Das geheime Leben der Tiere (Dschungel) - Die schwarze Tigerin - Peer Martin - E-Book

Das geheime Leben der Tiere (Dschungel) - Die schwarze Tigerin E-Book

Peer Martin

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die schwarze Tigerin und ein Waran Der Dschungel ist wunderschön und voller Geheimnisse. Doch das Leben der Tiere dort ist auch gefährlich. Komm mit auf eine Reise in die grüne Wildnis! Die schwarze Tigerin Lakshmi befreit sich aus der Gefangenschaft und flieht in das geheimnisvolle grüne Dickicht. Das Leben in Freiheit und die Gesetze des Dschungels muss Lakshmi aber erst lernen und tapst dabei in einige Fettnäpfchen. Gefahr geht nicht nur von dem gefürchteten König des Dschungels aus, der sein Revier verteidigt. Auch die Menschen kommen der Tigerin gefährlich nahe … Die Wunder des Regenwalds Aufregende Abenteuer, erstaunliche Wunder der Natur und das spannende Leben der Tiere – diese Kinderbuchreihe entführt Mädchen und Jungen ab 8 Jahren in die verschiedenen Lebensräume der Erde. Ob im tiefen Meer, im dichten Wald oder in der Savanne: In diesen Geschichten erleben Tiere schöne und zugleich bewegende Abenteuer. Mit berührenden und coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen. Lehrreich wie ein Sachbuch und berührend wie ein Disney-Klassiker! Für Fans von Peter Wohlleben und Karsten Brensing. Alle Bände dieser Reihe: Das geheime Leben der Tiere (Dschungel) - Freundschaft im Regenwald Das geheime Leben der Tiere (Dschungel) - Die schwarze Tigerin Das geheime Leben der Tiere (Dschungel) - folgt Die Titel sind auf Antolin gelistet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 174

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Glossar

1

Es geschah an dem Tag, an dem die Elefanten kamen. Alles änderte sich.

Die Welt.

Bisher hatte die Welt aus nur sehr wenig bestanden: fressen, schlafen, die scheuernde Leine um den Hals spüren, die Stimmen der Menschen.

Lakshmi konnte sich an nichts anderes erinnern.

Manchmal, wenn das Sonnenlicht durch die Ritzen in der Bretterwand in ihren Verschlag fiel, lag sie da und betrachtete ihre Pfoten: die schwarz getigerten Pfoten mit den schmalen silberweißen Streifen. Und sie fragte sich, ob diese Pfoten nicht noch zu etwas anderem da waren. Zu etwas anderem als dazu, im Kreis oder über einen Platz aus festgetretener Erde zu laufen, während eine Horde Menschen klatschte und johlte.

„Bhuli, bhuli! Tiger, Tiger!“

Neben ihr, in dem anderen Verschlag, war der Tanzbär.

Er trug auch eine Leine.

Und draußen in dem Korb schlief die Schlange. Ein altes Python-Männchen. Es war nicht gut, ihn zu wecken, denn dann kam er mit einem Zischen heraus und tat, als sei er böse.

„Lakshmi, meine Schöne!“, sagte der Mann. Er stand draußen vor dem Verschlag und sie setzte sich hin und lauschte. „Lakshmi, meine Beste! Hör zu, ich werde ins Dorf gehen, ich werde unsere Vorstellung ankündigen, für morgen. Du wirst durch den Reifen springen und Madhu wird tanzen und die Schlange wird sich wiegen … Alle aus dem Dorf werden kommen und zusehen. Du bist Lakshmi, die Göttin des Wohlstandes, du wirst mich reich machen, reich! Wir werden Fleisch haben und Reis, für mich und dich und Neengal, den Gott aller Schlangen. Und für Madhu, den Clown.“

Madhu war der Tanzbär. Er war ein bisschen dumm. Aber Fleisch klang gut, dachte Lakshmi, die Tigerin. Fleisch für alle. Der Hunger lag seit Tagen auf ihrer Seele. Sie waren lange gewandert und im letzten Dorf hatten sie kaum etwas verdient. Die Menschen wollten alle die schwarze Tigerin sehen, wie sie auf zwei Pfoten stand oder durch den brennenden Reifen sprang. Aber die Menschen dort hatten kein Geld. Die Zeiten waren hart, erklärte der Mann, sehr hart.

