Das geheime Liebesleben der Pinguine - Lloyd Spencer Davis - E-Book

Das geheime Liebesleben der Pinguine E-Book

Lloyd Spencer Davis

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Beschreibung

Eine bislang unerzählte Geschichte aus dem großen Zeitalter der Polarexpeditionen

Als der legendäre Polarforscher Robert F. Scott seine letzte Etappe zum Südpol antrat, ließ er sechs Teilnehmer der Expedition an der Basisstation zurück. George Murray Levick war einer von ihnen. Über Monate hinweg in einer Eishöhle überwinternd, gelang es ihm als Erstem, Adeliepinguine zu studieren. Was er sah, war bahnbrechend und schockierend zugleich: So unerhört und unfassbar erschien ihm das Sexualleben der Vögel, dass er seine Beobachtungen später verschlüsselt und nur in einer Auflage von hundert Exemplaren veröffentlichte. Sie gerieten in Vergessenheit – wie Levick selbst auch.

Hundert Jahre später stößt der Forscher Lloyd Spencer Davis im Zuge seiner eigenen Wissenschaftsabenteuer auf Levicks Aufzeichnungen. In seinem Buch erzählt er dessen spektakuläre Überlebensgeschichte im ewigen Eis und würdigt Levicks akribische Studie über die Pinguine, deren Liebesleben dem unseren weit ähnlicher ist, als wir je dachten. Mit großem Farbbildteil.

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Seitenzahl: 472

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Buch

Als der legendäre Polarforscher Robert F. Scott seine letzte Etappe zum Südpol antrat, ließ er sechs Teilnehmer der Expedition an der Basisstation zurück. George Murray Levick war einer von ihnen. Über Monate hinweg in einer Eishöhle überwinternd, gelang es ihm als Erstem, Adeliepinguine zu studieren. So unerhört und unfassbar erschien ihm das Sexualleben der Vögel, dass er seine Beobachtungen später verschlüsselt und nur in einer Auflage von hundert Exemplaren veröffentlichte. Sie gerieten in Vergessenheit – wie Levick selbst auch.

Hundert Jahre später stößt der Forscher Lloyd Spencer Davis auf Levicks Aufzeichnungen. In seinem Buch erzählt er dessen spektakuläre Überlebensgeschichte im ewigen Eis und würdigt Levicks akribische Studie über die Pinguine, deren Liebesleben dem unseren weit ähnlicher ist, als wir je dachten.

Autor

Der gebürtige Neuseeländer Lloyd Spencer Davis ist preisgekrönter Autor, Wissenschaftler, Fotograf und Filmemacher. Seit mehr als dreißig Jahren widmet er sich Pinguinen, auch in zahlreichen wissenschaftlichen und populären Veröffentlichungen. Er ist derzeit Inhaber des Stuart Chair in Science Communication an der University of Otago, an der er u. a. Creative Nonfiction Writing und Wissenschaftskommunikation lehrt.

Lloyd Spencer Davis

Das

geheime

Liebesleben

der

Pinguine

Ein vergessener Polarforscher,

ein aufregender Fund und

eine erstaunliche Erkenntnis

Aus dem Englischen

von Jürgen Neubauer

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel »A Polar Affair: Antarctica’s Forgotten Hero and the Secret Love Lives of Penguins« bei Pegasus Books, New York, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2019 by Lloyd Spencer Davis

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25229-8V002

www.dva.de

Für Wiebke,

die mein Lied mit mir singt

Inhalt

Prolog

TEIL EINS Der Lockruf des Eises

Homosexualität

EINS Viktorianische Werte

ZWEITerra Australis

DREI Die drei Norweger

TEIL ZWEI Alle Wege führen nach Kap Adare

Scheidung

VIER Erste Beobachtungen

FÜNF Kindheitsträume

SECHS Vertane Chancen

SIEBEN Balz

ACHT Täuschung

NEUN Die Ostgruppe

TEIL DREI Kap Adare

Untreue

ZEHN Die Nordgruppe

ELF Die schlimmste Reise

ZWÖLF Pinguinforscher wider Willen

DREIZEHN Das Rennen beginnt

VIERZEHN Wettlauf

FÜNFZEHN Timing

TEIL VIER Nach Kap Adare

Vergewaltigung

SECHZEHN Rüpel

SIEBZEHN Wetter

ACHTZEHN Hunde

NEUNZEHN Winter

ZWANZIG Heimreise

TEIL FÜNF Nach der Antarktis

Prostitution

EINUNDZWANZIG Menschliche Abgründe

ZWEIUNDZWANZIG Nach dem Krieg

DREIUNDZWANZIG Endlich am Pol

Bildteil

Karten

Dank

Anmerkungen

Literatur

Prolog

13. Oktober 1911. Ein eisiger Tag, selbst für antarktische Verhältnisse. Von der schmalen Landzunge von Ridley Beach an Kap Adare erstreckt sich das Packeis bis zum Horizont. Eine öde weiße Fläche, eingehüllt in einen Schneesturm, der gegen die wolkenverhüllten Berge anrennt. Ein weniger anheimelnder Ort ist kaum vorstellbar. Doch als der Mann hinausspäht, erkennt er eine kleine schwarz-weiße Gestalt, einen Pinguin, der gegen den Wind gelehnt mühsam auf sein Ziel zuwatschelt. Diesen Strand. Zu dieser Jahreszeit. Ein guter Tag, um sich zu beweisen.

Mit gemischten Gefühlen beobachtet der Mann den Pinguin. Er würde ja viel lieber einen Schlitten ziehen, als hier auf diesem kaum fußballfeldgroßen Strand festzusitzen, den er bald mit Tausenden dieser schwarz-weißen Wichte wird teilen müssen, die sich noch irgendwo da draußen in Schnee und Eis verbergen, aber schon zielstrebig in seine Richtung unterwegs sind. Seine Kleidung bewahrt ihn vor der Kälte, doch sein Gesicht ist ungeschützt. Selbst nach der langen Polarnacht ist er noch gebräunt und sieht so gar nicht aus wie ein Engländer. An diesem Abend nimmt er in seiner relativ warmen Hütte einen Füllfederhalter und eine blaue Kladde zur Hand und notiert: »13. Oktober: Erster Pinguin trifft ein.«1 Den Eintrag unterstreicht er mit seiner blauschwarzen Tinte. Mit diesem Satz beginnt die wissenschaftliche Erforschung der Pinguine.

