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Erstmals findet in deutscher Sprache eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Denken und Schreiben Öcalans und seinem politischen Einfluss statt. In diesem besonderen Band sind 18 Autor*innen, Aktivist*innen, Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen vertreten, deren Ideen im Verhältnis zu Öcalans Schriften untersucht und debattiert werden. Das breite Spektrum namhafter AutorInnen beleuchtet verschiedene Aspekte der Theorie und Praxis des einflussreichen kurdischen Denkers, der sich seit mehr als zwanzig Jahren in Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imralı befindet. Äußerst facettenreich werden in "Das freie Leben aufbauen" die Ideen diskutiert, die zur Revolution in Rojava führten: Vom demokratischen Konföderalismus bis zur Frauenrevolution, von der Geschichtsphilosophie bis zur Krise des Kapitalismus, von Religion bis Marxismus und Anarchismus wird das freiheitliche gesellschaftliche Denken mit der Philosophie Öcalans in Beziehung gesetzt, das sich radikal gegen Kapitalismus, Patriarchat und den Staat stellt. Die Beiträge für diesen Sammelband stammen aus der Feder so namhafter internationaler Autor*innen wie John Holloway, David Graeber, Immanuel Wallerstein, Antonio Negri, Peter Lamborn Wilson (Hakim Bey), Norman Paech, Muriel Gonzáles Athenas, Andrej Grubacic, Raúl Zibechi, Fabian Scheidler, Mechthild Exo u.a.
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2023
Internationale Initiative»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)
Das freie Leben aufbauen
Dialoge mit Abdullah Öcalan
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Das freie Leben aufbauen:
Dialoge mit Abdullah Öcalan
1. Auflage, Oktober 2019
Titelmotiv: Abdullah Öcalan von Jim Fitzpatrick
Erscheint in der International Initiative Edition
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan
– Frieden in Kurdistan« (Hg.), Postfach 100511, 50445 Köln
www.freeocalan.org
Titel der Originalausgabe: Özgür Yaşamı İnşa Diyalogları
Erstveröffentlichung 2019 bei Aram, Diyarbakır
eBook UNRAST Verlag, Juni 2023
ISBN 978-3-95405-087-1
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter
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Umschlag: Internationale Initiative
Satz: Andreas Hollender, Köln
Übersetzungen:
Lars Stubbe (Holloway, Negri, Otegi, Zibechi)
Michael Schiffmann (Wallerstein, Gills, Wilson, Matthews & Miley,
D’Souza, Grubačić, Graeber, Gerber & Brincat, Huff)
Internationale Initiative (Üstündağ, Öcalan)
Einleitung
Internationale Initiative»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«Vorwort der Herausgeberin
Teil 1 – Vorworte, Hintergründe, Nachworte
John HollowayNoch schnell auf den Bus aufspringen
Norman PaechÖcalan, das europäische Recht und die kurdische Frage
Ekkehard SauermannEin groß angelegter Dialog
Immanuel WallersteinVorwort zur Roadmap
Arnaldo OtegiVorwort zu Abdullah Öcalans Hoja de ruta (Roadmap)
Barry K. GillsVom Weltsystem zur demokratischen Zivilisation
Antonio Negri»Ein Gefangener, der zum Mythos wird«
Teil 2 – Die Ursprünge der Zivilisation
Peter Lamborn WilsonAbdullah Öcalan
Donald H. Matthews und Thomas Jeffrey MileyÖcalans Manifest und die Probleme bei der Überwindung des Einheitsdenkens
Muriel Gonzáles AthenasGeschichtsschreibung, Geschlecht und Widerstand
Teil 3 – Weben und Verknüpfen
Radha D’Souza»Als Frau aus Südasien Öcalan lesen«
Andrej Grubačić»Es kann keine anspruchsvollere Utopie oder Realität geben«: Der Demokratische Modernismus Svetozar Markovićs und Abdullah Öcalans
Raúl ZibechiImaginäre Dialoge mit Öcalan. Das kritische Denken aktualisieren
Teil 4 – Politische Philosophie und politisches Handeln
Mechthild ExoVerbindungen knüpfen: Jineolojî, Frauenbefreiung und der Aufbau von Frieden
David GraeberÖcalan als Denker: Über die Einheit von Theorie und Praxis als Form des Schreibens
Fabian ScheidlerRojava oder Die Kunst des Übergangs in einer scheiternden Zivilisation
Damian Gerber und Shannon BrincatÖcalan trifft Bookchin: Die kurdische Freiheitsbewegung und die politische Theorie des demokratischen Konföderalismus
Patrick HuffDie Wiederverzauberung des Politischen: Abdullah Öcalan, der demokratische Konföderalismus und die Politik der Vernünftigkeit
Nazan ÜstündağDie Theologie der demokratischen Moderne: Das Universum, der Mensch, die Wahrheit und die Freiheit
Michael PanserMacht und Wahrheit: Machtanalytik und nomadisches Denken als Fragmente einer Philosophie der Befreiung
Schluss
Abdullah ÖcalanAnstelle eines Nachworts
Die Internationale Initiative
»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
begreift sich als multinationale Friedensinitiative, die sich für eine zivile Lösung der kurdischen Frage und ein friedliches Zusammenleben zwischen Türken und Kurden einsetzt. Sie wurde gegründet, nachdem Öcalan am 15. Februar 1999 in einer Nacht- und Nebelaktion, unterstützt von einem staatlich gelenkten Bündnis von Geheimdiensten, aus Nairobi, Kenia, verschleppt und der Türkei übergeben wurde. Zu ihren Aktivitäten gehört Herausgabe der Gefängnisschriften Öcalans in zahlreichen Sprachen.
Internationale Initiative»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
»Die Menschen werden nicht an dem Tag geboren, an dem ihre Mutter sie zur Welt bringt, sondern dann, wenn das Leben sie zwingt, sich selbst zur Welt zu bringen.«Gabriel Garcia Marquez, Liebe in den Zeiten der Cholera
Während sich die meisten von uns auf ein bestimmtes Datum beziehen, das den Tag ihrer körperlichen Geburt bezeichnet, hat Abdullah Öcalan häufig davon gesprochen, dass er dreimal geboren wurde. Als dritte Geburt – nach seiner physischen und der Gründung der Organisation, für die er am bekanntesten ist, der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – bezeichnet er seinen Paradigmenwechsel zum Konzept der »demokratischen Zivilisation«. Dieses Buch, das um seinen 70. Geburtstag herum veröffentlicht wurde, erzählt – auf eine spezielle Weise – die Geschichte dieser dritten Geburt.
Der massive Wandel, den die kurdische Gesellschaft in den letzten vierzig Jahren vollzogen hat, erfolgte nicht in erster Linie durch Bücher. In einer Kultur, die sich stark auf eine mündliche Tradition stützt, sind Lieder, Gespräche, Mundpropaganda, Reden und persönlicher Dialog sehr wichtig. Öcalan – obwohl er in den 1970er und 1980er Jahren mehrere Bücher geschrieben hat, bis heute mehr als sechzig, zwölf davon im Gefängnis – ist vor allem ein Mann des gesprochenen Wortes und des Dialogs. Das macht die Bedingungen, unter denen er seit 1999 inhaftiert ist, die völlige Isolation und das Fehlen eines Dialogs, umso schlimmer. Der Dialog wurde zum Monolog, und seine einzige Möglichkeit, mit einem Publikum zu kommunizieren, bestand darin, Eingaben an Gerichte zu schreiben, woraus seine sogenannten Verteidigungen oder Gefängnisschriften entstanden. Angesichts eines drohenden Völkermords in Kurdistan formulierte er keine individuellen Verteidigungen, sondern äußerte sich als Sprecher aller Kurd*innen – und zunehmend aller unterdrückten Menschen im Mittleren Osten.
Aber es ist nicht fair, von einem Monolog zu sprechen. Öcalans Schriften, die an verschiedene Gerichte in der Türkei und Europa gerichtet und anschließend veröffentlicht wurden, initiierten eine andere Form des Dialogs. Seine Texte kommunizieren mit Geschichtenerzählerinnen aus der mythologischen Vergangenheit ebenso wie mit lebenden Intellektuellen, mit Weggefährt*innen, die ihn persönlich kennen, und unbekannten Leser*innen auf anderen Kontinenten, mit Unterstützer*innen und Gegner*innen – darunter auch seine längst verstorbene Mutter – gleichermaßen. Seine Schriften werden übersetzt – einige davon in bis zu zwanzig Sprachen – und von Menschen auf der ganzen Welt gelesen und diskutiert.
Als Initiative haben wir diesen Dialog aufgenommen und sind mit vielen anderen hinausgegangen, um seine Ideen mit Menschen zu diskutieren, die ebenfalls Netzwerke knüpfen und freies Leben aufbauen. In vielen Ländern und an vielen Orten versuchten wir, den Dialog mit und zwischen Jugendlichen, Frauen, Anarchist*innen, libertären Sozialist*innen, Sozialökologen, Autonomen, Indigenen und all denen auszubauen, die mit ihren Herzen, Köpfen und Praktiken auf dieser Suche sind – der Suche nach einem freien Leben. Mit diesem Buch versuchen wir, diese Diskussionen, Dialoge und das gegenseitige Lernen zu reflektieren.
In diesem Buch sind zum ersten Mal schriftliche Reaktionen auf Abdullah Öcalans Gefängnisschriften versammelt. Es bringt eine Reihe von Wissenschaftler*innen, Autor*innen und Revolutionär*innen zusammen, die sich für Öcalans Denken interessieren und davon inspirieren lassen. Da es in verschiedenen Sprachen erscheinen wird, versucht es, einen weiteren Dialog zu schaffen und den bestehenden zu erweitern – hoffentlich auch durch die Gefängnismauern hindurch, denn aufgrund der schweren Isolationsbedingungen im Inselgefängnis auf İmralı konnte nur sehr wenig von diesem Dialog zurück zum Autor gelangen. Da das Schreiben für Abdullah Öcalan zum Mittel geworden ist, um seine Isolation zu überwinden und mit einem breiteren Publikum zu kommunizieren, hoffen wir, dass dieses Buch ein Weg für genau dieses Publikum sein wird, zu ihm durchzudringen und zu seinen unermüdlichen und hartnäckigen Bemühungen um eine bessere Welt beizutragen.
