Feuerfrühling - Peer Martin - E-Book

Feuerfrühling E-Book

Peer Martin

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Beschreibung

Ein Feuer wütet in Arsal: Die kleine Stadt im Libanon, in der Calvin und Nuri mit den Kindern Zuflucht gefunden haben, wird Ziel des IS. Die Zelte der Flüchtlinge stehen in Flammen. Ein Feuer wütet in Europa: Ein Feuer aus Hass gegen alles Fremde. Europa verbarrikadiert seine Grenzen - mit Gesetzen, Stacheldraht, Waffengewalt. Gemeinsam mit den Kindern machen sich Calvin und Nuri auf den Weg zurück nach Deutschland, ohne gültige Papiere. Ihre Reise wird zu einer Odyssee über das Meer, durch Internierungslager, über Grenzen aus Hass, Mauern und Stacheldraht - eine gefährliche, eine tödliche Reise. Ein Feuer wütet in Calvin: In ihm brennen die Wunden der erlebten Gewalt, er hat sich immer weniger unter Kontrolle und hasst sich für seine Ausbrüche von ohnmächtiger Wut. Ein Feuer wütet in Berlin, ein Feuer der Erinnerung: Endlich kommt es zum Prozess gegen Pascal und seine Clique. Werden Nuri und Calvin Berlin rechtzeitig erreichen, um im Prozess gegen Pascal auszusagen, der damals das Feuer im Flüchtlingsheim gelegt hat? Kann es doch noch Gerechtigkeit geben? Kann ihre Liebe all dies überstehen? Oder bleibt nur das Feuer, das am Ende alles vernichtet? Für Jugendliche und Erwachsene ab 16 Jahren

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PEER MARTIN

FEUER FRÜHLING

© 2017 Peer Martin

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Illustrationen Cover: ©dmitry_dmg – stock.adobe.com, ©adrenalinapura – stock.adobe.com

ISBN Taschenbuch: 978-3-7439-5941-5

ISBN Hardcover: 978-3-7439-5943-9

ISBN e-Book: 978-3-7439-5942-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

für Hannah, Jakob und Aaronund all die anderen Kinder,die für ein Morgen zu erziehenalles ist, was wir tun können

Website mit Kontakt zum Autor und weiteren Informationen zu den Themen des Buchs:www.unter-schwarzen-fluegeln.com

Detailkarten zum Buch:https://unter-schwarzen-fluegeln.com/ffk01

Jeder hat das Recht, jedes Land,einschließlich seines eigenen, zu verlassen …

(Artikel13der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, beschlossen von derUN-Vollversammlung1948.)

1.

Die Soldaten beschossen das Lager und wir mussten um unser Leben rennen. Aus der Ferne sahen wir unsere Zelte plötzlich lichterloh brennen. (…). Sie warfen uns vor, mit den Dschihadisten unter einer Decke zu stecken (…) Viele von uns wurden verhaftet und verhört. Warum? Was haben wir denn getan, außer um unser Leben zu rennen?

(Mostafa, syrischer Flüchtling in Arsal)

Das Feuer von nebenan dringt tiefer und tiefer ins Herz des Libanon und droht neue Brandherde auszulösen

(Najib Mikati, kommissarischer Ministerpräsident des Libanon)

Wie wuermtal.net berichtet, hat die Freiwillige Feuerwehr Gauting ihre Kameraden aus dem libanesischen Arsal an gespendeten Fahrzeugen ausgebildet. (…) Sie wurden (in Beirut) in Brandtheorie und Einsatztaktik geschult und trainierten den praktischen Löschaufbau und die Pumpenbedienung.

(Freiwillige Feuerwehr Gauting unterstützt libanesische Kameraden, retter.tv)

Detailkarte zu diesem Abschnitt:

https://unter-schwarzen-fluegeln.com/ffk02

 

Rot.

Rot ist die Farbe des Blutes auf seinem Ärmel.

Aber das ist unwichtig, das sind nur Spritzer. Sie haben heute eine Wunde ausgeschnitten und gesäubert, es geht dem Mann gut. Und es ist gut, Arbeit zu haben. Das neue Krankenhaus ist winzig, noch nicht einmal fertig, dennoch ist es ein Wunder.

Rot.

Rot ist auch die Farbe der Blume, die er in der Hand hält, irgendeine kleine Bergblume, er kennt ihren Namen nicht, aber sie ist schön. Rot ist die Farbe vergangener Schrecken, an die er nie mehr denken wird.

Sie mussJasagen.Na’am. Belê. Yes. Minschoufak.Okay, das libanesischeJaist wirklich kompliziert, und zudem ist es das gleiche Wort wieAuf Wiedersehen. Kurdisch war einfacher. Er lacht darüber. Er singt. Heute ist der richtige Tag. Der zweite August.

Er wird sie im Camp finden, bei den Reihen der weißen Flüchtlingszelte, sie wird dort mit den Kindern sitzen und gerade noch nicht mit dem Unterricht am Ende sein, sie braucht immer länger als geplant. Wie ernsthaft sie diesen Unterricht betreibt, und wie böse sie ihn ansehen würde, wenn sie wüsste, dass er jetzt grinst! Und wie er sie dafür liebt, dass sie genauso ist, wie sie ist. In jeder Minute, auch dann, wenn er sie hasst.

Rot.

Rot ist die Farbe der Sonne, wenn sie über dem Antilibanon aufgeht zu der Stunde, zu der sie meist auf der niedrigen Mauer des Gartens sitzen: vor der Hektik des Tages für Minuten zu zweit allein. Bevor sie die Kinder wecken. In dem alten Stall schlafen inzwischen zu viele Menschen, es sind noch zwei Familien eingezogen, es ist zu eng – was macht das schon?

Er sieht wieder die Blume in seiner Hand an.

Die Straßen von Arsal sind vollgestopft wie immer, Autos, Menschen, Chaos. Es ist laut, Hupen, Rufen, Streiten, Motorenlärm, das Blöken von Ziegen oder Schafen in der Ferne. Und dann hört er etwas anderes, und der Lärm, ganz plötzlich, verstummt. Der Verkehr scheint zu gefrieren, die Leute bleiben stehen, lauschend die Köpfe erhoben.

Schüsse.

Motorenlärm anderer Sorte. Eine Stimme, verzerrt, unkenntlich, die etwas durch ein Megaphon brüllt. Er dreht den Kopf. Und sieht die ersten Panzer. Die Maschinengewehre, die darauf kauern, denen Beine und Arme und vermummte Köpfe gewachsen sind. Die Flaggen, schwarz mit weißer Schrift.

Die Blase des Glücks an jenem zweiten August zerplatzt.

Die Straße ist jetzt leer, nur ein paar Leute versuchen noch, ihre Autos zur Seite zu bugsieren.

Am zweiten August kommt der Krieg nach Arsal. Kommt der Krieg in den Libanon.

La ’ilaha illallah.Es gibt keinen Gott außer Allah.

Calvin konnte die Worte auf den Flaggen nicht lesen, aber er wusste, dass sie dort standen, in geschwungenem, schönen Arabisch: der erste Satz der Schahada, des Glaubensbekenntnisses.

Die Flaggen waren die Flaggen der al-Nusra-Front, doch er sah andere Flaggen dazwischen, genauso schwarz, ebenfalls weiß beschrieben, die Schrift jedoch runder, beinahe kindlich.

Es gibt keinen Gott außer Allah. Und Mohammed ist sein Prophet.

Flaggen des Islamischen Staats.

Auf manchen Panzern saßen Soldaten der libanesischen Hisbollah, Soldaten mit geschlossenen Gesichtern: Gefangene. Der Daisch hatte an den Außenposten der Stadt bereits Gefangene gemacht.

Calvin stand jetzt in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern, zusammen mit einer Handvoll anderer Menschen. Während die Panzer vorüberrollten, schloss er die Finger schützend um die rote Blume. Es erschien ihm wichtig, dass ihr nichts passierte. Neben ihm stand eine junge Frau, die mit zitternden Fingern versuchte, ihren Schal als Hidschab zu arrangieren, über die Nase hinaufzuziehen, nur noch die Augen freizulassen. Sie schaffte es nicht in der Eile, begann lautlos zu weinen, und Calvin legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nicht!“, flüsterte er. „Sie sehen nicht zu uns her!“

Sie sah seine Hand an wie eine Schlange, und er nahm sie weg.

Kein Mann darf eine Frau berühren, mit der er nicht verheiratet ist. Keine Frau darf sich ohne Verschleierung zeigen. Kein eigener Gedanke darf gedacht werden.So will es das Gesetz des Islamischen Staats, das in Blut geschriebene, mit Körpern in den Wüstensand gemalte, das ewige.

Aber verdammt nochmal, der Daisch hatte hier nichts zu suchen! Bis vor fünf Minuten war Arsal eine freie Stadt im Libanon gewesen!

Und dann spuckte der Boden am Ende der Straße Panzer des libanesischen Militärs aus, die sich den Eindringlingen entgegenstellten. Schüsse zerfetzten die Luft. Die Straße vor Calvin wurde binnen Sekunden zu einem unüberquerbaren Tunnel aus Geschossen.

Er wusste, wenn er zu Nuri wollte, musste er über diese Straße.

Er merkte, dass er die Kufiya über den Kopf geschlagen hatte, das Arafattuch, das lose um seinen Hals gelegen hatte. Als interessierten sich die Kämpfer für ihn. Als würden sie ihn jetzt, in diesem Durcheinander, identifizieren.