14. Januar 1912. Ein eisiger Tag, selbst für antarktische Verhältnisse. Ein Zug von Männern, echte Kerle, lehnt sich gegen den Wind und zieht einen beladenen Schlitten durch die eisige Ödnis. Sie wollen sich beweisen. Ihr Ziel ist der Südpol. Ihr Schicksal. Ihre Pflicht. Als Engländer.

29. März 1912. Fast elf Wochen später. Von den fünf Männern, die zum Südpol aufgebrochen sind, sind nur noch drei übrig geblieben. Eng aneinander geschmiegt liegen sie in ihren Rentierschlafsäcken. Erbarmungslos rüttelt der Sturm an ihrem Zelt, das hereindringende Schneegestöber zerrt genauso an ihren Nerven wie das Heulen ihrer leeren Mägen. Nach draußen zu gehen würde einen schnellen Tod bedeuten, drinzubleiben einen langsamen. Der Engländer mit dem runden Gesicht nimmt einen Stift zur Hand. Er wirft einen Blick auf die reglosen Körper seiner Begleiter. Ob sie schon tot sind? Ein letztes Mal schreibt er in sein kleines schwarzes Tagebuch.

Wir werden bis zum Ende aushalten; freilich werden wir schwächer, und der Tod kann nicht mehr fern sein. Es ist ein Jammer, aber ich glaube nicht, dass ich noch weiter schreiben kann.2

Diese Worte machen den gescheiterten Polarforscher Robert Falcon Scott zum Nationalhelden und seinen Namen zum Inbegriff von Kühnheit und Durchhaltewillen in aussichtsloser Lage. Sein mit letzter Kraft hingekritzelter Nachsatz – Sorgt um Gottes willen für unsere Hinterbliebenen! – klingt eher so, als wolle er göttlichen Beistand auf seine Landsleute herabflehen, und nicht wie die letzte Bitte eines Sterbenden, man möge sich um seine Frau und seinen Sohn kümmern.

Als sein gefrorener Leichnam gefunden wurde, lag er zur Hälfte in seinem Schlafsack, einen Arm um seinen guten Freund, den Arzt Edward Wilson, gelegt, unter seiner Schulter das Tagebuch und ein Bleistift. Unter die letzte Eintragung hatte er seine krakelige Unterschrift gesetzt: R. Scott. Nicht Robert, nicht Robert Scott, sondern R. Scott. Steif und förmlich, ganz Brite, bis in den Tod.

An ebenjenem 29. März 1912 kriecht 350 Kilometer weiter nördlich unser anderer Engländer – Arzt und ebenfalls Angehöriger von Scotts Antarktisexpedition – in seinen Schlafsack. Zusammen mit fünf Gefährten wird der Pinguinforscher den Polarwinter in einer Höhle verbringen, die sie in eine Schneewehe gegraben haben. Er greift zu seinem Bleistift und notiert: »Den ganzen Tag Sturm.«3 Damit beginnt eines der unglaublichsten Abenteuer dieser an unglaublichen Abenteuern und eisigen Heldenschicksalen übervollen Antarktis. Es ist die Geschichte eines unbesungenen Helden von Robert Scotts Terra Nova-Expedition, des ersten Pinguinforschers der Welt, dessen Entdeckungen im Schatten von Scotts Tragödie in Vergessenheit gerieten.

Es ist die Geschichte von George Murray Levick.

TEIL EINS

Der Lockruf des Eises

Homosexualität

Man kann durchaus den Eindruck bekommen, dass die Natur nicht nur blutige Zähne und Klauen hat, wie der englische Dichter Alfred Lord Tennyson sagt, sondern dass sie insgesamt eine reichlich blutrünstige Angelegenheit ist, zumal wenn es um die Fortpflanzung geht. Männchen bekämpfen einander bis aufs Blut, um sich mit so vielen Weibchen wie möglich zu paaren. Deshalb sind bei den Seeelefanten die Männchen so viel wuchtiger als die Weibchen, und deshalb tragen männliche Rothirsche Geweihe – so will es die Evolution, wie Charles Darwin sie beschreibt. »Das Überleben der Stärkeren« meint im Grunde nichts anderes als »das Überleben der Potentesten«, also derjenigen, die die meisten Nachkommen zeugen. So verstanden hat das »Überleben« recht wenig mit einem langen und zufriedenen Leben zu tun: Man überlebt in Form seiner Kinder und Kindeskinder. Heterosexualität, genauer gesagt die Paarung von Mann und Frau, ist daher keine Frage der sexuellen Orientierung, sondern sie ist das Wesen des Lebens an sich und zumindest unter uns Wirbeltieren der einzige Weg zur Fortpflanzung. Daher galt die Vereinigung von Angehörigen desselben Geschlechts lange Zeit als unnatürlich und angesichts der Mechanismen der natürlichen Auslese auch als unwahrscheinlich: Geschlechtsverkehr, der nicht der Zeugung von Nachkommen dient, wäre aus evolutionärer Sicht der Inbegriff einer gescheiterten Überlebensstrategie. Demzufolge wäre die Homosexualität nicht mehr als eine Marotte und eine Erfindung der menschlichen Gesellschaft, nicht der Biologie. Für einen Jungen, der im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwuchs, war Homosexualität eine unaussprechliche Perversion und sicherlich das Letzte, was man in der Natur erwarten würde. Doch im Laufe seines Lebens sollte George Murray Levick in der Natur so einiges entdecken, was er nicht erwartet hätte.

KAPITEL EINS

Viktorianische Werte

28. Oktober 1996. Ein freundlicher Tag für antarktische Verhältnisse. Der Himmel ist zur Hälfte mit Wolken bedeckt, doch die Sicht ist frei und auf der anderen Seite der Bucht sieht man die hohen Berge, die wie verlorene Kinder des Himalaja am Horizont sitzen. Es herrschen lauschige zehn Grad unter null, und der Nordwind ist zu schwach, um die dunkelblauen Wasserflächen zwischen dem Packeis zu kräuseln, das sich wie ein riesiges Puzzle bis zu den Bergen erstreckt.