Die Texte sind über einen Zeitraum von zwanzig Jahren geschrieben worden und lassen deshalb auch eine bestimmte Entwicklung verfolgen. Der Umfang der diskutierten Themen erweitert sich mit den späteren Texten, da sie sich von den Beschränkungen auf Fragen von Nationalismus und Sicherheit wegbewegen und sich mit weitergehenden über die Geschichte der Zivilisation und den Kampf zwischen kapitalistischer und demokratischer Moderne als aktuellem Ausdruck jahrhundertealter Konflikte auseinandersetzen.
Was alle Texte durchzieht, ist die Faszination von Öcalans Versuch, eine ganzheitliche Geschichte aller Unterdrückten zu schreiben und ihre Kämpfe, frei zu bleiben oder frei zu werden, zu verknüpfen. Neue Konzepte entstehen: demokratische Moderne, demokratische Nation, demokratischer Konföderalismus und vor allem Jineoloji als eine Form des Wissens, die die notwendige Transformation herbeiführen könnte, um ein freies Leben aufzubauen.
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Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die verschiedene Perioden oder Aspekte widerspiegeln:
In Teil 1 – »Vorworte, Hintergründe, Nachworte« – finden sich Vorworte, die Übersetzungen verschiedener Bücher Öcalans vorangestellt waren. Sie stammen von Autoren, die bereits 1999, dem Jahr seiner Verschleppung, mit seinem Denken seiner Situation vertraut waren, wie Norman Peach und der verstorbene Ekkehard Sauermann, als auch solchen, die erst nach Öcalans Inhaftierung in diesen direkten Dialog eintraten, wie Arnaldo Otegi und John Holloway. Andere wie Immanuel Wallerstein, Antonio Negri und Barry K. Gills lernten Öcalan kennen, nachdem er ihre Arbeit und deren Einfluss auf sein Denken kommentiert hatte. Das Besondere an diesem Kapitel ist, dass es zeigt, wie die Auseinandersetzung mit Öcalans Denken begann und wie am Anfang verschiedene Aspekte seiner Identität – wie seine Rolle als revolutionärer Anführer, der Millionen mobilisierte, als Marxist, der seine Position in der postsowjetischen Weltordnung neu bewertet, als Mann in einem intensiven Lernprozess von Feminismus und ökologischen Bewegungen im Lichte seiner eigenen Erfahrungen in der PKK, wo er konsequent autonome Frauenorganisationen förderte, und als Gefangener, der unter schweren Menschenrechtsverletzungen litt – das interpretative Raster waren, in dem sein Denken bewertet wurde.
Teil 2 – »Die Ursprünge der Zivilisation« – beschäftigt sich mit Öcalans Schriften, die einen umfassenden Überblick über die Menschheitsgeschichte geben. Peter Lamborn Wilson findet einen verwandten Geist in Öcalan und seinem Interesse an der sumerischen Zivilisation als Bezugspunkt für das Verständnis der Transformation von nicht-staatlichen Gemeinschaften zu Staaten, die die Produktions-, Reproduktions- und Gewaltmittel monopolisieren. Donald H. Matthews und Thomas Jeffrey Miley hingegen konzentrieren sich auf die Herstellung der monotheistischen Tradition und reflektieren die Transformation der Machtorganisation im Monotheismus durch einen Dialog mit Öcalans Sichtweise auf das Thema. Schließlich setzt sich Muriel Gonzáles Athenas in diesem Abschnitt kritisch mit Öcalans Verständnis von Geschlecht und Geschichte auseinander.
Teil 3 – »Weben und Verknüpfen« – fügt Öcalans Gedanken eine räumliche und vergleichende Perspektive hinzu und sammelt Texte, die Perspektiven und Resonanzen aus anderen Teilen der Welt bewerten. Wir haben diesen Abschnitt »Weben und Verknüpfen« genannt, weil die hier enthaltenen Essays, die verschiedene Bewegungen, Vergangenheiten, Träume, Erinnerungen und Denker aus der ganzen Welt verbinden, auch dazu beitragen, eine entkolonialisierte Weltgeschichte und -politik zu gestalten. Radha D’Souza greift diese Frage explizit auf, wenn sie sich in ihrem Dialog mit Öcalan als südostasiatische Frau positioniert. Raúl Zibechi hingegen zeigt die Parallelen zwischen Bewegungen und Ideen in Lateinamerika und Kurdistan. Trotz der Tatsache, dass sie durch eine große Distanz getrennt zu sein scheinen, teilen sie Konzepte und Orientierung und tragen wesentlich dazu bei, die revolutionäre Opposition lebendig zu halten. Andrej Grubačić rückt geografisch näher, geht aber in der Zeit zurück und erinnert uns daran, wie das Ziel einer Balkan-Konföderation zusammen mit dem Kampf gegen die osmanische Kolonisation das Rückgrat der sozialistischen Mobilisierung auf dem Balkan um die vorige Jahrhundertwende bildete.
Teil 4 – »Politische Philosophie und politisches Handeln« – behandelt praktische Aspekte von Öcalans Methodik und Theorie. Während David Graeber ein überzeugendes Argument für die Einzigartigkeit von Öcalans Herangehensweise an Fragen von Wert und Arbeit liefert und seinen Schreibstil als Mittel in den Vordergrund stellt, mit dem er bestimmte reale Dilemmata in Bezug auf seine Position als Anführer anspricht, der sich gegen Hierarchien wendet, reflektiert und diskutiert Mechtchild Exo die theoretischen und praktischen Auswirkungen der Jineolojî – Frauenwissenschaft –, die von Öcalan vorgeschlagen und von der kurdischen Frauenbewegung entwickelt und vertieft wird. Nazan Üstündağ verfolgt die Frage nach der Theologie bei Öcalan und wie Öcalans Schriften einen Rahmen revolutionärer Spiritualität fördern, um Fragen nach Universum, Existenz, Jenseits, Wahrheit und Freiheit zu beantworten. Fabian Scheidler hingegen betrachtet Rojava im Einklang mit Öcalans Sichtweise auf die Zivilisation und ihre strukturelle Krise und ihren Zusammenbruch als die Kunst des Übergangs in einer zusammenbrechenden Zivilisation. Patrick Huff spricht über Öcalans Umgang mit der Geschichte und zeigt, dass er Linearität und Fortschritt kritisch gegenübersteht, ohne nostalgisch zu sein. Shannon Brincat und Damian Gerber hingegen beschäftigen sich intensiv mit der Frage, wie Murray Bookchin Öcalans Denken beeinflusst hat, und weisen gleichzeitig darauf hin, dass die kurdische Bewegung vor enormen Herausforderungen steht, da sie nicht nur theoretisch bleiben kann, sondern mit den tatsächlichen Auswirkungen der Anwendung dieser Ideen in der Praxis experimentieren muss.
Wir sind zuversichtlich, dass diese ungewöhnliche Form des intellektuellen Austauschs einen interessanten Einblick in die Diskurse und Diskussionen in der kurdischen Freiheitsbewegung und um sie herum geben wird. Hoffentlich wird dieser Band noch viel mehr Menschen dazu inspirieren, sich am Dialog und an der weltweiten Suche nach Alternativen zu beteiligen.
Abdullah Öcalan »feiert« am 4. April 2019 seinen 70. Geburtstag, wenn wir überhaupt von »feiern« sprechen können. Er befindet sich an diesem Tag seit mehr als zwanzig Jahren in Isolationshaft und hat seit 2011 keinen Anwalt mehr konsultieren können; seit April 2015 hat er außer zwei kurzen Besuchen seines Bruders niemanden von außerhalb des Inselgefängnisses gesehen. Dennoch begeistert er mit seinen Ideen weiterhin zahlreiche Menschen, auch wenn sie ihn nicht persönlich treffen können – noch nicht.
Deshalb ist dieses Buch auch ein Beitrag im Kampf um die Überwindung der Isolation und letztlich für die Freiheit Abdullah Öcalans – ein notwendiger Schritt, der für eine politische Lösung der anhaltenden Konflikte in der Türkei, in Kurdistan wie im gesamten Mittleren Osten entscheidend sein wird.
8. März 2019
Nach monatelangen Hungerstreiks gegen die Isolationshaft, die, angeführt von der Parlamentsabgeordneten Leyla Güven (HDP), von Tausenden Menschen und in zahlreichen Ländern durchgeführt wurden, konnte Abdullah Öcalan zwischen Mai und August einige wenige Male seine Anwält*innen konsultieren. Die Gespräche über eine Lösung des Konflikts wurden bisher nicht wiederaufgenommen. Die Isolation geht weiter, genauso wie der Krieg.
Kurz vor Drucklegung der deutschen Ausgabe wurde bekannt, dass der Internationalist Michael Panser bereits im Dezember 2018 einem türkischen Luftangriff zum Opfer gefallen ist. Sein Text über die Schnittmengen von Foucault und Öcalan rundet das Buch ab.
August 2019
John Holloway
ist Professor für Soziologie am Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades (Institut für Anthropologie und Sozialwissenschaften) der Benemérita Universidad Autonoma de Puebla (BUAP), Mexiko und Honorarprofessor an der University of Rhodes, Südafrika. Er hat umfangreich zu marxistischer Theorie, zur zapatistischen Bewegung und zu den neuen Formen des antikapitalistischen Kampfes publiziert. Seine Bücher
Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen
(2002) und
Kapitalismus aufbrechen
(2010) haben zu internationalen Debatten geführt und sind beide in elf Sprachen übersetzt worden.Der Text wurde für dieses Buch verfasst.
John Holloway
Ich schreibe in großer Hast, denn ich bin zu spät losgegangen und möchte doch dabei sein, ich möchte in diesem Buch sein. Ich springe noch schnell auf den Bus auf, genau in dem Moment, als er losfährt.
