Tod an der Seebrücke - Gerd Kramer - E-Book

Tod an der Seebrücke E-Book

Gerd Kramer

5,0

Beschreibung

Morde geschehen nicht lautlos. Ein menschlicher Knochen in einer Skulptur aus Strandgut sowie ein Mord ohne Leiche, aufgenommen von einer Überwachungskamera. Zwei mysteriöse Fälle beschäftigen die Husumer Kommissare Flottmann und Hilgersen. Nichts ist so, wie es scheint, und die Ermittlungen stecken bald in einer Sackgasse. Kann der hochsensible Musiker Leon Gerber helfen, den Knoten zu lösen?

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Gerd Kramer wurde 1950 in der Theodor-Storm-Stadt Husum geboren und ist dort aufgewachsen. Nach seinem Physikstudium in Kiel arbeitete er als Akustiker und Software-Entwickler im Rheinland. 1987 gründete er eine eigene Firma, in der er noch heute tätig ist. Einen Teil des Jahres verbringt er in seiner Heimatstadt, die ihm den Stoff für seine Romane liefert.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Montage aus Jan Krützfeldt, DieterN/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-537-4 Küsten Krimi Originalausgabe

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Wie wenn das Leben wär nichts andres

Als das Verbrennen eines Lichts!

Verloren geht kein einzig Teilchen,

Jedoch wir selber gehn ins Nichts!

Denn was wir Leib und Seele nennen,

So fest in eins gestaltet kaum,

Es löst sich auf in Tausendteilchen

Und wimmelt durch den öden Raum.

Es waltet stets dasselbe Leben,

Natur geht ihren ew’gen Lauf;

In tausend neuerschaffnen Wesen

Stehn diese tausend Teilchen auf.

Das Wesen aber ist verloren,

Das nur durch ihren Bund bestand,

Wenn nicht der Zufall die verstäubten

Aufs neu zu einem Sein verband.

Prolog

Das Erste, was Sabrina wahrnahm, als sie aufwachte, war die entsetzliche Kälte. Ununterbrochenes Zittern schüttelte ihren Körper. Ihr Gleichgewichtssinn meldete regelmäßige Bewegungen, das Gehör empfing Klopfgeräusche. Es war stockdunkel. Doch da war eine Tür. Undeutlich, ein wenig verschwommen. Aber sie war da. Unter dem Spalt lugten Sonnenstrahlen hervor, und Staubteilchen tanzten im Licht. Wieder dieses Klopfen. Das ist Daniel. Daniel, komm rein! Ich brauche dich! Mir ist so kalt. Du musst mir helfen! Wegen gestern, das tut mir leid. Du bist das Wichtigste in meinem Leben. Es ist Zeit, dir das zu sagen. Hörst du mich?

»Verdammt! Sie lebt!«

»Sie ist tot, Mensch!«

Wer sprach da? Das war nicht Daniel. Sie kannte diese Stimmen. Aber die Worte verstand sie nicht. Sie ergaben keinen Sinn. Wo war die Tür geblieben? Wo das Licht? Das Klopfen war immer noch da. Ein leises Plätschern hatte sich dazugesellt.

Sie öffnete die Augenlider. Der Mond schien ihr ins Gesicht. Es musste spät sein. Sie hatte versprochen, rechtzeitig zu Hause zu sein. Ihre Eltern würden sich Sorgen machen.

»Verdammt! Verdammt! Wir müssen zurück!«, schrie jemand.

Ja. Zurück. Hier wollte sie nicht bleiben. Es war so kalt an diesem Ort. Bringt mich zurück!

Sie hob ihren Kopf einige Zentimeter an. Weiter war es ihr nicht möglich. Eisiger Wind zerrte an den verklebten Haaren. Wasser spritzte in ihr Gesicht und brannte auf der Haut. Sie öffnete die Augen.

Vor ihr standen zwei Gestalten. Ihr Blick schweifte zur Seite. Sie erkannte die Konturen eines Boots. Wie konnte das sein? Eben war sie noch mit ihrem Fahrrad auf dem Heimweg gewesen. Nein, vorher wollte sie noch zu Jörn. Nur ganz kurz. Er hatte ihr eine Nachricht geschickt. Sie hatte das Ladegerät bei ihm vergessen. Sonst wollte sie nichts von ihm. Das musst du mir glauben, Daniel.

»Es gibt kein Zurück!«, rief der eine. »Gib mir die Plane!«

»Was?«

»Die Plane, verdammt noch mal!«

»Das kannst du nicht machen!«

1

»Du brauchst es dir gar nicht erst gemütlich zu machen«, empfing Hilgersen seinen Kollegen, Hauptkommissar Waldemar Flottmann. »Wir haben einen Mord. Kann auch sein, dass es keiner ist. Ich meine, vielleicht ist die Leiche gar nicht tot.«

»Was redest du für einen Stuss?« Flottmann setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein.

»Blut an den Wänden und auf dem Boden. Ein blutverschmiertes Messer wurde am Tatort gefunden. Aber das Opfer ist spurlos verschwunden. Eine Streife ist bereits vor Ort. Rasmussen und Schmidtmann.«

»Wo?«

»In einer Nobelvilla in Schobüll. Also, was ist? Soll ich allein fahren?« Hilgersen stand auf und ging Richtung Tür.

»Nix da. Bin schon unterwegs.« Flottmann erhob seine derzeitigen achtundneunzig Kilogramm und folgte Hilgersen, der nicht nur einen Kopf kleiner war, sondern auch schlank und wendig. Zudem war er mit seinen achtunddreißig Jahren zehn Jahre jünger.

»Was hetzt du so?«, keuchte Flottmann. Hilgersen hatte bereits den Motor angeworfen, als er einstieg.

»Du weißt doch. Die ersten Stunden und Tage sind am wichtigsten. Danach wird so manche Spur kalt.«

»Stunden, aber nicht Sekunden. Außerdem liegt in der Ruhe die Kraft.«

»Ein blöder Spruch für phlegmatische Menschen. Damit bist du natürlich nicht gemeint.«

»Verstehe.«

Hilgersen steuerte den Dienstpolo auf die Poggenburgstraße und fuhr Richtung Umgehungsstraße.

»In dem Haus wohnen Vater und Sohn. Der Vater heißt Wilhelm Küster. Macht irgendetwas mit Immobilien. Zurzeit ist er geschäftlich in München unterwegs. Er wurde benachrichtigt und wird in ein paar Stunden hier sein. Der Sohn heißt Alexander, fünfundzwanzig Jahre alt. Er ist verschwunden. Seine Freundin hat am frühen Morgen das Haus betreten. Die Tür stand offen. Als sie die Blutspuren und das Messer gesehen hat, hat sie die110 gewählt. Das ist alles, was ich weiß.«

»Und daraus schließt du, dass wir es mit einem Mord zu tun haben?«

»Okay. Es könnte natürlich auch sein, dass der Sohn im Wohnzimmer einen Hahn geköpft, das blutige Messer auf den Boden geworfen hat und das Hähnchen jetzt am Strand grillt.«

»Deine Witze am frühen Morgen sind unerträglich, Gustl.«

»Deine Laune auch.«

»Bogomil hat meinen Keichosaurier zerbrochen.«

»Ist das schlimm?«

»Ob das schlimm ist? Das Stück hat über sechshundert Euro gekostet!«

»Ich dachte, du hättest deine Fossiliensammlung weggeschlossen, damit der Kater nicht drankommt.«

»Er hat die Glastür irgendwie aufgeschoben.«

Hilgersen lachte und schlug dabei mit der Hand mehrmals auf sein rechtes Knie. Ein Zeichen dafür, dass er sich ganz besonders amüsierte. »Dein Kater ist ein echtes Talent. Du solltest stolz auf ihn sein.« Hilgersen bog in die Schobüller Straße ein und beschleunigte. Er lachte erneut auf und schüttelte den Kopf.