Seine Schritte entfernten sich auf dem Pfad.

Lakshmi setzte sich vor eine Ritze zwischen den Brettern und sah hinaus. Da draußen, gleich hinter dem Dorf, den Weg hinunter, begann der Dschungel. Ein grüner und geheimnisvoller Ort. Sie roch ihn. Lange waren sie in Dörfern gewesen, um die es nur Reisfelder gab, oder in Städten, voller Gestank. Aber hier war der Dschungel.

Die hohen Kronen seiner Bäume sahen zu ihr hinab. Sie schienen zu winken. „Komm, komm!“, lockten sie. „Dies ist der Ort, an dem Tiger leben sollten! Nicht an einer Kette! Nicht in einem Holzverschlag! Nicht mit einem Menschen, für den sie auf den Hinterpfoten laufen, damit die Kinder lachen und die Erwachsenen Geld bezahlen!“

Ja, Lakshmi wusste, was Geld war. Doch sie wusste nichts über den Dschungel.

Nie hatte sie ihre schwarzen Pfoten zwischen die grünen Bäume gesetzt, nie die Geheimnisse von Nahem gesehen, nie den Duft seiner Blüten gerochen.

Sie war in Gefangenschaft geboren.

„Eines Tages“, sagte sie. „Eines Tages vielleicht … werde ich hindurchgehen. Durch den Dschungel.“

Aber dann bebte die Erde.

Es geschah ganz plötzlich. Sie spürte das Zittern in den weichen Ballen ihrer schwarzen Pfoten, es lief durch ihren ganzen Körper und ihre Tasthaare standen wie elektrisiert. Da war etwas in der Luft. Eine Spannung. Etwas kam, etwas Großes.

Das Beben wurde stärker. Und da war ein Geräusch, als schlüge jemand mit einem sehr dicken Stock auf die Erde. Einer oder mehrere Jemande. Es kam näher.

Da waren Rufe, Rufe von Menschen aus dem Dorf. Lakshmi verstand nicht, was sie riefen, aber sie klangen panisch. Voller Angst. Das Geräusch war nicht mehr nur ein Geräusch, es war ein Donnern. Es kam von vielen, sie spürte es: von vielen Tieren.

Und jetzt tröteten sie. Sie rannten auf ihren Verschlag zu, eindeutig, und sie tröteten.

Lakshmi saß nicht länger still, lief auf ihren schwarz-silbern getigerten Pfoten auf und ab, nervös. Das Erdbeben und die trötenden Tiere kamen näher und näher und näher … Sie rief. Ein lang gezogenes, klägliches Miau. „Madhu! Madhu, Tanzbär, was geschieht mit uns?“

Sie hörte Madhus Antwort, von drüben, hinter den anderen Brettern. „Ich weiß nicht! Es müssen die Götter sein! Sie kommen angeritten und holen uns, mit ihren vielen Armen! Neengal muss sie aufhalten. Er muss aufwachen, aus seinem Korb kommen und sich wiegen! Er ist auch ein Gott!“

„Unsinn, dummer Bär!“, rief Lakshmi. „Es ist nur sein Name! Es ist nur das, was der Mann den Kindern erzählt! Der Python ist eine alte Brillenschlange, mehr nicht!“ Die Erde bebte jetzt so stark, dass die Bretter wackelten.

Und dann waren sie da: die Tröter, die Trampler, die Panischen. Die Wände des Verschlags zerbrachen und stürzten in einem Chaos aus Splittern ein. Lakshmi sah die trötenden Tiere – es waren Elefanten. Sie sprang, wie sie sonst durch den brennenden Reifen sprang: Sie stieß sich mit ihren Hinterpfoten ab, schnellte in die Luft, drehte sich dabei – ein eleganter schwarzer Blitz mit Silberstreifen. Sie sprang mitten hinaus aus dem Durcheinander, aus der Masse der panischen grauen Leiber, sprang über einen Elefanten, ein Kalb noch, und landete auf hart getretenem Boden.

