Friesisch morden - Gerd Kramer - E-Book

Friesisch morden E-Book

Gerd Kramer

3,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Olivia, Johanna und Dörte aus Nordfriesland beschließen, ihr Leben endlich in die eigene Hand zu nehmen und ihre Träume wahr werden zu lassen. Der geplanten Selbstverwirklichung steht nur eines im Weg: die angetrauten Männer. Da eine Scheidung für alle drei nicht in Frage kommt, finden die Frauen gemäß der Formel »bis dass der Tod euch scheidet« schon bald eine andere Lösung für ihr Problem. Doch als sie gezwungen sind zu improvisieren, führt das zu ungeahnten Verwicklungen und ruft die Kriminalpolizei auf den Plan …

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Seitenzahl: 370

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Gerd Kramer

Friesisch morden

Kriminalroman

Zum Buch

Mörderisches Trio Olivia und Johanna, beide in den Fünfzigern, sowie die blonde Schönheit Dörte, 42, beschließen, ihr Leben endlich in die eigene Hand zu nehmen und ihre aufgestauten Träume zu verwirklichen. Unter anderem planen sie, ein Unternehmen aufzubauen, das Schlick aus dem Wattenmeer als Heilmittel anbietet. Doch ihrer Selbstverwirklichung stehen die angetrauten Männer im Weg. Da eine konventionelle Scheidung aus unterschiedlichen Gründen nicht in Frage kommt, findet das Trio gemäß der Formel »bis dass der Tod euch scheidet« schon bald eine andere Lösung. Weil Beziehungstaten selten unentdeckt bleiben, versuchen die Frauen, ein Ableben ihrer Männer auf »natürliche Weise« zu beschleunigen. Mithilfe der Krankengeschichten und Vorlieben ihrer Gatten beginnen sie, deren Ernährung und Lebensstil zu „optimieren“. Der gewünschte Erfolg lässt jedoch auf sich warten, und sie müssen ihre Methode anpassen …

Gerd Kramer wurde 1950 in Husum an der Nordsee geboren, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Nach seinem Physikstudium in Kiel arbeitete er als Gutachter im Bereich Umweltschutz/Lärmschutz beim TÜV Rheinland in Köln. 1987 gründete er eine Firma, die sich mit der Entwicklung von Simulationssoftware und der Erstellung von Gutachten für den Umweltschutz beschäftigt. Inzwischen haben sich seine Interessen weitgehend auf das Schreiben von Kriminalromanen verlagert sowie auf das Komponieren von Liedern, die er zur Bereicherung seiner Lesungen vorträgt. Gerd Kramers Werke zeichnen sich besonders durch einen trockenen, typisch nordfriesischen Humor aus.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Visions-AD / stock.adobe.com; Wachiraphorn Thongya / Shutterstock; José María Bouza / stock.adobe.com; exclusive-design / stock.adobe.com; Photoillustrator / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7086-8

Prolog

Tat es weh, wenn man ertrank? Nein, das glaubte Johanna nicht. Sie war mit ihrer Freundin Birte schon oft beim Baden in der Nordsee um die Wette getaucht. Anschließend hatte sie nach Luft schnappen müssen, aber Schmerzen hatte sie nicht verspürt. Vielleicht stieg das Wasser ja auch gar nicht weiter an. Auf der Schulter ihres Vaters fühlte sie sich sicher. Er war stark und würde sie niemals loslassen. Niemals! Das wusste sie. Eben hatte er noch ein Lied mit ihr gesungen, Verse, die er selbst erfunden und aufgeschrieben hatte. Einige davon kannte sie auswendig, so wie den Planeten-Song, den er nur für sie gedichtet und auf YouTube gestellt hatte.

Aber nun schwieg er, und sie schwieg auch. Nur noch die Schreie der Möwen und das Plätschern der Wellen waren zu hören. Wenn sie wie eine Möwe fliegen könnten, würden sie durch die Lüfte schweben und irgendwo am Ufer oder auf einer Insel landen.

Das Wasser umspülte ihre eiskalten Füße. Johanna hob die Beine an, damit sie ein wenig trockneten. Aber sie durfte sich nicht zu fest um Papas Hals klammern, sonst würde sie ihm die Luft abschnüren.

Warum kam kein Schiff vorbei, um sie zu retten? Es waren so viele auf dem Meer unterwegs. Gestern hatten sie einen riesigen Frachter und ein Segelboot vom Strand aus beobachtet. Aber heute war kein Schiff zu sehen.

Eine Flasche aus Kunststoff trieb auf sie zu. Die Ozeane waren voller Müll, achtlos von Menschen ins Meer geworfen. Ihr Vater schnappte sich die Flasche. Was wollte er damit? Sie beobachtete, wie er sein Notizbuch aus der Brusttasche zog und etwas aufschrieb. Ein Gedicht vielleicht. Als er fertig war, schraubte er den Verschluss ab, steckte den Zettel in die Flasche und verschloss sie wieder. Dann schleuderte er sie weit von sich. Sie tanzte eine Zeit lang auf den Wellen, bis sie in der Ferne verschwand.

»Müssen wir jetzt sterben?«, fragte Johanna.

»Nein, nein, Schatz, es wird alles gut. Bestimmt hat jemand unsere Rufe gehört. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Hilfe kommt.«

Seine Stimme klang ängstlich. Er sagte nicht die Wahrheit. Sie würden ertrinken. Der Priel hatte ihnen den Weg abgeschnitten. Er war ganz plötzlich angeschwollen und immer breiter geworden. Die Strömung war so stark, dass man nicht hindurchschwimmen konnte. Das Ufer war zu erkennen, aber es war unerreichbar. Auf dem Meer wirkte alles so nah. Doch das täuschte. Das Wasser würde weiter ansteigen und sie töten. Johanna schluchzte leise. Sie wollte nicht sterben. Kam man wirklich in den Himmel, wenn man starb?

»Du bist so schwer, Schatz. Ich muss dich runternehmen. Ist das in Ordnung? Ich halte dich fest. Es wird alles gut.«

Johanna klammerte sich um seinen Hals und schrie. Doch dem starken Griff des Vaters konnte sie nicht standhalten. Er zerrte sie mit Gewalt von der Schulter. Als sie ins kalte Wasser eintauchte, erstickten ihre Schreie. Im nächsten Moment fand sie sich in seinen Armen wieder und blickte in sein von Verzweiflung verzerrtes Gesicht. »Es tut mir so leid«, stammelte er weinend.

Und dann war da plötzlich dieses Geräusch. Woher kam es? Sie bemerkte, wie ihr Vater den Kopf zum Himmel reckte. »Hierher!«, rief er. Er hob Johanna in die Höhe. »Winke ihnen, Schatz! Wink ihnen zu, damit sie uns sehen.«

Einige Minuten später kreiste ein Hubschrauber über ihnen.

Als Johanna im Krankenhaus aufwachte, wusste sie nicht, ob das alles tatsächlich passiert war oder ob sie geträumt hatte. Die Mutter saß an ihrem Bett und hielt Johannas Hand. Sie hatte Tränen in den Augen und schluchzte.