»Was ist daran eigentlich so witzig?« Flottmann warf Hilgersen einen zornigen Blick zu.

»Nichts. Gar nichts. Es ist eine traurige Geschichte. Ich hab mir die Szene nur gerade bildlich vorgestellt. Du hattest doch mal so eine Kamera in der Wohnung installiert. Hast du eine Aufnahme…?«

»Nein, hab ich nicht.«

»Schade. Ich meine, dann hättest du Bogomil einwandfrei überführen können. Außerdem hätte ich es gern gesehen.«

Flottmann antwortete nicht. Er nahm sich vor, beim nächsten Mal genau zu überlegen, was er seinem Kollegen an privaten Dingen mitteilte. Allerdings wusste er, dass Hilgersens Reaktion keine echte Schadenfreude ausdrückte, sondern eher einer Stichelei unter Freunden glich. Außerdem konnte Flottmann selbst ganz gut austeilen, und er wusste, dass er dabei manchmal einen Schritt zu weit ging.

Nach wenigen Minuten erreichten sie das Schobüller Ortsschild. Linker Hand lag das Meer. Nebelschwaden versperrten die ansonsten freie Sicht auf die Halbinsel Nordstrand. Sie passierten das Freibad und den Campingplatz, auf dem sich nur wenige Wohnwagen und Wohnmobile befanden, da die Saison gerade erst begonnen hatte.

Am Straßenrand vor der Villa stand ein Streifenwagen. Flottmann erkannte Rasmussen, der an der Fahrertür lehnte. Hilgersen steuerte den Polo entgegen der Fahrtrichtung vor das Auto der Kollegen. Die Kommissare stiegen aus.

»Moin«, grüßte Rasmussen.

»Moin, Moin«, erwiderte Hilgersen, und »Morgen«, murmelte Flottmann. Es war nicht so, dass er kein »Moin« über die Lippen gebracht hätte. Nach zwei Jahren in Nordfriesland wäre das unverständlich gewesen. Aber er verwendete den norddeutschen Gruß nur, wenn er gute Laune hatte. Und die Voraussetzung war an diesem Morgen nicht gegeben. Das lag nicht nur an Bogomil und dem Keichosaurier. Vielmehr kam das unbestimmte Gefühl hinzu, seine Versetzung nach Husum könnte ein Fehler gewesen sein. Anstatt hier eine ruhige Kugel zu schieben und sich von den Strapazen der Scheidung von Monika zu erholen, wurde er vielleicht zum dritten Mal in der kurzen Zeit mit einem Mordfall konfrontiert. Es war fast so, als hätte er sich Arbeit aus Bonn mitgenommen, wo er Leiter des Dezernats Tötungsdelikte gewesen war.

Jahrelang hatte es in Husum keine Mordfälle gegeben. Aber seit er an die Küste gezogen war, häuften sie sich. Natürlich war das Zufall, und zuständig für solche Verbrechen war das Flensburger Kommissariat1. Die Kriminalpolizeistelle Husum wurde jedoch in die Ermittlungen eingebunden, wenn die Tat in ihren Bereich fiel, zu dem neben Husum auch Bredstedt, Eiderstedt, Friedrichstadt, Viöl, Hattstedt, Nordstrand und Pellworm gehörten. Je älter Flottmann wurde, desto mehr belastete ihn die Beschäftigung mit den menschlichen Abgründen.

»Merkwürdige Sache.« Rasmussen nahm seine Dienstmütze ab und kratzte sich am Kopf. »Die Tür wurde aufgebrochen. Blut im Wohnzimmer und ein Messer, mit dem offenbar zugestochen wurde. Sieht alles nach einem Überfall aus.«

»Wo ist die Zeugin?«, fragte Flottmann.

»Bei den Nachbarn.« Rasmussen zeigte auf ein Wohnhaus in unmittelbarer Nähe. Es sah bescheidener aus als die reetgedeckte Villa. »Sie heißt Caroline Voigt. Schmidtmann ist bei ihr.«

»Wem gehört die Rostlaube dort?« Flottmann zeigte auf einen alten Ford Fiesta, der hinter dem blau-silbernen Einsatzwagen der Kollegen stand und einige Kratzer und Beulen aufwies.

»Rita Förster, unserer neuen Spurensicherungskraft. Das ist ihr erster Fall. Sie ist schon fast eine Stunde drinnen. Scheint ihren Job ernst zu nehmen. Ich weiß nicht, ob sie euch reinlässt.« Rasmussen grinste.

»Und ob.« Flottmann ging auf den Eingang der Villa zu. Hilgersen folgte ihm. Der mit blau schimmernden Natursteinen gepflasterte Weg führte in Schlangenlinien durch einen gepflegten Rasen zum Gebäude. Die schwere Holztür stand offen.

»Warte hier. Ich peile erst mal die Lage.« Flottmann erklomm die drei Stufen und betrat die glänzenden Marmorfliesen im Flur. Ein Spiegel, der bis zur Decke reichte, empfing den Besucher. Flottmann zog spontan den Bauch ein, als er sein Ebenbild erblickte. Er strich sich die vom Wind zerzausten schwarzen Haare glatt. Dann folgte er einem Geräusch, das vom Ende des Flurs herüberdrang. Ein gemauerter Rundbogen führte in das Wohnzimmer. Er wollte gerade eintreten, als ihn ein summendes Etwas zu seinen Füßen fast zu Fall gebracht hätte.

»Wer hat das Ding losgelassen?«, hörte er eine resolute Frauenstimme schimpfen. Dann stand ihm Rita Förster in ihrem weißen Schutzanzug gegenüber. Der Overall raubte der burschikosen Vierzigjährigen die letzten weiblichen Attribute. Mit einem geschickten Fußtritt beförderte sie den Staubsaugerroboter in Rückenlage. Hilflos wie ein Käfer rotierte der einige Male um die eigene Achse, bis er verstummte.

»Der macht mir ja alle Spuren kaputt!«, keifte die SpuSi-Expertin. »Und Sie auch!«

Warum sie ihn siezte, wusste Flottmann nicht. Letzte Woche hatte sie sich mit ihrem Vornamen vorgestellt und ihn mit Waldemar angeredet.

»Keine Panik. Wie lange brauchst du noch?«

»Ich bin fertig.«

»Ach.«

»Na ja. Vielleicht müssen die Flensburger noch mal ran. Obwohl das eigentlich überflüssig wäre. Ich hab alles aufgenommen. Aber falls hier ein Tötungsdelikt vorliegt…«, sie schob Flottmann in den Flur zurück, »…werden die Kollegen wohl noch mal rangehen wollen. Deshalb habe ich nichts verändert.« Sie zog ihre Kapuze vom Kopf. Trotz ihrer kurzen schwarzen Haare wirkte sie jetzt ein wenig weiblicher.

»Gehen wir vor die Tür, und du erzählst mir, was du rausgefunden hast«, schlug Flottmann vor.

Sie nickte und brachte ein angedeutetes Lächeln hervor.

»Moin«, grüßte Rita Förster, als sie Hilgersen sah, der es sich auf der obersten Treppenstufe gemütlich gemacht hatte und die ersten Sonnenstrahlen genoss.

»Moin. Und? Was haben die Spuren ergeben?«, fragte er.