Die Elefanten rannten weiter, sie hatten die Hütte einfach zertrampelt, es kaum bemerkt. Sie waren wie eigene Götter, Götter der Stärke und der Zerstörung. Dabei war Ganesha, der Elefantengott, friedlich. Lakshmi hatte Statuen von ihm gesehen, die die Menschen mit Blumenketten schmückten.

Die Tigerin stand mit bebenden Flanken und sah den Elefanten nach. Es war eine ganze Herde, die jetzt durch das Unterholz brach und im Dschungel verschwand. War fort, verschluckt vom Geheimnis der Schatten, aus denen sie auch gekommen war. Der Dschungel, dachte Lakshmi, spuckt Dinge aus und lässt Dinge verschwinden, er ist selbst ein Gott.

Sie drehte den Kopf.

Die Elefantenherde hatte eine Spur der Verwüstung hinterlassen. In der Ferne standen die Menschen aus dem Dorf zusammen und schauten ihnen nach. Lakshmi sah die Frauen in ihren bunten Saris, wie schlanke, zu groß geratene Papageien. Die Kinder mit ihren blanken, erschrockenen Augen. Die Männer mit ihren blau oder grau karierten Dhotis, den knielangen Tüchern. Sie redeten alle durcheinander.

Jetzt zeigten sie auf Lakshmi. „Bhuli!“, schrien die Kinder. „Tiger! Tiger!“

Kreischend verschwanden sie zwischen den Hütten.

Da entdeckte Lakshmi zwischen den Trümmern Madhu, den Tanzbären. Er saß da und fuhr sich mit den Pfoten durchs pelzige Gesicht, verwundert.

„Wir sind frei“, sagte er. „Frei!“

Neengals Schlangenkorb war umgefallen und der Python stieß zischend mit dem Kopf hervor, blinzelte geblendet ins Licht, schnappte in die Luft.

Madhu stellte sich auf die Hinterbeine und drehte sich im Kreis. Tanzte, wie er es gewohnt war. „Was sollen wir tun? Was? Wir könnten einfach weglaufen. Aber dann wird uns morgen niemand füttern.“

Lakshmi lief einmal im Kreis über den harten Boden. Auch aus Gewohnheit.

Dann blieb sie stehen und lauschte auf das Knurren ihres Magens.

Ein kleiner bunter Vogel schoss durch die Luft und sie stellte etwas Seltsames fest. Sie sah ihn genau an. Jedes Detail. Viel genauer, als sie die Dinge sah, die sich nicht bewegten. Sie sah ihn und etwas in ihr schrie danach, ihm nachzusetzen. Ihr Maul war feucht vor Speichel.

„Ich werde jagen“, sagte sie.

Es war ein Wort, das sie nur als Wort kannte, von den Menschen. Sie hatte nur einmal gejagt: eine Ratte, die sich in die Hütte verirrt hatte, in der Lakshmi eingesperrt war. Lange her.

Am Rand des Dschungels wiegten sich die grünen Bäume und Büsche in einem Windhauch. Gelbe Blüten kräuselten dort ihre duftenden Blätter und winzige Wesen raschelten im Unterholz. Lakshmi stellte ihre Ohren auf und lauschte.

„Jetzt“, sagte sie dann.

Sie schoss davon, ihre schwarz-silbern getigerten Pfoten flogen über die Bretter, die Trümmer ihres Gefängnisses. Die Leine um ihren Hals war noch da, doch der Mann würde keine Kette mehr daran befestigen. Nie wieder.

Sie war ein schwarzer Streifen aus Geschwindigkeit, spürte jeden ihrer Muskeln. Nie war sie so gerannt, nie hatte sie so viel Platz gehabt.

Sie hörte Madhu hinter sich etwas brummen, sie hörte das Zischen des alten Neengal. Vielleicht folgten sie ihr. Sie konnte nicht auf sie warten. Die Masse der Blätter da hinter dem Pfad rief sie mit aller Macht. Dort, dort war die Herde der wilden Elefanten verschwunden, Lakshmi sah die geknickten Äste deutlich.