1

Peter Bergmann versuchte, die Waffe ruhig zu halten, aber seine Rechte zitterte wie bei einem Fieberanfall. Er packte die Glock beidhändig, schloss das linke Auge, stellte sich breitbeinig hin, duckte sich etwas und zielte mit ausgestreckten Armen auf einen Blecheimer. Jetzt hätte er abdrücken können und vielleicht sogar getroffen. Aber er wollte keinen Probeschuss riskieren. Der wäre weithin hörbar gewesen und hätte vielleicht die Polizei auf den Plan gerufen. Die Pistole sollte ihm sowieso nur zur Abschreckung dienen und dem Erpresser ein für alle Mal zeigen, dass weitere Geldforderungen tödlich enden würden.

Er ließ die Arme sinken. Seine Angst verstärkte sich. Er schloss nicht aus, dass auch sein Widersacher bewaffnet war. Sicherheitshalber war er fast eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt zum Ort der Übergabe gekommen. So konnte er die Situation besser kontrollieren. Doch der ehemalige Empfangsraum im Erdgeschoss des ausgebrannten Nordseehotels war unübersichtlich. Jeden Moment rechnete er damit, dass der Verbrecher in einer der Türen erschien. Deshalb entschloss er sich, hinauf ins oberste Stockwerk zu gehen. Das Dach war vollständig vom Feuer zerstört worden. Von dort aus hatte er freie Sicht über den Dockkoog und den Porrenkoog. Kein Auto, keine Person konnte sich unbemerkt nähern.

Bergmann schob die Absperrung vor dem Treppenaufgang beiseite und stieg die Stufen hinauf. Er atmete schwer. Auf jeder Etage machte er halt und horchte. Von außen drangen Geräusche durch die zerborstenen Fenster. Möwengeschrei und blökende Schafe, die auf dem Deichvorland grasten, waren zu hören. Endlich erreichte er die obere Plattform. Als er die Stahltür öffnete, blies ihm ein kräftiger Wind entgegen. Eine unwirkliche Landschaft empfing ihn. Boden und Wände waren schwarz von Ruß. Überall lag Schutt herum, dazwischen verkohlte Holzträger und Möbelreste. Alle Türen waren verbrannt oder herausgebrochen.

Er kämpfte sich bis zu den Fensteröffnungen durch, die Richtung Stadt zeigten, und setzte sich auf einen Mauervorsprung. Wie vermutet, hatte er von seinem Standpunkt aus einen perfekten Überblick. Jetzt musste er warten. Die Pistole hielt er immer noch in der Hand.

Das Warten zerrte an seinen Nerven, die sowieso schon arg angegriffen waren. 10.000 Euro hatte der Erpresser gefordert. Die Summe hätte Bergmann aufbringen können. Aber damit wäre die Sache nicht erledigt. Er kannte solche Typen. Sie waren unersättlich und forderten ständig neue Summen. Deshalb musste er sich wehren.

Schon bei seiner Ankunft hatte er vier Pkws auf dem Parkplatz vor dem Hotel registriert, offenbar von Einheimischen oder Touristen, die am Strand spazieren gingen. Es war allerdings nicht vollständig auszuschließen, dass der Erpresser sein Auto bereits dort abgestellt hatte und irgendwo auf der Lauer lag.

Kurz vor dem vereinbarten Termin fuhr ein Mercedes älteren Baujahrs auf den Parkplatz. Ein Mann mit Hut stieg aus. Als sich sein Blick auffällig auf die Hotelruine richtete, wusste Bergmann, dass es ernst wurde. Der Fremde ging auf die Umzäunung zu, mit der das Gebäude rundherum abgesichert war. Das Schloss der Eingangstür war aufgebrochen, womöglich das Werk des Erpressers, der einen perfekten Ort für die Übergabe gewählt hatte. Vermutlich erwartete er ihn im Untergeschoss, auch wenn er am Telefon keine Angabe dazu gemacht hatte.

Bergmann winkte mit dem Bündel Spielgeld aus der Fensteröffnung.

»Ich bin hier oben«, rief er ihm zu. Keinesfalls wollte er seinen strategischen Platzvorteil aufgeben. Wenn der nicht mehr ganz junge Typ die Stufen erklommen hatte, wäre er außer Atem und konnte ihm nicht sofort gefährlich werden, wenn er erfuhr, dass er keinen Cent erhalten würde. Bergmann ließ sich nicht erpressen. Niemals!

Er positionierte sich in einiger Entfernung von der Stahltür. Seine Pistole steckte er in den Hosenbund hinter dem Rücken.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis die Tür zaghaft geöffnet wurde. Der Fremde sah nicht gerade furchterregend aus. Er war um die 60 und übergewichtig. Unter seinem Hut lugten graue Haare hervor.

Bergmann entspannte sich und setzte ein breites Grinsen auf, das seine Überlegenheit signalisieren sollte.

»Wo ist das Geld?« Der Mann kam direkt zur Sache. Er hechelte während des Sprechens und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Die 100 Stufen mussten ihm schwer zu schaffen gemacht haben.

Bergmann schmiss ihm das Bündel mit den falschen Scheinen vor die Füße.

»Sie können damit Monopoly spielen, wenn Sie wollen.«

Der Fremde starrte auf das Spielgeld, dann passierte das Unglaubliche. Er bückte sich, jedoch nicht nach den Scheinen, sondern nach einer verrosteten Rohrzange, die neben der Tür lag, und schritt auf Bergmann zu. Geistesgegenwärtig zog dieser seine Pistole aus dem Gürtel und richtete den Lauf auf den Gegner. Dabei vergaß er, die eingeübte Pose einzunehmen. Der Erpresser war jetzt ganz nahe und holte zum Schlag aus. Bergmann blieb nichts anderes übrig, als abzudrücken. Die Waffe war entsichert. Er krümmte den Zeigefinger bis zum Anschlag. Ein leises Klicken. Das war alles. Panisch drückte er noch einmal ab. Dann traf ihn die Rohrzange am Kopf. Er ließ die Pistole fallen und schwankte rückwärts. Im verzweifelten Ringen um das Gleichgewicht machte er einen Schritt zur Seite. Das rechteckige Loch in der Betondecke übersah er. Er stieß einen Schrei aus und verschwand in der Tiefe. Er landete auf den verkohlten Resten einer Anrichte. Aufgebahrt wie ein Opferlamm, hauchte er seine letzten Atemzüge aus.

2

Olivia Petersen legte ihre Füße auf die untere Strebe der Balkonbrüstung und griff zur Flasche. Sie verzog das Gesicht. Der Rum schmeckte wie »Knüppel op ’n Kopp«. Sie mochte und vertrug keinen Alkohol, jedenfalls keine harten Sachen. Aber heute hatte sie wieder einmal ihren Moralischen, und da half weder Johanniskraut noch die Musik von Helene Fischer. Ihre Mutter hätte in einem solchen Fall und bei »sonstigem Unwohlsein« Klosterfrau Melissengeist bevorzugt. Das schmeckte vermutlich auch nicht besser und enthielt nicht weniger Alkohol. Aber es war eben Medizin und damit gesellschaftsfähig gewesen. Den Fusel aus Jamaika aus der Flasche zu trinken, war eher weniger schicklich.

