peinlich gefunden. Nach nicht einmal drei Monaten hatte sie ihm den Laufpass gegeben. Seitdem ging er lieber seine eigenen Wege, obwohl ihn manchmal die Einsamkeit übermannte.

Heute war er in der richtigen Stimmung, sich im Tonstudio zu vergraben. Als er die schallgedämmte Tür hinter sich schloss, tauchte er in eine andere Welt ein. Es war ganz und gar seine Welt. Hier bestimmte er selbst, was er hören wollte. Hier wurden ihm keine Geräusche durch die lärmende Umwelt aufgezwungen, zumindest wenn sie nicht so laut waren, dass sie durch die gut isolierten Fenster und Wände drangen.

Er schaltete das Mischpult ein. Das Rauschen, das aus den Lautsprechern kam, hatte er auf ein Minimum reduziert und das Fünfzig-Hertz-Netzbrummen ebenfalls nahezu beseitigt. Nur wenn er sich darauf konzentrierte, waren diese Störungen noch wahrnehmbar.

Seit einiger Zeit beschäftigte er sich mit Unterwassergeräuschen. Dazu hatte er sich selbst ein Hydrofon gebaut und war nach Fuhlehörn auf Nordstrand gefahren. Etwas abseits des Touristenpfads, auf dem die Wattwanderer regelmäßig zur Hallig Südfall aufbrachen, war er auf einer der Lahnungen so weit wie möglich ins Meer hinausgelaufen und hatte das Unterwassermikrofon einfach am Kabel ins Wasser gelassen. Auf den Tonaufnahmen würden Schiffsgeräusche der MS Adler zu hören sein, die von Strucklahnungshörn Richtung Hallig Hooge, Amrum und Sylt abfuhr. Aber auch das Plätschern der Wellen und das Landen einer Möwe auf der Meeresoberfläche riefen unter Wasser ungewöhnliche Klänge hervor.

Irgendwann wollte er mit einem Schiff hinausfahren und die Gesänge der Wale aufnehmen. Angeblich sangen die Buckelwale manchmal ohne Unterbrechung vierundzwanzig Stunden lang. Vielleicht unterhielten sie sich auf diese Weise über große Entfernungen. Manche Forscher glaubten, sie hätten wie die Menschen einfach Spaß am Musizieren.

Eine faszinierende Vorstellung, fand Gerber. Er stöpselte den Kopfhörer ein und startete die Aufnahme. Tatsächlich tauchte er in eine ihm völlig unbekannte akustische Sphäre ein. Aufsteigende Gasblasen und die Wellen an der Oberfläche bildeten einen Klangteppich, aus dem sich Einzelereignisse hervorhoben. Vielleicht waren Laute von Meeresbewohnern dabei. Der Ausdruck »stumm wie ein Fisch« war irreführend. Fische konnten knurren, fauchen, grunzen und quietschen. Gerber hatte einmal gelesen, dass Piranhas wie Hunde bellten und wie Frösche quakten. Einen bellenden Piranha hatte er sicher nicht aufgezeichnet, aber vielleicht einen sprechenden Schell- oder Plattfisch.

Gerber war überrascht, dass sich die Oberflächenwellen wie Gewittergrollen anhörten. Leider fehlte ihm für die Identifizierung der meisten Unterwasserklänge die Erfahrung. Die Geräusche konnten von weit her kommen. Schallwellen breiteten sich unter Wasser mehr als viermal so schnell wie in der Luft aus. Aber sie wurden an der Grenzfläche zur Atmosphäre fast vollständig zurückgeworfen. Das war der Grund dafür, dass man Töne aus der Tiefe an Land in der Regel nicht wahrnehmen konnte.

Eine Aufnahme nahm seine Aufmerksamkeit besonders in Anspruch: ein heller, kurzer, sich mehrmals wiederholender Ton. Es war, als würden metallische Gegenstände aufeinanderschlagen. Er überlegte, wie sich das Geräusch in der Atmosphäre anhören würde, hatte aber keine Ahnung, wie genau das Wasser den Klang beeinflusste. Hätte er Kenntnis davon gehabt, wäre er vielleicht in der Lage, sich eine Vorstellung zu machen.

Nachdem er den mysteriösen Tönen einige weitere Male gelauscht hatte, war er überzeugt, dass er etwas Besonderes aufgenommen hatte. Im Grunde entsprang diese Überzeugung aber nur einem Gefühl. Es wurde nicht zuletzt durch das Bild hervorgerufen, das er beim Hören wahrnahm: bunte Strahlen wie das Sonnenlicht, das durch ein Prisma drang. Er musste dem Phänomen unbedingt auf den Grund gehen.