Ich komme, dachte sie, ich komme. Ich bin eine Tigerin, ein Teil des Dschungels. Alles andere war falsch.

Und dann tauchte sie hinein. In das grüne Zwielicht unter den Blättern, in all die neuen Gerüche und Geräusche. Der Boden war ungewohnt unter ihren Pfoten: keine trockene, platt getretene rote Erde mehr, sondern ein Teppich aus herabgefallenen Blättern. Weich, nachgiebig. Ihre Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht unter den Ästen gewöhnen. Es war auf andere Weise dunkel als ein Verschlag oder eine Hütte. Es war ein lebendiges Dunkel.

Sie war jetzt nicht mehr auf der breiten Spur der Elefantenherde unterwegs, sie duckte sich und glitt durchs Unterholz. Kleine Blätter und Blüten rieselten auf sie herab.

Der Dschungel war tief wie der Himmel bei Nacht, den sie manchmal nach einer Abendvorstellung gesehen hatte. Niemand wusste, was sich hinter den Sternen verbarg. Und niemand wusste, was in diesen Schatten im Wald war.

Sie blieb stehen.

Auf einmal kam sie sich beobachtet vor. Tausend Augen konnten hier sein, tausend Gefahren lauern. Es raschelte entfernt. Dann näher. Sie ging einen Schritt zurück, weg von dem Rascheln.

Was für Wesen gab es im Wald? Wesen mit Messern, Feuer, Pistolen? Wie die Menschen? Oder noch viel schlimmere Dinge? Sie starrte ins Dunkel zwischen den Zweigen.

Da waren eine Menge Moskitos. Ameisen. Sie stellte wieder fest, dass sie alles, was sich bewegte, sehr genau sah. Aber das, was still saß und lauerte, sah sie nicht.

Sie hörte, wie ein ganz kleines, klägliches Miau ihrer Kehle entkam.

Der Mann war nicht da, um ihr zu helfen, zum ersten Mal in ihrem Leben.

Das Rascheln kam noch näher.

Sie machte einen Satz und landete auf dem Stamm des nächsten dicken Baums, krallte sich mit allen vier Pfoten fest und begann, daran hinaufzuklettern, ungeschickt: Sie hatte keine Übung. Nie, nie war sie geklettert. Sie schlug die Krallen an ihren breiten schwarzen Tatzen in die Rinde des Baums, aber sie hatte schreckliche Angst zu fallen. Weiter, sie musste weiter! Das Rascheln war jetzt direkt unter ihr! Nach einer Weile klappte es besser, ihre Tatzen gewöhnten sich an die Kletterei.

Und dann berührte etwas sie am Rücken, streifte ihr Fell. Voller Entsetzen kletterte sie schneller, jagte den Baum hinauf, bis in die höchste Spitze. Erst da hielt sie an und drehte sich mühsam um, um hinabzusehen. Eine paar taumelnde bunte Dinger waren ihr gefolgt. Sie flatterten jetzt zwischen den Zweigen herum, wo es zarte rote Blüten gab, die nach oben wollten, ans Licht. Die Flatterdinger flatterten vorbei und setzten sich auf die Blüten. Rollten lange Rüssel aus, wie ganz, ganz kleine Elefanten – um aus den Blüten zu trinken. Lakshmi fragte sich, ob die Flatterdinger sie stechen würden. Sie waren größer als Moskitos, vielleicht waren sie gefährlich. Es gab giftige Insekten, die stachen. Hundertfüßer zum Beispiel, oder Skorpione. Der Mann war einmal auf einen getreten und hatte lange Zeit einen dicken Fuß gehabt und gestöhnt.

Waren das hier fliegende Skorpione? Sie kroch noch weiter hinauf in die dünnsten Äste, machte sich ganz klein, damit die Flatterer sie vergaßen.