Ich bin um ein Vorwort zu Öcalans »Soziologie der Freiheit« gebeten worden, dies ist mir eine sehr große Ehre. Aber ich habe es nicht rechtzeitig fertiggestellt, damit es noch in der türkischen Auflage dieses Buchs »Das freie Leben« veröffentlicht werden kann. Nichtsdestotrotz schreibe ich schnell diese Zeilen, um meine Bewunderung für Öcalan auszudrücken und zu sagen, wie wichtig seine Ideen und der kurdische Kampf für uns sind.
Zuerst die Bewunderung. Ich hege eine enorme Bewunderung für all diejenigen, die rausgehen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen und dabei ihre Leben geben, Jahre im Knast verbringen oder in diesem Prozess umkommen, während ich dabei sicher an meinem Professorenschreibtisch sitze. Tausende und Abertausende Menschen, die gegen die Schrecken eines verdorbenen Systems gekämpft haben und kämpfen. Unbenommen aller politischen Differenzen und Debatten, die es geben mag, müssen wir sagen: dies ist etwas Wundervolles, sein Leben dazu einzusetzen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
In diesem Fall ist es aber noch mehr. Wenn wir eine politische Position einnehmen, laufen wir Gefahr, unflexibel zu werden, sodass es uns nicht länger möglich ist, über diese Position hinauszudenken. Diese Gefahr ist umso größer, wenn wir Führung übernehmen. An Abdullah Öcalan lässt sich jedoch bewundern, dass er in der Lage war, sein Denken umzukehren, die Bedeutung und Möglichkeit der Revolution neu zu denken und so viele Menschen davon zu überzeugen, ihn in diesem Prozess zu begleiten. Dies zeugt von einer außergewöhnlichen Flexibilität gegenüber dem und Sensibilität für den sich ankündigenden gesellschaftlichen Wandel. Als Parallele hierzu fallen mir nur die Zapatistas ein, die jedoch unter ganz anderen Umständen agieren. Als sie bereits intensiv in ihrem Kampf steckten, hatten sie den Mut und die Offenheit zu sagen, »wir haben uns geirrt, dies ist nicht die Weise, auf die die Welt verändert werden kann, wir müssen neu denken und die Richtung ändern«. In beiden Fällen, sowohl bei den Zapatistas als auch bei den Kurd*innen, fand ein sehr tief greifendes, sehr genau ausformuliertes und sehr effektives Überdenken statt. Es war deswegen so effektiv, weil sie in der Lage waren, sich auf die im weltweiten rebellischen Denken und Handeln stattfindenden Veränderungen einzustellen und diese Veränderungen in Theorie und Praxis zu entwickeln.
Wir benötigen diese Kämpfe aktuell sehr. Es dreht sich nicht darum, eine Avantgarde oder ein Revolutionsmodell haben zu wollen. Es geht vielmehr darum, dass wir in einer sich zunehmend verdunkelnden Nacht, diese großen Lichtexplosionen am nächtlichen Himmel brauchen. Deswegen ist die kurdische Bewegung so wichtig für uns. Unsere Reaktion ist eine solidarische Reaktion, aber es ist noch sehr viel mehr als das. Es ist eine Reaktion des Durstes, des Hungers, des Verlangens. Die kurdische Freiheitsbewegung und die Zapatistas geben uns Freude, denn wir suchen nach so etwas, wir brauchen das Licht, das den Himmel erleuchtet, das Licht der Hoffnung. Die Dynamik des Kapitals gewinnt an Fahrt und es wird zunehmend schwieriger, sich vorzustellen, dass wir sie jemals aufhalten können. Die Vernichtung der Menschheit steht fester denn je auf der Tagesordnung. Überall gibt es Widerstandsbewegungen und Experimente, um die Grundlagen einer anderen Welt zu schaffen, aber wir sehen auch, wie viele dieser Experimente scheitern und wieder in den Kapitalismus integriert werden, und das führt dazu, dass wir leicht die Hoffnung verlieren. Es liegt eine verzweifelte Dringlichkeit darin, den Kapitalismus zu brechen und etwas anderes zu erschaffen, aber es ist sehr schwer, zu sehen, wie wir dies tun können. Wenn wir also die kurdische Bewegung sehen, wie sie dies unter den furchtbarsten Umständen tut, dann möchten wir helfen, wir möchten uns bedanken und wir möchten laut herausschreien: »Ja, ja, ja, Eure Bewegung ist unsere und unserer Bewegungen sind Eure!«
Das ist der Grund, weshalb ich auf den Bus springen möchte und nun muss ich hoffen, dass mich der Fahrer-Herausgeber mitnehmen wird.
Norman Paech
, geboren 1938 in Bremerhaven, ist emeritierter Professor an der Universität Hamburg, ehemaliger Bundestagsabgeordneter und Experte für Völkerrecht. Seine berufliche Laufbahn begann Paech beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn. Danach Tätigkeit an der Forschungsstelle der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) in Hamburg. 1975 wurde er Professor für politische Wissenschaft an der Universität Hamburg und lehrte anschließend öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Neun Jahre lang war er Vorsitzender der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ). Er war leitender Redakteur der Vierteljahresschrift
Demokratie und Recht
und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac, IALANA und IPPNW. 2005–2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. Paech veröffentlichte Artikel und Bücher, vor allem zum Thema Völkerrecht. Neueste Veröffentlichungen: Paech/Stuby,
Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen
, Hamburg, 2013; Groth/Paech/Falk,
Palästina – Vertreibung, Krieg und Besatzung
, Köln 2017; Paech/Nowrot,
Krieg und Frieden im Völkerrecht
, Köln 2019.Der erste Teil des Artikels erschien bereits in
Aşitî – Peace – Frieden
Nr. 9 (August–September 2002) und als Anhang zu Abdullah Öcalan:
Gilgameschs Erben
, Bremen 2003, Band 1.
Norman Paech
In diesem Herbst, gut drei Jahre nach dem Todesurteil des türkischen Staatsgerichtshofes, wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erwartet.[1] Der ehemalige Vorsitzende der nun nicht mehr bestehenden PKK[2], Abdullah Öcalan, hatte diesen Weg einschlagen müssen – nicht so sehr um seiner Hinrichtung zu entkommen, als vielmehr um die kurdische Frage wieder nach Europa zurückzubringen. Denn dort hatte man sie durch seine Entführung und Auslieferung an die Türkei versucht zu vergessen. Das Todesurteil auszusprechen war leichter, als die Hinrichtung zu vollstrecken, schließlich ist man nicht in China oder den USA, sondern auf dem Weg nach Europa. Und für die Europäer war es leichter, die Türkei an der Vollstreckung zu hindern als wegen der Lösung der kurdischen Frage unter Druck zu setzen. Die Vollstreckung hätte die ohnehin hohen Hürden vor der EU für die nahe Zukunft unüberwindbar gemacht. Ob die Türkei mit den gleichen Konsequenzen zu rechnen hätte, wenn sie ihre Kurdenpolitik nicht ändert, ist eher zweifelhaft.
Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof soll also die kurdische Frage wieder auf die europäische Tagesordnung setzen, das ist das Ziel der Beschwerde Öcalans. Denn es handelt sich nicht um das Schicksal eines einzelnen Mannes, sondern eines ganzen Volkes. Und dieses droht hinter den anderen beiden Völkern im Nahen und Mittleren Osten, in Palästina und im Irak, in Vergessenheit zu geraten. Insofern beinhaltet die umfangreiche Beschwerdeschrift Öcalans die allgemeine Summe der kurdischen Frage, handelt von ihrer historischen Entstehung, kulturellen Dimension, politischen Dynamik sowie demokratischen Perspektive und überlässt die juristische Prozessargumentation den Rechtsanwälten. Auch der nun in Deutsch vorliegende Auszug über »die kurdische Frage und das Recht«[3] widmet sich nicht den juristischen Problemen des Verfahrens, sondern der allgemeinen Rolle des Rechts als spezifischer Institution der europäischen Kultur und seiner Funktion bei der Lösung der kurdischen Frage.
Die Politisierung des kurdischen Kampfes auf europäischer Ebene war das zentrale Ziel Öcalans, als er am 8. Oktober 1998 gezwungen wurde, Syrien zu verlassen. Deshalb begab er sich nach Rom und nicht in die Berge. In der ausschließlichen Fixierung auf die türkisch-kurdische Auseinandersetzung sah er realistischerweise keinen Ausweg aus der Sackgasse des Krieges mehr. Und trotz der schlechten Erfahrungen, die er mit dieser Wahl gemacht hat, bietet sie auf lange Sicht die einzige Perspektive für Selbstbestimmung und Autonomie des kurdischen Volkes. Das ist, bei allen Enttäuschungen und Verrat während seiner kontinentalen Odyssee, auch heute noch sein Credo und der rote Faden seiner Beschwerdeschrift.
Wir erfahren über die Umstände seines Irrflugs zwischen Italien, den Niederlanden, wo ihm sogar die Landung versagt wurde, Moskau, St. Petersburg, Athen und Kenia kaum weitere nennenswerte Details über das hinaus, was ohnehin schon bekannt geworden ist. Auch seine Schlussfolgerung, dass allem ein gemeinsames Komplott zu Grunde lag, an dem fast alle europäischen Regierungen, vor allem aber die USA, Russland und Griechenland, beteiligt waren, entspricht der Einschätzung der meisten damaligen Beobachter. Italien, in dem später ein römisches Gericht sein Recht auf politisches Asyl anerkannt hat, setzte ihn seinerzeit zwar massiv unter Druck, das Land zu verlassen, sieht sich aber nicht den gleichen Vorwürfen ausgesetzt, wie die offensichtlichen Drahtzieher des Komplotts. Dieses war nach anfänglicher Verwirrung in den NATO-Hauptstädten auf seine Liquidierung gerichtet: er als Kristallisationspunkt und Motor der kurdischen Forderungen musste ausgeschaltet werden. Es ging nicht so sehr um die Person als um das Symbol des Kampfes, welches sich nicht in der europäischen Gesellschaft einnisten sollte. Offensichtlich bediente man sich dabei auch einer Pistole, die ihm der griechische Botschafter in Kenia zusteckte – nicht etwa zur Selbstverteidigung, sondern in der Hoffnung auf Selbstmord.