Taufiq al-Almani. Calvin Lüttke. Anders Dobrowski.

Er war dreimal gestorben, im Feuer in Deutschland, in einem verunglückten Jeep vor al-Raqqa und, kniend am Ende, hinter einer Villa südlich von Damaskus. Der Deutsche mit dem blonden Haar und den zu jungenhaften Sommersprossen war tot für denIS: der Deserteur, der Ungläubige, der Mädchenentführer, der Flüchtling, er war tot, tot, mausetot, sie konnten ihn gar nicht finden.

Er zog das Tuch enger. Die Angst krallte sich in sein Herz und fraß ihn von innen, die Erinnerungen fielen übereinander: der Zaun, über den er geklettert war, aus dem Trainingslager der Kämpfer. Ein Innenhof, in dem er, heimlich, ein verschleiertes Mädchen traf, die Mauern eines Gefängnisses, die staubige Straße in die Freiheit. Er holte tief Luft.

Und drehte sich um und rannte. Nicht über die Straße, nicht dorthin, wo Nuri war, sondern zurück. Auf einmal schien die Stadt von Kämpfern nur so zu wimmeln, er verschloss seine Ohren gegen das Pfeifen der Geschosse, schlug Haken, machte Umwege, wartete hinter Mauern…, und schließlich stand er vor einer Tür. In einem Flur. Lehnte sich keuchend gegen eine Wand.

Es roch nach Desinfektionsmittel. Draußen wurde es schon dunkel. Drinnen auch. Vermutlich war der Strom mal wieder weg. Nur noch vereinzelte Schüsse hallten durch den Abend.

„Calvin“, sagte jemand neben ihm. „Du bist wiedergekommen. Trotz Feierabend.“

Und erst da begriff Calvin, dass seine Beine ihn zum Krankenhaus zurückgebracht hatten, auf tausend Umwegen durch die plötzlich brodelnde Stadt. Er sah den Arzt an, der neben ihm stand, einen freundlichen, untersetzten Mann mit dicker Brille und einem nervösen Zwinkern im linken Auge. Auf seiner Wange klebten Blutspritzer wie ein Sternzeichen.

„Schöner Feierabend da draußen“, sagte Calvin leise.

„Ja“, sagte der Arzt. „Gut, dass du da bist. Vernünftig. Wir brauchen jeden hier. Deine Freundin wird das verstehen.“

Er drehte sich um und ging den Flur entlang, und Calvin folgte ihm.

„Ich bin nicht zurückgekommen, weil ich vernünftig bin“, murmelte er. „Ich bin zurückgekommen, weil ich ein Feigling bin.“

Als er neben den Matratzen stand, in denen die Verletzten auf dem Boden lagen, notdürftig untergebracht, öffnete er die Hand, in der er die Blume hatte schützen wollen. Die Blume, die er für Nuri gepflückt hatte.

Da war keine Blume mehr, nur noch ein wenig Rot.

Er hatte sie zerquetscht, ohne es zu merken.

***

Rot.

Rot war die Farbe des Schulbuchs. Keiner wusste eigentlich, woher das Buch kam, aber ich habe mit den Kindern danach gelernt, mit den Kindern der ersten und den Kindern der achten Klasse und allen dazwischen. Die Erstklässler lernten Schreiben und Lesen damit, die Achtklässler lernten, die Dinge auf Englisch zu benennen.

Rot.

An dem Tag, an dem alles noch einmal begann, zum dritten und letzten Mal begann, saß ich mit dem roten Buch im Schoß bei den weißen Zelten wie immer. Ich wartete auf Calvin, er hatte am Morgen gesagt, er würde mich abholen, und er müsste mich etwas fragen.

Etwas Wichtiges.

Er hatte mir nicht sagen wollen, was, und so wartete ich auf ihn und merkte, wie meine Gedanken wegglitten, weg von dem roten Schulbuch. Zurück in den Frühling: April in Arsal.

Ich werde nie vergessen, wie es war, anzukommen.

Wie es war, Calvin wiederzufinden. Ihn in die Arme zu nehmen, zu spüren, dass er lebte, obwohl ich so lange geglaubt hatte, er wäre tot.

In jenen ersten Tagen, damals im April, erzählten wir uns unsere Geschichten in Bruchstücken, und es dauerte, bis ich die Scherben von Calvins Geschichte zusammensetzen konnte.

Er hatte gesagt, er wäre ein anderer geworden, und das war wahr.

Vielleicht habe ich mich in diesen Tagen im April noch einmal verliebt. In den anderen Calvin. Den, dem fünf dreckige, zerzauste Kinder nachliefen, die er aus Syrien herausgeholt hatte. Den, der nachts aufwachte und so tat, als weinte er nicht, wenn die Erinnerungen kamen. Den, der die Frühlingsknospen der Obstbäume ansah, als wären sie unerklärliche Wunder.

Ja, der Frühling war voller Wunder: Wunden heilten. Die Kinder hörten auf zu husten. Dschinan hielt die Hand meines Bruders, wenn wir den Verband an seinem Bein wechselten und er die Zähne zusammenbiss und knurrte wie ein Hund. Das Wunder zwischen diesen beiden begriff ich erst langsam, sie schienen zusammenzugehören, immer schon.

Dschinan hielt seine Hand auch, als sie ihm Ende Mai den Unterschenkel abnahmen, dessen Fleisch schwarz zu werden begann. Es war eine anständige Operation samt Betäubung, aber Kamal weinte wie ein Kind. Er hatte ein Held sein wollen, er hatte geplant, irgendwo in diesem Krieg zu sterben. Nicht, ein Krüppel zu werden.

„Du hast einen Fuß verloren“, sagte Dschinan beinahe böse, „nicht deinen Verstand, halt den Mund.“

Ich dachte damals, Dschinan könnte auch meinen Bruder heilen. Noch ein Wunder vollbringen.

Sie fing an, im Laden der Frau auszuhelfen, die uns in ihrem Stall schlafen ließ. Calvin fand Arbeit in der neuen Klinik, und ich begann, die Flüchtlingskinder zu unterrichten.

Manchmal dachte ich an die Kinder in Deutschland, denen ich mit den Hausaufgaben geholfen hatte. Ich dachte auch an meine Eltern. Ab und zu sandte ich ihnen ein Lebenszeichen, aber ich rief sie nie an. Sie hatten gewollt, dass ich Calvin vergaß, und hier war ich und hatte das Gegenteil getan. Es war leichter, Kurznachrichten zu schreiben.

Als ich ins Flugzeug gestiegen war, hatte ich gedacht, ich würde nur für Tage fort sein. Ich dachte, ich würde Calvin zurückholen und Kamal – und Dschinan, wenn sie wollte. Ich würde mit Ayses libanesischem Pass fliegen, Calvin würde über die deutsche Botschaft rauskommen und Kamal irgendwie auch, ich hatte genug Geld, um eine Menge Leute zu bestechen.

Doch es wurde August, und wir waren noch immer in Arsal.

Wohin war die Zeit nur geglitten?

Wir hatten zu einer Art seltsamem Alltag gefunden, der seine eigene Schönheit besaß.

Zum ersten Mal, seit ich Calvin kannte, waren wir offiziell ein Paar. Die Leute glaubten, wir wären Mann und Frau. Niemand sagte zu mir, ich könnte nicht mit einem blonden Deutschen zusammen sein, und niemand sagte zu Calvin, er könnte nicht mit einem arabischen Mädchen zusammen sein. Ich meine, es war nicht so, dass wir auf offener Straße knutschten, es war noch immer der Libanon, aber wir konnten uns manchmal an den Händen halten und die Leute, die wir kennenlernten, sprachen uns als „ihr“ an, sie sagten:Brauchtihrfrische Eier?Und:HabtihrZeit, zu uns zum Tee zu kommen?Und wenn wir manchmal bei unseren Freunden saßen und mit ihnen zu Abend aßen, und wenn wir Hand in Hand nach Hause gingen, dann waren wir auf unsere Weise angekommen. Zu Hause.

Tagsüber rannten die Kinder mit anderen Kindern durch die Gassen, diese Kinder, die Calvin mehr aus Versehen aus dem belagerten Homs herausgeholt hatte und die jetzt die seinen, die unseren waren. Ich sehe noch Laylas und Marwans rote Haare im Sonnenschein fliegen. Vielleicht hatten sie es geschafft, die Höhle im Schutt zu vergessen, in der Calvin sie gefunden hatte. Ich sehe noch, wie Amira das Radfahren lernt. Ich sehe noch, wie der kleine Bassel einem Ball nachjagt, einem Ball aus mit einer Schnur umwickeltem Stoff. Vielleicht dachte er nicht mehr jeden Tag daran, wie seine Mutter in der unterirdischen Klinik in Homs gestorben war, wo Calvin ihn aufgelesen hatte. Selbst Harun sah bisweilen unbeschwert aus, Harun, der in den Bergen vor der libanesischen Grenze plötzlich da gewesen war, ein Gewehr im Arm, und der keinem je erzählt hatte, zu welcher Sorte von Kämpfern er gehört hatte. Sie alle waren jetzt nur noch Kinder, Fußball spielende, lachende, lernende, in den Tag hineinlebende Kinder, Arsal hatte sie und uns aufgenommen und uns ein wenig Normalität zurückgegeben.

Vielleicht wären wir für immer geblieben.