Ihre Flügel hatten schwarze Streifen zwischen helleren Stellen, wie ihr eigenes Fell. Nur dass das Helle ein wenig blau war. Tigerflatterer. Eigentlich waren sie hübsch. Aber jetzt flatterten ein paar direkt auf ihr Gesicht zu … Sie schloss die Augen.

Sie würden sie stechen! Es würde furchtbar wehtun! Bestimmt!

Sie blinzelte. Ein Flattertier saß auf ihrer Nase. Hoffentlich piekte es nicht hinein.

Und da unten … am Fuß des Baums … kam etwas aus dem Unterholz!

Das, was geraschelt hatte. Vielleicht machte es gemeinsame Sache mit den Flatterern? Und sie teilten sich die Beute?

Das Tier am Fuß des Baums war klein, pelzig und schwarzbraun. Es hatte einen gelben Bauch, dunkle Knopfaugen und kleine runde Ohren sowie einen langen buschigen Schwanz. Und nun hob es den Kopf und sah hoch.

„Du!“, fauchte Lakshmi, so entschlossen sie konnte. „Friss mich ja nicht! Ich bin völlig ungenießbar!“

„Ähm“, sagte das Tier.

„Sag den Flatterern, sie sollen weggehen!“

„Ich glaube nicht“, antwortete das Tier, „dass Schmetterlinge auf mich hören.“

„Schmetter… was?“

„…linge. Es sind Schmetterlinge. Tigerschmetterlinge. Du bist doch eine Tigerin. Oder nicht? Ich habe noch nie einen so schwarzen Tiger gesehen. Haben sie deine Streifen zu breit gemacht?“

„Ich bin selten“, antwortete Lakshmi. „Eine Ausnahme. Das sagen alle Menschen. Deshalb wollen sie mich sehen. Aber ich habe nie einen normalen Tiger gesehen. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.“

„Du scheinst eine Menge Dinge noch nie gesehen zu haben. Tz-tz.“

Das Tier kletterte ein Stück den Baum hinauf, mühelos, hopste von Ast zu Ast, bis es fast auf ihrer Höhe war. Lakshmi sträubte das Fell und fauchte ihm entgegen. Ihr Schwanz war vor Nervosität dreimal so breit wie sonst. „Wenn du mich frisst, wirst du vergiftet!“

„Ich fresse lieber Heuschrecken“, sagte das Tier. „Früchte. Und kleine Vögel.“

„Keine … Tiger?“

Das Tier setzte sich hin und begann, sich zu putzen. „Du bist ein komischer Tiger, wirklich. Seit wann frisst ein Marder einen Tiger? Du bist … was? Zwanzigmal so groß wie ich?“

Der Marder schüttelte den pelzigen Kopf und hopste den Baum wieder hinunter, Ast für Ast für Ast. Unten traf er einen anderen, der so aussah wie er. Sie ringelten die Schwänze ineinander, schmiegten sich einer an den anderen, lösten sich dann wieder und hopsten gemeinsam weg ins Unterholz. Sie hatten keine Angst vor dem Unbekannten in den Schatten.

Lakshmi musste wieder von diesem Baum hinunter. Doch die allerobersten Äste, auf die sie sich zurückgezogen hatte, waren dünn. Zu dünn. Zwei brachen, als sie sich bewegte. Sie fiel ein Stück abwärts und schrie, hielt sich mit allen Pfoten am Baumstamm fest.

Sie wagte nicht, weiter abwärts zu klettern.

Es war sehr, sehr, sehr hoch.

Wie würde sie jemals wieder von diesem Baum kommen?

Sie sah erneut ihre Pfoten an. Schwarze Pfoten.

Sie war schön. Sie war besonders. Und sie war ganz allein.

„Hallo?“, rief da jemand von unter dem Baum. Es klang nicht unfreundlich. Ein bisschen zischelig. Als spräche eine Schlange. Und doch wieder anders. „Was tust du da oben? Bist du ein … schwarzer Tiger? Bist du ein … Tiger, der nicht klettern kann?“

2

Lakshmi wandte den Kopf, mühsam, ängstlich, und sah nach unten.