Förster und Flottmann gingen an Hilgersen vorbei die Stufen hinunter und bauten sich vor ihm auf.

»Das Messer muss zum LKA. Vielleicht ist da die DNA des Täters dran. Wenn wir Glück haben, sogar Fingerabdrücke. Das Opfer ist offenbar überrascht worden. Jedenfalls finden sich keine Kampfspuren im Wohnzimmer.«

»Kannst du was zum genauen Tatablauf erzählen?«, fragte Flottmann.

»Ohne Leiche ist das schwierig. Es gibt einen partiellen Schuhabdruck im Blut. Ob der vom Täter oder vom Opfer stammt, kann ich nicht sagen. Eine Schleifspur mit Blutresten führt Richtung Flur. Der Tote oder Verletzte wurde vermutlich über den Boden zur Haustür gezogen, dann bis zur Einfahrt getragen und in ein Fahrzeug verfrachtet. Der Täter muss kräftig gewesen sein oder das Opfer ein Leichtgewicht. Es wird Zeit, dass jemand das Absperrband anbringt. Vielleicht finden wir Fußabdrücke. Möglicherweise auch Reifenspuren.«

»Auf der gepflasterten Einfahrt?« Hilgersen schüttelte den Kopf.

»Wenn sie ein wenig verschmutzt ist, ist das durchaus möglich. Aber ich hab etwas, das euch begeistern wird.« Rita griff in die rechte Tasche des Schutzanzugs und hielt eine SD-Karte direkt vor Flottmanns Augen.

»Was ist das?« Flottmann runzelte die Stirn.

»Die Hütte ist mit allem Schnickschnack ausgestattet. ›Smart Home‹ nennt man das.«

»Der berühmte Kühlschrank, der die Ware über das Internet bestellt?«

»So in etwa. Jedenfalls sind überall Überwachungskameras angebracht. Der Einbrecher hat versucht, das Aufnahmegerät zu zerstören. Der Speicher scheint aber unbeschädigt zu sein. Vielleicht ist da etwas Interessantes drauf.«

Flottmann griff nach der SD-Karte, aber Rita zog ihre Hand zurück und bildete eine Faust. »Sei vorsichtig damit.« Erst jetzt überreichte sie ihm den Speicher. »Am besten gibst du sie jemandem, der sich mit so etwas auskennt.«

Sie traute Flottmann offenbar keinen technischen Sachverstand zu. Damit hatte sie in gewisser Weise recht. Aber woher sollte sie das wissen?

»Ich hab einen sechswöchigen Computerkurs absolviert«, sagte er in Anspielung auf ihren sechswöchigen Lehrgang zur Spurensicherungsfachfrau an der Polizeidirektion für Aus- und Weiterbildung. Sie zuckte mehrmals mit dem linken Augenlid und schien über seine Äußerung nachzudenken.

»Wann bekommen wir deinen Bericht?«

»Morgen oder übermorgen.«

»Gut. Können wir jetzt da rein?«

»Nur mit Schutzanzug. Viel zu sehen gibt es nicht. Blut am Boden und ein paar Spritzer an den Wänden, kaum sichtbar. Ich hab Fotos, die ich euch schicken kann. Aber die geben kaum etwas her. Eine Leiche gibt es ja nicht.«

»Hast du sie vielleicht übersehen?«

Rita Försters Blick erinnerte Flottmann an den einer Giftschlange, die zum tödlichen Biss ansetzt. Sie holte tief Luft, suchte offenbar nach einer passenden Antwort, fand aber keine. Ihr linkes Augenlid zitterte. Schließlich drehte sie sich um und verschwand wieder im Haus.

»Was hat sie denn?«, fragte Flottmann.

Hilgersen zuckte mit den Schultern und grinste. Er stand auf. »Wir sollten jetzt die Zeugin befragen, Caroline Voigt, die Freundin des Toten.«

»Des Toten? Ich bin mir alles andere als sicher, dass die Leiche tot ist, um bei deinen Worten zu bleiben. Vielleicht hat sie sich rausgeschleppt und liegt jetzt irgendwo hier in der Gegend herum und braucht Hilfe. Warum sollte der mutmaßliche Mörder sein Opfer beseitigen? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Um Spuren zu vernichten. Wenn er sich ein wenig auskennt, weiß er, dass er beim Angriff auch mit Handschuhen ziemlich sicher DNA an dessen Kleidung hinterlassen hat.«

»Und dann lässt er oder sie das Messer am Tatort zurück?«

»Wenn alle Mörder umsichtig und rational handeln würden, hätten wir keine Aufklärungsrate von fünfundneunzig Prozent.«

Flottmann nickte. »Trotzdem. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt. Lass die Fahndung nach Alexander Küster anlaufen und dann stell einen Suchtrupp zusammen. Wenn es sein muss, mit Freiwilligen. In dieser platten Gegend wird der Junge leicht zu finden sein.«

»Platt? Drüben ist der Schobüller Berg. Der Gipfel ist einunddreißig Meter hoch. Wusstest du das nicht?«

»Mensch, verschon mich mit deinen Touristeninformationen!«

»Dein Kater ist schuld.«

»Was?«

»An deiner schlechten Laune. Er hätte den Saurier nicht demolieren dürfen.«

»Meine Laune wird sich sofort verbessern, wenn du jetzt gehst und alles veranlasst. Und sag Rasmussen Bescheid, dass er das Gelände absperren soll.«

»Okay, okay.« Hilgersen hob beschwichtigend die Hand.

2

Flottmann blieb noch einige Minuten vor dem Haus stehen. Er versuchte sich ein Bild von der Lage zu machen, ein Gesamtbild, ohne über Einzelheiten nachzudenken. Die Einzelheiten kamen später, Stück für Stück. Und wenn sie sich perfekt zusammenfügten, war der Fall gelöst. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, kniff sie fest zu, als betätigte er den Auslöser einer Kamera, um ein Foto seiner spontan gewonnenen Eindrücke zu schießen und abzuspeichern. Bewusste und unbewusste Wahrnehmungen konnten später von Bedeutung sein und manchmal in entscheidenden Momenten zur Verfügung stehen, zusammen mit einer Portion Intuition oder Bauchgefühl. Aber all das ersetzte nicht die Kleinarbeit. Und um die musste er sich jetzt kümmern. Sobald Rita Förster mit ihrer Arbeit fertig war, würde er sich ein Bild vom eigentlichen Tatort machen.

Er griff in seine Jackentasche und brachte die SD-Karte zum Vorschein. Vielleicht hatte die Überwachungskamera alles aufgezeichnet und gab Auskunft über den Hergang und den Täter. Das wäre ein Glücksfall. Ein seltener Glücksfall. Meistens stellte sich heraus, dass nichts so einfach war, wie es zunächst schien. Er steckte die Karte wieder ein und machte sich auf den Weg zum Nachbarhaus. Eine Frau öffnete die Tür, noch bevor er den Klingelknopf über dem Messingschild mit der Prägung »G.Nissen« drückte. Sie war geschätzte siebzig Jahre alt, hatte graues Haar und eine zierliche Figur.

»Sie sind der Kommissar, nicht wahr? Die Kleine ist völlig fertig. Vielleicht braucht sie einen Arzt. Kommen Sie herein!«

Flottmann grüßte mit einem Kopfnicken und trat in den Flur. Frau Nissen schloss die Tür und führte ihn an einer sperrigen Kommode vorbei ins Wohnzimmer.