Doch als ich am Nachmittag des zweiten Augusts zwischen den weißen Flüchtlingszelten saß, geschah etwas Seltsames. Ich blickte in mein Buch und glaubte, im Augenwinkel ein weiteres Kind zu sehen, dass sich zu uns in den Kreis setzte. Zwischen Layla und Marwan, in deren roten Haaren das staubige Licht spielte.

Und ich sah auf, um das Kind zu begrüßen.

Um es zu fragen, woher es kam. Ob es neu war im Lager.

Ich spürte, schon während ich den Kopf hob, dass das neue Kind sehr schwer war, schwer wie Blei. Von innen. Dass es etwas Schreckliches mit sich herumtrug, etwas vielleicht Unheilbares. Doch als ich die Stelle zwischen Amira und Marwan ansah, war da nichts. Nur Staub.

Mir war auf einmal kalt, ich konnte mich nicht mehr auf das konzentrieren, was ich hatte lesen wollen.

Ich schlug das Buch zu, und es war rot. Rot.

Dann hörten wir die Schüsse. Und dann rannten wir.

Es war Marwan, der mich mit sich zog, ich drehte mich im Laufen um, um noch einmal nachzusehen, ob nicht doch ein neues Kind mit uns rannte, und Marwan sagte „schneller“, und wir rannten schneller. Wir hechteten in das nächste Zelt, warfen uns auf den Boden, und der Lärm kam näher. Aber dann entfernte er sich wieder, vervielfältigte sich stattdessen, schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen.

„Wir müssen hier weg“, flüsterte Harun. „Wir müssen irgendwohin, wo es Mauern gibt. Zelte halten keine Kugeln ab.“

Und ich dachte daran, was Dschinan mir erzählt hatte über Harun, der eines Tages einfach da gewesen war und ein Gewehr umklammert hatte, um es dann später nie mehr anzufassen. Keiner von uns wusste bis heute, für welche Gruppierung er gekämpft hatte. Er war dreizehn Jahre alt.

„Warum schießen sie?“, fragte Layla und drückte den Stoffaffen an sich, den sie im Mai bei einer Spendenaktion ergattert hatte, ein uraltes, völlig zerfranstes Ding. „Wer schießt denn?“

Ich setzte mich auf und zog sie in meine Arme, Layla mit dem Feuerhaar, sechs Jahre,20Kilogramm und ein Affe. „Ich weiß es nicht“, flüsterte ich. „Vielleicht ist es nur eine Übung.“

„Die üben Leute umbringen“, sagte Layla.

„Nee“, sagte Bassel. „Das können sie schon.“

Obwohl wir nicht wussten, wersiewaren.

Ich sah mich erst jetzt wirklich um, das Zelt war voller Augen. Den Augen einer alten Frau, die neben einem Gaskocher auf der Erde hockte. Den Augen der Kinder. Den blinden, milchigen Augen eines uralten Mannes. Den Augen von zwei jüngeren Frauen. Eine hatte ein Baby auf dem Arm, und das Baby hatte auch Augen. Es war ganz still, als dürfte es nicht schreien, weil draußen jemand nach uns suchte. Niemand wusste, was dort geschah und warum es geschah und wer schoss. Vielleicht sah der Blinde es als Einziger mit seinen Milchglasaugen.

Laylas Affe streichelte mit seiner Pfote das Baby. „Alles wird gut“, sagte er mit Laylas Stimme.

„Mauern“, sagte Harun noch einmal. „Wir brauchen einen Ort mit Mauern.“

Aber es gab keinen Ort mit Mauern, den wir erreichen konnten. Es war zu gefährlich, das Zelt zu verlassen. Draußen war die Luft voll von Schüssen, Motorenlärm, Schreien. Aber sie waren nicht im Camp, sie waren weiter fort, noch waren wir sicher.

Und so begannen wir zu warten. Zu warten wie jemand mitten in einem Sturm.

Marwan und Harun sprachen über die Waffen, die draußen benutzt wurden, fachsimpelten darüber, welches Maschinengewehr wie am Geräusch zu erkennen war, welche Fahrzeuge da draußen fuhren oder gefahren waren. Als hätten sie keine Angst.

Natürlich hatten sie Angst, wir hatten alle Angst, die Angst wuchs über die Zelte wie eine riesige Pflanze mit schwarzen, rankenden Armen, die uns zerquetschen und ersticken würde, genährt von dem Lärm draußen und der Unwissenheit.

Der Stoffaffe war der Einzige, der sich nicht fürchtete. Ich sah in seine schwarzen, abgegriffenen Glasaugen und hatte das Gefühl, ich müsste etwas darin lesen, aber sie blieben leer. Ich versuchte, Calvin auf dem Handy zu erreichen, kam aber nicht durch.

Er antwortete auf keine meiner Kurznachrichten.

Und während wir warteten, während es Abend wurde und Layla und Amira an mich gelehnt einschliefen, fraß die Sorge Löcher in meine Gedanken. Calvin war auf dem Weg zu uns gewesen, durch die Stadt, in der jetzt die Welt unterging. Er war nicht angekommen.

Und dann kamen zwei Männer ins Zelt, die zur Familie gehörten, außer Atem, der eine verletzt an der Schläfe. Und die Worte, die sie sagten, nährten die tödliche Ranke der Angst noch weiter.

Schwarze Flaggen,sagten sie.Mit weißer Schrift. Sie sind hier,sagten sie.Hier in Arsal.

Die Islamisten,sagten sie,die Gotteskämpfer. Jetzt sind sie hier. Und Gott hat uns verlassen.

„Das ist ihr Racheakt für den festgenommenen al-Nusra-Mann“, sagte der eine.

Und ich wusste, wovon er sprach. Abu Ahmad Joumaa, Führer der Fajr al-Islam-Brigade, ein charismatischer Mann. Einmal hatte ich ihn gesehen in Arsal, und ich hatte nur daran gedacht, wie al- Nusra das Dorf in den Bergen zerstört hatte, wie sie den Frieden zwischen den Aprikosenbäumen und den Schafen in Stücke geschossen hatte, wie sie Dschinans Onkel umgebracht hatte, der sie bat, es nicht zu tun.

Ich hatte Joumaa angesehen, den Helden, der vielleicht wirklich ein Held war und der natürlich gegen Assad kämpfte, aber ich hatte nur einen Fanatiker gesehen, einen vom Hass Erblindeten.

Einen Zerstörer von Aprikosenbaumstille.

Die Libanesen hatten Joumaa vor Kurzem in der Nähe festgenommen.

Es war seltsam – hier in Arsal trafen sich alle, die drüben in Syrien kämpften, dies war ihre Hauptversorgungsroute. Hier waren sie höflich zueinander, ignorierten sich gegenseitig, dies war nicht das Spielfeld. Sie transportierten nur ihre verschiedenen Tode über die Grenze, um sich dort gegenseitig zu vernichten.

Doch an diesem zweiten August war Arsal Teil des Spielfeldes geworden.

Die libanesische Hisbollah, die Assad unterstützte, den ich hasste, kämpfte da draußen gegen den Daisch und die al-Nusra-Front, die ich ebenfalls hasste, und ich lag da und wünschte mir, sie würden sich einfach alle gegenseitig totschießen.

Ja, da lag ich in einem fremden Zelt auf dem Boden, ein Kind im Arm, und wünschte Männern, die ich nie gesehen hatte, den Tod. Und Calvin stand vielleicht irgendwo neben einem Operationstisch und half, die Leben derer zu retten, die ich verwünschte.

Es war still geworden in unserem Zelt, dunkel und still. Durch die Ritze des Zelteingangs sah ich die Sterne hoch über Arsal. Und ich sagte mir, dass auch Calvin sie sah, egal, wo er war.

Draußen dröhnte ein alter Jeep heran und hielt unangenehm nah, und ich spürte, wie mein Puls zu rasen begann.

„Das sind die Ersten, die gehen“, sagte einer der Männer.

„Wir sollten es auch tun. Noch ist die Nacht lang. Wir sollten packen.“

„Packen?“, fragte die Alte, die noch immer neben dem Gaskocher kauerte, in sich zusammengesunken, winzig geworden von einem Leben harter Arbeit. „Wozu packen?“

„Wir müssen weg, Ummi. Wir können nicht in Arsal bleiben, wenn derIShier ist. Die Leute werden nach Osten fahren, über die Passstraße. Es gibt ein paar Schleichwege für die ohne Papiere.“

„Nach Osten?“ fragte ich ungläubig. „Die Leute … fliehen zurück nachSyrien?“

Ich spürte seine Antwort in der Dunkelheit.Ja.

Und ich dachte daran, wie er die Alte genannt hatte, Ummi. Auch sie war eine Mutter, und ich dachte an meine eigene Mutter, meine Ummi, Um Nabil, die so weit weg war, dass ein ganzer Himmel voller Sterne nicht reichte, um die Entfernung zu messen.

„Zurück nach Syrien, das ist Wahnsinn“, sagte ich.

„Hier zu bleiben, ist auch Wahnsinn“, sagte der Mann.

„Ich packe“, sagte die Frau, die ein Baby hatte.

„Ich packe nicht!“, sagte die Frau, die kein Baby hatte. „Wir haben alles verloren! Und jetzt haben wir dieses Zelt, und wenn wir gehen, haben wir wieder nichts! Vielleicht ist morgen alles vorbei. Vielleicht ist es jetzt schon vorbei …“

Sie verstummte. Draußen wurde wieder geschossen, nicht weit vom Zeltlager entfernt. Da war ein Schrei. Das Motorengeräusch des Jeeps entfernte sich. Vor dem Zelteingang waren Stimmen, murmelnde Stimmen, viele Stimmen, und als einer der Männer die Plane zur Seite zog, sahen wir die Menschen in der Nacht: ein Strom von Menschen zwischen den Zelten, Menschen mit Taschen, mit Rucksäcken, mit Koffern, mit zusammengerollten Teppichen und Träumen, mit Kindern auf dem Arm.