Ich sitze zwischen den Adeliepinguinen* der Brutkolonie von Kap Bird auf der Ross-Insel. Mit dem Hubschrauber ist die Insel eine halbe Stunde von Kap Evans und der Hütte entfernt, von der aus Kapitän Robert Falcon Scott und seine Männer zu der gescheiterten Expedition aufbrachen, die sie als erste Menschen zum Südpol bringen sollte. Für mich bedeutet diese Reise keine Gefahr mehr für Leib und Leben; der größte Feind ist heute die Langeweile. Während meiner Schicht sitze ich zwei Stunden lang im Freien und behalte das Paarungsverhalten der Pinguine im Auge. Im Laufe unserer Beobachtungen schält sich heraus, dass die Pinguine ihrem beliebten Image nicht ganz gerecht werden und alles andere sind als die treusorgenden Partner, die einen Bund fürs ganze Leben eingehen. Inzwischen weiß ich, dass sie keineswegs das Paradebeispiel einer Kleinfamilie sind, als das sie in konservativen Kreisen gern dargestellt werden. Trotzdem bin ich nicht auf das vorbereitet, was ich nun sehen werde.

* Adeliepinguine wurden vom französischen Seefahrer und Polarforscher Jules Dumont d'Urville entdeckt, der die Vögel nach seiner Frau Adélie benannte. In der deutschsprachigen Literatur wurde der Akzent allerdings oft unterschlagen. In der zweiten Internationalen Pinguinkonferenz einigten sich die Vertreter der Zunft auf einheitliche Namen für die verschiedenen Pinguinarten. Seither tragen die Adeliepinguine auch offiziell keinen Akzent mehr im Namen.

Ein Pinguin nähert sich einem anderen. Beide machen eine Verbeugung, mit der sie normalerweise ein Weibchen anzulocken beginnen. Nur dass es sich in diesem Fall bei beiden Pinguinen um Männchen handelt. Trotzdem besteigt nun der eine Pinguin den anderen. Und als wäre das noch nicht verblüffend genug, tauschen die beiden anschließend die Rollen, und der Pinguin, der eben noch die weibliche Rolle eingenommen hat, besteigt nun den anderen und ergießt sein Sperma auf die Genitalien des unten liegenden, wie er dies normalerweise bei einem Weibchen tun würde.

Was ich da sehe, widerspricht allem, was man in Büchern, Dokumentarfilmen oder Fachartikeln erfährt. Dort werden Pinguine nämlich durchweg als brave und artige Knirpse dargestellt, die lebenslange Partnerschaften eingehen, weshalb sie uns als das große Vorbild für Ehe und Treue vorgehalten werden. An diesem Tag mache ich eine radikal neue Entdeckung über das Liebesleben der Pinguine.

Das glaubte ich zumindest.

Fünfzehn Jahre später. Douglas Russell, Direktor der Sammlung für Vogeleier und -nester im Natural History Museum von London, sitzt in der Bibliothek der Forschungsabteilung des Museums in Tring und sichtet einen Aktenkarton mit Nachdrucken. Er zieht ein dreiseitiges Manuskript heraus, das ihm noch nie aufgefallen ist. Oben auf jeder Seite steht der gestempelte Vermerk »Nicht zur Veröffentlichung«. Das Manuskript trägt den Titel »Sexualverhalten der Adeliepinguine« und wurde verfasst von einem Marinearzt namens G. Murray Levick, der Kapitän Robert Scott in die Antarktis begleitet hatte und sich neben seinen ärztlichen Pflichten auch als Zoologe und Fotograf betätigte.

Was Russell da zutage gefördert hat, ist offenbar das einzige noch vorhandene Exemplar eines Manuskripts, in dem Levick 1915 das Liebesleben der Pinguine beschrieb. Der Text war anscheinend schon druckfertig gewesen, dann aber aus unerfindlichen Gründen doch nicht veröffentlicht worden.

Robert Falcon Scotts letzte Antarktisfahrt, die Terra Nova-Expedition, galt nicht nur der Entdeckung des Südpols, sondern diente auch der Forschung. Nach der Rückkehr machten sich die Überlebenden daran, ihre Erkenntnisse zu veröffentlichen. Murray Levick, der auf Kap Adare die Adeliepinguine beobachtet hatte, schrieb ein Buch mit dem Titel Antarctic Penguins, das 1914 erschien. Es war das erste Buch über Pinguine.

Auf diesen Klassiker war ich schon 1977 gestoßen, als ich selbst in die Antarktis aufbrach, um die Adeliepinguine zu erforschen. Es war eines von drei Büchern über Pinguine, die ich damals mitnahm, neben Büchern von Henry David Thoreau und Walt Whitman. Der Autor hatte zwar einige grundlegende Beobachtungen zum Verhalten der Adeliepinguine gemacht, doch seine Beschreibung der Vögel erschien mir insgesamt recht antiquiert.

Während der nächsten 35 Jahre ging ich unbeschwert meinen Forschungen nach und »enthüllte« dabei die Wahrheit über das Liebesleben der Pinguine. Bis Douglas Russell eines Tages Levicks Aufsatz über das Sexualverhalten der Adeliepinguine in der Zeitschrift Polar Record zur Veröffentlichung brachte – fast ein Jahrhundert nachdem er geschrieben worden war.

Eines späten Abends sitze ich dann vor dem Computer in meinem Büro und lese Levicks Artikel. Das Gebäude ist verwaist, die Kollegen sind längst nach Hause gegangen. Ich sollte auch zu Hause sein, doch ich sitze gebannt auf meinem roten Kunstlederstuhl. In seinem Aufsatz schildert Levick eine sexuelle Perversion der Pinguine nach der anderen.

Ich bin sprachlos und verblüfft, aber auch aufgeregt. Mir wird klar, dass ich meine Laufbahn als Pinguinforscher vor allem darauf verwendet hatte, das wiederzuentdecken, was dieser Levick längst herausgefunden hatte. Es war, als wäre es George Murray Levick verwehrt worden, mit eigener Stimme zu sprechen, und als hätte er daher durch mich gesprochen. Nirgends wird das deutlicher als in den letzten beiden Sätzen seines Dokuments.