Das alles hat keineswegs etwas mit den Standards europäischer Rechtsstaatlichkeit zu tun, die der Führer der PKK im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention in jedem Land den Status eines politischen Flüchtlings hätte gewähren müssen. Kurz nur hatte man daran gedacht, ihn vor ein internationales Gericht zu stellen, bevorzugte dann aber seine Auslieferung an die Türkei – denn nichts anderes war die verabredete Asylverweigerung. Zum einen glaubte man, damit die gefürchtete Solidarisierung der europäischen Kurden zu vermeiden. Zum anderen umging man die Peinlichkeit eines Tribunals, auf dem mit Sicherheit die Kriegsführung und die Menschenrechtsverletzungen des türkischen Militärs und seine Unterstützung durch die NATO-Verbündeten ausgiebig zur Sprache gekommen wäre. Und schließlich kannte man die türkische Justiz zu gut als, dass man sich Illusionen über den Ausgang eines Gerichtsverfahrens machen konnte. Man überantwortete ihn dem Verfahren eines Staatsgerichtshofes, welches bereits in zahlreichen anderen Fällen vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof als unvereinbar mit den europäischen Standards verurteilt worden war.
Widersprach die Entführung eindeutig europäischem Recht und haben auch die Kritik und Mahnung der Kommission des Europarats zu keiner Veränderung der Isolationshaft auf İmralı geführt, so steht es mit der Todesstrafe anders. Ihr Verbot ist nicht in den Kodex der Europäischen Menschenrechtscharta aufgenommen worden und die Türkei hat auch nicht das Zusatzprotokoll ratifiziert, in dem sich die übrigen Staaten des Europarats auf das Verbot geeinigt haben. Was politisch nicht mehr dem Niveau europäischer Rechtsstaatlichkeit entsprechen sollte, ist in diesem Fall juristisch noch möglich – die Todesstrafe fällt nicht unter den Katalog der Menschenrechtsverletzungen! Wenn dennoch das Urteil des Staatsgerichtshofes keinen Bestand haben darf, so ist das allein mit den Abnormitäten der Entführung und des anschließenden Gerichtsverfahrens zu begründen.
Doch ist es einer Persönlichkeit wie Öcalan abzunehmen, dass die Revision des Urteils weder seine Hauptsorge noch sein zentrales Ziel dieser Beschwerde ist. Es ist sein Weg der Rückkehr nach Europa, obwohl dieses ihn nicht haben will. Es ist das letzte ihm verbleibende Mittel seines Kampfes für das kurdische Volk, nachdem er einsehen musste, dass der militärische Kampf zu keiner Lösung führt und die politischen Angebote in den strategischen Interessen des NATO-Clans stecken bleiben.
Aber was ermutigt ihn, in ein Gericht die Hoffnung auf die Lösung einer Frage zu setzen, die von der Politik blockiert wird, und das Recht zum Hebel gegen den Widerstand der Politik einzusetzen? Die Türkei hat zwar keine guten Erfahrungen mit dem Straßburger Gerichtshof gemacht, in fasst allen gegen sie von ihren Bürgerinnen und Bürgern angestrengten Menschenrechtsverfahren ist sie unterlegen. Sie hat in den meisten Fällen den geforderten Schadensersatz gezahlt, aber grundlegende Konsequenzen für ihr Justiz-, Polizei- und Militärsystem hat sie daraus bisher nicht gezogen. Insofern können die Erwartungen an das Straßburger Verfahren realistischerweise nur bis zu der Befolgung seiner Entscheidung durch die türkische Regierung gehen, kaum darüber hinaus.
Dennoch sind die Überlegungen Öcalans zur Lösung der türkischen Krise, deren kritischster Punkt die kurdische Frage ist, richtig. Der »kranke Mann am Bosporus« leidet unter vielfältigen Gebrechen, deren offensichtlichste die Wirtschaftskrise mit einer phantastischen Inflation ist. Es wird auch allgemein eingestanden, dass unter ihrer Oberfläche die Deformation der politisch-militärischen Klasse durch Korruption und Verbrechen kaum eine Perspektive auf Besserung bietet. Insbesondere die Weigerung, dem kurdischen Volk einen gleichberechtigten Platz neben dem türkischen einzuräumen, ist zugleich Quelle wie auch mit all seinen Formen der Unterdrückung, Zerstörung, Vertreibung und Unterentwicklung täglicher Ausdruck der türkischen Misere. »Das System der Unterdrückung verbietet sogar die Sprache und erzeugt damit kontinuierlich Sezession und Gewalt«[4], wie Öcalan schreibt – worauf das System mit weiterer Unterdrückung reagiert. Zu welchen Formen wechselseitiger Gewalt und Terrors dieses System der Unterdrückung führen kann, ist nur einige hundert Kilometer weiter südlich in Palästina tägliche Praxis.
Öcalan zieht nicht den Vergleich zwischen der Türkei und Israel, er ist aber auf einer bestimmten Ebene naheliegend. Denn beide Staaten verfügen über die Institutionen moderner Demokratien und bürgerlicher Rechtsstaaten, ohne dass sie dem verbrecherischen Exzess ihrer Regierung und seinem Militär Einhalt gebieten können. Das hängt bei der Türkei zweifellos mehr als bei Israel mit der noch unvollkommenen Struktur des Rechtsstaates zusammen, bei beiden aber vor allem mit der Unterstützung und Rückendeckung mächtiger Verbündeter. Auch ein voll entwickelter Rechtsstaat ist keine Garantie gegen den politischen Verfall seiner Institutionen, aber er ist auf jeden Fall unabdingbare Voraussetzung für die demokratische Kontrolle und friedliche Entwicklung des politischen Systems. Insofern ist auch die kurdische Frage ein Problem der Entfaltung und Durchsetzung des Rechtsstaats, wofür es derzeit bei allen Mängeln kein anderes Vorbild als das Europas gibt. Das ist der Ansatz Öcalans.
Die Türkei hat auf diesem Weg zum Rechtsstaat knapp achtzig Jahre Zeit gehabt, ein Bruchteil der Zeit, die die europäischen Kernstaaten seit der bürgerlichen Aufklärung brauchten, um durch mehrere Revolutionen hindurch ihr heutiges System des Rechtsstaates zu errichten, welches seinen gemeinsamen Ausdruck in der Europäischen Charta für Menschenrechte gefunden hat. Die EU hat im Gegensatz zur NATO diesen Standard in den Kopenhagener Kriterien zur Vorbedingung einer Aufnahme in ihren Kreis gemacht. Auch sie sieht rechtsstaatliche Reformen als unabdingbar für die Lösung der türkischen Krise an. Dazu gehören nicht nur die Minimalia des Abschieds von der Folter, dem Verschwindenlassen von Menschen, ihrer Vertreibung und der Zerstörung von Haus und Hof, sondern die Anerkennung der kurdischen Identität und Autonomie, der Sprache, politischer und allgemein zivilgesellschaftlicher Organisationen, über die Öcalan auch die Demokratisierung der kurdischen Gesellschaft erhofft. Der Rechtsstaat ist der Eckpunkt des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes, ohne ihn wird sich die Krise nicht lösen lassen und eine Gleichberechtigung der verschiedenen Völker in einem Staatsverband ferne Zukunft bleiben. Wie weit die Türkei davon noch entfernt ist, deutet Öcalan am Schluss seiner Überlegungen über das europäische Recht und die Kurdenfrage an, wenn er warnt: »Um den Friedens- und Demokratisierungsprozess zu sichern, ist eine angemessene qualitative und quantitative Stärkung der bewaffneten Kräfte der PKK erforderlich. Dies ist notwendig nicht nur wegen der Friedensgegner in der Türkei, sondern auch wegen möglicher Angriffe reaktionärer, auch kurdischer, Kräfte im Mittleren Osten.«[5] Sie macht die Verantwortung Europas deutlich, die es mit der NATO nie wahrgenommen hat und die nun umso ernster von der EU und dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof übernommen werden muss.
In den 17 Jahren, die seit diesen Zeilen vergangen sind, haben sich die Welt und ihre Ordnung grundlegend verändert. Ereignisse wie die Banken- und Finanzkrise seit 2007, die Kriege in Libyen und Syrien seit 2011, die Menschen, die nach Europa fliehen, um den Kriegen und dem Elend zu entkommen und der Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump 2017 sind Ausdruck einer tiefen Krise des westlichen kapitalistischen Systems. Die Mittel und die Gewalt, die zu seiner Rettung aufgewendet werden, gehen immer mehr zulasten der demokratischen Errungenschaften wie Menschenrechte, sozial- und rechtsstaatliche Garantien, die die europäischen Staaten anderen Staaten gerne zur Messlatte machen.
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Verfahren vor dem türkischen Staatsgerichtshof als unfair gerügt und die Todesstrafe als eine Verletzung des in Art. 3 EMRK enthaltenen Verbots der unmenschlichen Behandlung gewertet. Es war in einem unfairen Verfahren und durch ein Gericht, dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit fraglich sind, verhängt worden. Der Gerichtshof hat aber in der Entführung des Führers der PKK aus Kenia in die Türkei und seine Isolation auf der Insel İmralı keinen Verstoß gegen die europäische Menschenrechtscharta gesehen – eine äußerst problematische Entscheidung. Damit hat er auch den Druck von der türkischen Regierung genommen, die Isolation zu lockern. Sie ist seit Herbst 2016 bis heute total, weder Angehörige noch Rechtsvertreter haben Zugang zu Öcalan. Die kurze Zeit der Gespräche zwischen Regierung und Öcalan endete schon im Frühjahr 2015, da Erdogan seine Wahlziele durch diesen Kontakt gefährdet sah. Als es ihm in den Wahlen nicht gelungen war, die steigende Popularität der HDP zu bremsen und sie aus dem Parlament herauszuhalten, verfiel er in seine alten Gewaltvorstellungen und begann eine pathologische Verfolgung kritischer Opposition und einen gnadenlosen Krieg gegen die Kurd*innen.