Die Frau, die ein Baby hatte, war aufgestanden. „Jetzt“, sagte sie. „Wir müssenjetztgehen. Sie gehen alle.“

Niemand sagte mehr etwas von Packen. Die Alte nahm einen Topf mit, die Jungen rafften ein paar Decken zusammen. Ich weckte die Mädchen und Bassel, der erst sieben war, Harun und Marwan hatten nicht geschlafen. Und wir wurden ein Teil der Schemen in der Nacht, es war ein leiser, beinahe heimlicher Exodus.

Einer trug einen verletzten Jungen über der Schulter.

Als wir den Rand des Zeltlagers erreichten, waren da mehr Autos, manche der Flüchtlinge besaßen tatsächlich Autos, und wer es schaffte, quetschte sich mit hinein. Eine endlose Karawane aus vollbepackten Wagen ergoss sich hinein in die Nacht. Richtung Osten. Auch die Libanesen flohen aus ihrer Stadt, ich erfuhr das erst später.

„Sie sind dumm“, sagte Harun. „Sie werden nicht rauskommen. Die lassen keine Flüchtlinge aus Arsal raus, das wissen sie doch.“

Und er hatte recht. In dieser Nacht ordnete ich mich Harun wie selbstverständlich unter, in dieser Nacht war er wieder, was er einmal gewesen war: ein Kämpfer. Einer, der Dinge wusste.

Es waren jetzt keine Schüsse mehr zu hören, ein trügerischer Frieden lag über den Häusern.

„Kommen wir durch bis zu unserem Stall?“, fragte sie ihn. Harun schüttelte den Kopf.

Er führte uns.

Die Sterne standen stumm in der samtenen Schwärze, während wir geduckt über das Brachland zwischen dem Zeltlager und den ersten Häusern von Arsal liefen. Als ich mich umdrehte, sah ich andere Flüchtlinge rennen, schwarze Gestalten mit zu viel Gepäck, sie krabbelten und mühten sich über das kahle Land wie Ameisen. Aus Richtung der Stadt brach immer wieder plötzlich Lärm durch die Stille, Schusswechsel, vereinzelte Explosionen, man sah nichts, hörte nur.

„Da rein!“, befahl Harun und zeigte auf ein seltsames, geometrisches Gebilde in der Nacht, und erst als wir dort waren, erkannte ich, dass es das Skelett eines noch im Bau befindlichen Hauses war: ein merkwürdiger, lückenhafter Würfel aus Betonstreben, Stahlträgern und einzelnen fertigen Wänden. Sie schossen jetzt wieder näher. Wir hatten keine Wahl.

Wir stiegen Treppen hinauf und kauerten uns hinter eine schon fertige Mauer, alle zusammen: wir und die Familie aus dem Zelt.

Die Mauer war kalt, aber die Augustnacht war warm. Die Kinder schliefen innerhalb von Minuten wieder ein, nur Harun wachte über die anderen, ernst, den Blick nach innen gekehrt wie ein alter Mann.

Durch die Lücken des abstrakten Quaders sah ich ein Kind über die freie Fläche dort unten wandern, ein Kind ganz allein, ein Kind, das so schwer war, dass es sich kaum voranschleppen konnte.

Und ich merkte, dass ich Angst vor diesem Kind hatte. Es ging eine unerklärliche Bedrohung von ihm aus, obgleich es mir leid tat und ich ihm gerne geholfen hätte, es war wie ein Ding, das zu krank ist, um gerettet zu werden, so dass man sich lieber umdreht und nicht hinsieht. Etwas, das noch lebt, obwohl man sich wünscht, es wäre tot, um nicht mehr zu leiden. Ich blinzelte. Nein, da war kein Kind. Ich bildete mir wieder Dinge ein.

Ich dachte zurück an die Flügel. Ich wollte diese Dinge nicht sehen, ich wünschte, ich hätte meine Augen davor verschließen können, doch es waren nicht die Augen, mit denen ich die Flügel der Gewalt gesehen hatte. Es war mein Herz. Und es war auch mein Herz, mit dem ich das Kind sah, aber ich wusste nicht, was es bedeutete. Ich wusste nur, dass ich es nicht wissen wollte.

Und ich holte das Handy heraus und fand eineSMSvon Calvin und spürte plötzlich das Sternenlicht auf meiner Haut.

Bin in der Klinik. Bewegen in Stadt unmöglich.

Komme zu euch wenn ich kann. Es ist bald vorbei.

L, Calvin.

LfürLove.LfürLeider wage ich es nie, das Wort zu schreiben.LfürLeben.LfürLullaby.Sing mir ein Schlaflied, damit ich nicht träume von dem unendlich schweren Kind, das es gar nicht gibt.

***

Am zweiten August2014besetzten Islamisten der al-Nusra-Front und des Daisch die Stadt Arsal bis auf Weiteres. Später erst wurde bekannt, dass die Gefangennahme des Kommandanten Joumaa nicht Auslöser der Clashs zwischen libanesischer Armee und Islamisten war, sondern das Ganze von langer Hand geplant, als erster Schlag gegen eine von vielen libanesischen Städten in der Grenzregion.IS-Schläfergruppen in mehreren Orten, teilweise bestehend aus enttäuschten Flüchtlingen, warteten darauf, die ankommenden Kämpfer zu unterstützen.

Ein stetiger Strom aus Flüchtlingen und Libanesen verließ die Stadt. Sämtliche syrische Flüchtlinge, die ohne Papiere ins Land gekommen waren, wurden an der syrischen Staatsgrenze zurückgewiesen. Ihre Papiere, Pässe, Ausweise befanden sich an unterschiedlichen Orten: Unter dem Schutt einer Mietwohnung. In der Asche eines Durchgangslagers. In einer braunen Ledermappe in der Kommode eines Hauses, welches jetzt von Rebellen besetzt war.

Viele Wagen des Flüchtlingskonvois drehten um und fuhren nach Westen, um aus dem Stadtgebiet Arsals in den Libanon jenseits zu gelangen. Man wies sie auch hier zurück, keiner von ihnen hatte eine Einreiseerlaubnis.

Die Stadt war eine Falle ohne Ausweg.

Es wurde weiter geschossen.

Am fünften August wachte Calvin auf der Matratze auf, die sie ihm im Krankenhaus in eine Ecke gelegt hatten, und hielt es nicht mehr aus. „Ich gehe“, sagte er laut. „Das ist der vierte Tag. Ich muss endlich zu ihnen.“

„Du bleibst hier“, sagte der Arzt, der neben ihm auf dem Boden geschlafen hatte. Sie schliefen alle im Krankenhaus, niemand ging mehr nach Hause. Am Vortag hatten sie zwei Kinder verloren, die aus dem Flüchtlingslager stammten. Eines hatte Calvin gekannt, ein kleiner Junge, den Nuri ebenfalls unterrichtet hatte. Calvin war dafür zuständig, die Körper nach unten in den Kühlraum zu bringen.

„Ich nütze doch keinem was“, knurrte er. „Nichts, was wir tun, nützt …“

„Du bleibst“, sagte der Arzt sachlich. „Wenn du jetzt da rausgehst, endest du auch unten im Kühlraum, und da nützt du uns noch weniger.“

Calvin knurrte nur.

Am Nachmittag hockte er mit einem anderen Pfleger im Hinterhof des kleinen Krankenhauses, in einer Pause aus gestohlener Zeit, in einem Fleck aus gestohlener Sonne, wo sie zusammen rauchten. „Ich wollte sie fragen“, sagte er unvermittelt. „Vor vier Tagen. Ich hatte es fest vor.“

„Fragen?“ Sehan, der Pfleger, drehte die Zigarette zwischen den Fingern.

„Na ja …“ Calvin blies den Rauch in den Himmel, der unverschämt blau war trotz allem, was jetzt draußen geschah. „Lach jetzt nicht. Ich wollte sie fragen, ob sie mich heiratet.“

Sehan lachte.

Der Himmel war immer noch blau. „Ihrseidgar nicht verheiratet?“

„Nicht wirklich. Ist man mit neunzehn zu jung zum Heiraten?“

„Als Mann vielleicht“, sagte Sehan. „Ich war Mitte zwanzig. Meine Frau war siebzehn.“ Er grinste. „Vier Kinder, alle Jungs. Lottogewinn.“

„Wie hast du deine Frau gefragt? Ob sie dich heiratet?“

Sehan lachte wieder. „Gefragt? Das war eine Abmachung zwischen unseren Eltern. Aber es war okay, ich war dafür. Wir haben uns zweimal vor der Hochzeit gesehen, einmal waren wir sogar allein, nur wir beide … im Kino.“ Er grinste wie ein Schuljunge. „Ich weiß noch, da habe ich ihre Hände gehalten. Frauen haben so winzige Hände. Sie sind so … hilflos.“

Calvin schwieg eine Weile, rauchte nur. Wie anders er über Nuri dachte.

„Und jetzt?“, fragte er schließlich. „Bist du glücklich?“

„Natürlich“, sagte Sehan, ein Strahlen auf seinem gutmütigen Gesicht.

„Und ist sie glücklich?“

„Ich … nehme es an“, sagte Sehan, ein wenig perplex. Und dann wurden sie zurück nach drinnen gerufen, sie wurden gebraucht.