Einmal sah ich, wie sich ein Hahn und eine Henne paarten. Nachdem er geendet hatte und abgestiegen war, erwies sich die vermeintliche Henne als Hahn, und die Paarung wiederholte sich mit umgekehrten Rollen: Die ursprüngliche »Henne« bestieg nun den ursprünglichen Hahn, wodurch die Natur des Vorgangs erkennbar wurde.4

Es hätte derselbe Paarungsakt sein können, den ich an Kap Bird beobachtet und 83 Jahre nach Levick in einem vermeintlich neuen Forschungsartikel beschrieben hatte.

Ich packe die Armlehnen meines Bürostuhls und wirbele herum, um das Bücherregal hinter mir zu sichten. Die Bretter biegen sich unter den Büchern zur Pinguinforschung und alphabetisch nach Autoren sortierten Ordnern mit Fachartikeln. In diesem Regal müssen an die zweitausend wissenschaftliche Publikationen zu Pinguinen stehen, das geballte Wissen über diese einmaligen und charismatischen Vögel. Abgesehen von einigen beiläufigen Notizen der ersten Forscher wurde vor 1915 allerdings nichts Wesentliches über die Pinguine veröffentlicht. Auf dem untersten Regal reihen sich an die vierzig Bücher aneinander, darunter auch ein paar mit meinem Namen auf dem Umschlag. Irgendwo in der Mitte steht ein abgegriffenes Exemplar von Levicks Antarctic Penguins aus dem Jahr 1914. Es ist die mit Abstand älteste Veröffentlichung in meinem Regal.

George Murray Levick – oder Murray Levick, das war ihm lieber – ist zweifelsohne der Vater der Pinguinforschung: Er war der Erste, der die Vögel mit den Mitteln der Wissenschaft beobachtete. Alles andere in meinem Regal kommt nach ihm. Doch der Artikel aus dem Jahr 1915, den ich gerade gelesen habe und der erst 2012 veröffentlicht wurde, ist alles andere als antiquiert und beweist, dass dieser Mann Dinge über Pinguine herausgefunden hatte, auf die wir Übrigen in diesem Regal erst im Laufe der nächsten hundert Jahre kommen sollten.

In einer Mischung aus Euphorie und Verblüffung wirbele ich in meinem Schreibtischstuhl herum und versuche, das zu verarbeiten. Ich bremse und betrachte mein Spiegelbild in einem dunklen Fenster. Besonders meine weißen Haare stechen mir ins Auge. Dreieinhalb Jahrzehnte lang war ich überzeugt, Pionierarbeit zu leisten und als Erster die Wahrheit über das Liebesleben der Pinguine zu enthüllen. In Wirklichkeit bin ich offenbar nur in die Fußstapfen eines anderen getreten, auch wenn diese Fußstapfen durch Zeit, Zensur oder was auch immer verweht worden waren.

Als mir klar wird, dass Levick wie ein Geist vor mir her gewandelt ist, weiß ich, dass ich diesen Mann kennenlernen muss. Warum hat man ihn daran gehindert, die Wahrheit über die Pinguine publik zu machen? Wer hat das getan und warum? Oder hat er etwa selbst die Entscheidung getroffen, seine Erkenntnisse nicht zu veröffentlichen? In seinen Erläuterungen zu dem Artikel schreibt Douglas Russell, es gebe Hinweise darauf, dass Levick selbst an der Unterschlagung seiner Entdeckungen beteiligt gewesen könnte. Die schlüpfrigsten Stellen seiner Feldforschung habe er in einer Geheimschrift aus griechischen Buchstaben in seinem Notizbuch festgehalten. Aber warum?

Das will ich herausfinden. Levick ist mir ein Rätsel. Ich kenne ihn zwar als Autor dieses Klassikers über die Adeliepinguine, doch ansonsten weiß ich nichts über ihn. Ein kurzer Blick ins Internet zeigt mir, dass ihn auch sonst niemand zu kennen scheint. Die Zahl der Suchergebnisse ist überschaubar.

Murray Levick wurde 1876 in der nordenglischen Stadt Newcastle upon Tyne geboren, studierte Medizin und meldete sich zum Marinedienst – so viel finde ich heraus. Er begleitete Scott auf seiner Terra Nova-Expedition und überwinterte als Angehöriger der Nordgruppe auf Inexpressible Island in einer Schneehöhle. Er diente im Ersten Weltkrieg, machte sich danach einen Namen als Arzt und gründete eine Gesellschaft mit dem Namen Public Schools Exploring Society zur Förderung des Entdeckertums an Privatschulen. 1956 starb er.

Auf der Heimfahrt überlege ich mir, wie ich meiner Lebensgefährtin erkläre, dass ich zu spät zum Abendessen komme. Dabei habe ich einen Einfall. Wenn ich mich schon als Detektiv betätigen und die wahre Geschichte von Murray Levick herausfinden will, dann sollte ich ganz am Anfang beginnen. Wie es der Zufall so will, fliege ich in einigen Tagen nach England, und dort könnte ich doch einen Abstecher in den Norden machen. Wenn ich mehr über Levick in Erfahrung bringen will, dann wäre Newcastle der beste Ausgangspunkt.

Murray Levick war ein Kind des viktorianischen Zeitalters. Er kam am 3. Juli 1876 in Newcastle upon Tyne zur Welt, mitten in der Regierungszeit von Königin Victoria, und wuchs in einer Gesellschaft auf, für die eine strenge moralische Erziehung genauso zur kindlichen Entwicklung gehörte wie die zweiten Zähne. Mit einem Unterschied: Während die Zähne ausfallen konnten, war ein solcher Lapsus bei der Moral nicht akzeptabel. Dazu gehörte unter anderem, dass Geschlechtsverkehr das Vorrecht heterosexueller Paare war, vorausgesetzt, sie hatten den Segen der Kirche.

Das war allerdings nicht immer so. Die nordenglische Stadt Newcastle hat nicht nur einen Ruf als trostlose und kohlegeschwärzte Industriestadt, sondern sie hat auch ihre ganz eigene Geschichte der Ausschweifungen. Siebenhundert Jahre lang war Newcastle die Kohlehauptstadt Englands und der Kesselraum der industriellen Revolution, doch davor hatte die Stadt noch einen ganz anderen »schmutzigen« Ruf.