Dort saß eine junge Frau mit verheulten Augen und einer braunweißen Katze auf dem Schoß. Ihr hübsches Gesicht war stark geschminkt. Die Wimperntusche hatte dunkle Streifen auf beiden Wangen hinterlassen. Blonde Strähnen klebten an ihrer Stirn.

Die Hausherrin setzte sich neben sie aufs Sofa und tätschelte kurz ihre Hand. »Es wird alles wieder gut. Bestimmt ist nichts Schlimmes passiert.«

Flottmann wandte sich an Jürgen Schmidtmann. »Danke. Hast du die Personalien aufgenommen?«

»Ja, natürlich. Wir haben uns auch ein bisschen unterhalten. Ich schick dir die Infos.«

»Gut. Ich mach dann weiter hier. Rasmussen kann Hilfe gebrauchen. Hilgersen stellt ein paar Leute zusammen, die die Umgebung absuchen. Die müssen bald hier sein. Lasst keinen ins Haus, weder von der Familie noch von unseren Leuten.«

»Geht klar.« Der Uniformierte nahm seine Mütze vom Couchtisch und ging.

Flottmann setzte sich in einen der beiden Ledersessel. Die eigentliche Vernehmung musste er auf der Dienststelle durchführen. Im Beisein von Frau Nissen konnte er nicht alle Fragen stellen. Aber die Nachbarin schien eine moralische Stütze zu sein, die er zu schätzen wusste.

»Sie sind Caroline Voigt?«

Das Mädchen nickte.

»Wie alt sind Sie?«

»Zwanzig. Nächste Woche werde ich zwanzig.«

»Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

»Ja.«

»Bitte erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Ich bin heute Morgen zu ihm gefahren. Wir hatten uns gestern gestritten, Alex und ich. Da wollte ich… da wollte ich, dass wir uns wieder vertragen. Die Tür stand offen. Ich bin ins Wohnzimmer gegangen. Als ich das Blut am Boden sah und das Messer, bin ich nach draußen gerannt. Ich war in Panik und bin auf die Straße und einfach zu diesem Haus gelaufen. Ich hab geklingelt. Frau Nissen hat mir geöffnet. Wir haben dann die Polizei gerufen, das heißt, ich hab mit meinem Handy den Notruf gewählt. Das ist alles.«

»Wann war das? Zu welcher Uhrzeit?«

»Um kurz nach sieben.«

»Das ist sehr früh für einen Besuch.«

»Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Wegen des Streits. Wir sind schon fast sechs Monate zusammen. Da kann man eine Beziehung doch nicht so einfach beenden.« Sie schluchzte.

»Worüber haben Sie sich gestritten?«

»Wir haben gar nicht richtig gestritten. Alexander hat an dem Abend mit mir Schluss gemacht. Einfach so, ohne Grund. Das heißt, er hatte schon vor zwei Wochen Schluss gemacht. Aber ich dachte, er würde es sich noch einmal anders überlegen. Deshalb war ich am Abend da. Er war wütend, weil ich gekommen war. Er hat mich quasi rausgeschmissen. Trotzdem wollte ich es an dem Morgen noch einmal versuchen. Schließlich hab ich immer zu ihm gehalten.«

»Hat Alexander mit Ihnen über seine Probleme gesprochen?«

»Das gehört doch dazu, wenn man zusammen ist.«

»Wurde er bedroht? Wissen Sie etwas darüber?«

Sie schwieg.

»Frau Voigt, wir müssen das wissen. Wir werden ihn suchen. Jede Information über seine Kontakte und die Geschehnisse könnte wichtig für uns sein.«

»Ich weiß nichts. Ich möchte jetzt nach Hause.«

Flottmann war klar, dass sie ihm etwas verschwieg. Aber er wollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiter unter Druck setzen. »Sie wohnen hier in der Nähe?«

»In Husum.«

»Wie sind Sie hierhergekommen?«

»Mit dem Auto. Es steht auf dem Parkplatz am Freibad. Ich wollte nicht in die Einfahrt fahren. Ich hatte Angst, dass er gar nicht erst aufmacht, wenn er mein Auto sieht.«

»Haben Sie etwas im Haus angefasst? Ich meine, heute Morgen?«

»Nein. Die Tür vielleicht. Aber drinnen nichts.«

»Auch das Messer nicht?«

»Nein, nein. Ich weiß doch, dass man in solchen Fällen nichts berühren darf.«

»Frau Voigt, haben Sie irgendeine Ahnung, was im Haus vorgefallen sein könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihm ist etwas Schreckliches zugestoßen. Er geht nicht ans Telefon. Sein Bruder Erik weiß auch nichts.«

»Sie haben ihn angerufen?«

»Ja. Kurz bevor Sie eingetroffen sind. Er studiert in Kiel. Er kommt hierher.«

»Alexander wohnt bei seinem Vater?«

»Ja. Er hat zwar in Kiel studiert, Mathe und Informatik. Aber er hat aufgehört. Das war nichts für ihn. Jetzt will er etwas anderes machen. Vielleicht Journalist werden oder Schriftsteller.«

Die Katze streckte sich auf Carolines Schoß und sprang auf den Boden.

»Sie leben allein?«, fragte Flottmann an Frau Nissen gewandt.

»Ja. Mein Mann ist schon lange tot. Balu leistet mir Gesellschaft. Ein Wachhund wäre vielleicht besser. Im Sommer herrscht reger Betrieb in Schobüll. Aber im Winter ist es einsam hier. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was bei den Küsters geschehen ist. Balu könnte wohl keinen Einbrecher verjagen. Haben Sie ein Haustier, Herr Kommissar?«

»Einen Kater. Er ist auch eher ungeeignet für den Personenschutz.«

Flottmann stand auf.

»Sie sollten heute nicht mehr mit dem Auto fahren«, sagte er zu Caroline Voigt. »Ein Streifenwagen könnte Sie nach Hause bringen.«

»Meine Eltern holen mich ab, wenn ich sie anrufe.«

»In Ordnung. Ich werde mich in den nächsten Tagen für weitere Fragen bei Ihnen melden.«

Flottmann bedankte sich bei Frau Nissen. Beinahe wäre er beim Rausgehen über die Perserkatze gestolpert. Ich würde um meinen zerbrochenen Keichosaurier wetten, dass Bogomil der bessere Mäusefänger von euch beiden ist, dachte er.

Er ging zurück zum Haus Küster. Auf dem gepflasterten Weg kam ihm Rita Förster entgegen. Sie trug immer noch den weißen Schutzanzug und hatte eine Reisetasche in der linken Hand.

Rita blieb vor ihm stehen und streifte die Kapuze ab. »Ich bin so weit fertig. Die Eingangstür wurde nicht gerade fachmännisch mit einem Hebelwerkzeug aufgebrochen. Das war kein Profi. Außerdem sieht es nicht so aus, als hätten die Täter nach Wertgegenständen gesucht. Allerdings habe ich Spuren am Tresor im Keller entdeckt.«

»Im Keller befindet sich ein Tresor?«

»Ja. Jemand hat versucht, ihn mit roher Gewalt zu öffnen. Absolut dilettantisch und ohne Erfolg. Ich hab Fingerabdrücke genommen. Ob die von den Hausbewohnern oder einem Täter stammen, wird sich zeigen. Ansonsten sieht es nicht so aus, als hätte jemand die Räume nach Wertgegenständen durchsucht. Das Aufzeichnungsgerät für die Kameras wurde aus der Verankerung gerissen und vermutlich mit den Füßen bearbeitet.«

»Ob etwas gestohlen wurde, wird der Besitzer feststellen können, der Vater des Vermissten. Hätte man das Öffnen der Haustür nicht im Wohnzimmer hören müssen?«

»Die Musikanlage ist noch eingeschaltet. Vielleicht hat das Opfer gerade eine Platte abgespielt.«

»Und was sagen die Spuren im Wohnzimmer?«

»Sie sind typisch für eine Messerattacke. Allerdings gibt es keine Schleuderspuren. Der Täter hat vermutlich nur einmal zugestochen. Die Spuren an Wand, Fliesen und auf dem Teppich dürften vom fallenden Messer stammen beziehungsweise durch das Auftreffen desselben auf dem Boden entstanden sein. Aber für genaue Aussagen fehlen mir die technischen Mittel.«

»Verstehe. Was meinst du mit Schleuderspuren?«, fragte Flottmann, obwohl er in etwa wusste, was darunter zu verstehen war.