Olivia hatte das Zeug beim Aufräumen in der Abstellkammer gefunden. Sie hatte keine Ahnung, wie es dort hingekommen war. Spontan hatte sie ihre Hausarbeit unterbrochen und genoss jetzt die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne. Laut Etikett war der Rum über 13 Jahre alt. 13 Jahre! Vor 13 Jahren war die Welt noch in Ordnung gewesen. Einigermaßen jedenfalls.

Die Probleme in der Ehe hatten sich nach und nach eingeschlichen. Zunächst unmerklich, aber als Sohn Dirk vor zwei Jahren auszog, um in München Jura zu studieren, waren sie offen zutage getreten. Nun hatte er sich eine Neue angelacht. 90/60/90 und blond. So stellte sie sich ihre Konkurrentin vor, und sie war ziemlich sicher, dass sie richtig lag. Mit der Zeit hatte sie bemerkt, dass seine Blicke auffällig lange an solchen Exemplaren hängenblieben, wenn sie durch die Stadt gingen. Wahrscheinlich hatte seine Gespielin weder Hirn noch Verstand. Aber bei den Maßen war das relativ unbedeutend. Olivia konnte mit solchen körperlichen Attributen nicht aufwarten, aber sie war einigermaßen mit sich zufrieden. Etwas viel Gewicht an den falschen Stellen. Aber welche Frau über 50 hatte das Problem nicht? Immerhin wies ihr rotblondes Haar noch keine grauen Strähnen auf, und mit der neuen Kurzhaarfrisur sah sie um Jahre jünger aus, fand sie.

Frauen fühlten sich bei zwei Beziehungen meistens zerrissen und entwickelten ein schlechtes Gewissen. Männer konnten damit im Allgemeinen besser umgehen. Jedenfalls ihrer konnte das offenbar. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Zerrissenheit und Schuldgefühlen.

Olivia hatte eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert und eine Zeit lang in dem Beruf gearbeitet. Als Dirk geboren wurde, hatte sie die Stelle in der Klinik aufgegeben. Das war einer ihrer schwerwiegendsten Fehler gewesen. Weiterer Nachwuchs war eingeplant gewesen, aber trotz Bemühungen ausgeblieben. 52 war sie jetzt, er ein Jahr älter. Mit der Neuen, die bestimmt noch keine 40 erreicht hatte, fühlte er sich wahrscheinlich wieder so jung wie früher. Er hatte keine Ahnung, dass sie von ihr wusste. Männer konnten ja so unsensibel sein! Die Hotelrechnung in seiner Jackentasche und die Anrufe auf seinem Handy hätten sogar vor Gericht als Beweise ausgereicht.

Sie schüttelte sich und nahm noch einen Schluck aus der halb leeren Flasche. »De meiste Spooß sitt ünnen inne Buddel«, lallte sie. Scheidung war keine Option. Abgesehen davon, dass sie finanziell kaum über die Runden käme, gönnte sie ihm kein Leben mit seiner Tussi. Die Lösung lag so nah. Er musste weg! Ganz einfach weg. Ganz weg! Zusammengeschmolzen zu einem Haufen Asche, den sie als trauernde Witwe auf dem Friedhof besuchen konnte. Sie würde ein paar Gänseblümchen mitnehmen und Astern auf sein Grab pflanzen.

Olivia erschrak darüber, wie sich ihre Gedanken unter Alkoholeinfluss verselbstständigt hatten. Wie würde sie denken, sobald sie wieder nüchtern war? Nicht viel anders, entschied sie, nahm die Füße von der Balkonbrüstung und griff nach ihrem Smartphone, das vor ihr auf dem Campingtisch lag. Jetzt war der Zeitpunkt, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie schickte eine Nachricht an die WhatsApp-Gruppe Fifty Ways: »Ich bin dabei! Olivia.« Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Antwort kam: »Super. Johanna hat auch schon zugesagt. Und ich bin natürlich ebenfalls mit von der Partie. Wir treffen uns dann am kommenden Dienstag in Jacquelines Café. Liebe Grüße, Dörte.«

Okay. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ein Lächeln umspielte Olivias Lippen. »Bald nimmt dein Leben endlich eine Wende!«, flüsterte sie verschwörerisch und legte das Handy zurück auf den Tisch. Wohin die Wende genau führen würde, wusste sie nicht. Aber die Chance, dass sich ihre Situation verbesserte, stand gut. Schließlich konnte es nur aufwärtsgehen, wenn man ganz unten angelangt war.

Der Song 50 Ways to Leave Your Lover von Paul Simon hatte Pate für das Vorhaben und den Namen der Gruppe gestanden. Das war Dörtes Idee gewesen. Er war Motto und Leitfaden für die drei Frauen, die sich im Internet kennengelernt hatten. Gleichgesinnte, alle aus der näheren Umgebung. Eine nordfriesische Verschwörung. Olivia freute sich auf den Gedankenaustausch mit den Leidensgenossinnen. Es war die erste persönliche Zusammenkunft. Alle waren vorsichtig gewesen, und keine hatte viel über sich verraten wollen. Wenn man sich im wahren Leben traf und aus der Anonymität der virtuellen Welt heraustrat, konnte man den anderen besser einschätzen. Davon war Olivia überzeugt. Jede von ihnen hatte ein anderes Schicksal, eine andere Geschichte. Aber eines hatten sie gemeinsam: Sie wollten ihren Angetrauten loswerden. Auf welche Art auch immer. Auf die weiche oder die harte Tour. Olivia bevorzugte die weiche.

Katze Luna war auf den Balkon gekommen. Sie strich ein paarmal um Olivias Beine und schnupperte an der Flasche. Sichtlich angeekelt legte sie beide Ohren nach hinten und wandte sich ab. Dann sprang sie auf einen freien Stuhl und rollte sich zusammen.

Olivia beneidete das Tier, das sich keine Sorgen um die Zukunft machen musste. Immerhin hatte sich ihre Stimmung in der letzten Stunde gebessert, was nicht nur am Alkohol lag. Die Aussicht auf Veränderung ihrer Lebenssituation gab ihr Auftrieb. Als die Sonne hinter den Häusern verschwunden war, begann sie zu frösteln. Kurz überlegte sie, ob sie sich einen Grog zubereiten sollte. Keinen gewöhnlichen, der nur aus Rum, Zucker und heißem Wasser bestand. Einen mit schwarzem Tee, Zimt, Zitrone und Sternanis. Und natürlich mit Kandis. Das Rezept hatte sie noch im Kopf. Ihre Mutter hatte ihr das Getränk manchmal bei einer Erkältung verabreicht. Maximal eine Tasse. Das hatte stets geholfen. Doch sie dachte an die Kopfschmerzen, die sie am nächsten Morgen erwarteten. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Luna hatte es sich bereits auf der Couch gemütlich gemacht. Olivia durchstöberte die Schubladen der hässlichen Schrankwand, die sie am liebsten in den Sperrmüll geworfen hätte. Die Diskussion darüber hatte sie schon lange aufgegeben. Nach einigem Suchen fand sie die Diagnose- und Laborberichte vom Hausarzt. Sie setzte ihre Brille auf und versuchte, darin zu lesen. Aber die Wörter und Zahlen verschwammen vor ihren Augen. Sie faltete die vier Seiten zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. Morgen würde sie sich alles in Ruhe ansehen. Heute wollte sie den Abend ausklingen lassen und früh zu Bett gehen.