Auf den ersten Blick präsentiert sich Newcastle als auf Hochglanz polierte, ultramoderne Stadt, die sich in die Windungen des Tyne schmiegt. Ihr neues Wahrzeichen ist ein architektonisches Gedicht, die Millennium Bridge, deren eindrucksvolle Bögen die beiden Flussufer miteinander verbinden. Auch mein Hotel war sehr modern und bot einen hübschen Ausblick auf den Fluss. Hinter der modernen Fassade werden allerdings die alten Wurzeln sichtbar, und ein Herz, das seit fast zwei Jahrtausenden schlägt.

Die Römer errichteten ein Kastell und eine kleine Siedlung am Nordufer des Flusses Tyne, der damals den Hadrianswall nach Osten abschloss. Die Siedlung nannten sie Pons Aelius, nach dem Familiengeschlecht von Kaiser Hadrian, der im Jahr 122 nach Britannien gekommen war und den Bau einer Mauer angeordnet hatte. Anfang des 5. Jahrhunderts machten die Römer den Laden dicht, sie verließen die Insel und überließen die Stadt zuerst den Angelsachsen, die sie Monkchester nannten, dann den Dänen und schließlich den Normannen. Robert Curthose, der älteste Sohn von Wilhelm dem Eroberer, gab der Stadt schließlich ihren heutigen Namen: Im Jahr 1080 errichtete er eine neue Festung, und seither heißt die Stadt New Castle.

Wen es nicht verwundert, dass sich Murray Levick gehalten sah, das Sexualverhalten der Pinguine in Geheimschrift zu schildern, den könnte ein Blick in die Geschichtsbücher stutzig machen. Wilhelm der Eroberer, aufgrund seiner außerehelichen Herkunft auch bekannt unter dem Namen Wilhelm der Bastard, war Herzog der Normandie, als er im Jahr 1066 England eroberte und der erste normannische Herrscher der Insel wurde. Auch sein Sohn Robert hinterließ ganze Scharen von unehelichen Kindern, legte weite Teile Frankreichs in Schutt und Asche und lag unentwegt mit seinem Vater und seinen beiden Brüdern im Clinch. Allerdings zoffte man sich nicht wie in normalen Familien üblich, sondern ging mit ganzen Armeen aufeinander los. In einer Schlacht brachte Robert seinem Vater sogar eine schwere Verwundung bei. Als Wilhelm schließlich nach einer weiteren Schlacht starb, folgte ihm Robert als Herzog der Normandie nach. Den Thron von England bestiegen allerdings seine jüngeren Brüder, erst Wilhelm Rufus und nach dessen Ableben Heinrich der Gelehrte. Der verärgerte Robert führte einige erfolglose Aufstände gegen seine Brüder an. Nach vierzig Jahren der Raubzüge und Plünderungen wurde der inzwischen etwa sechzigjährige Robert von Heinrichs Männern gefangen genommen und verbrachte das letzte Viertel seines Lebens im Kerker.

Neben den Ausschweifungen, Brudermorden und sonstigen Greueltaten früherer menschlicher Gesellschaften nimmt sich das Verhalten der Pinguine ausgesprochen harmlos aus. Doch die viktorianischen Werte, in deren Licht Levick erzogen worden war, machten es ihm offenbar unmöglich, Masturbation oder Homosexualität auch nur zu erwähnen, egal ob beim Menschen oder bei Pinguinen.

In den 140 Jahren, die seit Murray Levicks Geburt vergangen sind, ist das Pendel in Newcastle wieder in die andere Richtung ausgeschlagen. Robert Curthose würde sich heute hier bestimmt wohler fühlen als der Viktorianer Levick.

Der Abend bricht bereits herein, als ich mich auf den Weg hinunter zum Tyne mache. Die geschwungene Millennium Bridge leuchtet in subtilem Magenta, während am anderen Flussufer offenbar die gesamte Kohle von Newcastle verfeuert wird, um das moderne und ähnlich geschwungene neue Kunstmuseum anzustrahlen. Menschen sind in Massen unterwegs, doch ich stelle fest, dass die meisten Spaziergänger auf der Brücke mir entgegenkommen. In den Kneipen an meinem Ufer drängen sich die Männer und Frauen wie die Pinguine zu Beginn der Balzzeit, offenbar genauso paarungsbereit wie die Vögel, die Levick und ich erforscht haben.

Ich betrete die Bar Pitcher & Piano, die ganz modern in Glas und Aluminium gehalten ist. Ein junger Mann in Jeans, dessen T-Shirt kaum seinen Bierbauch bedeckt, rempelt mich an; offenbar hatte er nur Augen für eine junge Frau, deren rosa Kleid so kurz ist, dass es als Unterhemdchen durchgehen könnte. In dieser und drei anderen Kneipen schiebe ich mich zwischen Bierbäuchen und Kleidchen hindurch, und wenn es die Lautstärke der Musik zulässt, unterhalte ich mich mit einigen dieser Einheimischen. Den Namen Murray Levick hat allerdings keiner von ihnen gehört.

Währenddessen mache ich mir meine Gedanken über einige merkwürdige Widersprüche. Seit ein anderer viktorianischer Gentleman, ein gewisser Charles Darwin, das Phänomen der geschlechtlichen Auslese beschrieben hat, geht man eigentlich davon aus, dass Arten, deren männliche und weibliche Vertreter einander sehr ähnlich sehen, in Monogamie leben. Arten, bei denen sich Männchen und Weibchen stark unterscheiden – so wie hier, wo Bärte und Busen, Bäuche und Kleidchen nur die sichtbarsten der zahlreichen Geschlechterunterschiede sind –, leben dagegen in Polygamie, und erfolgreiche Männchen haben mehrere Partnerinnen. Doch ungeachtet dieser augenfälligen Unterschiede zwischen Mann und Frau verlangen unsere gesellschaftlichen Werte, zumal wenn sie religiöser Herkunft sind, Ehe und Monogamie. Und umgekehrt lassen Levicks und meine Beobachtungen vermuten, dass Pinguine, für Karikaturisten geradezu der Inbegriff der Gleichförmigkeit, genauso wenig monogam sind wie diese Einwohner von Newcastle.