»Wenn das Messer nach dem ersten Stich herausgezogen wird und der Täter erneut ausholt, lösen sich Blutstropfen, die beim ersten Mal am Messer haften geblieben sind. Fliehkraftprinzip.«

»Und das lernt man alles in sechs Wochen?«

Rita Förster verzog das Gesicht. Ihr linkes Auge zuckte mehrmals. Dann ging sie wortlos an ihm vorbei.

Okay, die Frau war empfindlich, konstatierte er. Keine guten Voraussetzungen, um sich bei den Kollegen zu behaupten. Aber vielleicht kam sein Humor nur einfach nicht gut bei ihr an.

Flottmann überlegte kurz, ob er einen Schutzanzug überziehen sollte. Er verzichtete darauf, ging zum Eingang und schob die Tür mit dem Fuß auf. Dann ging er den Flur entlang bis ins Wohnzimmer. Der Raum war mindestens fünfzig Quadratmeter groß und modern eingerichtet. Es waren keine Heizkörper zu sehen, was auf eine Fußbodenheizung schließen ließ. Trotzdem war ein Teil des hellgrau gefliesten Bodens mit einem beigefarbenen Teppich bedeckt. Erst bei genauem Hinsehen fielen die Blutspritzer auf, die Förster beschrieben hatte. Eine verschmierte Lache von weniger als zehn Zentimetern Durchmesser befand sich auf den Fliesen in der Nähe der Stereoanlage. Viel Blut schien das Opfer nicht verloren zu haben. Das Messer lag etwa einen halben Meter entfernt vom Teppichrand. Eine circa fünfundzwanzig Zentimeter lange Klinge, beidseitig geschärft. Vermutlich ein Jagdmesser. Die Blutanhaftungen reichten fast bis zum Griff. Flottmann ging davon aus, dass Rita Förster die Lage der Waffe nicht verändert hatte.

3

Der Suchtrupp rückte mit einem Mannschaftswagen an. Hilgersen hatte den Dienstpolo genommen und war vorangefahren. Er dirigierte die Kollegen zum Wohnhaus Küster. Flottmann stand mit Schmidtmann und Rasmussen vor deren Einsatzwagen. Hilgersen stieg aus und kam auf sie zu.

»Wie gehen wir vor?«, fragte er. »In fünf Minuten ist der Trupp einsatzbereit. Soll zuerst der Hund die Witterung aufnehmen?«

»Wenn du den Job nicht übernehmen willst, wäre es sinnvoll«, antwortete Flottmann.

»Dafür bräuchten wir ein getragenes Kleidungsstück des Vermissten.«

»Hm. Klar. Hab ich nicht dran gedacht. Vermutlich ist Alexanders Zimmer im Obergeschoss. Sieh dich mal um. Und meide das Wohnzimmer. Dort wirst du sowieso nicht fündig werden. Ich kümmere mich um die Organisation des Suchtrupps.«

»Ich würde mich nicht wundern, wenn der oder die Mörder die Leiche der Nordsee überlassen hätten. Am Campingplatz vorbei führt ein Weg zur Seebrücke, und wenn ablaufendes Wasser war, schwimmt Alexander Küster jetzt irgendwo da draußen im Atlantik.«

»Wir sollten im Moment noch davon ausgehen, dass er lebt und Hilfe benötigt. Deshalb ist höchste Eile geboten. Also mach hin. Und zieh Handschuhe an, wenn du reingehst«, sagte Flottmann.

Als Hilgersen nach zehn Minuten wiederkam, hatte er einen Pullover und eine Socke in der Hand.

Flottmann unterhielt sich mit dem Hundeführer Dieter Sönksen, einem hochgewachsenen Mann in Zivil, mit Kinnbart und schwarzem Stoppelhaar, der einen Schäferhund an der Leine hielt. Die anderen Mitglieder des Trupps hatten bereits mit der Suche am südlichen Strandabschnitt begonnen und sollten sich nach Norden vorarbeiten. Rasmussen und Schmidtmann waren damit beschäftigt, die Nachbarschaft zu befragen. Jede Beobachtung konnte von Bedeutung sein.

Hilgersen überreichte Sönksen die Kleidungsstücke. Dieser hielt den Pullover nur für einige Sekunden vor die Nase des Vierbeiners. Der Hund mit dem Namen Jester wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Er konnte seinen Einsatz offenbar kaum erwarten.

Die drei Männer gingen zum Hauseingang. Jester bewegte seine Schnauze dicht über dem Boden. Als er die Tür erreichte, wollte er die Stufen hinauf in den Flur laufen. Durch ein geschicktes Manöver setzte Sönksen ihn auf eine andere Fährte, die Richtung Einfahrt führte. Dort schnüffelte das Tier in einem Umkreis von mehreren Metern. Selbst ein Laie erkannte, dass es die Spur verloren hatte.

Sönksen zog den Spürhund an der Leine zurück und belohnte ihn mit einigen Streicheleinheiten.

»Sieht so aus, als wäre die Zielperson in ein Auto verfrachtet worden. Oder sie ist in ein Auto gestiegen und weggefahren.«

»Hat der Hund auch eine Witterung, wenn der Vermisste getragen wurde?«, fragte Hilgersen.

»Klar. Es sind nicht die Fußspuren, die er erschnüffelt. Es sind die Hautschuppen, die jeder Mensch verliert. Das sind Tausende in jeder Minute. Jester ist ein echter Mantrailer. Kleinste Blutstropfen kann er natürlich ebenfalls riechen.«

»Mann, bin ich froh, dass ich nicht so einen Geruchssinn habe. Mir würde so manches stinken. Stattdessen hab ich einen siebten Sinn, sozusagen einen übersinnlichen Riecher. Und der teilt mir gerade mit, dass wir zur Seebrücke gehen sollten.«

»Einen Versuch wäre es wert«, sagte Flottmann.

»Allerdings gibt es ein Problem. Bei Hochwasser und entsprechendem Wind wird der Steg überspült. Das Salzwasser könnte alle Spuren vernichtet haben«, sagte Hilgersen.

Sönksen nickte. »Aber heute Nacht hatten wir nur eine seichte Brise aus östlicher Richtung.«

»Okay. Vielleicht haben wir Glück«, sagte Flottmann.