Dort saß eine Echse. Lakshmi kannte Tiere wie diese. Sie klebten in Hütten an den Wänden oder kopfüber an der Decke. Und sie waren nur so groß wie ihre halbe Pfote und manchmal durchsichtig, sodass man ihr Herz schlagen sah. Die Tigerin hatte die Echsen stets darum beneidet, dass sie durch alle Ritzen kriechen konnten, hinaus in die Freiheit und wieder hinein in den Schutz der Hütte.

Diese Echse jedoch war gelb-braun gemustert, mehr als halb so groß wie sie selbst und klebte auf dem Boden. Da sah sie, dass er gar nicht klebte, sondern stand. Er hatte kurze, kräftige Beine mit Krallen wie ein Tiger.

„Was … bist du?“, fragte Lakshmi. „Bist du durch einen Zauber zu groß geworden? Hast du dich in einen Tempel verlaufen und dort haben dich die Götter verwandelt? Der Mensch, bei dem ich gelebt habe, hat gesagt, die Götter verwandeln manchmal Dinge …“

„Ich bin kein Ding“, sagte die Echse. „Ich bin ein Waran. Was sind Götter? Kann man sie essen?“

„Nein“, erwiderte Lakshmi bestimmt. „Sie haben viele Arme und man muss ihnen Blumenketten geben, am besten orange, und Räucherstäbchen, dann zaubern sie.“

„Aha“, sagte der Waran. „Na ja, vielleicht kann man sie ja doch essen. Wir essen eigentlich alles. Alles, was aus Fleisch ist. Schnecken, Würmer, Kröten … Schmecken Götter möglicherweise wie Würmer?“

„Götter sind aus Stein“, sagte Lakshmi. „Du weißt ja gar nichts!“ Sie versuchte, überheblich zu klingen. Er durfte ihre Angst nicht bemerken. Sonst würde er sie vielleicht fressen.

„Viele Arme, viele Arme …“, murmelte der Waran. „Hier im Wald haben nur die Bäume viele Arme. Aber sag mal, möchtest du da oben bleiben?“

„Es ist sehr schön hier. Man hat eine … eine wunderbare Aussicht.“

Der Waran legte den Kopf schief, wobei an seiner Schuppenhaut eine Unmenge Falten entstanden, und musterte sie. „Aha. Dann kann ich ja wieder gehen. Ich hatte gedacht, du bräuchtest Hilfe. Du siehst aus wie etwas, das neu in den Wald gekommen ist und keine Ahnung hat.“

„Ich habe wohl eine Ahnung!“, knurrte Lakshmi. „Mehrere sogar!“

„So, so“, meinte der Waran. Und ging den Baumstamm hinauf, einfach so. Als wäre es ein Pfad im Dschungel. Bei Lakshmi hielt er an, besah sich ihre festgeklammerten Pfoten, eine nach der anderen, und schüttelte den Kopf auf den Halsfalten. „So wird das nichts. Setz jetzt diese Pfote daaa hin. Und diese da drüben.“

Lakshmi gehorchte. „Ich tue das nur aus Höflichkeit“, erklärte sie dem Waran. „Ich weiß selbstverständlich, wie man hier runterkommt.“

„Selbstverständlich“, sagte der Waran. „Jetzt die Hinterpfote daaa hin … siehst du … und die andere dort …“

Eine Weile kletterte Lakshmi Pfote für Pfote langsam abwärts, hinter dem Waran her.

Doch dann war da wieder so ein Flatterding, schillernd und bunt. Es kam direkt auf sie zugeflattert.

„Nein, Hilfe!“, fauchte Lakshmi. „Nimm das da weg! Es will mich stechen oder beißen oder auffressen!“

Der Waran lachte, trocken und schuppig. „Das ist ein Schmetterling. Er hat keine Zähne. Und keinen Stachel. Er trinkt Nektar, aus Blüten. Und du bist eine Tigerin. Tiger sind die Könige des Dschungels.“

„Und wenn das Schmetterding das nicht weiß?“, fragte Lakshmi nervös. „Oder wenn es denkt, ich wäre eine Blüte? Oder …“ Sie schlug mit einer Tatze nach dem Flatterer, aber leider verlor sie dabei den Halt am Baum. Mit einem Aufschrei fiel sie. Von Ast zu Ast zu Ast, in einem Regen aus Blättern. Dann landete sie mit einem Krachen von brechenden Zweigen im Unterholz auf dem Boden des Dschungels.