Olivia wachte auf, als sich Hans neben sie legte, aber sie ließ sich nichts anmerken. Er schlief sofort ein und schnarchte wie ein ganzes Sägewerk. Jetzt, da sie wusste, dass seine Zeit bald abgelaufen war, ertrug sie es besser. Sie hatte schon oft überlegt, ob sie ihn auf seine Affäre ansprechen sollte, war aber immer zu dem Schluss gekommen, dass ihr Wissen eines Tages von Nutzen sein konnte. Vielleicht bot sich bald eine Gelegenheit, Rache zu nehmen. War es wirklich Rache, die sie anstrebte, oder wollte sie ihn zurückgewinnen? Es war eindeutig Rache! Da brauchte sie sich nichts vorzumachen. Auch deshalb kam keine Scheidung infrage. Was hätte sie davon, wenn er mit seiner Geliebten lustig weiterleben würde? Für das, was er ihr antat, musste er bestraft werden. Fast bedauerte sie ihn ein wenig. In der Nacht dachte sie lange über ihren Plan nach. Sie hatte eine Idee, die genial und todsicher war.

Erst als die Morgendämmerung einsetzte, schlief sie ein und träumte. Das Schnarchen ihres Mannes verwandelte sich in den Lärm einer Boeing 747 auf dem Weg nach Mallorca. Sekunden später lag sie am Strand. Jemand cremte ihr den Rücken ein. Als sie sich umdrehte, blinzelte sie gegen die Sonne. Sie konnte den Mann nicht erkennen. Aber es war eindeutig nicht Hans.

3

Johanna Detlefsen lag auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Die Leuchtreklame der gegenüberliegenden Bäckerei warf rote Muster auf den cremeweißen Putz. Mit etwas Fantasie konnte sie Figuren erkennen. Einen Pferdekopf und ein Seeungeheuer. Je länger sie die Gebilde beobachtete, desto mehr gewann sie den Eindruck, dass sie sich bewegten. Und sobald ein Auto auf der Straße vorbeifuhr, zerflossen sie und bildeten sich erneut.

In den letzten Monaten hatte sie oft stundenlang so dagelegen und nachgedacht beziehungsweise gegrübelt. Über ihn, ihren Mann, der neben ihr lag, in Seitenlage, mit dem Hintern zu ihr.

Rüdiger hatte früher beim Finanzamt in Husum gearbeitet. Er hatte zwar kein üppiges Gehalt nach Hause gebracht, aber es hatte gerade so gereicht. Als dann die Schwiegermutter starb und ihrem einzigen Sohn ein ansehnliches Erbe hinterließ, schienen goldene Zeiten anzubrechen. Doch der Unfall wenig später hatte die Hoffnung zerstört. Rüdiger war über einen Aktenordner gestolpert, hatte sich einen Zahn ausgeschlagen und einen Halswirbel gebrochen. Seitdem war er Frührentner. Eine Zeitlang hatte er im Keller Streichholzschiffe gebaut. Dann war er auf Buddelschiffe umgestiegen. Zuletzt hatte er die Lust an seinem Hobby verloren. Von einem Tag auf den anderen. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Sie hatte ihn darauf angesprochen, aber immer nur ausweichende Antworten erhalten. Die Exponate standen nun als Staubfänger überall in der Wohnung herum, und er hockte vor dem Fernseher oder sah ihr bei der Hausarbeit zu. Das ererbte Kapital hielt er geizig zusammen. »Für einen zukünftigen Notfall«, behauptete er. Doch der Notfall war bereits eingetreten, wenn auch nicht in finanzieller Hinsicht. Seine ständige Anwesenheit im Haus zerrte beträchtlich an ihren Nerven.

Besonders unerträglich war, dass er sich gehen ließ. Manchmal lief er den ganzen Tag in Unterhemd und Jogginghose herum, unrasiert und ungeduscht. Und wenn er seine Fußnägel im Wohnzimmer vor dem Fernseher schnitt, bekam sie regelmäßig die Krise.

Fett war er geworden. Zugegebenermaßen hatte auch sie in den letzten 13 Jahren etwas zugelegt, und ihr braunes Haar war an einigen Stellen leicht ergraut. Dieses Problem hatte Rüdiger nicht mehr. Jedenfalls fand sie, dass ihre Substanz noch ganz in Ordnung war. Ein paar Kilo runter, eine Tönung und etwas Kosmetik würden sie wieder marktfähig machen. Sie musste schmunzeln bei dem Gedanken. Allein die Aussicht, noch einmal ganz von vorne anzufangen, ob in der Liebe oder im Beruf, verlieh ihr Auftrieb.

Schon lange suchte sie eine Anstellung in der Werbebranche. Die Firma, in der sie bis vor ein paar Jahren gearbeitet hatte, war in die Insolvenz gegangen. Es gab Gerüchte über Unregelmäßigkeiten und ein anhängiges Strafverfahren gegen den Geschäftsführer. Worum es genau ging, wusste sie nicht. Wie so oft in solchen Fällen waren die Angestellten die Leidtragenden. Neben ihr traf das Schicksal einen Kollegen und zwei Kolleginnen. Sie war die älteste von ihnen. Soweit sie wusste, hatten alle außer ihr einen neuen Job gefunden. Zahlreiche Bewerbungen hatte sie geschrieben, doch nur Absagen erhalten. Jetzt fristete sie ein trübes Leben mit einem Miesepeter, einem Ex-Finanzbeamten, einem Stubenhocker und Langweiler. Vom Leben, das da draußen pulsierte, bekam sie nichts mit. Warum hatte sie sich keinen eigenen Freiraum geschaffen? Warum hatte sie das Spiel mitgemacht? Eine plausible Antwort konnte sie sich darauf nicht geben. Sie hätte alleine ins Theater gehen können oder mit einer Freundin ins Kino oder sogar zum Tanzen. Nichts davon hatte sie getan. Vielleicht konnte sie manches nachholen. Es war nie zu spät, aber einfacher wäre es ohne ihn. Und der Nachlass seiner Mutter würde dabei helfen. Im Grunde war er ihr das Geld für die Entbehrungen schuldig, die sie die ganzen Jahre hatte ertragen müssen. Sie hatte sich um den Haushalt und die Erziehung ihrer Tochter Lisa gekümmert, als diese noch klein war. Auch später, nach ihrer Kündigung, hatte sie all die täglichen Dinge erledigt. Während seines Krankenhausaufenthalts und danach sowieso. Sie hatte sich ein Anrecht auf das Erbe erworben. Bei einer Scheidung würde sie leer ausgehen.

Sie wohnte mit ihrem Mann in einer Doppelhaushälfte an der Berliner Straße. Die Backsteinhäuser der Siedlung, die früher Kampsiedlung hieß, waren vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut worden und boten wenig Komfort. Die Gärten waren lang und schmal. Auf den 1000 Quadratmetern erntete Johanna Gemüse, Obst und Kräuter. Das war sehr arbeitsintensiv, aber sie tat damit etwas für die Umwelt und für sich. In den Stunden, die sie dort verbrachte, fühlte sie sich frei. Kein Miesepeter, der ihr reinredete, und manchmal vertrieb auch ein Schnack mit der alten Nachbarin, die die 80 bereits überschritten hatte, ihre depressiven Gedanken.