»Als Glück würde ich das nicht betrachten. Jedenfalls nicht für Alexander Küster«, unkte Hilgersen. »Sein Wagen steht übrigens in der Garage. Ich hab den Vater angerufen. Er wusste bereits Bescheid. Erik und er hatten miteinander telefoniert. Er war im Auto, als ich ihn erreicht habe. In circa fünf Stunden wird er hier sein. Ich hab ihn vorgewarnt, dass er sein Haus nicht betreten kann, da die Spurensicherung vermutlich noch andauert.«

»Davon ist auszugehen. Wenn wir nicht ausschließen können, dass ein Tötungsdelikt vorliegt, muss die Kriminaltechnik tätig werden, Ritas Anstrengungen in allen Ehren. Der Suchtrupp hat sich noch nicht gemeldet. Also los. Folgen wir deinem siebten Sinn, Gustl.«

Sie fuhren mit dem Mannschaftswagen bis zum Campingparkplatz und stiegen aus. Den Sandweg bis zur Seebrücke wollten sie zu Fuß und abseits des Pfads gehen, um mögliche Reifenspuren nicht zu zerstören. Falls Hilgersen mit seiner Annahme recht hatte, war der Täter vermutlich über den für den Verkehr gesperrten Weg bis an die Brücke gefahren.

Jester versuchte, Witterung aufzunehmen, konnte aber offenbar keine Spur erschnüffeln. Erst in unmittelbarer Nähe der Brücke merkte man dem Tier an, dass es etwas entdeckt hatte. Es zog an der fünf Meter langen Leine und war kaum zu halten. Flottmann bemühte sich nicht, mit dem Tempo der anderen mitzuhalten. Mit gemächlichem Schritt stapfte er über die Holzplanken und genoss die Aussicht. In der Ferne war die Skyline der Halbinsel Nordstrand mit dem markanten Silo Süderhafens zu sehen. Sogar die historische Mühle war deutlich zu erkennen. Das Watt glitzerte in der Morgensonne. Zahlreiche Vögel suchten nach Nahrung im Schlick und sorgten für den akustischen Hintergrund. Flottmann identifizierte Austernfischer und Lachmöwen, die bereits ihr Sommerkleid mit dem typischen schwarzbraunen Gefieder am Kopf trugen. Für mehr reichten seine ornithologischen Kenntnisse nicht.

Als er am Ende des Stegs ankam, war Hilgersen nicht zu sehen. Sönksen saß auf einer Bank, und Jester schnüffelte immer noch die Umgebung ab.

»Wo ist der Kollege? Im Watt versunken?«, fragte Flottmann und setzte sich zum Hundeführer.

»Klettert da unten rum.« Er nickte mit dem Kopf zur Treppe, die ins Watt führte. »Hat was gefunden. Könnte vom Opfer stammen. Er sucht wohl noch weiter.«

In diesem Moment kam Hilgersen zum Vorschein. Er stieg die Stufen empor und hatte einen Schuh in der Hand. Seiner Kleidung war anzusehen, dass er tief in den Schlick eingesunken war.

»Das nenne ich Einsatz«, bemerkte Flottmann anerkennend.

»Wie immer. Und ich hatte die richtige Nase«, antwortete Hilgersen. Der Hund war auf ihn zugestürmt und beschnupperte das Fundstück.

»Das riecht nach dem Vermissten«, interpretierte Sönksen das Verhalten seines Mantrailers.

»Bingo.« Hilgersen kramte einen Plastikbeutel aus seiner Jackentasche und tütete das Beweisstück ein. »Der oder die Täter haben den Jungen in der Nordsee versenkt, wie ich vermutet hatte. Ich denke, wir können die Suchaktion abbrechen.« Er stampfte mehrmals auf den Boden, um den gröbsten Schmutz abzuschütteln, was aber ohne Erfolg blieb.

»Nee. Sie sollen weitersuchen. Sicher ist sicher. Weißt du, was mich die ganze Zeit beschäftigt, Gustl?«

»Du wirst es mir sagen.«

»Warum hat sich der Täter die Mühe gemacht und die Leiche bis ans Ende der Brücke gebracht? Er hätte sie am Anfang des Stegs ins Wasser werfen können.«

»Sie hätte sich im Schilf verfangen. Außerdem ist in Ufernähe die Strömung bei ablaufendem Wasser zu gering, um den Körper auf Nimmerwiedersehen in die Nordsee abdriften zu lassen.«

»Wie lang ist der Steg?«

»Über zweihundertfünfzig Meter.«

»Niemand schafft es, einen toten Körper so weit zu tragen oder zu schleifen.«

»Soweit ich weiß, war Alexander ein Leichtgewicht, und wenn der Täter kräftig war, konnte er es ohne Probleme schaffen.«

»Mag sein.«

»Außerdem kann man durchaus mit einem Auto auf die Brücke fahren. Verdammt, hab ich kalte Füße«, schimpfte Hilgersen. »Ich fahr jetzt erst mal nach Hause und zieh mir andere Klamotten an.«

»Hättest die Schuhe vorm Schlicklaufen ausziehen und die Hosenbeine hochkrempeln sollen.«

»Guter Tipp. Aber ich war so heiß auf die Bergung des Beweisstücks, dass keine Zeit dafür blieb. Es ist das Fieber, wenn du weißt, was ich meine.«

»Klar.« Flottmann klopfte Hilgersen auf die Schulter. »Du bist unser bester Mann, Gustl.«

»Endlich merkt das mal einer.«

»Wir müssen die Brücke absperren. Auch den Weg. Vielleicht kann die SpuSi was feststellen, Reifenspuren zum Beispiel.«

Sie gingen zum Parkplatz zurück. Hilgersen übergab Flottmann den Plastikbeutel mit dem Schuh.

»Wir treffen uns im Büro«, sagte Flottmann. »Ich bin gespannt auf das Video.«

»Was ist mit Erik und dem Vater?«

»Sollen unmittelbar zur Dienststelle kommen. Ich sag den Kollegen Bescheid, dass sie die beiden abfangen sollen, wenn sie hier in Schobüll eintreffen.«

»Ich will ja nicht kleinlich sein, Waldemar, aber es heißt nicht Schobüll, sondern Schobüll. Ich hab es dir schon einmal gesagt. Die Betonung liegt auf der ersten Silbe.«

»Du bist kleinlich, Gustl. Und wenn du nicht so einen guten Riecher gehabt hättest, dann… Ach was.« Flottmann machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Bogomil ist schuld an deiner Laune«, brummte Hilgersen und ging quer über den Parkplatz zu seinem Wagen. Dabei hinterließ er eine Spur aus getrocknetem Schlick, der bei jedem Schritt von seiner Jeans und seinen Schuhen abbröckelte.

Flottmann und Sönksen fuhren zum Haus Küster zurück. Dort trafen sie auf die Kollegen des Suchtrupps.

»Mit dem Küstenbereich sind wir so weit durch«, empfing sie Thomas Jensen, ein hochgewachsener Mann in blauer Montur und schweren Stiefeln. Die vom Regen vergangener Tage aufgeweichten Felder hatten ihre Spuren auf seiner Kleidung hinterlassen. »Den Osten und den Wald zu durchkämmen wird schwieriger. Dafür bräuchten wir mehr Leute.«

»Wir brechen ab«, sagte Flottmann. »Vielen Dank, dass ihr so spontan dabei wart.«

»Bei so schönem Wetter stehen wir gern wieder zur Verfügung.« Jensen tippte mit dem Zeigefinger an die nicht vorhandene Mütze und ging.

4

Hilgersen saß bereits an seinem Schreibtisch, als Flottmann ins Büro kam. Wie Flottmann feststellte, trug der Kollege noch dieselbe Kleidung wie vorher. Er hatte die Jeans nur grob vom Schmutz befreit. Schuhe und Strümpfe hatte er ausgezogen und zum Trocknen unter die Fensterbank gestellt.

»Ich dachte, du wolltest dich duschen und umziehen«, sagte Flottmann und setzte sich auf seinen Drehstuhl.