Keiner seiner NATO-Partner hinderte ihn an diesem verbrecherischen Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung. Im Sicherheitsrat fand sich niemand, die türkische Regierung und Armee wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen. Die strategische Bedeutung der Türkei als militärischer Stützpunkt und Vorposten im Mittleren Osten sowie als Schutzschild gegen Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten wiegen offensichtlich deutlich schwerer als alle Bekenntnisse zu Frieden und Menschenrechten. So fand sich auch niemand bereit, den türkischen Vormarsch auf syrisches Territorium und die Besatzung des Kantons Afrin zu verhindern. So wie die Kurden im eigenen Gebiet, so sind auch die Kurden in den Nachbarstaaten, ob Irak oder Syrien, nicht vor den Angriffen der türkischen Armee sicher. UNO, NATO und ihre Mitgliedstaaten wahren ihre strategischen Interessen und schauen zu. Obwohl der Europäische Gerichtshof jüngst die Listung der PKK als Terrororganisation als fehlerhaft für die Jahre 2014–2017 aufgehoben hat, ist die PKK 2018 wieder auf die Liste vom Europarat gesetzt worden. In der Bundesrepublik werden nach wie vor Strafprozesse gegen kurdische Aktivist*innen mit Mitgliedschaft in oder Unterstützung der PKK begründet. Europarat und deutsche Justiz führen die Geschäfte des Herrn Erdogan auch hier weiter, eine abstoßende Kollaboration ohne Moral.
2001 schrieb ich: »Der Krieg hat sie (die Türkei) keinen Schritt näher an die Lösung der kurdischen Frage herangebracht aber immer mehr in den Sumpf des Staatsterrors, der Korruption und Folter hinuntergezogen. Der Krieg hat nicht nur ihr Land, sondern auch ihr politisches System verwüstet.« 2019 hat sich an dieser Diagnose leider nichts geändert, die Verwüstungen sind nur noch schlimmer geworden. Die Erkenntnis, dass Gewalt und Krieg zum wiederholten Mal gescheitert sind und der Anspruch der Kurd*innen auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung nicht militärisch unterdrückt werden kann, ist in der türkischen Regierung offensichtlich wieder verschüttet. Die Angebote für eine politische Lösung von HDP und PKK werden mit Verfolgung und Verhaftungen beantwortet und der Krieg weitet sich über die Grenzen aus.
So düster die gegenwärtige Lage in der Türkei und Syrien unter den permanenten Kriegsdrohungen und militärischen Attacken eines kriegslüsternen Erdoğan auch aussieht, wir sollten nicht die Erfolge der kurdischen Bewegung in den letzten Jahren übersehen oder unterschätzen. Die HDP ist trotz der vielfältigen Angriffe zu einem wichtigen Faktor in der türkischen Politik geworden, mit großen Erfolgen bei den Wahlen und beachtlichem Einfluss in der türkischen Bevölkerung – eine echte Bedrohung für die Vormacht der AKP. Die Bedeutung Abdullah Öcalans für die kurdische Bewegung ist trotz seiner Isolation größer und bedeutender als je zuvor; er war der offizielle Gesprächs- und Verhandlungspartner der türkischen Regierung. Seine Ausstrahlung zeigt sich besonders in der Entwicklung des demokratischen Gesellschaftsmodells in Rojava/Syrien. Rojava hat allen Kurdinnen und Kurden in der Türkei, Syrien, Irak und Iran aber auch in Europa und Übersee eine neue Perspektive gegeben: Emanzipation und Befreiung von Unterdrückung und Gewalt sind möglich, sie können auch in schlechten Zeiten und unter widrigen Umständen erkämpft werden.
Wir sollten uns nicht damit beruhigen, dass das Regime Erdogans eines Tages vorbei sein wird. Aktiver Widerstand ist jetzt notwendig und möglich. Dabei spielt Abdullah Öcalan nach wie vor eine große Rolle. Seine Befreiung aus dem Gefängnis muss daher ein unmittelbares Ziel sein. Das kurdische Volk ist in diesem Kampf nicht allein, es kann mit der Solidarität der Völker rechnen, denn es geht um den Kampf für Freiheit, Demokratie und Sozialismus.
21. Januar 2019
Prof. Dr. Ekkehard Sauermann
wurde 1929 in Dresden geboren. Nach vorangegangener Tätigkeit ab 1945 als Lehrer (›Neulehrer‹ mit 16 Jahren) und Schuldirektor in Sachsen und Brandenburg, von 1953 bis 1990 (Emeritierung) Lehre und Forschung an der Humboldt-Universität Berlin und Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Erziehungswissenschaftler, Soziologe und Revolutionstheoretiker. Interdisziplinär angelegtes Spezialgebiet: die Bewältigung extremer gesellschaftlicher Herausforderungen – insbesondere radikaler Umbrüche – durch Persönlichkeiten und gesellschaftliche Gruppen. Ekkehard Sauermann verstarb im November 2010.(Foto aus Familienbesitz) Dieser Text erschien zuerst als Einleitung zur deutschsprachigen Erstausgabe von Abdullah Öcalan:
Gilgameschs Erben
, Bremen 2003.
Ekkehard Sauermann
Diese umfangreiche Schrift, Gilgameschs Erben, ist ein zeitgeschichtliches Dokument von hoher Aussage- und Wirkungskraft: Eine herausragende Persönlichkeit unseres Zeitalters, die über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt, welche sie für bedeutende gesellschaftliche Funktionen im nationalen und internationalen Maßstab qualifizieren, verschafft sich mit dieser Schrift Gehör. Abdullah Öcalan offenbart darin eine herausragende Schärfe und Tiefgründigkeit des Geistes, die ihm eine breite öffentliche Wirksamkeit sichern könnte. Er ist aber als Konsequenz aus seinem politischen Wirken völlig isoliert und bis auf das Äußerste mit physischer und psychischer Vernichtung bedroht.
Viele aufgeklärte Zeitgenossinnen und -genossen bewundern historische Persönlichkeiten, die gegen den Zeitgeist auftreten und dafür verfolgt, eingekerkert und vernichtet werden und damit als Leitbilder in die konfliktreiche Geschichte der menschlichen Zivilisation eingehen. Die besondere Zuwendung zu den Aussagen solcher Persönlichkeiten ergibt sich auch aus dem Blickwinkel, dass deren ideelle Werke zu ihren Lebzeiten vor der Öffentlichkeit verschlossen wurden und oftmals erst lange nach ihrem Tod die Menschheit erreichten. Bei Lektüre solcher Werke verbietet sich eine kleinliche und besserwisserische Haltung. Geduld und Verständnis beim Lesen gründen sich auf das Wissen von den extremen Bedingungen, unter denen solche Werke entstanden sind. Das Motiv, ein solches Werk zu lesen und ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, verbindet sich daher mit einer moralischen und ideellen Solidarisierung mit dem verfolgten Autor. In dieser Tradition steht auch Gilgameschs Erben von Abdullah Öcalan und eine hiermit herausgeforderte Motivierung, sich seinem vorliegenden Werk zuzuwenden.
Der aktuelle Vorzug dieses Werkes gegenüber seinen zahllosen Vorläufern ist, dass es sich direkt an uns alle als Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, Mitbetroffene und Mitstreiter von Abdullah Öcalan wendet und uns dabei hilft, nach einem Weg zur Beantwortung drängender existenzieller Fragen unserer Zeit zu suchen. Die hiermit verbundene politische Annäherung an das Werk birgt die Chance in sich, zu einer ideell und praktisch wirksamen Solidarität mit dem Autor zu führen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und trotz veränderter Rechtslage in der Türkei diesem Schicksal nicht wirklich entronnen – als einziger Gefangener auf der Insel İmralı, nur umgeben von seinen militärischen Bewachern, um sein geistiges und physisches Überleben ringen muss. Seine Schrift ist ein Ergebnis dieses Ringens, legt Zeugnis von der unerhörten geistigen und seelischen Anspannung und Anstrengung des Autors ab, der seinen Blick über seine individuelle Existenz hinaus richtet – auf das Leben und Überleben des kurdischen Volkes, der Völker des Mittleren Ostens und schließlich der ganzen Menschheit. Angesichts der extremen Herausforderung an sein eigenes Schicksal bringt Abdullah Öcalan die Kraft und Größe auf, von einer hohen Warte aus sich dem Schicksal des kurdischen Volkes sowie der ganzen Weltgemeinschaft zuzuwenden.
Die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen Prozesses der Zuwendung sind herausfordernd, provozierend, teilweise auch irritierend und schockierend, aber durchgängig konstruktiv und produktiv. Zu vielen seiner gewonnenen Problemsichten und Einsichten können auch all jene gelangen, die sich gegenüber der vorherrschenden massiven Meinungsmanipulation ihre Unabhängigkeit bewahrt und schöpferische Gegenmittel gefunden haben.
Über diesen Erfahrungshorizont hinausgehend, den der Autor mit vielen Zeitgenossen teilt, speist er in sein Werk die konzentrierte politische und soziale Erfahrung ein, die er auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene gewonnen hat. Dieser Schatz an Kampf- und Lebenserfahrung wird von ihm angesichts der extremen individuellen Belastungsproben verdichtet – wie der Stahl gehärtet wird: durch hochgradige Hitze und extreme Abkühlung. Dabei zählen nicht nur die ideellen und politischen Ergebnisse, die der Autor auf diesem Wege erzielt. Von großem Gewicht und einer gewissen eigenständigen Bedeutung ist der Weg, den er in diese Richtung eingeschlagen hat. Abdullah Öcalan geht es nicht nur darum, ein bestimmtes Ziel zu umreißen, sondern seine Leserinnen und Leser auf seinem Weg mitzunehmen, ihnen seine Erfahrungen und Einsichten bei der Suche nach einem konstruktiven Ausweg zu vermitteln. Gerade auf diesem Gebiet möchte er in einen Dialog eintreten. Dieses Werk ist der groß angelegte Versuch eines Dialogs mit seinen Kampfgefährten, den Frauen und Männern seines kurdischen Volkes sowie der anderen Völker, die alle herausgefordert sind, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden.