***

Ich erwachte davon, dass jemand mich schüttelte.

Layla. Das rote Haar fiel ihr dreckig und strähnig in die Stirn, und ihr Gesicht war verheult.

„Wir haben ihn vergessen!“, schluchzte sie. „Ich habe es gerade erst gemerkt. Ich habe ihn in dem Zelt liegenlassen! Sicher hat er Angst!“

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo ich war und wovon Layla sprach.

„Der Affe“, sagte ich schließlich. „Der Stoffaffe. Meinst du den?“

„Ja!“, rief Layla und warf sich schluchzend in meine Arme. „Ich muss ihn holen!“

Ich setzte mich auf und war mit einem Mal sehr wach. „Nein“, sagte ich. „Versprich mir, dass du das nicht tust. Hörst du, was da draußen los ist?“

Wir lauschten beide. Es war wieder lauter geworden draußen, mehr Schüsse. Brandgeruch zog von der Stadt heran. „Dein Affe ist der tapferste Affe, den ich kenne“, sagte ich. „Er hält das eine Weile ohne dich aus. Er hat genug Vorräte in dem Zelt. Keiner von euch verlässt dieses Haus.“

Layla schüttelte den Kopf. „Die anderen sind weg“, sagte sie. „Gerade eben. Wenn die rausgehen können, kann ich auch. Ist doch jetzt ruhig draußen.“

„Die anderen?“

„Die Familie, die mit uns hier war“, sagte sie. „Sie sind gerade los. Sie haben gesagt, die beladen immer noch Autos da unten, und sie wollen da rauf und zurück zur Grenze.“

Ich trat mit Layla zusammen an den Rand der Mauer, von wo aus wir aus unserem ersten Stockwerk hinunter auf das gefährlich flache Feld sehen konnten. Die anderen Kinder hockten schon dort. Wir beobachteten gemeinsam, wie sie im frühen Morgenlicht über das Feld wanderten: die Frauen mit dem Baby, die Männer, die Alte mit dem Topf. Erst im letzten Moment entdeckte ich den Panzer zur Linken des Feldes, einen Panzer der libanesischen Armee. Auf der anderen Seite des Feldes wehte die schwarze Flagge des Daisch über einem eingenommenen Check Point.

Jemand brüllte eine Warnung, doch sie kam zu spät.

Die Frau mit dem Baby rannte direkt in die Feuerlinie zwischen den beiden Parteien, als die Armee begann, den Daisch zu beschießen. Es ging ganz schnell.

Einer der Männer kam zurück, um das Baby vom Boden aufzuheben, vielleicht war es der Vater, ich sah ihn mit dem Kind weiterrennen, ich redete mir ein, dass dem Baby nichts geschehen war. Dann waren sie fort, der Mann und das Kind und die anderen, irgendwo untergetaucht in der Masse der Menschen, die sich auf Pick-ups drängten.

Ich drückte Amira an mich, die ebenfalls alles gesehen hatte. „Keiner von euch verlässt dieses Haus“, flüsterte ich noch einmal.

Haltet durch,schrieb Calvin.

Schreib was Lustiges,schrieb ich.

Kommen2von den vielen tausend Syrern im Libanon nach Beirut. Sagt der1zum anderen: Guck mal, ein Libanese!

Ich versuchte ernsthaft, darüber zu lachen.

Weißt du was vonD.undK.?, schrieb Calvin. Dschinan und Kamal.Nein,schrieb ich.

Ich wünschte, ich hätte ihm erzählen können, was ich noch gesehen hatte. Das Kind. Jenes, das zu schwer und gleichzeitig nur ein Schatten war. Es hatte sich über die tote Frau gebeugt und ihr lange ins Gesicht geblickt. Und als es aufgesehen hatte, da hatte in seinen Augen keine Traurigkeit gewohnt, sondern Wut. Die Wut über diesen unnötigen Tod. Und ich wusste, dass es diese Wut mitnahm. Dass da mehr war, mehr Wut über mehr Tode zuvor. Alle gesammelt in jenen Kinderaugen. Dann hatte ich geblinzelt, und es war fort gewesen.

Am zweiten Tag hatten wir nichts mehr zu essen, und die Wasserflasche in meiner Tasche war leer. Harun und Marwan wollten gehen, um Wasser zu suchen. Mein Blick fesselte sie an das unfertige Haus. Nachts schlich ich selbst hinaus und fand Wasser, das aus einer zerstörten Leitung drang.

Ich schlief mit dem Handy im Arm.

Am sechsten August wachte ich davon auf, dass es klingelte.

„Nuri?“, sagte Calvin. „Gott sei Dank, ich dachte, ich komme gar nicht mehr durch. Sie ziehen ab. Al-Nusra und derISsagen Auf Wiedersehen. Die Armee gibt ihnen freies Geleit, wenn sie gehen, sie haben verhandelt. Bis heute Abend ist der Spuk vorbei. Bleibt, wo ihr seid, ich komme.“

Ich hatte ihm geschrieben, wo wir waren, ich sagte es ihm noch einmal, ich wollte so viel mehr sagen.Ich liebe Dich. Komm lieber nicht, noch nichtundDas unsichtbare Kind schläft vor dem Haus, es ist immer noch wütendundDa liegt eine tote Frau unten auf dem Feld.Aber da war die Verbindung längst wieder tot.

Ich steckte das Handy ein und atmete tief durch.

„Es ist vorbei“, sagte ich und umarmte Harun, der neben mir stand. Sein magerer Körper war hart wie Stahl, angespannt, sprungbereit, und beinahe sah ich in seinen Augen das Spiegelbild der Kalaschnikow, die er damals in den Bergen gelassen hatte. Es machte mir Angst.

Aber ich wollte keine Angst haben. Ich wollte froh sein, nur noch froh.

„Da! Guck!“, sagte Amira, und dann sahen wir es wirklich, wir sahen, von unserem unfertigen ersten Stock aus: Die schwarzen Flaggen verließen die Stadt, das Glaubensbekenntnis desISsickerte aus den Straßen. Die Panzer rollten langsam zurück nach Osten.

Ich glaube, ich weinte.

Bis heute trage ich dieses Bild in mir, das Bild der abziehenden Panzer mit den totenschwarzen Flaggen, und ich stelle mir manchmal vor, wie es sein wird, wenn sie eines Tages wirklich abziehen, wenn die Flaggen des Daisch uns endgültig verlassen, den Irak freigeben, Syrien, die Welt. In meiner Vorstellung stehe ich auf einem Balkon, und ich weiß nicht, wie das Zimmer drinnen aussieht, zu was für einem Haus es gehören oder wann all das geschehen wird. Doch es wird geschehen. Irgendwann.

An jenem sechsten August geschah etwas anderes.

„Nuri?“, sagte Bassel und zupfte mich am Ärmel. „Ist es okay, dass sie das macht?“

„Dass wer was macht?“, fragte ich.

„Layla“, sagte Bassel. „Sie ist die Treppe runter. Ich glaube, sie will diesen Affen holen.“

Ich kann mich nicht erinnern, in welcher Sprache ich fluchte. Es war zu früh, um unser abstraktes, rettendes Gefängnis zu verlassen, noch war es draußen nicht sicher. Zu früh … Ich rannte, doch ich war zu langsam, ich spürte es, etwas war vor mir, etwas war da –

Und dann kam ich an, bei den Zelten, die da in Reih und Glied standen, weiß, so weiß. Friedenstauben. Ich hörte etwas wie eine Explosion. Und ich sah, wie eine andere Farbe sich zwischen den Zelten ausbreitete, eine Farbe, die die Flügel der Friedenstauben verschlang. Eine flammende, knisternde, lodernde Farbe, sie griff mit rasender Geschwindigkeit um sich und wuchs –

rot.

***

Bleibt, wo ihr seid.

Er verließ das Krankenhaus mit einem seltsamen Gefühl, als wäre etwas falsch, wo doch alles eigentlich richtig war. Er versuchte, das Glück von vor vier Tagen wiederzufinden, das Singen in seinem Herzen. Der Spuk, hatte er gesagt, wird vorbei sein, es war nur ein Spuk gewesen, ein Spuk aus schwarzen Flaggen, schwarzen Flügeln, wie die, die Nuri damals gesehen hatte. Bevor alles begann.

Wenn es stimmte, was sie sagten, hatte der Daisch mehrere Soldaten und Polizisten als Geiseln mitgenommen. Calvin wollte nicht darüber nachdenken, was mit ihnen geschehen würde.

Der Spuk war vorbei, aber an seiner Haut klebten die Blicke der Verletzten, die den Spuk nicht überlebt hatten, er versuchte, sie loszuwerden, während er durch die Straßen ging.

Er ging durch eine seltsame Stille.

Der Tag war heiß, die Luft zitterte. Überall gab es Spuren des Kampfes, Granateinschläge, zersplitterte Scheiben, Fußabdrücke der Angst. Die Stadt war voller libanesischer Soldaten, und er hatte das Gefühl, sich auch vor ihnen verstecken zu müssen, er schob sich nahe an den Mauern entlang, blieb im Schatten. Sein Herz war ein seltsames, rotes Ding, das in der Tiefe hämmerte und schmerzte. Er dachte darüber nach, dass er nie ein Herz gesehen hatte. Muskeln, Knochen, Därme, Hirn, das aus Schädeln drang. Aber nie ein Herz.