Aber die Gartenarbeit half nur kurzfristig, und auf eine feste Anstellung in ihrem Fach konnte sie nicht mehr hoffen. So war über die letzten Monate eine Idee für eine selbstständige Tätigkeit herangereift. Ein wenig verrückt war das, was sie vorhatte. Aber je mehr sie überlegte und plante, desto mehr erfasste sie das Fieber, und desto geringer wurden ihre Bedenken. Ihr Mann wusste nichts von ihrem Vorhaben. Er hätte sie nur ausgelacht und ihr jegliche Illusion geraubt. Sie musste das alleine durchziehen, ohne ihn. Sein geerbtes Kapital wäre eine gute Starthilfe für das Unternehmen. Aber noch lag alles in weiter Ferne.

Johanna hatte keine Freundin, mit der sie reden konnte. Jetzt hatte sie Gleichgesinnte gefunden, Frauen, die ebenfalls unlösbare Probleme mit ihren Männern hatten. Sie freute sich auf das bevorstehende Treffen.

4

Dörte Müller wohnte mit ihrem Mann im Husumer Stadtteil Rödemis in einem alten frei stehenden Gebäude mit Garten, nicht weit vom Bahnhof und der Bahnlinie entfernt, die nach Hamburg beziehungsweise Sylt führte. Husums Zentrum lag jenseits der Strecke, und man musste durch eine Unterführung, um in die Innenstadt zu gelangen. Das Haus hatten sie vor zehn Jahren zu einem günstigen Preis erworben, und bis auf einen überschaubaren Restbetrag war es bereits abbezahlt. Viele Renovierungsarbeiten hatten sie in Eigenregie durchgeführt, um sich die Immobilie leisten zu können.

Dörte betrachtete sich im Spiegel. »Falten sind die Spuren des Glücks«, hatte Konfuzius angeblich einmal gesagt. Das klang gut, schenkte aber nur wenig Trost. Es wurde immer schwieriger, diese miesen kleinen Fältchen am Mund und unter den Augen wegzuretuschieren, und der Zeitpunkt rückte näher, an dem sich die Mühe nicht mehr lohnte. Aber noch war es nicht so weit. Nachdem sie Uwe kennengelernt hatte, war ihr Selbstwertgefühl wieder gestiegen. Er machte ihr Komplimente und verwöhnte sie. Ihr Mann Edward kam nicht einmal am Hochzeitstag auf die Idee, ihr etwas Nettes zu sagen oder gar Blumen zu schenken. Er war schon immer ein Egoist gewesen. Früher, ganz früher, war ihr das nicht so aufgefallen, weil sie wie selbstverständlich auf seine Wünsche eingegangen war. Aus Bescheidenheit, vielleicht auch aus Liebe. Sie konnte sich nicht erinnern.

Sie kämmte ihr goldblondes Haar und trug etwas Rouge sowie Lippenstift auf. Das musste reichen. Sie hatte überlegt, ob sie Uwe anrufen sollte. Aber vermutlich konnte er sich nicht zu Hause loseisen. Sie hatten einen festen Tag in der Woche für ihre heimlichen Treffen. Dabei wäre die Gelegenheit heute günstig gewesen, denn ihr Mann wollte sich mit einem Kunden treffen.

Edward hatte sich auf die Erstellung von Internetseiten für Firmen spezialisiert. Meistens besuchte er seine Auftraggeber zu normalen Geschäftszeiten. Doch in den letzten Monaten kam es immer öfter vor, dass er seine Termine abends wahrnahm. So auch an diesem Tag. Hatte auch er ein Geheimnis? Eine Geliebte vielleicht? Niemals! Edward doch nicht! Erst gestern hatte er einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil sie mit einem Ex-Freund telefoniert hatte. Wenn er selbst eine Affäre hatte, war er wohl kaum eifersüchtig. Aber sicher war sie sich doch nicht so ganz. Sein Verhalten war oft völlig irrational.

Vor zwei Jahren hatte sie seine Eifersucht nicht mehr ausgehalten und sich von ihm getrennt. Sie hatte sich eine eigene Wohnung genommen. Im Grunde war damit alles noch viel schlimmer geworden. Er hatte ständig vor dem Haus gestanden, war ihr auf Schritt und Tritt gefolgt, hatte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen, Liebesschwüre abgelegt und sie gleich darauf beschimpft. Irgendwann hatte sie in eine Paartherapie eingewilligt. Sie waren wieder zusammengezogen, und eine Zeit lang schien er sich im Griff zu haben. Aber dann hatte alles von vorne begonnen, und sie war überzeugt, dass er sie auch bei einer nochmaligen Trennung nicht in Ruhe lassen würde.

Im Bett lief nichts mehr. Vielleicht ertrug sie ihren Mann nur deshalb noch. Die Ehe war zu einer Zweckgemeinschaft geworden. Dafür gab Uwe ihr das, was sie bei Edward nicht mehr fand.

Sie entschloss sich, ihrem Mann an diesem Abend zu seinem angeblichen Geschäftstreffen zu folgen. Aus reinem Interesse. Vielleicht konnte sie im Fall des Falles auch etwas, das sie herausfand, gegen ihn verwenden. Das Problem war, dass Edward mit dem Auto fuhr. Ihr blieb nur übrig, das Fahrrad zu nehmen. Einen Zweitwagen hatten sie nicht. Solange er sich innerhalb des Stadtgebiets fortbewegte, konnte sie mit ihm mithalten. Ampeln und ein Geflecht aus Kreuzungen und Einbahnstraßen bremsten den Autoverkehr in Husum ständig aus.

Noch auf der Beselerstraße, vor der Bahnunterführung, verlor sie seinen Wagen aus den Augen. Als sie die nächste Kreuzung erreichte, musste sie sich spontan entscheiden, welche Richtung sie nehmen sollte. Sie entschied sich, auf die Gaswerkstraße abzubiegen. Von Weitem sah sie, dass die beiden Klappbrücken für den Auto- und den Schienenverkehr, die Außen- und Binnenhafen voneinander trennten, hochgezogen wurden. Sie glaubte nicht, dass er sie bereits passiert hatte. Als sie auf der Höhe des Parkhauses war, entdeckte sie den roten Golf in der Zufahrt. Dörte stieg von ihrem Fahrrad und beobachtete ihren Mann aus der Ferne. Nachdem er die Schranke passiert und das Auto abgestellt hatte, ging er zu Fuß weiter. Dörte schob das Fahrrad noch ein Stück und stellte es schließlich in der Nähe der Wohnhäuser ab. Sie ließ ihren Mann nicht aus den Augen. Er überquerte die Fußgängerbrücke und bewegte sich mit schnellen Schritten auf den Hafengang zu, der Richtung Altstadt führte. Sie folgte ihm in sicherem Abstand in die schmale Gasse, die zur Wasserreihe führte. Wollte er etwa zum Theodor-Storm-Haus? In dem Gebäude hatte der große Dichter nach dem Tod seiner ersten Frau und erneuter Heirat mit seinen sieben Kindern gewohnt. Jetzt befand sich in den Räumen eine Ausstellung zu Leben und Werk des berühmten Husumers. Die Novellen Pole Poppenspäler, Aquis submersus und Viola tricolor waren dort entstanden. Das Museum war bei Touristen sehr beliebt. Hatte auch Edward urplötzlich sein Interesse an Geschichte und Literatur entdeckt? Das erschien ihr nicht besonders wahrscheinlich. Auch dass er an diesem Ort ein Date mit seiner Geliebten hatte, konnte Dörte sich nicht vorstellen. Das Geheimnis würde sich in wenigen Minuten auflösen. Sie musste ihm lediglich weiter auf den Fersen bleiben.