Abdullah Öcalan offenbart sein eigenes bisheriges und gegenwärtiges Ringen, sich als ein Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten und zu bewähren. Von da schlägt er eine Brücke zu allen, die objektiv herausgefordert sind, einen ähnlichen Entwicklungsprozess zu vollziehen, um ihre Würde zu bewahren und die Würde der Menschheit zu verteidigen. Auf diesen individuellen und zugleich gemeinschaftlichen Prozess richtet sich sein Dialog.
Da ihm andere Möglichkeiten zur öffentlichen Debatte versperrt sind und er durch eine Schweigemauer abgeschirmt und total isoliert werden soll, konzentriert Öcalan seine Bereitschaft zum Dialog auf diese Schrift. Infolge ihres dialogischen Charakters sind die beiden Bände seines Werkes auch nicht abgeschlossen und ausgereift, sondern wie ein Werkstatt-Buch zu begreifen. Öcalan bezieht die engagierten Leserinnen und Leser, die diese Schrift nicht einfach nur konsumieren, sondern sich aktiv und kritisch mit ihr auseinandersetzen wollen, partnerschaftlich in seine Gedanken-Werkstatt mit ein. Aus dieser Eigenart der Schrift als Dialog- und Werkstatt-Buch ergeben sich weitere Besonderheiten – so das zyklische Herangehen, was mehrfache Wiederholungen und Bekräftigungen einschließt, wie sie in einem dialogischen Gespräch üblich sind. Wer möglichst schnell mit diesem Werk fertig werden und zum Ziel kommen möchte, könnte davon irritiert sein. Wer sich hingegen auf einen anstrengenden und schöpferischen Dialog mit diesem ungewöhnlichen Autor einlässt, wird auch aus diesen Neben- und Rückwegen, aus denen sich ein ganzes Wegenetz ergibt, Gewinn ziehen.
Es handelt sich hier um eines jener Werke, von denen der große Naturwissenschaftler und Philosoph des achtzehnten Jahrhunderts, Georg Christoph Lichtenberg, sagte, dass der Klang beim Zusammenstoß eines Kopfes mit einem Buch nicht nur Rückschlüsse auf das Buch, sondern auch auf den Kopf des Lesers zulässt.
Am besten gerüstet für diese Lektüre sind jene Leserinnen und Leser, die sich angesichts der Bedrohung der Menschheit durch den von der Bush-Regierung angekündigten und in Afghanistan und im Irak begonnenen weltumspannenden und ununterbrochenen Krieg herausgefordert sehen, eine tiefgründige Lebensbilanz zu ziehen. Auf dieser Grundlage können sie sich mit Abdullah Öcalans Bilanz und Ausblick als gleichberechtigte und selbstbewusste Subjekte messen.
Der Autor nimmt mit seiner Schrift und ihren offenen Erörterungen der bisherigen eigenen Politik die Möglichkeit wahr, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der kurdischen Befreiungsbewegung zu erreichen und ihnen im Rahmen einer historischen Betrachtung konkrete Gedanken zur programmatischen, strategischen und taktischen Weiterführung ihres Kampfes zu übermitteln. Diese Schrift ist ein Vermächtnis des ehemaligen Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)[6], der von seiner Partei radikal physisch getrennt worden ist, sich aber mit ihr auf das Engste verbunden fühlt. Auf diesem Weg versucht er, den Mitgliedern sowie Anhängerinnen und Anhängern der kurdischen Befreiungsbewegung den Reichtum seiner unter extremen Bedingungen und Herausforderungen gewonnenen Einsichten zu übermitteln.
Der Autor geht davon aus, dass das fundierte Herangehen an die kurdische Problematik ausschlaggebend ist sowohl für das richtige Erfassen als auch für die praktische Bewältigung dieser Herausforderung. Die bisherigen Versuche zur Erklärung und Lösung dieses Problems sind nach seiner Einschätzung bereits vom Ansatz her falsch und irreführend. Öcalan behauptet, dass das Phänomen des Kurdentums wie ein schwarzes Loch sei, dass um die kurdische Realität herum falsche Vorstellungen und Begriffe gebildet worden sind und dass es beispielsweise leichtsinnig sei, das kurdische Phänomen als eine Nation oder auch als Kolonie bzw. Halbkolonie zu definieren. Der Autor schildert eindringlich die historische und aktuelle Tragödie des kurdischen Volkes, die darin bestehe, dass es wie kaum ein anderes Volk in der Geschichte permanent und oftmals gleichzeitig zahlreiche Invasionen, Katastrophen und Kriege erdulden musste. Demzufolge gab es in der wechselvollen kurdischen Geschichte nur geringe Chancen für das Erzielen kultureller und politischer Errungenschaften. Stattdessen musste sich das kurdische Volk fortlaufend darauf konzentrieren, seine physische Existenz gegen grenzenlose Invasionen und Plünderungen zu schützen. In einer solchen Situation konnte sich keine vorwärts weisende Stimme Gehör verschaffen und keine Kreativität entfalten.
Diese dramatische Schilderung findet ihren Kontrast durch die immer wieder getroffene Feststellung Öcalans, dass gerade die Kurdinnen und Kurden eine ausschlaggebende Rolle am Beginn der Geschichte der Zivilisation gespielt haben. Öcalan geht davon aus, dass sein Volk einen besonders tiefen Einfluss auf die Kultur Mesopotamiens hatte und damit die Kultur einer Epoche mit erschaffen habe, welche die Zivilisationsgeschichte viel umfangreicher und nachhaltiger beeinflusst habe als dies den heutigen USA und der Europäischen Union (EU) zugesprochen werden könne.
Welche aktuellen und perspektivischen Lösungswege entwickelt Öcalan für sein Volk?
Zunächst geht er davon aus, dass das kurdische Volk (speziell in der Türkei) sich, wie bereits häufig in seiner Geschichte, auch gegenwärtig in einer Situation befinde, die nur mit »weder Krieg noch Frieden« beschrieben werden könne. Dieser permanente Ausnahmezustand sei bereits zur Normalität geworden. Für die sich hieraus ergebende explosive Situation sei ein Ausweg dringend erforderlich.
Als Frucht langer und dramatischer Erfahrungen der kurdischen Befreiungsbewegung sowie reiflicher Überlegungen gelangt Öcalan zu dem Schluss, dass jeglicher nationalistische und separatistische Ausweg aus strategischen und prinzipiellen Gründen abzulehnen sei. Der Autor geht davon aus, dass die Rolle der Nationen und Nationalstaaten weltpolitisch zurückgeht und sich stattdessen weltweit eine Entwicklung in Richtung auf föderalistische Strukturen vollzieht. Vor diesem Hintergrund sieht Öcalan einen Lösungsweg, der auf einer demokratischen Einheit der vom kurdischen Volk bewohnten Länder basiert.
Dies bedeutet für ihn, dass die gegebenen Grenzziehungen des Mittleren Ostens als historischer Tatbestand anerkannt werden und innerhalb dieser Länder ein Kampf um Grundrechte und Demokratie geführt wird. Im Ergebnis eines solchen Ringens könne sich ein demokratischer Mittlerer Osten mit einer Institution nach Art der Europäischen Union herausbilden, welcher die Sehnsucht aller Völker nach Einheit in Freiheit verwirklicht. Aus dieser Perspektive ergeben sich Schlussfolgerungen im Hinblick auf Durchsetzung einer politisch-demokratischen Plattform an Stelle militärischer Auseinandersetzungen, auf allseitigen Dialog statt innerer wie äußerer militärischer Gewaltanwendung.
Öcalan bemüht sich nicht nur um den Nachweis, dass ein solcher Weg im Lebensinteresse des kurdischen Volkes liegt. Er orientiert darüber hinaus darauf, dass die Kurdinnen und Kurden mit ihrem engagierten Einsatz für eine solche friedliche und demokratische Entwicklung eine Brückenfunktion zwischen den drei großen Nationen des Mittleren Ostens ausüben können. Gerade die Kurden könnten sich aufgrund ihrer geografischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Lage in dieser neuen Phase der Geschichte des Mittleren Ostens als eine zukunftsweisende demokratische Kraft formieren und zu Subjekten eines Kampfes werden, der sowohl ihrer eigenen Befreiung dient, als auch die Nachbarvölker in den Prozess einer demokratischen Lösung einbindet. Abdullah Öcalan zieht eine Parallele zwischen jener Schlüsselrolle, welche das kurdische Volk nach seinem Geschichtsverständnis bei der Herausbildung der ursprünglichen Zivilisation geleistet hat, und ihrer perspektivischen Schlüsselrolle bei der Herausbildung einer demokratischen Zivilisationsform im gesamten Mittleren Osten. Nach seiner Auffassung hält nunmehr das kurdische Volk jenen goldenen Schlüssel in der Hand, auf den die Völker der Region ihre gesamte Geschichte hindurch gehofft haben.
Öcalan geht davon aus, dass die PKK organischer Bestandteil des kurdischen Volkes ist, dass sie mit diesem sowohl die Stärken wie die Schwächen teilt und in ihrem Entwicklungsprozess ständig mit beiden Seiten als einem äußeren und inneren Problem konfrontiert war.