„Nuri“, flüsterte er, „vielleicht ist es ein Gerücht. Vielleicht haben die Menschen gar keine Herzen.“

Und das Hämmern in ihm, dachte er, war nur ein Ticken, das Ticken der vergehenden Zeit, das Ticken einer Bombe. Die Bomben tickten auch in den Soldaten, tickten in den Kämpfern mit den schwarzen Flaggen, tickten leise und stetig, und irgendwann gingen sie hoch, irgendwann explodierten sie in einem Regen aus Gewalt. Er lauschte auf das Ticken in sich selbst, er fürchtete sich davor. Er beschleunigte seine Schritte.

Arsal war schön. Die Häuser waren schön, in ihrer ganzen Einfachheit: Betonquader im gelben Licht des Nachmittags, Bauklötze eines Kindes, die Schatten violett. Auch der Himmel war schön, blassblau und ohne Einschusslöcher, so weit reichten die Salven noch nicht.

Er zwang sich, die Schönheit zu sehen und zu glauben. Doch alles war anders als vor vier Tagen.

Wenn der Daisch einmal da war, kam er wieder. Die Grenze zu Syrien war nicht länger eine Hemmschwelle.

Er sah im Gehen auf sein Handy, versuchte noch einmal, Nuri zu erreichen. Natürlich saß sie in dem halbfertigen Haus, das sie ihm beschrieben hatte. Natürlich hatte sich daran in der letzten halben Stunde nichts geändert. Aber er musste noch einmal hören, dass sie da war und dass es ihr und den Kindern gut ging.

„Hallo?“ Es war nicht Nuri. Es war Marwan.

„Alles okay bei euch? Kann ich Nuri sprechen?“

„Nein“, sagte Marwan. „Sie ist nicht mehr hier. Sie ist zu den Zelten zurückgegangen. Layla versucht, ein blödes Stofftier da rauszuholen, sie ist einfach los. Sie ist so dumm.“ Calvin hörte die Sorge um seine kleine Schwester, er erinnerte sich noch gut, wie Marwan sie geohrfeigt hatte, damit sie nicht einschlief und starb, als sie so krank gewesen war.

„Okay“, sagte er möglichst ruhig. „Bei den Zelten. Ich finde die beiden da irgendwo. Ich gehe hin und hole sie ab und komme zu euch. Es ist vielleicht noch nicht sicher in der Stadt. Rührt euch nicht vom Fleck.“

„Ja“, sagte Marwan bitter. „Das üben wir seit vier Tagen. Und … Calvin?“

„Hm?“

„Amira und Bassel sagen, sie haben Hunger. Wir haben seit vier Tagen nichts gegessen.“

„Meine Taschen sind voller Brotfladen“, sagte Calvin mit einem Lächeln.

„Geschenk des Chirurgen aus dem Krankenhaus.“

„Du bist cool“, sagte Marwan.

Die Zelte standen in Reih und Glied, weiß, so weiß. Friedenstauben.

Aber dazwischen breitete sich eine andere Farbe aus, eine Farbe, die die Flügel der Friedenstauben verschlang.

Calvin sah die Flammen aus der Zeltstadt schlagen und blieb stehen, reglos, stand einfach da und starrte. Er sah mehr. Er sah das glühende Gelb der Funken, die nach allen Seiten stoben. Er sah Menschen rennen, Menschen, die also doch noch bis zum Ende in den Zelten gewohnt hatten, dunkle Schemen jetzt vor dem schmerzhaften Hell des Feuers. Er sah den dicken, schwarzen Rauch, hörte Rufe, Schreie, er konnte sich nicht rühren.

In seinem Kopf wütete das Feuer im Asylantenheim, die Realitäten vermischten sich, er sah die brennenden Teile der Deckenkonstruktion wieder stürzen, er sah Nuri dazwischen …

Merkte, dass er rückwärts ging. Er konnte nicht auf das Feuer zugehen, es war physisch unmöglich, war immer so gewesen seit dem Brand damals. Feuer lähmte ihn wie Gift.

Er ballte die Fäuste so fest, dass es schmerzte.

Los! Nuri ist damals nicht gestorben, es war nicht wahr, du warst nie schuld an ihrem Tod, denn sie lebt! Aber jetzt, jetzt braucht sie dich, sie ist irgendwo in diesem Inferno aus brennendem Weiß, du musst sie finden!

Und dann rannte er. Vorwärts. Es war, als durchbräche er eine unsichtbare Wand.

Er erreichte den Eingang des Camps, das Ufer in diesem See aus Feuer, Menschen rannten ihm entgegen, schleppten sich gegenseitig voran, trugen einen Verletzten. Calvin lief in die verkehrte Richtung. Er tauchte in die schmale Straße zwischen den Reihen der Zelte links und rechts und sah kaum mehr etwas.

Dies war eine Welt aus Licht.

Der Rauch ließ ihn husten, ließ seine Augen tränen, er schrie Nuris Namen heraus, doch dann schrie er nicht mehr, konnte nicht mehr schreien, da war zu viel Qualm, er lief die Gasse entlang – nein, es war unmöglich, hier jemanden zu finden. Nuri?

Er rief nur noch mit dem Kopf nach ihr, in Gedanken.

Nuri!

Gott, Allah, wer auch immer, mach, dass sie schon draußen sind.

Er stolperte über etwas am Boden und fiel, und als er sich aufrappelte, sah er, dass es ein Kind war. Ein kleiner Körper mit zerzaustem rotem Haar. Calvin versuchte, sie aufzuheben.

„Layla!“, schrie er, nein, er schrie gar nicht, er flüsterte.

Sie klammerte sich an ihn, es war wie ein Reflex, er spürte, wie ihre Finger sich in seine Kleidung gruben. Er konnte nicht sehen, ob sie verletzt war oder nur Angst hatte, es war alles zu chaotisch. „Wo ist Nuri?“

Layla reagierte nicht. Aus ihrer Jacke ragte der Kopf eines Stofftiers, voller Asche und Dreck wie sie selbst. Der Affe aus der Spielzeugspende, Calvin verfluchte alle Spielzeugspenden der Welt. „Wo? Ist? Nuri?“

„Ich weiß nicht!“, sagte Layla jetzt, „Sie war da, im Zelt, aber jetzt … “ Schluchzer schüttelten ihren kleinen Körper, sie zeigte.

Und Calvin löste ihre Finger gewaltsam von seiner Kleidung, um den Eingang des Zeltes zurückschlagen, auf das sie gezeigt hatte. Doch die brennenden Wände sackten vor seinen Augen in sich zusammen, verschwanden, schmolzen in den Flammen dahin, um nur noch das Skelett der Verstrebungen übrig zu lassen.

Er spürte die Hitze, die seine Haare versengte, taumelte zurück, merkte, wie sein Körper wieder taub wurde. Gelähmt vom Gift des Feuers. Er würde es nicht mehr schaffen, dieser wütenden, roten Hölle zu entrinnen, nicht einmal für Layla.

Ich habe sie verloren. Nuri. Ich habe sie ein zweites Mal im Feuer verloren.

Wenn ich schneller gewesen wäre. Wenn ich nicht stehen geblieben wäre!

Dann hätte ich sie retten können.

Plötzlich riss jemand ihn gewaltsam zurück, weg von den Flammen, er drehte sich um, und da war sie, stand hinter ihm, aus dem Chaos aufgetaucht wie ein Fisch aus dem Meer.„Komm!“, sagten ihre Lippen lautlos,„schnell!“Da war er nicht mehr gelähmt, er hob Layla wieder auf, und sie rannten.

Er konnte es nicht glauben, als er ihr folgte. Sie war da. Sie war am Leben. Das Feuer wütete um sie, der Himmel brach ein, und die Friedenstauben der Zelte verbrannten vor ihren Augen zu nichts, aber sie lebte.

Sie waren jetzt auf dem freien Feld, und endlich blieben sie stehen, nach Atem ringend. Neben ihnen standen andere Menschen, die das Feuer hilflos beobachteten. Calvin betrachtete das Kind in seinen Armen. Layla hatte eine Schramme an der Schläfe, und ihr rotes Haar war an mehreren Stellen versengt, doch sie schien nicht ernsthaft verletzt zu sein.

Dann erst, erst dann sah er Nuri an.

Die winzigen, hellen Flecken, die in ihren Augen tanzten, waren keine Sommersprossen mehr, sie waren Funken. Ihre dunklen Locken hingen in verschwitzten Strähnen um ihr Gesicht, und sie war unglaublich dreckig. Vier Tage in einer Bauruine. War sie jemals so schön gewesen?

Sie lächelte. „Da bist du“, sagte sie.

„Sieht so aus“, sagte Calvin und grinste.

„Du zitterst“, sagte sie.

„Der Scheißstoffaffe“, sagte er.

„Er heißt Mohammed“, sagte Layla.

Calvin stellte sie auf die Beine. Und Nuri zog ihn zu sich und umarmte ihn, und ihre Hände, die er in seinem Rücken spürte, waren nicht winzig, wie Serhan es über Frauenhände gesagt hatte, und sie war, in all ihrer Zerbrechlichkeit, nicht schwach und nicht hilflos. Und er hatte sie nicht gerettet. Wenn überhaupt, hatte sie ihn gerettet. „Nuri“, sagte er. „Nuri.“

Er dachte an die rote Blume, die zerquetscht in seiner Hand gelegen hatte.

Die Frage, die er ihr hatte stellen wollen, war weit weg, hatte sich versteckt, beschämt über ihre Unwichtigkeit.