Murray Levick wurde als Sohn des Ingenieurs George Levick und seiner Frau Jeannie geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern, Ruby und Lorna. Als er zur Welt kam, lebte die Familie in Whitworth Place 12. Wie sein Geburtshaus ausgesehen haben mag, ist schwer zu sagen, denn es wurde abgerissen, und an seiner Stelle stehen heute Reihenhäuser aus Backstein, wie sie für das moderne Newcastle typisch zu sein scheinen. Bei dem Versuch, ihrer gemeineren Vergangenheit zu entkommen, haben die Einwohner der Stadt offenbar eine Fassade geschaffen, die so schal wie flach ist – von der Brücke einmal abgesehen.

In meiner Naivität habe ich angenommen, in Newcastle ein Denkmal für Levick zu finden oder zumindest einen Hinweis auf seine Herkunft. Doch in der ganzen Stadt finde ich nicht einmal eine Gedenktafel mit seinem Namen. Es ist wie ein Tatort, an dem alle Spuren gründlich beseitigt wurden.

Ich muss an anderer Stelle ansetzen und meine Suche nach Murray Levick anders aufziehen. An mindestens einem Ort muss er auf jeden Fall Spuren hinterlassen habe. Also besuche ich den Direktor der Sammlung für Vogeleier und -nester des Natural History Museum in Tring.

Ein weiterer Grund führt mich in die Vogelsammlung des Museums: Wenn mir der Stammbaum der Levicks schon keine Aufschlüsse gibt, komme ich vielleicht mit dem der Pinguine weiter. Von den rund neuntausend heute lebenden Vogelarten** gehören gerade einmal neunzehn zur Familie der Pinguine. Bei den Exemplaren in Sammlungen wie der von Tring handelt es sich aber nicht einfach um ausgestopfte Vertreter ihrer Art, sie erzählen vielmehr eine Geschichte vom Kontakt mit dem Menschen.

** Diese Zahl basiert auf morphologischen Analysen; Genanalysen lassen vermuten, dass es in Wirklichkeit doppelt so viele Vogelarten geben könnte.

Pinguine kommen ausschließlich auf der Südhalbkugel vor. Die Einwohner Südafrikas und Südamerikas kannten sie vermutlich schon seit vielen Jahrtausenden, doch sie haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Unsere ersten Beschreibungen stammen daher von den europäischen Entdeckern, die sich weit in den Süden vorwagten: Vasco da Gama, der 1497 das Kap der Guten Hoffnung umschiffte, und Ferdinand Magellan, der bei seiner Weltumseglung 1520 die Küste Patagoniens passierte. Die Pinguine, die diese Seefahrer sahen, tragen schwarze Streifen auf ihrer weißen Brust und werden zur Gattung der Brillenpinguine gezählt. Sie leben weiter nördlich als alle anderen Pinguine. Die Galapagospinguine, die ebenfalls zu dieser Gattung zählen, leben sogar am Äquator. Die Brillenpinguine sind also denkbar weit von den Adelie- und Kaiserpinguinen entfernt, die Levick während der Terra Nova-Expedition beobachtete.

Die Antarktis hatte keine menschlichen Bewohner. Die Adelie- und Kaiserpinguine konnten also erst entdeckt werden, als Menschen in der Lage waren, so weit nach Süden vorzudringen. Das war erst im 19. Jahrhundert der Fall, und zwar während der Regierungszeit von Königin Viktoria, die von 1837 bis 1901 auf dem Thron des Britischen Weltreichs saß. Damals war es üblich, auf Entdeckungsfahrten Naturforscher mitzunehmen, deren Aufgabe darin bestand, Exemplare sämtlicher neuer Tiere und Pflanzen zu sammeln, auf die man unterwegs unweigerlich stieß. Diese Exemplare wurden präpariert, beschrieben und eingeordnet, um dann in Museen wie dem von Tring ausgestellt zu werden.

Ein viktorianisches Museum für viktorianische Entdeckungen, eingerichtet von Menschen mit viktorianischem Weltbild – gab es einen besseren Ort, um mich nach antarktischen Pinguinen und meinem Murray Levick umzusehen?

KAPITEL ZWEI

Terra Australis

Acht Jahre bevor Murray Levick in eher bescheidenen Verhältnissen in Newcastle zur Welt kam, wurde in London der Sohn einer der reichsten Familien Großbritanniens geboren: Lionel Walter Rothschild, der zweite Baron Rothschild. Walter, der wie Levick seinen zweiten Vornamen vorzog, sollte allerdings nicht nur einer der wohlhabendsten, sondern auch einer der exzentrischsten Briten werden.

Rothschild war groß gewachsen, aber nicht sonderlich kräftig. Er war krankhaft schüchtern und hatte einen Sprachfehler, weshalb ihn seine Eltern zu Hause unterrichten ließen. Wobei es sich nicht um ein gewöhnliches Zuhause handelte, sondern um Tring Park Mansion, ein sechzig Kilometer nordwestlich von London gelegenes Herrenhaus mit 1500 Hektar Land.

Das erste Anwesen auf dem Gelände wird bereits im Domesday Book aufgeführt, dem Grundbuch Wilhelms des Eroberers. Vorübergehend befand es sich im Besitz von Wilhelms Enkel, König Stefan, und seiner Frau Matilda. Ende des 17. Jahrhunderts erhielt der königliche Schatzmeister Sir Henry Guy die Immobilie zum Geschenk von König Karl II. und ließ sich von Sir Christopher Wren, der unter anderem die St.-Paul’s-Kathedrale von London entworfen hatte, ein neues Herrenhaus bauen. Weil Sir Henry sein Eigenheim mit einem tiefen Griff in die Staatskasse finanzierte, wurde er dann allerdings im etwas weniger behaglichen Tower eingekerkert. Walters Großvater, Lionel Baron de Rothschild, erwarb Tring Park im Jahr 1872 und schenkte es Walters Vater, dem ersten Baron Rothschild. So kam es, dass Walter seit dem vierten Lebensjahr in einem Haushalt von der Größe eines Kleinstaats aufwuchs. Später bevölkerte er das Grundstück mit fremdartigen und wunderbaren Wesen wie Kängurus und exotischen Vögeln.