Dörte erschrak, als ein Rauhaardackel sie ankläffte. Das Bellen ging in ein gefährliches Knurren über. Ein alter Mann versuchte, das Tier mit Hilfe der Leine auf Abstand zu halten, konnte aber nicht verhindern, dass der Hund zubiss. Zum Glück erwischte dieser nur das Hosenbein der Jeans. Mit einem leichten Tritt gelang es Dörte, den Angreifer abzuschütteln. Das Tier jaulte auf, als es getroffen wurde, obwohl es sicher nicht ernsthaft verletzt worden war.

»Armer Bruno«, sagte der Alte und warf ihr einen giftigen Blick zu. Dörte wollte ihm eine passende Antwort geben, aber ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Mann, den sie durch den Zwischenfall aus den Augen verloren hatte. Sie ließ Hund und Herrchen stehen und eilte Richtung Wasserreihe. Sie lief ein Stück die Straße entlang. Keine Spur von Edward. Das Museum hatte bereits geschlossen. Dort konnte er also nicht sein. War er in einem der Häuser verschwunden?

»Verdammter Köter!«, schimpfte Dörte. Kurz überlegte sie, ob sie auf seine Rückkehr warten sollte, entschloss sich aber, sich ein Krabbenbrötchen beim Fischhaus Loof zu genehmigen und den Heimweg anzutreten.

5

Von der Asmussenstraße, in der Olivia wohnte, bis zu Jacquelines Café benötigte sie keine fünf Minuten. Ihr Weg führte am Kunstwerk Rollende Fässer vorbei, das daran erinnerte, dass im Schlossgang einst der Sitz der Husumer Brauerei gewesen war. Angeblich hatte es im 18. Jahrhundert in der Stadt sogar über 70 Brauereien gegeben. Sie hatte Mühe, sich das vorzustellen.

Olivia betrat das Café und steuerte schnurstracks auf ihre Mitstreiterinnen zu, die sich an einem Ecktisch niedergelassen hatten. Dörte mit ihren blonden schulterlangen Haaren und ihrer schlanken Figur erkannte sie sofort. Sie hätte gut in das Beuteschema ihres Mannes gepasst, vermutlich in das vieler Männer. Bei Johanna musste Olivia genauer hinsehen. Ihr Profilbild auf WhatsApp musste mindestens zehn Jahre alt sein. Aber vielleicht hatte sie es auch mit einem Bildbearbeitungsprogramm frisiert. Sie war fülliger und kleiner als Dörte, hatte braunes Haar und eine leicht gebogene Nase, die ihr ein energisches Aussehen verlieh. Beide waren leger gekleidet, mit Jeans und Pullover.

»Bin ich hier richtig bei den 50 Ways?«, fragte Olivia.

»Goldrichtig«, antwortete Johanna. »Willkommen.«

Der Gastraum mit den rot gestrichenen Wänden, den zahlreichen Landschaftsbildern und den stilvollen Möbeln strahlte Geborgenheit und Behaglichkeit aus. Olivia ging zur Garderobe und hängte ihren Mantel auf. Dann setzte sie sich auf einen freien Platz und bestellte bei der Bedienung einen Cappuccino und ein Stück Eierlikörtorte. Aus den Krümeln auf den Tellern schloss sie, dass die anderen ihren Kuchen bereits gegessen hatten.

»Draußen ist es auch ganz schön«, sagte sie. »War da kein Tisch frei?«

»Hier sind wir ungestörter«, antwortete Dörte. »Zu viele Ohren. Es muss ja nicht jeder mitkriegen, was wir zu besprechen haben.«

»Klar, verstehe.«

Als Olivia ihren Cappuccino und das Tortenstück erhalten hatte, begann Johanna: »Alles, was wir hier besprechen, bleibt unter uns. Das versteht sich von selbst, oder?« Sie sah in die Runde. Alle nickten. »Trotzdem sollten wir das besiegeln. Gebt mir eure Hände.«

Nach kurzem Zögern fassten sich alle an den Händen und bildeten eine Kette.

»Wir geloben, Stillschweigen zu wahren über alles, was wir einander mitteilen«, sagte Johanna mit geheimnisvoller Stimme und ernstem Gesicht.

»Wir geloben«, wiederholten alle im Chor.

Ein kühler Hauch wehte durch das Lokal, und die Kerze auf dem Tisch flackerte. Für einen Moment fühlte sich Olivia an eine spiritistische Sitzung erinnert, und sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn der Tisch vom Boden abgehoben hätte.

Als eine aus der Runde anfing zu lachen, stimmten die anderen ein, und die Atmosphäre entspannte sich.

»Gut. Einiges wissen wir voneinander ja schon aus unseren Chats«, sagte Johanna. »Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn jede noch mal ihre Probleme zusammenfasste. Sozusagen als Bekenntnis und Vertrauensbeweis. Es reichen ein paar Sätze.«

»So nach Art der Anonymen Alkoholiker?«, scherzte Olivia.

»Ja, so ungefähr. Dörte, wie ist es bei dir?«

»Okay. Dann fang ich mal an. Ich bin Dörte Müller. 42. Hab schon mit 20 geheiratet. Keine Kinder. Mein Mann ist krankhaft eifersüchtig. Er kontrolliert und verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Es ist die Hölle. Ich will, dass er aus meinem Leben verschwindet.«

»Und? Hat er Grund zur Eifersucht?«, fragte Olivia.

»Nein. Er kann unmöglich wissen, dass …« Dörte stockte. Etwas verlegen blickte sie in die Runde. »Nein, hat er nicht.«

»Du bist dran.« Johanna wandte sich an Olivia, deren Blick immer noch auf Dörte ruhte, als erwartete sie weitere Erklärungen von ihr.

»Mein Name ist Olivia Petersen. Ich bin 52 und seit 26 Jahren verheiratet. Ich hab einen erwachsenen Sohn. Mein Mann geht fremd. Ich hasse ihn und möchte ihn loswerden. Für immer.«

»Okay. Dann bin ich an der Reihe. Mein Name ist Johanna Detlefsen. Ich bin 54 und seit 29 Jahren verheiratet. Meine Tochter lebt in den USA. Mein Mann ist ein phlegmatischer Frührentner, der Buddelschiffe baut und alle Fernsehserien guckt. Ich bekenne mich dazu, dass ich ihn loswerden will.«

Für eine Weile schwiegen alle. Erst als die Bedienung an den Tisch trat, kam wieder Bewegung in die Runde. Teller und Tassen klapperten, und neue Bestellungen wurden aufgegeben.