„Wer?“, flüsterte Nuri. „Wer hat die Zelte angezündet?“

Wer hatte die Zelte angezündet?

Manche sagten, es wäre der Daisch gewesen bei seinem Rückzug aus der Stadt: eine letzte Granate, ein letzter Gruß. Manche sagten, es wäre ein Versehen gewesen. Und viele sagten: Es waren libanesische Soldaten, aus Rache, weil die syrischen Flüchtlinge angeblich mit demISsympathisierten.

Unter den Libanesen wuchs die Feindschaft gegenüber den Flüchtlingen ohnehin seit Monaten, sie hatten sie aufgenommen und durchgefüttert, aber es waren zu viele, und sie brachten den Krieg mit wie eine ansteckende Krankheit.

Sie kehrten zurück nach Arsal, all die geflohenen Bewohner der Stadt, und auch die Syrer kehrten zurück. Doch als sie von ihren überfüllten Autos kletterten, standen sie vor einem Haufen Asche. Alles, was sie in den letzten Monaten in ihrem Leben aufgebaut hatten, war verbrannt.

Sie konnten die Stadt nicht verlassen, die Militärposten ließen niemanden ohne Ausreiseschein durch, und einen Ausreiseschein bekam man nur, wenn man die nötigen Papiere hatte, die unter den Trümmern zerstörter Häuser in Syrien lagen.

Sie saßen in der Falle.

Flüchtlinge in anderen Städten demonstrierten jetzt gegen die libanesische Armee.

Für denIS.

Aber an jenem6.August, ehe die Autos zurückkehrten, standen zwei Menschen auf einem Feld und sahen zu, wie die Flammen versiegten: ein Junge mit Asche in seinem blonden Haar und ein Mädchen mit dunklen Augen, die zu viel sahen.

„Es wird Zeit“, sagte Calvin leise, „nach Hause zu gehen.“

Sie musterte ihn ernst, ihre Funkenaugen jetzt dunkler, tiefer noch als sonst. „Wo ist das?“, fragte sie. „Zu Hause?“

„Hier nicht. Nicht im Feuer.“

„Manchmal scheint es mir so“, murmelte Nuri. „Das Feuer holt uns immer wieder ein, weißt du. Als würden wir tatsächlich dorthin gehören.“

Er fuhr ihr mit einer Hand durchs schmutzige Haar und schüttelte den Kopf.

„Wir müssen zurück nach Deutschland. Du bist gekommen, um mich zurückzuholen, hast du das vergessen? Die Kinder können in Deutschland ein normales Leben leben. Ohne Schüsse und Granaten. Und mit …“ Er sah an Layla hinunter, betrachtete ihre dreckigen Füße und lachte plötzlich. „Mit Schuhen. Es ist nicht alles rosig dort, schon klar, aber … Weißt du noch, wie wir am Meer spazieren gegangen sind, zum allerersten Mal? Und ich dachte, du verstehst nicht, was ich sage?“

„Ja“, flüsterte sie. „Ja.“

„Weißt du noch, der Wald? Im Sommer? Die Himbeerbüsche?“

Sie nickte.

„Und deine Eltern. Sie warten auf dich. Wir müssen weg hier, Nuri. Der Krieg …, der verdammte Krieg hat uns eingeholt.“ Er hielt sie ganz fest. „Wir brauchen neue Ausweise. Für die Kinder, für Kamal …, für Dschinan … Alles geht mit Geld, richtig? Wir können uns nicht einfach in irgendeinen Flieger setzen, das ist dir doch klar. Ich meine, ich könnte, vielleicht, nur wäre das Unsinn. Wir gehen zusammen. Alle zusammen.“

Nuri machte sich los und sah einen Moment still zu ihm auf. „Gut“, sagte sie schließlich, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Layla hob ihren Affen hoch, der ein verkohltes Ohr hatte.

„Er braucht auch einen Ausweis“, sagte sie.

***

Rot

Rot mit kleinen weißen Blüten.

Wenn man als Kind als Allererstes etwas Rotes mit kleinen weißen Blüten über sich sieht, müsste es eigentlich ein schönes Leben werden, dachte sie. Ein Leben in einem ewigen Frühling, in dem Blüten aus einem roten Himmel rieselten.

Sie fragte sich zwar, warum der Himmel rot war, aber vermutlich war es ein Sonnenaufgang. Sonja hatte ihr den Kinderwagen vererbt, und die Frauen derGDFhatten zusammen das Verdeck genäht, aus einem Stück altem Stoff, nostalgisch.

Sie hatten Cindy vollkommen unter ihre Fittiche genommen, seit der Kleine geboren war.

David.

Wenn sie ihn ansah, wurde ihr ganz warm.

Aber wenn die Erinnerungen kamen, wurde ihr kalt, die Erinnerungen an den letzten Winter. Sie musste den Kleinen an manchen Tagen sehr oft ansehen, um nicht zu erfrieren.

Die Hellersdorfer Straße war auch sehr kalt; lang und breit und kalt, flankiert von Ufern aus eisigen Wohnblöcken. Berlin-Marzahn. Dabei war es erst Anfang August.

Der Kleine war jetzt vier Monate alt. Pascal hatte gesagt, der20.April wäre ein schönes Geburtsdatum gewesen, aber der Kleine war am zweiten April auf die Welt gekommen. Sie bewunderte seinen Mut. Aber sie war auch mutig gewesen. Pascal war gegen den Namen David gewesen. Sie hatte sich durchgesetzt. Es war nur ein deutscher Name, oder nicht? Von wegen jüdisch das Alte Testament, sie hatte das nachgeguckt, das hatten die deutschen Christen auch.

Pascal war jetzt übrigens rührend, auch er kümmerte sich immerzu. Sie hatte ihm gesagt, sie käme alleine klar. Unsinn, hatte er gesagt und all ihre Einwände weggewischt, der Junge ist mein Sohn, unser Sohn, und natürlich kümmere ich mich, vergiss alles, was gewesen ist.

Keine bösen Gefühle mehr.

Du bist mein Mädchen.

Aber wie konnte sie vergessen? Wie konnte sie das Feuer am Oranienplatz vergessen oder den Abend am Seeufer mit Nuri oder Imad und dieWGmit der unaufgeräumten Küche und den ausländischen Tüchern an den Wänden? Nicht, dass Imad je mehr getan hatte als ihr zuzuhören und Tee zu kochen. Sie erinnerte sich manchmal an seine Augen. Sie waren ganz dunkel und weich gewesen, ernst. Pascals Augen waren blau, und sie dachte jetzt immer an harte, glatte und kalte Dinge, wenn sie ihn ansah, sie dachte: stahlblau und eisblau und glasblau.

Sie hatte die Nacht nicht vergessen, in der der Junge den Zusammenstoß mit Maiks Kampfhund gehabt hatte, immerhin war Maik Pascals Freund, und immerhin wäre der Junge beinahe draufgegangen, der kleine Ausländer, wie hieß er noch? Sie hatte auch das stillgelegte Bahngelände nicht vergessen, über das Pascal sich weigerte zu sprechen.

Imad hätte ihn umbringen können, damals.

Cindy fragte sich, wo Nuri war. Sie hatte direkt nach Deutschland zurückkommen wollen, zusammen mit Calvin, aber Cindy hatte sie seitdem nicht gesehen.

Sie hatte nicht gewagt, Imad zu fragen. Sie hatte das Gefühl, dass Pascal sie beobachtete oder beobachten ließ. Vielleicht litt sie unter Verfolgungswahn.

Sie hatte begonnen zu zweifeln.

Die Frauen derGDFwaren in Ordnung, sie gaben ihr ein Gefühl von Zuhause, das sie zu Hause nie gehabt hatte: Sie saßen in blühenden Landhausgärten zwischen gelben Sonnenblumen und blauem Rittersporn und sprachen über Heilkräuter und Kindererziehung. Manchmal, natürlich, auch über den Schutz der deutschen Kinder vor der Überfremdung. Es gab Negervölker, die aßen Babys. Es gab ausländische Jugendliche, die Autos knackten und sich gegenseitig mit dem Messer wegen nichts abstachen. Stand alles in der Zeitung.

Aber im Allgemeinen sprachen sie bei derGDFmehr über Kochrezepte, und Cindy musste ihnen ja nicht erzählen, dass sie mit einer der Ausländerinnen beinahe Freundschaft geschlossen hatte.

Sie bog ab, ließ die große Straße hinter sich, tauchte in die Welt der Vorgärten und sorgfältig geplanten Stadtanpflanzungen von Hellersdorf ein. Die Bürgersteige waren so merkwürdig leer wie immer.

Also, die Frauen, die Frauen waren in Ordnung, aber Pascal und Maik …, da stimmte etwas nicht. Sie glaubte Pascal nur noch sehr wenig. Sie würde Dinge herausfinden. Über den Brand damals. Über die Feuerlöscher, die jemand in Rohrbomben verwandelt hatte.

Die Studentenblumen in den Beeten hatten die ungefähre Farbe von Flammen, seltsamer Gedanke. In der Carola-Neher-Straße gab es keine Blumenbeete. Und dann stand sie vor der ehemaligen Schule, die jetzt ein Asylantenheim war. In gebührender Entfernung vom Eingang, bei dem immer ein paar Männer herumlungerten, rauchten oder ihre Handys anstarrten.

Sie sah zu den Fenstern empor, zu einem bestimmten Fenster. Sie hatte herausgefunden, in welcher Wohnung die Familie Aljafari lebte: Samir und Fadwa, Nuris Eltern.