5

Die Arbeit als Polizeibeamter war eindeutig stressfreier, wenn man sich an die Vorschriften hielt, aber nicht unbedingt effektiver. Flottmann war sogar überzeugt, dass die Einhaltung aller Dienstanweisungen jede Behörde zum Erliegen bringen würde. Manchmal reichte eine »Interpretation« der Vorschriften aus, um das System zu durchbrechen. Nach reiflicher Überlegung entschloss er sich, Leon Gerber aufzusuchen und ihm die vollständige Tonspur vorzuspielen. Er würde schnell feststellen, ob der Musiker lediglich ein Spinner war oder tatsächlich etwas zur Aufklärung des Falls beitragen konnte.

Flottmann hatte auf Google Maps gesehen, dass Gerber in Rosendahl, in unmittelbarer Nähe der Mühlenau, wohnte. Der kleine Fluss schlängelte sich durch die Landschaft bis in das Husumer Stadtgebiet und mündete im Außenhafen als Husumer Au in die Nordsee. Das Haus des Musikers befand sich in der letzten Bebauungsreihe zum Naturerlebnisraum Mühlenau, etwas weit vom Schuss, aber schön gelegen. Die Fahrt dauerte keine Viertelstunde. Flottmann parkte auf der Straße vor dem Backsteingebäude, das vermutlich aus den zwanziger Jahren stammte, aber seitlich einen später hinzugekommenen Anbau mit Flachdach besaß. Wie er vermutete, befand sich darin Gerbers Tonstudio, in das dieser ihn sofort nach der Begrüßung führte. Die Gitarren, die diversen Perkussionsinstrumente und das überdimensionale Mischpult mit den blinkenden Dioden faszinierten Flottmann. Er liebte die Musik. Gern hätte er ein Instrument erlernt. Mit vierzehn hatte er Geigenunterricht erhalten. Aber nach nicht einmal einem Jahr hatte sein Lehrer das Handtuch geworfen. Vermutlich waren seine Eltern und insbesondere seine fünf Jahre ältere Schwester froh gewesen, dass er sich fortan mit dem Sammeln von Mineralien und Fossilien beschäftigte. Abgesehen von den Platzproblemen, die nach einiger Zeit auftraten, schonte das neue Hobby die Nerven der Familienmitglieder.

»Sie machen nicht nur Musik. Sie beschäftigen sich mit Geräuschen aller Art, nicht wahr?«, begann Flottmann das Gespräch, nachdem er Platz genommen hatte.

»Ja. Die meisten Menschen nehmen ihre Umgebung hauptsächlich visuell wahr und erinnern sich oft nur an die Bilder ihrer Erlebnisse. Bei mir ist das anders. Mir zeigt sich die Welt ebenso in Klanglandschaften mit ihren schönen und ihren hässlichen Seiten. Ich erkenne jeden Ort an seinem akustischen Fingerabdruck. Die Küste hat einen ganz besonderen Klang. Wissen Sie, dass man einen Strand am Meeresrauschen erkennen kann?«

»Äh – nein.«

»Die Art, wie die Wellen brechen, wie sie am Ufer ausrollen, wie sie an Stege oder Lahnungen schlagen.«

»Wirklich?«

Gerber tippte einige Zeichen auf der Tastatur seines Computers. »Schließen Sie die Augen, Herr Kommissar, und konzentrieren Sie sich.«

Flottmann folgte der Aufforderung.

»Hören Sie, was ich meine?«, fragte Gerber.

»Meeresrauschen, Möwen, ein Schaf blökt.«

»Das Husumer Sperrwerk, die Schleuse, wie man hier sagt. Es ist mein Lieblingsplatz. Ich hab die Aufnahmen auf dem Steg gemacht, der ins Meer hinausführt. Hören Sie, wie das Wasser die Holzkonstruktion zum Klingen bringt?«

Flottmann gab sich Mühe. Nach einiger Zeit glaubte er wahrzunehmen, was Gerber meinte.

»Kein Ort klingt wie der andere«, schwärmte der. »Haben Sie schon einmal dem Watt zugehört?«

»Nein.«

»Gehen Sie bei Windstille hinaus. Lauschen Sie dem Knistern der Schlickkrebse und den zerplatzenden Wasserblasen an der Oberfläche. ›Des gärenden Schlammes geheimnisvoller Ton‹, wie Theodor Storm es in einem Gedicht genannt hat. Sie werden eine neue Welt entdecken, wenn Sie sich darauf einlassen.«

Knisternde Schlickkrebse, zerplatzende Wasserblasen. Der Musiker schien wirklich eine ausgeprägte Macke zu haben. Vielleicht bluffte er und wollte sich nur wichtigmachen. Andererseits – Flottmann wippte einige Male mit der Rückenlehne des Drehstuhls.

»Okay. Ich hab die Aufnahme mit. Versuchen wir es.« Er zog einen USB-Stick aus der Hosentasche.

Gerber nahm den Speicher entgegen und steckte ihn auf einen der Steckplätze. Dann setzte er den Kopfhörer auf. Nach einer Minute riss er den Hörer herunter und starrte Flottmann entsetzt an.