Als Walter sieben Jahre alt war, erklärte er seinen Eltern, er wolle ein zoologisches Museum einrichten. In der Tat hatte er ein wesentlich besseres Händchen für die Schmetterlingsjagd als für die Verwaltung des Geldinstituts der Familie. Seine Eltern willigten schließlich ein und errichteten ihm zu seinem 21. Geburtstag das Walter Rothschild Zoological Museum in Tring Park. Es wurde 1892 eröffnet und sollte später über zwei Millionen aufgespießte Schmetterlinge, 300 000 Vogelbälge und ein wahres Wunderhorn ausgestopfter und eingelegter Tiere beherbergen – die Viktorianer zelebrierten ihre Liebe zur Natur eben gern, indem sie sie erlegten und mit Schildchen versahen.

In Tring Park tummelten sich auch immer mehr lebende exotische Tiere wie Emus und Nandus. Eine besondere Vorliebe hatte der Baron für Zebras, die er gern vor seine Kutsche spannte, um so auch beim Buckingham Palace vorzufahren. Außerdem hatte er eine Schwäche für Kängurus, auch wenn die Gärtner noch so sehr protestierten, dass die australischen Einwanderer die Parkanlagen verwüsteten.

Das Rothschild Museum war eine einmalige Einrichtung: Es beherbergte die größte zoologische Privatsammlung aller Zeiten und hatte die beste zoologische Bibliothek der Welt, die Wissenschaftler aus aller Welt anlockte. Am Ende strauchelte das Museum über den Sex – oder besser die viktorianische Sexualmoral, wie sie der Baron und Murray Levick verinnerlicht hatten. Walter heiratete nie, hatte jedoch eine ganze Reihe von Geliebten. Eine davon, die Frau eines wohlhabenden Adeligen, erpresste Walter und drohte, ihre Beziehung öffentlich zu machen. Walter war inzwischen von seinem Vater enterbt worden, der es ihm nicht verziehen hatte, dass er die Zoologie dem Geld vorzog. Daher sah er sich gezwungen, einen Großteil seiner Vogelsammlung für 225 000 Dollar an das American Museum of Natural History in Manhattan zu verkaufen. Offenbar war es ratsam, wenn die Öffentlichkeit nichts über Sex erfuhr, egal ob unter Pinguinen oder Baronen.

Walter starb 1937, und zwei Jahre später übergab sein Neffe, der Tring Park und das Anwesen geerbt hatte, das Museum und den Rest der Sammlung an das Naturhistorische Museum, das damals noch zum Britischen Museum gehörte.

Von außen erinnert das Natural History Museum im Londoner Stadtteil Kensington an eine Kathedrale. Doch wie in Newcastle ist hier Vieles nur Fassade: Der überwiegende Teil der riesigen Sammlung des Museums wurde längst ausgelagert. Die Vogelsammlung befindet sich zum Beispiel in einer festungsähnlichen Anlage an der Londoner Ringautobahn, direkt neben dem Rothschild Museum von Tring.

Schon der Weg zum Museum macht mir klar, dass sich der erste Baron Rothschild beim Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn nicht hat lumpen lassen: Das Zoologische Museum in Tring Park ist ein hübsches Anwesen im Tudorstil. Die benachbarte Archiv- und Forschungsanlage des Natural History Museum erinnert dagegen eher an einen Bunker. Der Architekt hatte offenbar die Anweisung erhalten, Funktion über Form zu stellen, und zu Recht: In dem Gebäude werden 750 000 Vogelbälge von 95 Prozent aller auf der Welt vorkommenden Vogelarten aufbewahrt, und diese müssen natürlich unter streng kontrollierten Bedingungen gelagert werden. Außerdem müssen sie beschützt werden.

In der Nacht des 23. Juni 2009 warf Edwin Rist, ein talentierter amerikanischer Musiker, der an der Königlichen Musikakademie von London Querflöte studierte, ein Fenster des Museums von Tring ein und entwendete 299 Vogelbälge. Er hatte nämlich nicht nur ein Talent für Musik, sondern auch für die Präparierung von Angelhaken. Drei Jahre zuvor hatte er bei den Offenen Irischen Meisterschaften der Angelhakenpräparatoren eine Silber- und eine Bronzemedaille gewonnen, bei denen es darum geht, Federn und anderen Glitzerkram so an Angelhaken zu befestigen, dass Forellen und vor allem Juroren anbeißen.

Was auf den ersten Blick so aussah wie eine Bierlaune, war in Wirklichkeit ein sorgfältig geplanter Fischzug. In der Welt der Angelhakenpräparatoren waren diese Federn nämlich ein Vermögen wert – »Millionen von Pfund«, wie ein Insider versicherte. Nach seiner Verhaftung wurde Rist dazu verurteilt, die 125 150 Pfund zurückzuzahlen, die er bei Verkäufen einer Auswahl der Bälge bei eBay und anderen Anbietern verdient hatte. Den Rest der Federn hatte er für sich behalten, offenbar in der Hoffnung, sich bei künftigen Offenen Irischen Meisterschaften einige Goldmedaillen zu sichern.

Als wollte er den Wert und die Verwundbarkeit der Sammlung von Tring noch unterstreichen, brach zwei Jahre später ein gewisser Darren Bennett aus dem über 100 Kilometer entfernten Leicester in das Museum ein, schlug zwei Schaukästen mit Nashörnern ein und sägte ihnen die Hörner ab. Er hatte vor, die Hörner auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, wo er geschätzte 240 000 Pfund bekommen hätte. Laut Zeitungsberichten gelten diese Hörner in Asien als potenzsteigerndes Mittel. Leider bemerkte Bennett nicht, dass es sich bei den Hörnern um wertlose Gipsattrappen handelte. Nach Rists Einbruch hatten die Mitarbeiter des Museums nämlich Nachahmer erwartet und die Originale durch Nachbildungen ersetzt. Zu seinem Pech verlor Bennett auch noch einen Handschuh, den ein Museumsmitarbeiter fand, als er mit dem Fahrrad nach Hause radelte. Da Bennett die Polizei schon zu früheren Gelegenheiten so geärgert hatte, dass sie eine Blutprobe von ihm genommen hatte, reichten die DNA-Spuren auf dem Handschuh aus, um ihn dingfest zu machen.

Seither gelten im Natural History Museum von Tring strenge Sicherheitsvorkehrungen. Am Eingang wird erst umständlich mein Ausweis überprüft, dann muss ich mich gedulden, bis Douglas Russell mich abholt. Um mir während dieser unfreiwilligen Warterei die Zeit zu vertreiben, gehe ich ins benachbarte Rothschild-Museum, wo ich eine interessante Entdeckung mache.