Fünf Minuten stand sie so, zitternd vor Angst, dass die Männer sie ansprechen könnten. Fünf Minuten hielt sie es aus, jedes Mal. Dann schob sie den Kinderwagen weiter.

„Sie kommt wieder“, flüsterte sie. „Es geht ihr gut. Ihr und Calvin.“

Sie wusste nicht einmal, zu wem sie sprach, zu sich selbst oder zu David. Oder zu Nuris Eltern, die dort oben hinter einem Fenster waren, unsichtbar.

In dem verwilderten Garten am Ende der Straße winkte ein Kirschbaum mit grünen Blättern. Man hätte dort eine Schaukel aufhängen können, dachte Cindy, eine verwunschene Schaukel für zwei Menschen. Eine Mutter und ein Kind.

„Sie steht schon wieder da unten“, sagte Samir. „Ich frage mich, was sie will.“

„Was sie will?“, fragte seine Frau sanft und legte das Blatt Papier weg, auf das sie in wenigen Strichen etwas gezeichnet hatte: einen Kinderwagen und eine Person, die nach oben blickte, als suchte sie etwas. „Das weiß sie wohl selbst nicht. Armes Mädchen.“

Internetsuche:

Feuerkatastrophe Arsal

Fluchtwege Syrien 2014

2.

Palästina ist das Zement, das die arabische Welt zusammenhält oder es ist der Sprengstoff, der es auseinander sprengt.

(Jassir Arafat im Time Magazin,11.November1974)

Ain al-Hilweh has become synonymous with being a place for fugitives and terrorists.

(Libanesische Internetzeitung)

Bei den Patienten aus Syrien, die vonMSF(in Ain al-Hilweh) betreut werden, gehören Depressionen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörungen zu den häufigsten Beschwerden. (…) Die engen Wohnverhältnisse führen immer wieder kommt zu Konflikten. (…) Häusliche Gewalt hat zugenommen.

(Homepage „Ärzte ohne Grenzen“)

Wir haben alles im Griff.

(Al-Schabaytah, Generalsekretär der Fatah im Camp Ain al-Hilweh)

 

Kamal lehnte an der Mauer und sah ihnen entgegen, als sie zu dem Stall zurückkehrten, der vier Monate lang ihr Zuhaue gewesen war. Er sah Nuri an, sah die Asche in ihrem Gesicht, sah, wo sie gewesen war, und umarmte sie stumm. „Dschinan …?“, fragte Nuri.

Kamal zuckte die Schultern. „Sie wird auftauchen. Sie taucht immer irgendwann auf. Ich hab sie zuletzt gesehen, bevor alles anfing. Ich war die ganze Zeit über hier. In dem verdammten Stall. Der feige Krüppel hinter sicheren Mauern.“

„Was meinst du, was wir gemacht haben?“, fauchte Nuri. „Die Panzer mit Fußtritten bekämpft? Wir saßen fünf verdammte Tage in einem unfertigen Haus fest.“

Kamal sah an ihr vorbei in die Ferne. „Dschinan … hat vermutlich irgendetwas Sinnvolles getan“, murmelte er. Calvin wusste, welche Angst er um sie hatte, doch Kamal konnte nichts zugeben, nicht einmal das. Es musste schwer sein, Kamal zu sein, und es musste schwer sein, Dschinan zu sein und ihn zu lieben. Es war in diesen Tagen in Arsal schwer, irgendjemand zu sein.

„Kamal“, sagte er. „Wir werden weggehen. Nuri und ich und die Kinder.“

Kamal nickte langsam. „Es ist Zeit.“

„Und du? Und Dschinan? Kommt ihr mit?“

„Ich muss mit ihr reden“, sagte Kamal. „Es ist nicht die Entscheidung des Krüppels.“

Sie setzten sich zusammen auf die Mauer, und Calvin dachte, dass sie vielleicht ein letztes Mal auf dieser Mauer saßen, während die Sonne sank.

„Wir machen bald eine wirklich weite Reise“, sagte Amira zu Laylas Affen und gähnte.

„Kein Problem“, sagte der Affe.

„Wir müssen packen“, sagte Bassel.

„Was denn?“, fragte der Affe. „Wir haben doch gar nichts.“

Und da lachten sie. Es war befreiend zu lachen. Dies, dachte Calvin, war eine Lektion, die er von den Syrern gelernt hatte, damals in den Kellern: Wenn sie dir alles genommen haben, deine Freiheit, deine Kleider, deine Würde, ganz am Ende kannst du nur noch lachen.

Vielleicht würden sie nichts als ihr Lachen mitnehmen, wenn sie gingen.

Er traf sie nachts, unter dem Mond.

Er hatte nicht schlafen können, er ging hinaus und steckte die Zigarette an, die er in seiner Jackentasche aufbewahrt hatte. Die anderen schliefen: Nuri, Kamal, die Kinder, die beiden anderen Familien, die hier lebten: Eine Kakophonie aus Atmen, Keuchen und im Traum gesprochenen Worten füllte die stickige Augustluft im Stall. Calvin stand in der Gasse und sah seinen Mondschatten an, und da war sie – plötzlich, neben ihm. Ihr Haar war auch im weißen Mondlicht golden.

„Dschinan“, sagte er. „Wo warst …?“

Sie legte den Finger auf den Mund. „Egal“, flüsterte sie. „Ich bin da.“ Dann umarmte sie ihn, ganz kurz.

„Papiere“, sagte sie. „Wir brauchen Papiere. Sie lassen keinen aus Arsal raus ohne Passierschein.“

„Woher weißt du das?“

„Ich war da. Ich habe es gesehen. Sie schicken die Leute alle zurück. Man braucht einen Pass und eine Einreisegenehmigung in den Libanon, um den Passierschein zu kriegen.“

Calvin nickte. „Scheiße“, sagte er. Auf Deutsch.

„Sie fälschen keine Pässe in Arsal.“ Sie lächelte im Mondlicht. „Aber sie fälschen Passierscheine. Fünfzig Dollar das Stück.“

„Was?“ Calvin grinste. Er hielt sie an den schmalen Schultern ein wenig von sich weg, sah das Mondlicht an ihren Wangen hinabrinnen und zu Boden tropfen. „Das hast du die letzten fünf Tage getan? Dinge über falsche Papiere herausgefunden?“ Er schüttelte den Kopf. „Du wusstest, dass wir gehen würden. Du wusstest, dass die Zelte brennen werden. Woher …?“

Sie sah ihn nur an, ohne zu antworten.

„Gut“, sagte er schließlich. „Zu wem müssen wir gehen wegen der Papiere?“ „Ich führe euch morgen hin. Er …“ Sie zögerte. „Er weiß auch, wo wir die Papiere kriegen, um weiterzukommen. Er sagt, wir müssen nach Sidon, runter zum Meer. Das ist es doch, was ihr wollt? Oder? Weiter weg? Nicht nur raus aus Arsal?“

Calvin nickte langsam. „Wir gehen zurück nach Hause. Und wir nehmen euch mit, dich und die Kinder. Ich meine, ich bin damals gekommen, um dich nach Deutschland zu holen.“

Sie nahm seine Hand und hielt sie einen Moment lang fest. „Es ist nicht so leicht, wie du denkst.“

„Ich denke nicht, dass es leicht ist. Aber Deutschland ist schön. Gerade im August. Die Wälder sind sehr grün, es duftet nach Heu, die ersten Birnen werden reif, und das Meer ist warm genug zum Schwimmen.“ Es war gar nicht so schwer, gute Dinge über Deutschland zu sagen. Die schlechten Erinnerungen waren klein und unwichtig geworden.

„Es wird vielleicht nicht mehr August sein, wenn wir ankommen“, flüsterte Dschinan.

„Dann lass es September sein oder Oktober. Im Oktober werden die Blätter bunt, und die Kinder lassen Drachen steigen. Es wird dir gefallen.“

Dschinan nickte. Dann strich sie ihm das Haar aus der Stirn, das begann, zu lang zu werden. Es war eine überraschend intime Geste, er war ihr nicht mehr so nahe gewesen seit jener Nacht in Homs in dem zerstörten Haus.

Erst viel später dachte er an diese Berührung als an etwas Tröstendes, etwas, das sagte:

Es wird anders kommen, als du denkst, aber nimm es nicht so schwer.

„Im Oktober werden die Blätter bunt“, wiederholte sie. „Lass uns schlafen gehen. Zu den anderen.“

***

Nichts geht schnell, wenn du möchtest, dass es schnell geht. Wenn du dich entschieden hast, wenn du springen willst – ins kalte Wasser. Dann lässt die Welt dich warten.

Der August war schon alt geworden, als der Mann unten vor der Klinik stand, ein nervöser Mann mit Kufiya und schwarzer Lederjacke, zu warm für das Wetter. Ich sah, wie er zu den Fenstern hochblickte. Calvin stand hinter mir über das Bett eines alten Mannes gebeugt und wechselte einen Venenzugang. Ich hatte ihn an diesem Tag abholen wollen, aber auch in der Klinik dauerte es länger, sie hatten jetzt zu wenig Leute. Nach dem Angriff des Daisch und dem Brand des Flüchtlingslagers waren alle fortgegangen, die gehen konnten. Das Personal bestand jetzt beinahe nur noch aus syrischen Ärzten und Pflegern, die selbst in Arsal stecken geblieben waren und weder vor noch zurück konnten.

Der Mann draußen sah mich an. Als wüsste er genau, wer ich war. Ich nickte ihm zu.