»Hab es mir anders überlegt. Schlick soll gut für die Gesundheit sein. Wirkt so ziemlich gegen alle Leiden. Kriegst du sogar auf Krankenschein. Wusstest du, dass es hier eine Firma gibt, die den Schlick trocknet, zermahlt und als Pulver verkauft? Ein Kilo Watt im Plastikbecher. Das kannst du dann zu Hause mit Wasser anrühren und dir auf die Haut auftragen.«

»Und jetzt behandelst du deinen Fußpilz damit?«

»Ich bin ins Büro gedüst, damit wir uns das Video zusammen ansehen.«

»Lohmeyer hat eine Kopie auf dem Server bereitgestellt. Also beweg deine Schlickfüße.«

Hilgersen rollte mit seinem Stuhl zu Flottmann herüber.

Dieser startete mit einem Doppelklick auf die Datei »Camera1« einen der Filme im Videoplayer. »Die Aufnahme geht über vierundzwanzig Stunden, hat Lohmeyer gesagt. Es wurden vier Kameras gleichzeitig aufgezeichnet. Eine befindet sich im Wohnzimmer, zwei auf der Terrasse, eine am Treppenaufgang zum Obergeschoss. Der Speicher wird nach Ablauf der vierundzwanzig Stunden wieder überspielt.«

»Ist keine Kamera draußen am Haupteingang?«, fragte Hilgersen.

»Nein. Offensichtlich wollte man keine Einbrecher anlocken. Die Kameras im Haus haben übrigens integrierte Mikrofone. Es wurde also der Ton mit aufgezeichnet. Rund um die Uhr.«

»Auch bei Anwesenheit der Hausbewohner?«

»Offenbar ja. Wenn wir Glück haben, hat der Mörder sich mit Namen vorgestellt.«

»Bestimmt.«

Flottmann startete das Video. Es zeigte das Wohnzimmer. Niemand befand sich im Sichtfeld der Kamera, die an der Decke angebracht war. »Das Weitwinkel- oder Fischaugenobjektiv erfasst nahezu den gesamten Raum. Das geht allerdings auf Kosten der Auflösung, sodass Details vermutlich kaum zu erkennen sind. Aber vielleicht hat die Kriminaltechnik Möglichkeiten, noch etwas herauszukitzeln, falls es erforderlich ist.«

»Vierundzwanzig Stunden?« Hilgersen legte die Stirn in Falten. »Und das multipliziert mit vier. Du willst dir doch nicht alles angucken?«

»Bleibt uns etwas anderes übrig? Wir könnten die Aufgaben an Kollegen verteilen.«

»Geh mal weg da. Von Technik verstehst du nichts«, sagte Hilgersen schroff.

Murrend überließ Flottmann dem Kollegen seinen Platz.

Mit ein paar Klicks stellte Hilgersen den Mediaplayer auf maximale Geschwindigkeit, sodass der Film wie im Zeitraffer ablief. Die Aufnahme startete in der Nacht. Der Raum wurde nur durch spärliches Licht von außen beleuchtet. Die Nacht und ein ganzer Tag vergingen, ohne dass sich etwas Wesentliches tat. Um dreiundzwanzig Uhr und zwölf Minuten wurde Licht eingeschaltet, und Alexander Küster betrat das Wohnzimmer. Hilgersen spulte einige Sekunden zurück und ließ das Video dann mit normaler Geschwindigkeit ablaufen.

Alexander Küster ging auf den weißen Schrank zu und öffnete eine Glastür, hinter der sich ein Plattenspieler für Vinylplatten befand. Man sah, wie er den Tonarm positionierte. Noch erklang keine Musik. Er setzte sich in einen der Ledersessel und nahm offenbar die Fernbedienung vom Couchtisch. Denn kurz darauf schallte Miles Davis aus den Lautsprechern.

Alexander legte seine Füße auf den Tisch, wobei er die Schuhe anbehielt, blau-weiße Sportschuhe mit Klettverschluss. Soweit erkennbar, sahen sie genauso aus wie das Exemplar, das Hilgersen an der Schobüller Seebrücke gefunden hatte.

»Spul weiter«, sagte Flottmann.

»Magst du Miles Davis nicht?«

»Doch. Kann ich aber auch zu Hause hören.«

»Du hast Platten von Miles Davis?«

»Klar. ›Kind of Blue‹ und ›Milestones‹. Und nun mach schon. Vielleicht legt er noch Helene Fischer für dich auf.«

Hilgersen warf Flottmann einen bösen Blick zu. Dann ließ er das Video mit maximaler Geschwindigkeit ablaufen. Alexander Küster spielte weitere Platten ab. Er verließ einige Male den Raum, um sich ein Bier zu holen, das er aus der Flasche trank.

»Warum hört er nicht in seinem eigenen Zimmer Musik?«, fragte Hilgersen.

»Vielleicht wollte er mal authentische Stücke und ohne Stöpsel im Ohr hören. Jedenfalls hat er in seinem Zimmer keine so edle Stereoanlage. Stopp! Da tut sich was!«

Plötzlich tauchte eine weitere Person auf. Hilgersen hielt den Film an und spulte zurück. Flottmann rückte näher an ihn heran. Beide starrten gebannt auf den Bildschirm. Led Zeppelins »Stairway to Heaven« war gerade verklungen. Alexander stand auf, offenbar um die Platte umzudrehen oder eine neue aufzulegen. In diesem Moment erschien eine Gestalt im Bild. Sie war vom Flur hereingekommen. Sofort fielen ihre ungewöhnlich dicke Kleidung und die Handschuhe auf. Zwar war es inzwischen Nacht– der Zeitstempel zeigte ein Uhr sieben–, aber die Außentemperaturen waren sicher nicht unter sechs Grad gesunken. Und ein Einbrecher würde keine hinderliche Montur anziehen. Der Fremde trug einen Parka mit Innenfutter und Kapuze. Für einen kurzen Moment war sein Gesicht zu sehen. Der Bart, die Brille und die langen schwarzen Haare, die unter der Kopfbedeckung hervorlugten, vermittelten den Eindruck, dass er sich verkleidet hatte. Vermutlich war nicht einmal seine markante Nase echt.

Es war still im Raum. Zumindest hatte das Mikrofon keine hörbaren Geräusche aufgezeichnet. Selbst die Schritte des Einbrechers waren nicht zu hören. Und doch musste Alexander etwas wahrgenommen haben. Vielleicht hatte sich eine Bewegung in der Glastür des Schranks gespiegelt. Jedenfalls wandte er sich langsam um. Man sah, wie er die Augen aufriss und den Mund öffnete, um etwas zu sagen. In diesem Moment zog der Angreifer ein Messer aus der Jackentasche. An der Armbewegung konnte man erkennen, dass er nur einmal zustach. Der eigentliche Stich wurde durch seinen Körper verdeckt. Ein kurzes Röcheln war zu vernehmen. Das Opfer drehte sich um die eigene Achse und sank zu Boden. Man hörte, aber sah nicht, wie das Messer auf den Fliesen aufschlug. Alexander zuckte einige Male mit den Gliedmaßen und blieb dann regungslos liegen. Der Täter stand eine Weile vor dem Opfer. Dann holte er aus und versetzte ihm einen Tritt mit dem Fuß. Als sich der Angreifer umdrehte, erfasste die Kamera kurz sein Gesicht. Hilgersen stoppte den Film. Das Standbild hätte gut für eine Fahndung verwendet werden können, wenn die Person nicht verkleidet gewesen wäre. Der Täter hatte anscheinend sein komplettes Äußeres verändert.