»Und wie stellt ihr euch das vor?«, fragte Johanna. »Ich meine, habt ihr eine Strategie?«

Olivia ergriff das Wort. »Eine Scheidung kommt offenbar für uns aus verschiedenen Gründen nicht infrage, sonst hätten wir uns hier nicht versammelt. Vielleicht gibt es keine 50 Möglichkeiten, unsere Männer loszuwerden. Aber es gibt einige.«

»Ich könnte meinen von einer Klippe stoßen.« Dörte deutete ihren Vorschlag mit beiden Händen an.

»Wo kriegst du hier in Nordfriesland eine Klippe her? Der Schobüller Berg ist wohl kaum geeignet.«

»Aber eine Schiffstour nach Helgoland, dann zusammen auf den Pinneberg, die wunderschöne Aussicht genießen, ein paar nette Abschiedsworte und – schwupp – wäre das Problem gelöst.«

»Ich bin für Rattengift«, sagte Johanna. »Das ist eine saubere Sache. Kurz und schmerzlos – na ja, jedenfalls kurz.«

Olivia schüttelte den Kopf. »Beides Unsinn. Guckt ihr denn keine Krimis? Die Polizei ist nicht dumm, und mit den modernen Methoden, die sie zur Verfügung hat, klicken die Handschellen schneller, als ihr euch umdrehen könnt.« Zur Veranschaulichung kreuzte sie ihre Hände. »Ich möchte nicht in einer Zelle landen. Auf vier Quadratmetern, mit vergitterten Fenstern und einer Pritsche, auf der man jede Bandscheibe spürt.«

»Unsinn. Die heutigen Gefängnisse sind ganz komfortabel. Die sind nicht mehr wie früher.«

»Das ist ja beruhigend. Nee, für mich kommt das nicht infrage. Ich will nicht von meinem derzeitigen Gefängnis in ein anderes wechseln.«

»Hast du bessere Ideen?«

»Im günstigsten Fall attestiert der Arzt eine natürliche Todesursache. Dann gibt es keine Polizei und keine Ermittlungen. Ich denke, Rattengift scheidet da schon mal aus. Ein Unfall wäre okay, wobei der Sturz von einem Felsen ganz sicher ebenfalls Nachforschungen mit sich brächte.«

»War ja auch nicht ernst gemeint«, erwiderte Dörte.

»Ich weiß.«

»Voodoo«, warf Johanna ein, »schwarze Magie. Ihr kennt doch alle den Trick mit der Puppe und der Nähnadel. Ich hab mich vor einiger Zeit mal damit beschäftigt. Man schreibt den Namen der Person auf die Puppe oder näht etwas von dem Opfer in sie hinein. Haare zum Beispiel. Dann führt man die Beschwörung durch. Es gibt spezielle Berater für die Auswahl der Bannsprüche, die man dafür benutzen kann. Die Nadel sticht man anschließend in die gewünschten Körperteile. Alternativ kann man auch Gliedmaßen mit der Schere abschneiden.«

»Das ist ja grausam«, sagte Dörte entsetzt.

»Ihr glaubt doch wohl nicht an den Schwachsinn, oder?« Olivia konnte kaum fassen, was Johanna von sich gab.

»Das ist kein Schwachsinn«, protestierte Johanna.

»Hast du es schon mal ausprobiert?«

»Nein, bisher nicht.«

»Hab ich mir gedacht.« Olivia öffnete ihre Handtasche, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte, und zog mehrere Seiten Papier heraus. »Ich erkläre euch mal meine Methode. Wisst ihr, was ich hier habe?« Sie legte die zusammengefalteten Blätter vor sich auf den Tisch. »Das sind die Arztberichte meines Mannes. Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes Typ zwei, zu hohes LDL-Cholesterin und so weiter. Da lässt sich was draus machen, hab ich mir überlegt.«

»Wie meinst du das?« Dörte runzelte die Stirn.

»Wusstet ihr, dass in Deutschland jeder Fünfte allein aufgrund falscher Ernährung den Herz-Kreislauf-Tod stirbt? Und zwar wegen zu viel Zucker, Salz oder schlechter Fette. Das hat das Fernsehen in der Sendung Visite vor einiger Zeit gebracht.«

»Interessant.«

»Und wusstet ihr, dass weltweit mehr Menschen an Übergewicht sterben als an Unterernährung?«

»Nein. Aber ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst.«

»Man könnte das Ernährungsproblem sozusagen optimieren. Männer achten besonders wenig auf ihre Gesundheit. Aus meiner endlos zurückliegenden Ausbildung zur Krankenschwester weiß ich, wovon ich rede. Wenn man etwas nachhilft, befördern sie sich mit ihrer Lebensweise selbst ins Jenseits. Serviert ihnen gepökeltes Fleisch und süße Desserts mit einem extra Löffel Zucker. Zum Frühstück Toastbrot mit Glyphosat und Acrylamid, wenn es schön kross getoastet ist. Dazu nach Möglichkeit ein dioxinverseuchtes Ei. Abends eine Tüte gesalzene Kartoffelchips zum Fernsehprogramm sowie eine oder zwei Flaschen Bier. Eurer Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Er wird begeistert sein, glaubt es mir. Er wird sogar dankbar sein, dass ihr ihn derart verwöhnt.«

Dörte kicherte. »Ich hätte noch Bitterschokolade mit Cadmium und verschimmeltes Brot mit Aflatoxinen im Angebot!«

»Karottensaft mit Benzol!«, ergänzte Johanna. »Ich könnte ihn auch überreden, das Rauchen wieder anzufangen.«

Olivia nickte. »Einen Nachteil hat die Methode allerdings. Sie ist vermutlich etwas langwierig. Aber dafür ist sie nicht justiziabel. Niemand kann uns dafür vor Gericht bringen. Es ist der perfekte Mord – weil es eben juristisch keiner ist. Ich bin überzeugt, dass die Vorgehensweise auch bei euren Männern anwendbar ist. Ihr müsst nur die Schwachstellen eurer Angetrauten kennen. Personalisierte Therapie wird so etwas genannt. Wobei das Wort ›Therapie‹ in diesem Fall natürlich nicht so richtig zutrifft.«

»Das ist genial«, sagte Dörte. Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung. »Aber so lange kann ich nicht warten. Das Leben mit meinem eifersüchtigen Gatten ist die Hölle.«

»Du hast es gut. Deiner scheint dich wenigstens zu lieben«, sagte Olivia.

»Wenn das Liebe ist … Er will mich besitzen. Ich kann nicht mal alleine aufs Klo gehen, ohne dass er argwöhnisch wird.«

»Meiner ist nicht eifersüchtig. Aber er geht seit mindestens einem Jahr fremd.« Olivia seufzte.

»Kennst du sie?«

»Nein. Sie scheint gebunden zu sein. Jedenfalls treffen sie sich nur einmal die Woche. Immer zu einer bestimmten Zeit. Vielleicht geht es ihnen nur um Sex.«

»Was heißt denn ›nur‹?«, wollte Dörte wissen.

Olivia antwortete nicht.