Eine Weile lag sie einfach da und atmete.

Suchte ihre vier Pfoten zusammen. Sie waren alle noch da. Der Schwanz ebenfalls.

Sie setzte sich vorsichtig auf, kroch aus dem Gebüsch und merkte, wie eine Unzahl kleiner weißer Blüten auf sie herabrieselte. Eine geriet in ihre Nase und sie nieste und putzte rasch ihr Gesicht mit der Pfote.

„Wirklich niedlich“, sagte der Waran. „Eine schwarze Tigerin voller weißer Blüten.“

Er saß wieder vor ihr, war ganz leicht und elegant vom Baum gekommen und sah sie an.

„Ich werde jetzt etwas essen.“ Der Waran kam ein paar Pfotenlängen näher. „Es ist Zeit für eine Kleinigkeit. Mein Magen knurrt.“

„Wehe!“, fauchte Lakshmi, duckte sich und legte die Ohren an. „Ich … Ich bin vollkommen ungenießbar!“

„Natürlich bist du das.“ Der Waran verdrehte die Augen und schüttelte seine Halsfalten. „Wer will schon das Maul voll schwarzem Fell? Nein. Ich fresse leckere Dinge. Schleimige Dinge. Würmer. Schnecken. Manchmal Frösche.“ Er wandte sich ab und verschwand halb im Unterholz, wobei er seinen dicken Schwanz hinter sich her schleifte. Dann blieb er jedoch stehen und sah sich um.

„Kommst du?“

„Ich?“, fragte Lakshmi verblüfft.

„Natürlich du. Du bist doch auch hungrig. Oder nicht?“

„Mich kommt der Mann nachher füttern“, erklärte Lakshmi. „Mit schmackhaften Resten von Rindfleisch und Reis.“ Aber auf einmal fiel ihr ein, dass der Mann nicht mehr Teil ihres Lebens war. Er war irgendwo im Dorf. Sie war nun eine freie Tigerin. Eine Tigerin im Dschungel.

„Ich werde jagen“, sagte sie. „Das tun Tiger. Ich brauche dich nicht, ich kann das allein.“

„Sieh zu, dass du bei der Jagd nicht von einem Schmetterling aufgefressen wirst“, zischte der Waran und verschwand endgültig im Unterholz.

Lakshmi saß eine Weile nur da und lauschte dem Rascheln der Blätter.

Dann war da eine Bewegung zwischen den Bäumen. Sie machte einen Satz, fuhr ihre Krallen aus, landete – doch das, was sich bewegt hatte, war schon davongeeilt und sah sie von einem Ast aus an. Es war ein großer, schillernder Käfer. Lakshmi fauchte ihn an und sprang noch einmal. Diesmal breitete der Käfer seine Flügel aus und surrte davon, um auf einer violetten Blüte an einem anderen Ast zu landen.

„Na warte“, knurrte Lakshmi. „Ich krieg dich. Ich bin eine große Jägerin. Ich bin … die Königin des Waldes.“

Sie sprang zum dritten Mal, erreichte mit einer Tatze die Blüte, die auf und ab wippte … Der Käfer fiel herunter, landete und krabbelte davon, um in einem morschen Baumstamm zu verschwinden. Sie setzte ihm nach, steckte eine Pfote in das Loch in dem Stamm, so weit, bis es nicht mehr weiterging. Sie tastete und fand nichts. Leider bekam sie ihre Pfote danach nicht mehr heraus. Sie zog und zerrte, doch irgendwie hatte sie sich in dem morschen Holz verklemmt. Hier saß sie also: als Gefangene eines Baumstamms. Ihr Magen knurrte. Eine Mücke kam herbeigesurrt und setzte sich auf ihre Nase.