Die historische Notwendigkeit der Gründung der PKK erklärt der Autor aus dem Fehlen einer politischen Bewegung, welche die Interessen der Kurdinnen und Kurden konsequent hätte vertreten können. Diese Lücke bestand nach seiner Einschätzung auch im Hinblick auf eine den rebellischen Traditionen der Religion entsprechende spirituelle Volksbewegung. Öcalan meint, dass die PKK sowohl diese politische Funktion ausfüllen als auch für die spirituelle Funktion ein Äquivalent schaffen musste. Was Letzteres betrifft, so vergleicht der Autor die kurdische Befreiungsbewegung mit jenen Bewegungen in der Geschichte des Mittleren Ostens, die von den Propheten angeführt wurden. Er verweist darauf, dass es Jesus nur mit Mühe und Not gelang, zwölf Apostel zusammenzubringen; dass aber um sie herum viele Arme und Geknechtete versammelt waren, die auf ein Wunder warteten; und dass auf dieser Grundlage der größte Glaubenskampf in der Geschichte entstehen konnte.
Diese Gemeinsamkeit der PKK mit der Bewegung der Apostel und Propheten rührt nach Öcalans Verständnis von der allgemein mystischen Atmosphäre des Nahen und Mittleren Ostens her. Deshalb könnten die modernen Organisationsformen des Westens für diese Region kein Modell bilden. In diesem Kontext charakterisiert der Verfasser die PKK als eine Synthese zwischen einer halbmodernen sozialistischen Organisation und einer klassischen nahöstlichen Identität. Nach seiner Einschätzung sind sowohl die Stärke als auch die Schwäche der PKK in dieser Synthese angelegt.
Obwohl der Autor auf eine Reihe von Ereignissen und Problemen in der Geschichte der PKK eingeht, legt er mit dem zweiten Band keine systematische Geschichte der PKK vor. Einer Behandlung der Entwicklungsgeschichte dieser Organisation steht die stark selektive, episodische und subjektiv überhöhte Darstellungsweise Öcalans entgegen. Daraus ergeben sich unter anderem erhebliche Lücken im Hinblick auf die Analyse der verschiedenen Etappen und Phasen in der Entwicklung der PKK.
Ein Grund für den stark selektiven Charakter der Darlegungen und Einschätzungen zur Entwicklung der PKK besteht offenbar darin, dass Öcalans Behandlung dieser Problematik auf eine historische Begründung der herangereiften politischen und organisatorischen Transformation zielt. Unter dieser Warte hebt er die bisherigen gewaltigen Anstrengungen und die dramatischen Rückschläge hervor, welche die Befreiungsbewegung erlitten hat. Diese führt er teilweise auf die Unreife der Bewegung zurück, lastet sie aber auch Erscheinungen des Verrats und der Kollaboration an. In der Verurteilung bestimmter Verfehlungen der PKK geht der ehemalige Vorsitzende dieser Organisation sehr weit. So spricht er davon, dass sich zeitweise ein Bandenwesen entwickelt habe und ungerechtfertigte Kriegsmaßnahmen durchgeführt worden seien, die zahlreichen Unschuldigen das Leben gekostet und großen politischen sowie moralischen Schaden angerichtet hätten. Eine zentrale Ursache hierfür sieht er darin, dass die Strategie der legitimen Selbstverteidigung nicht genügend theoretisch untermauert gewesen sei. Unter dieser Bedingung sei es möglich gewesen, dass infolge kleinbürgerlicher Mentalität und verantwortungsloser Unfähigkeit der politischen und militärische Leitung einer Verwahrlosung in Richtung auf ein Bandenwesen nur ungenügend entgegengewirkt werden konnte. Die entscheidende Grundlage für die Überwindung dieser gravierenden Mängel sieht Öcalan in einem Erneuerungsprozess, in dem die prinzipielle und strategische Neuorientierung auf eine demokratische Zivilisation im Mittelpunkt steht. Über ihre regionale und weltpolitische Bedeutung hinaus liegt für Öcalan in dieser Orientierung ein mächtiger Impuls zur Lösung der äußeren wie inneren Probleme der Befreiungsbewegung, die ihr perspektivisch neue Handlungsfähigkeit verleiht.
In diesem Zusammenhang richtet der Autor sein besonderes Augenmerk auf die Türkei, wo in der Zeit von 1993 bis 1996 durch staatliche Terrormaßnahmen fast 4000 Dörfer und Weiler entvölkert und Tausende unschuldige Menschen ermordet worden sind, ein wirtschaftliches Embargo über die kurdischen Provinzen verhängt und flächendeckende Militäroperationen durchgeführt wurden. Öcalan stellt fest, dass dies das dunkelste und schmerzvollste Kapitel in der Geschichte der Region gewesen sei und er unterstellt, dass hierbei die türkische Administration die Kontrolle über ihr eigenes Handeln verloren habe. Nachdem im Februar 1998 der türkische Staat einen begrenzten Versuch unternahm, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, verkündete die PKK einseitig einen Waffenstillstand. In einem Aufruf vom 2. September 1999 ordnete die PKK-Führung den militärischen Rückzug an und beschränkte sich in der Folgezeit auf eine reine Verteidigungsstrategie. Öcalan stellt fest, dass seitdem eine Art Waffenruhe herrscht und sich beide Seiten in einer Phase des Nachdenkens befinden.[7] Er schätzt ein, dass eine negative Aufhebung dieser Patt-Situation dazu führen muss, dass die politische Initiative ähnlich wie zur Zeit der militärischen Zuspitzung bis 1996 an das ultarechte Spektrum im nationalen wie internationalen Rahmen verschenkt wird. In diesem Kontext erklärt Öcalan die prinzipielle und strategische Bereitschaft der PKK zum friedlichen und demokratischen Konsens, präzisiert aber gleichzeitig das Recht und die Pflicht des kurdischen Volkes auf Selbstverteidigung.
Aus diesem Blickwinkel verurteilt er, dass bestimmte militärische Aktionen der kurdischen Befreiungsbewegung in der Vergangenheit über das Recht auf Selbstverteidigung hinausgegangen sind und sich demzufolge verselbstständigt, von den eigentlichen Zielen entfernt und damit den ultrarechten türkischen Kräften sowie ihren internationalen Hintermännern in die Hände gespielt haben. Der Autor spezifiziert die Bedingungen und Gründe, unter denen Selbstverteidigung gerechtfertigt und notwendig ist. Er benennt Prinzipien und Mittel, welche eingehalten werden müssen, damit Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit dem Hauptanliegen, der Verwirklichung einer demokratischen Zivilisation einschließlich rechtsstaatlicher Verhältnisse (vor allem hinsichtlich der Menschenrechte und verbindlicher Regeln des Völkerrechts) verwirklicht werden kann.
Der andere Grund für den selektiven – und insbesondere stark subjektiven – Charakter seiner Aussagen zur Geschichte der PKK ist offenbar der starke autobiographische Blickwinkel, der gerade bei der Behandlung dieser Problematik in den Vordergrund seiner Schrift tritt. In gewisser Hinsicht handelt es sich insgesamt bei der zweibändigen Schrift Öcalans um ein autobiographisches Werk, wobei die direkten autobiographischen Aussagen zumeist (mit Ausnahme der Passagen zur PKK) relativ knapp und zurückhaltend sind, aber organisch verbunden mit jener umfassenden Auskunft über seine Weltsicht, die der Autor durchgängig in seiner Schrift vermittelt.
Der autobiographische Aspekt spielt auch eine Rolle im Rahmen der Funktion dieser Schrift als juristische Eingabe, da sich hiermit der Betroffene als Persönlichkeit einbringt, und zwar als Beschwerde führender Angeklagter und Ankläger zugleich. Auch für die Rolle der Schrift als Aufklärungswerk für eine breite Öffentlichkeit ist das Sichtbarmachen der persönlichen Beweggründe und Erfahrungen des Autors bedeutsam. Vor allem aber ist der Adressat der Selbstdarstellung Öcalans die kurdische Bewegung, der er sich zugehörig fühlt und der sein persönliches Vermächtnis gilt – ein Vermächtnis, bei dessen Abfassung er davon ausgehen musste, dass es aufgrund der zunächst verhängten Todesstrafe sein letztes Vermächtnis sein könnte.
Der Inhalt sowie die Art und Weise der Selbstdarstellung Öcalans stellen für den Leser eine besondere Herausforderung dar. Hierbei ist das Verständnis des Sachverhaltes entscheidend, dass Öcalan die Aussagen zu seiner Person aus einer extremen Situation des psychischen und physischen Überlebenskampfes heraus getroffen hat. Dabei ist von Bedeutung, dass er sich nicht nur für das Ringen um sein Überleben schlechthin entschieden hat, sondern für die äußerste Anspannung seines Willens zum Leben sowie zum schöpferischen Nachdenken und Schaffen unter diesen äußerst bedrohlichen Bedingungen. Hierbei spielt für seine Motivation eine zentrale Rolle, dass er gegenüber dem kurdischen Volk und der PKK gerade in dieser angespannten Situation eine erhöhte Verantwortung empfindet und in dieser Richtung optimal wirksam werden möchte. Dass Öcalan im Rahmen seiner Behandlung der Entwicklung der PKK seinem positiven Anteil an den Erfolgen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist sicherlich nicht zuletzt der Herausforderung zur Auseinandersetzung mit Kritikern und Kontrahenten geschuldet, die seine Abwesenheit für die Einflussnahme auf Orientierung und Wirksamkeit der PKK zu nutzen suchen.
Bei der Einordnung seines eigenen Anteils im Rahmen seiner Abrechnung mit gravierenden Fehlern und Mängeln der PKK werden von ihm seine eigenen Leistungen weit deutlicher und konkreter herausgearbeitet als sein Versagen. Öcalan setzt mehrfach an zur Selbstkritik und bekennt sich generell zur Notwendigkeit eines selbstkritischen Herangehens. Aber die Resultate bleiben recht allgemein und teilweise mystisch, sodass dem auf ihn bezogenen Heroismus kein prinzipieller Schaden zugefügt wird. Seine eigene Verantwortung im Hinblick auf die von ihm scharf verurteilte zeitweilige Tendenz zum Bandenwesen reduziert er mit direkten und indirekten Hinweisen, dass die betreffenden Kämpfer entgegen seinen Anweisungen und Ambitionen gehandelt hätten. Diese Aussagen bleiben relativ verschwommen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass Öcalan gerade im Rahmen einer solchen juristischen Eingabe die juristische Verantwortung für Vergehen innerhalb der eigenen Organisation nicht übernehmen kann.