»Er wusste, dass die Kameras existieren«, sagte Hilgersen. »Vermutlich hat er Ortskenntnisse. Vielleicht kennt er die Familie. Zumindest spricht einiges dafür, dass er bereits einmal im Haus gewesen war.«

»Er könnte sich auch zur Sicherheit verkleidet haben.«

»Ja, könnte. Aber das glaube ich nicht. Der ist entweder ein Bekannter der Küsters oder ein Handwerker oder Staubsaugervertreter.«

»Der Tritt mit dem Fuß lässt eher auf eine Beziehungstat schließen, die von Hass geleitet wurde«, warf Hilgersen ein.

»Vielleicht. Mach weiter, Gustl.«

Hilgersen klickte auf den Startknopf. Der Mann beugte sich über das Opfer und verdeckte mit seiner Gestalt dessen gesamten Oberkörper.

»Was macht der da?«, fragte Flottmann.

»Vielleicht prüft er, ob Alexander noch atmet.«

»Hm.«

Die nächsten Sekunden zeigten, wie der Täter den leblos wirkenden Alexander an den Füßen bis in den Flur und damit außer Sichtweite der Kamera schleifte.

»Das war’s wohl.« Hilgersen stoppte das Video. »Küster war sofort tot. Der Stich ging direkt ins Herz.«

Flottmann nickte. »Sieht so aus. Hätte er noch gelebt, wäre mehr Blut geflossen. Bei einem Toten bricht die Blutzufuhr unmittelbar ab.«

»Der Täter muss das Aufzeichnungsgerät für die Kameras im Keller entdeckt haben, als er versucht hat, den Tresor zu knacken. Wahrscheinlich kannte er sich mit der Technik aber nicht aus und hat nicht an die Speicherkarte gedacht.«

»Wie Rita schon sagte. Das war kein Profi. Lohmeyer schickt die SD-Karte nach Wiesbaden. Das BKA wird sich alles genau ansehen, alle vier Kameras und die gesamten vierundzwanzig Stunden.«

»Es kann dauern, bis wir den Bericht kriegen. Versuch, einen Kollegen zu finden, der sich damit beschäftigt. Vielleicht gibt es doch noch etwas, das wir im Schnelldurchlauf übersehen haben.«

»Ich könnte Knoblauch-Malte fragen. Der ist sehr gewissenhaft in solchen Sachen.«

»Du solltest ihn nicht so nennen, Gustl.«

»Und du solltest mich Gustav nennen.«

»Ich werd’s mir überlegen. Wir müssen dasK1 in Flensburg informieren. Es besteht wohl kein Zweifel mehr, dass Alexander Küster ermordet wurde.«

»Dann werden Hofmann und seine Leute übernehmen. Irgendwie schade.«

»Bis dahin machen wir weiter. Erik Küster, der Bruder, wird gleich kommen. Und der Vater, Wilhelm Küster, muss auch bald hier sein.«

»Sollen wir ihnen das Video zeigen?«

»Keinesfalls. Aber Lohmeyer soll ein Foto des Täters aus dem Video extrahieren. Die beiden Küsters sollen es sich ansehen. Vielleicht fällt ihnen trotz der Verkleidung irgendetwas an der Gestalt auf.«

»Okay. Ich werde das anleiern und Knoblauch-Malte überreden, sich die kompletten Aufzeichnungen anzusehen.«

»Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte, Gustl.«

5

Lena Abendroth hatte eine anstrengende Nachtschicht hinter sich. Meistens ging sie an solchen Tagen von der Klinik direkt nach Hause. Keine fünf Minuten benötigte sie bis zu ihrem Bungalow am Erichsenweg, den sie seit ihrer Scheidung allein bewohnte. Aber das sonnige Frühlingswetter lud zu einem Spaziergang und einem Bummel durch die Stadt ein. Sie nahm die Abkürzung durch den Park, in dem zu dieser Jahreszeit Millionen Krokusse für ein lilafarbenes Naturschauspiel sorgten. Die verschlungenen Sandwege führten an der Theodor-Storm-Büste und dem Brunnen vorbei zum Ausgang. Sie durchschritt das Sandsteinportal und warf einen Blick auf das Schloss mit dem Wassergraben, der grünlich in der Abendsonne schimmerte. Enten zogen ihre Bahnen und schleppten konzentrische Kreise hinter sich her. Lena nahm es als Kompliment, dass ihr ein junger Mann, der ihr entgegenkam, ein Lächeln schenkte. Vielleicht wirkte sie mit ihrer schlanken Figur und den strohblonden Haaren nicht wie eine Mittvierzigerin. Ende dreißig wäre okay, fand sie und amüsierte sich über ihre Gedanken. Sie hatte kein Problem mit ihrem Alter, aber ein wenig eitel war sie doch.

Sie wollte weiter Richtung Hafen und Innenstadt. An der Hohlen Gasse lag das »Mischmasch«, ein Laden für Geschenkartikel und allerlei »Dinge, die niemand braucht«, wie es auf einer Werbetafel hieß. Daran konnte sie einfach nicht vorbeigehen. Vor der Steintreppe, die in den kleinen Verkaufsraum führte, waren einige Exponate ausgestellt. Ihr Blick fiel sofort auf eine Skulptur, die aus Strandgut hergestellt worden war. Sie ähnelte einem der Flugsaurier, den sie bei Waldemar gesehen hatte, war aber offenbar ein Produkt künstlerischer Phantasie. Zwei Steine formten die Augen, und das Skelett bestand aus gebleichtem und von Wellen feingeschliffenem Holz. Sie benötigte einige Zeit, um zu registrieren, was sie beim Anblick irritierte. Sie bückte sich und strich mit Daumen und Zeigefinger über eine Querstrebe des Skeletts. Kaum zu glauben, aber sie bestand eindeutig aus einem abgesägten Oberarmknochen. Die proximalen und distalen Endstücke fehlten. Trotzdem war sie sich sicher.

Lena schüttelte ungläubig den Kopf. Was hatte ein menschlicher Knochen in einem Kunstwerk zu suchen? War die Künstlerin, die laut Messingschild Carmen Lorenzen hieß, sich bewusst gewesen, was sie verarbeitet hatte?

Lena ging die Stufen hinauf in den Laden. Sie stöberte in den Ausstellungsstücken. Eine Zeit lang schenkte sie den dekorativen und lustigen Angeboten ihre Aufmerksamkeit: Dreamcatchern, die von der Decke hingen, Thermometern mit Pin-up-Motiven und anderen nützlichen Sachen wie einem Rückenkratzer, einer Metallstange, an deren Ende sich Zacken befanden. Aber der Gedanke an den Knochen ließ sie nicht los. Sie hatte vielleicht eine Viertelstunde im Shop verbracht, bevor sie wieder hinausging, um das Werk aus Strandgut erneut zu untersuchen. Sie traute ihren Augen nicht. Die Kreatur war verschwunden. Jemand musste sie in der kurzen Zeit, die sie im Geschäft verbracht hatte, gekauft oder gestohlen haben.

Hastig lief sie zurück in den Laden. Mit einer Entschuldigung schob sie eine Kundin am Verkaufstresen beiseite, die darauf wartete, dass ihre Ware als Geschenk verpackt wurde.

»Das Kunstwerk da draußen, diese merkwürdige Figur mit den Steinaugen und dem Knochen. Wo ist die geblieben?«

Die Verkäuferin sah sie einen Augenblick irritiert an. »Sie meinen das ›Geschöpf aus der Tiefe‹ von Carmen Lorenzen. Das haben wir gerade verkauft. Wir hatten es nur in Kommission genommen.«

»An wen?«

»Was?«