Johanna rührte mit dem Löffel in ihrer leeren Tasse herum. »Und du glaubst wirklich, dass diese ›personalisierte Therapie‹ – der Name gefällt mir – tatsächlich zum Ziel führt?«

»Ja. Davon bin ich überzeugt. In meinem Fall hätte sie noch einen Vorteil. Ein kränkelnder Liebhaber, der dazu noch aus dem Leim geht, wäre sicher weniger attraktiv für eine Tussi, die – die Sex will.«

»Eigentlich soll dir das doch egal sein, da du ihn ja sowieso loswerden willst«, sagte Johanna.

»Nee. Bis zu seinem Exitus dauert es, und er soll sich vorher nicht noch lange amüsieren.«

»Das klingt nach Rache.«

»Es ist Rache. Dreckskerl!«

Dörte schüttelte den Kopf. »Du machst einen Denkfehler, Olivia. Wenn Männer eine neue Flamme haben, achten sie mehr auf sich. Sie fangen an, Sport zu treiben, gehen in die Muckibude und ernähren sich vegan. Dein Plan wird nicht aufgehen.«

»Pah. Da kennst du meinen Mann nicht. Essen ging bei ihm immer schon vor Sex. Allerdings könnte sich das natürlich inzwischen verändert haben, ohne dass ich es weiß.«

»Eben.«

»Außerdem …« Olivia stockte.

»Ja?«

»Außerdem will ich verhindern, dass er das – sagen wir, das Sorgerecht erhält. Auch deshalb kommt eine Scheidung nicht infrage.«

»Sorgerecht? Ich denke, dein Sohn ist erwachsen.«

»Für meine Katze Luna natürlich. Er hat sie von seiner Mutter nach ihrem Tod übernommen. Allein aus Bosheit würde er sie mitnehmen.«

Dörte grinste. »Ach so. Ja, an so einem Tier hängt man.«

»Bei meinem könnte das mit der Ernährungsumstellung auch klappen«, sagte Johanna. »Bequemlichkeit und Essen stehen bei ihm an erster Stelle. Weit, weit vor – ach, lassen wir das jetzt.«

»Für mich kommt die Methode definitiv nicht infrage«, sagte Dörte. »Seine Eifersucht ertrage ich wirklich nicht mehr lange. Außerdem ist unsere Ehe komplett zerrüttet. Er belügt mich und hat Geheimnisse vor mir.«

»Welche?«, wollte Olivia wissen.

»Angeblich hat er neuerdings abends irgendwelche Geschäftstermine. Neulich bin ich ihm gefolgt. Leider hab ich ihn in der Wasserreihe verloren. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass er dort beruflich zu tun hatte.«

Olivia lachte. »Vielleicht war er bei einer …«

»Was?«

»Ach nichts.«

»Sag schon.«

»Nein. Sorry. Mein Gedanke war absurd und tut nichts zur Sache. Also, wir haben das Ziel, unsere Männer loszuwerden. Sehe ich das richtig?«

Alle nickten.

»Vor einiger Zeit hab ich in der Zeitung gelesen, dass eine Floristin versucht hat, ihren Mann mit den Samenkapseln eines Zerberusbaums zu vergiften, weil sie die Scheidungskosten sparen wollte.«

»Wie ist es ausgegangen?«, fragte Olivia.

»Er hat überlebt, und der Anschlag ist aufgeflogen. Sie hat drei Jahre gekriegt.«

»Eben. So funktioniert das nicht. Viel zu riskant. Wer so etwas versucht, ist einfach nur dumm.«

»Du hast ja recht, und deine ›personalisierte Therapie‹ ist wirklich genial. Aber hast du nicht doch etwas, das schneller wirkt, Olivia?«

»Na ja, es gibt da noch eine Turbovariante.«

»Echt? Erzähl!«

»Ja, erzähl. Das interessiert mich auch. Je schneller, desto besser«, stimmte Johanna ein.

»Sie ist quasi so am Rande der Legalität. Vielleicht sogar etwas jenseits davon. Aber doch todsicher. Jedenfalls todsicher in dem Sinne, dass man dafür kaum zur Verantwortung gezogen werden kann.«

»Ein leckeres Gericht aus Fliegenpilzen? Ein falsch zubereiteter Kugelfisch? Mach es nicht so spannend.«

Die beiden Frauen sahen Olivia erwartungsvoll an.

»Also, die Turbovariante geht so …«

6

Hauptkommissar Jürgen Hirschberger, 51, klein und übergewichtig, mit schwarzem gegeltem Haar, blätterte zum 100. Mal in der Akte »Tötungsdelikt Nordseehotel«. Die Husumer Polizei war nur anfangs mit eingebunden gewesen. Der Fall fiel in die Zuständigkeit der Flensburger Mordkommission. Aber die Kollegen dort tappten immer noch im Dunkeln. Es wäre eine Genugtuung für ihn, wenn er dem K1 zeigen könnte, wo der Hammer hängt. Insbesondere den arroganten Leiter des Kommissariats hätte er gerne vorgeführt, indem er, HK Hirschberger von der Kripo Husum, den Fall ganz alleine löste. Dann wäre auch endlich eine Beförderung fällig, auf die er schon viel zu lange wartete.

Bei dem Brand im Winter 2018 war niemand zu Schaden gekommen. Das Feuer war nachts ausgebrochen. Zu der Zeit hatten sich weder Gäste noch Personal im Gebäude befunden. Vieles sprach dafür, dass Brandstiftung vorlag.

Zwar war das Areal rund um das Hotel mit hohen Zäunen abgesichert, jedoch war das Schloss des Eingangsgatters wiederholt aufgebrochen worden. Das verlassene Gebäude mochte Plünderer angezogen haben, die nach Wertgegenständen oder brauchbaren Möbelstücken gesucht hatten.

Und dann war dort das Tötungsdelikt geschehen. Die Obduktion der Leiche hatte ergeben, dass das Opfer mit einer Rohrzange traktiert worden und in ein Loch in der Betondecke gefallen oder gestoßen worden war. Genaues über den Sturz konnte nicht festgestellt werden. Aber man hatte das blutverschmierte Werkzeug gefunden. Ein Gutachter der Versicherung hatte die Leiche bei einer Begehung entdeckt. Er war daraufhin mehrere Monate dienstunfähig gewesen.

Die Identität des Toten hatte man schnell klären können. Es handelte sich um den 47-jährigen Peter Bergmann aus Husum.

Hirschberger studierte jede einzelne Seite der Akte, den Obduktionsbericht, die Tatortfotos und die Zeugenaussagen in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, was die Flensburger Kollegen bisher nicht in Betracht gezogen hatten.

Das Büro, das er mit dem Kollegen Erik Kruse teilte, lag an der Südseite des Polizeigebäudes, mit Blick auf die Bahnstrecke, die nach Sylt führte. Den Verkehr auf der Poggenburgstraße und die vorbeifahrenden Züge hörte er trotz der schlechten Schalldämmung der Fenster kaum noch. An diesem Spätnachmittag sowieso nicht. Zu sehr war er in die Akte vertieft. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Mappen mit unerledigter Arbeit. Einige Fälle würde er seinem Kollegen rüberschieben, sobald dieser aus dem Urlaub zurückkam. Der Tote vom Nordseehotel