In gewisser Hinsicht sind diese beiden Bände ein origineller und originärer Beitrag zur Zivilisationsgeschichte und somit ein eigenwilliges Geschichtswerk. Der Autor behandelt exemplarisch die Zivilisationsgeschichte des Mittleren Ostens und aus diesem Blickwinkel der gesamten Menschheit. Er analysiert die gegenwärtige Lage und Perspektive der Menschheit unter besonderer Berücksichtigung der Region des Mittleren Ostens sowie, in diesen historischen Zusammenhang einbezogen, die Geschichte, Lage und Perspektive des kurdischen Volkes.
Abdullah Öcalan erhebt die Herausbildung von Humanismus und Demokratie sowie deren ständige Gefährdung und den Kampf um deren Durchsetzung und Bewahrung zum durchgängigen Kriterium seiner Geschichtsbetrachtung. Dies ist der konstituierende Vorzug dieser Schrift. Sie enthält ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Humanismus und Demokratie. Und zwar nicht in einem plakativen und unverbindlichen Sinn, wie das häufig bei solcherlei Bekenntnissen zu verzeichnen ist. Abdullah Öcalan markiert nachdrücklich Verbindlichkeiten und eindeutige Kriterien – wie beispielsweise die Würdigung der Rolle der Frau und der unterdrückten Völker – für die Entwicklung und Gestaltung von Humanismus und Demokratie.
Die relativ umfangreiche Geschichtsbetrachtung Öcalans weist eine Reihe von Vorzügen auf, die sie in bestimmten Punkten von thematisch vergleichbaren Geschichtswerken abhebt. Der allgemeine Vorzug der starken inneren Verbundenheit des Autors mit dieser Problematik und seine engagiert humanistische und prinzipiell gegen religiösen und politischen Fundamentalismus gerichtete Sicht wird verstärkt durch den Problemreichtum seiner Gedanken sowie die Kraft und Bildhaftigkeit seiner Sprache. Diese Art der Darstellung fordert heraus, vermittelt Impulse, zwingt zum Nachdenken und zu produktivem Dialog mit dem Verfasser. Unabhängig davon, ob es sich bei den Leserinnen und Lesern dieses Werkes um wissenschaftlich geschulte Menschen, um politische Aktivistinnen und Aktivisten oder interessierte Laien handelt, wer sich mit diesem Werk ernsthaft auseinandersetzt, wird aus diesem Prozess verändert hervorgehen, angeregt, nachdenklich, bereichert – und natürlich zu Widerspruch herausgefordert.
Diese potenzielle Wirkungsmöglichkeit des Werkes beruht darauf, dass es dem Verfasser nicht darum gegangen ist, ein Geschichtswerk über den Mittleren Osten und die kurdische Frage schlechthin zu schreiben. Es geht ihm vorzugsweise um aktuelle und perspektivische Lösungswege für die bedrohlichen Konflikte in dieser Region, eingebettet in die Überwindung der Zivilisationskrise der Menschheit. Ein solches weitgespanntes und komplexes Geschichtswerk in Angriff zu nehmen, ist ein wagemutiges Vorhaben und wäre es selbst für ein Autorenkollektiv von Experten bzw. einen erfahrenen Historiker, der mit einer solchen gewichtigen Publikation sein Lebenswerk krönen möchte. Eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung eines solchen Vorhabens kommt der Art und Weise des wissenschaftlichen Herangehens zu, der Methodologie. Die von Öcalan angewandte Methodologie wird stark von seinem besonderen Gegenstand und Anliegen bestimmt:
Öcalan geht davon aus, dass die Völker dieser Region – einschließlich des kurdischen Volkes – in den Fesseln der Vergangenheit verharren und im Hinblick auf die Bewältigung der extremen aktuellen Herausforderungen gelähmt und demzufolge zu einer Objektrolle der expansiven Weltmächte verurteilt sind. Die Kennzeichnung dieser Situation ist zwar durchgängig realistisch, aber zugleich so dramatisch, dass der Eindruck erweckt wird, dass nur noch ein Wunder die Rettung bringen kann. Von dieser Warte aus entwickelt Öcalan das Hauptanliegen seiner Schrift, nämlich fundamentale Gedanken über einen Ausweg aus dieser Situation und über eine historische Chance für diese Völker.
Von dieser Fixierung Öcalans auf ein »historisches Wunder« ist weitgehend sein methodologisches Herangehen geprägt. Hierbei spielt die von ihm konzipierte Zielvorstellung eine entscheidende Rolle. Der Autor geht davon aus, dass sich die Menschheit in einem Entwicklungsstadium ihrer Zivilisation befindet, die vor allem bestimmt ist durch die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution. In diesem Stadium sieht er die Weltgemeinschaft der Völker potenziell imstande, alle ihre Angelegenheiten auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene zivilisatorisch zu lösen. Das heißt, humanistisch und demokratisch, auf der Grundlage von demokratischen Rechts- und Gesellschaftsnormen. In einem solchen Rahmen sieht Öcalan fundamentale Möglichkeiten, die Lebensprobleme des kurdischen Volkes und darüber hinaus auch jener Länder, in denen es beheimatet ist, zu lösen. Wie bereits erwähnt, zieht er dabei aus den Erfahrungen des kurdischen Befreiungskampfes den Schluss, generell rein nationalistische Lösungen abzulehnen. Öcalan wendet sich damit auch gegen einen Sonderweg seines Volkes. Aber er spricht ihm die besondere Verantwortung zu, in diese Richtung einen Vorstoß zu wagen, mit gutem Beispiel voranzugehen und damit ein konstruktives Zeichen zu setzen.
Da ein solcher Weg mit den Interessen der Völker der Region sowie der gesamten Weltgemeinschaft prinzipiell übereinstimmt, verspricht sich Öcalan davon perspektivisch eine wachsende Erfolgsaussicht. Der Autor ist sich dessen bewusst, dass einem solchen konstruktiven Weg starke destruktive, das heißt, nationalistische, imperialistische sowie kompradorische Kräfte entgegenstehen und jeder Erfolg, auch der kleinste Fortschritt, nur im zielstrebigen und beharrlichen Ringen gegen diese inhumanen Kräfte, auf Grundlage der Überzeugung, Gewinnung und Mobilisierung der humanistisch und demokratisch orientieren Gegenkräfte, erreicht werden kann.
Bei der Kennzeichnung der destruktiven Kräfte strebt Öcalan eine objektivierende Untersuchung an. So benennt er beispielsweise bei der Aufdeckung des an ihm und der PKK verübten Komplottes eindeutig die Rolle führender Kräfte der USA sowie einiger Staaten der EU. Gleichzeitig hebt er das demokratische Potenzial hervor, das in diesen Staaten vorhanden ist und für die Verwirklichung einer demokratischen Zivilisation im Mittleren Osten genutzt werden kann. Diese Hervorhebung erfolgt teilweise so stark, dass eine Fehlinterpretation in der Weise möglich ist, als würde die beispielgebende Wirkung, wie er sie in diesen Staaten als Möglichkeit sieht, bereits eine aktuelle und positiv wirkende Erscheinung sein.
So wichtig für Öcalan die Nutzung des demokratischen Potenzials der europäischen Zivilisation für die Entfaltung der schöpferischen zivilisatorischen Kräfte im Mittleren Osten ist, so nachdrücklich besteht er darauf, dass die Freisetzung und Gestaltung dieses Potenzials primär das Werk der Völker dieser Region selbst sein muss. Jene regionalen und nationalen Kräfte ausfindig und kenntlich zu machen, die dieses Werk verwirklichen könnten, fordert Öcalan die größte geistige und politische Anspannung ab, da er sich ja mit seiner dramatischen Einschätzung der aktuellen Unfähigkeit dieser Kräfte in gewisser Weise eine optimistische Aussage versperrt hat. Um dieses scheinbar unlösbare Problem einer Lösung näher zu bringen, entwickelt Öcalan eine eigentümliche Sichtweise, die ohne Überhöhung, Dramatisierung und Mythologisierung nicht umgesetzt werden kann:
Das eine Charakteristikum dieser Sichtweise ist ein radikaler Rückgriff auf das Phänomen des Neolithikums und auf die urgesellschaftliche Verfassung in dieser Region, die nach seiner Einschätzung immer noch wirkt und im bäuerlichen Milieu auch gegenwärtig in Erscheinung tritt. Hierbei spielt offenbar eine Rolle, dass Öcalan zeitweise einen Teil seiner Hoffnung mit dem Realen Sozialismus verknüpft hatte und aus Enttäuschung über dessen historische Mängel und seinen Untergang nach alternativen sozialistischen Quellen sucht.
Öcalan beschränkt seine Geschichtsbetrachtung natürlich nicht auf diese Entwicklungsstufe des Neolithikums. Er gesteht auch der nachfolgenden Entwicklung der Klassengesellschaften ihre Rolle als ein notwendiges Durchgangsstadium in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit zu. Aber immer wieder setzt er diesen Ausbeutergesellschaften, insbesondere den von ihnen verursachten ideologischen Deformierungen des Menschen, die urgesellschaftliche Keimform als ständiges potenzielles Gegengewicht im Erinnerungs- und Beharrungsvermögen der Unterdrückten und Ausgebeuteten entgegen. Dieses Herangehen gründet Öcalan auch auf seine These, dass gegenwärtig im Mittleren Osten und insbesondere im kurdischen Volk immer noch neolithische Existenz- und Bewusstseinsformen präsent sind. Hierin sieht er einen entscheidenden Grund für die Überlebenskraft der alten Kultur und damit auch für erfolgreichen Widerstand gegenüber fremden Einflüssen bei der bäuerlichen Bevölkerung dieser Region.