Während die Festung von Tring mit ihrer Sammlung nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist – sie ist ja im Grunde nur die Rumpelkammer des Naturhistorischen Museums –, werden im Rothschild-Museum einige der besonderen Schätze der Sammlung ausgestellt. Im Mittelpunkt eines Raums entdecke ich einen ausgestopften Kaiserpinguin. Es ist allerdings kein gewöhnlicher Pinguin, wie mir der inzwischen eingetroffene Douglas Russell erklärt. Dieser Kaiserpinguin ist der erste, der jemals von Menschen gesichtet wurde. Der Naturforscher Joseph Dalton Hooker brachte ihn von einer Antarktisexpedition des britischen Kapitäns James Clark Ross zurück. Mein Interesse ist sofort geweckt. Nicht nur, weil die Ross-Expedition, die von 1839 bis 1843 dauerte, die erste war, die so weit in den Süden vordrang, sondern auch, weil sie eine Region erforschte, die jahrelang mein Arbeitsgebiet war: die nach dem Entdecker benannte Ross-Insel.

Die erste wissenschaftliche Beschreibung des Kaiserpinguins stammt von George Robert Gray, dem Leiter der vogelkundlichen Abteilung des Britischen Museums. Vielleicht hatte Gray die Art anhand von ebenjenem Vogel bestimmt, der vor mir stand, auf jeden Fall aber war es eines der Tiere gewesen, die das Pech hatten, während der Ross-Expedition von Hooker erlegt zu werden. Gray gab ihm den wissenschaftlichen Namen Aptenodytes forsteri, zu Ehren des deutschen Naturforschers Johann Reinhold Forster. Jener Forster war in letzter Minute für Joseph Banks als Naturkundler auf James Cooks zweiter Expedition eingesprungen, die weit im Süden des Planeten nach Land suchen sollte. Kartografen vermuteten schon lange, dass es dort einen großen Kontinent geben müsse, der ein Gegengewicht zur Landmasse der Nordhalbkugel darstellte, und hatten ihn Terra Australis Incognita genannt.

James Cook und Joseph Banks waren alte Bekannte für mich, ihre Heldentaten hatte man mir in der Grund- und weiterführenden Schule in Neuseeland eingebläut. Auf seiner ersten Südseereise hatte der britische Kapitän James Cook nämlich Neuseeland kartografiert. Der erste Europäer, der Neuseeland sichtete, war zwar der Niederländer Abel Tasman gewesen, doch der trug bei seiner Reise 1642 nicht mehr als ein paar Küstenlinien auf einer Landkarte ein und gab dem Meer seinen Namen, das (zum Glück, wie einige meinen) Neuseeland von Australien trennt. Cook entdeckte Neuseeland 1769 ein zweites Mal, umsegelte die Doppelinsel und erstellte eine penible Karte der Küste, während der mitgereiste Naturforscher Joseph Banks die einmalige Flora und Fauna sammelte und beschrieb, bei der sich heute viele an Tolkiens Mittelerde erinnert fühlen.

Der 1728 geborene Cook fuhr erstmals 1746 als Leichtmatrose der Handelsmarine zur See und schipperte Kohle von der Tynemündung nach London. Als Großbritannien 1754 in einen Krieg mit Frankreich eintrat, um sich die Vorherrschaft in Nordamerika zu sichern, meldete er sich freiwillig zur Kriegsmarine. Sechs Jahre später hatten die Briten die Franzosen aus Kanada verdrängt und waren die führende Seemacht der Welt.

Cook war als Kapitän der HMS Pembroke an der Belagerung von Quebec beteiligt. Er tat sich durch sein kartografisches Talent hervor und erstellte eine detaillierte Karte des Sankt-Lorenz-Stroms. Mithilfe dieser Karten konnten die Briten 1759 auf der Abraham-Ebene in der Nähe der Stadt Quebec einen Überraschungsangriff durchführen, der die entscheidende Schlacht und der Wendepunkt des Siebenjährigen Kriegs sein sollte.

James Cook kehrte gerade lange genug nach England zurück, um sich zu vermählen. Dann ging er wieder nach Nordamerika und führte fünf Expeditionen durch, auf denen er die Küste von Neufundland kartografierte. Erstmals bei der Vermessung von Küsten kam die Methode der Triangulierung zum Einsatz. Cooks Neufundlandkarten waren so präzise, dass Seefahrer sie zwei Jahrhunderte lang verwendeten.

Besonders die Admiralität und die Royal Society waren von Cooks Leistungen als Kartograf beeindruckt. Daher schickten sie ihn mit der Endeavour auf seine erste Südseereise, die von 1768 bis 1771 dauerte. Sein Auftrag lautete, vor Tahiti den sogenannten Venusdurchgang zu beobachten, also den Moment, in dem der Planet Venus zwischen Erde und Sonne passiert – ein seltenes Ereignis, das in vorausberechenbaren Abständen eintritt. Aus den Unterschieden, die sich ergaben, wenn das Himmelsereignis von verschiedenen Punkten der Erde aus beobachtet wurde, wollte man die Entfernung zwischen Erde und Sonne berechnen. Doch nachdem Cook seine Beobachtungen zum Venusdurchgang abgeschlossen hatte, öffnete er einen versiegelten Umschlag mit einem neuen Auftrag der Admiralität und stellte fest, dass er nach Süden weitersegeln und dort den mythischen Kontinent Terra Australis suchen sollte.

Am 6. Oktober 1769 sichtete Cook Neuseeland, und durch die Umrundung der Doppelinsel konnte er beweisen, dass es sich nicht um den gesuchten Kontinent handelte. Er überquerte die Tasmanische See, kartierte als Erster den Süden Australiens und zeigte damit, dass es sich tatsächlich um eine Insel von der Größe eines Kontinents handelte. Damit zeigte er außerdem, dass Australien zu weit nördlich gelegen war, um der Kontinent zu sein, den der schottische Geograph Alexander Dalrymple und andere Geografen der Royal Society als nötiges Gegengewicht der Erde postuliert hatten. (Wobei man der Gerechtigkeit halber hinzufügen sollte, dass schon Aristoteles und viele andere nach ihm über eine Terra Australis Incognita spekuliert hatten.)

Die rätselhaften Erkenntnisse der ersten Südseereise ließen in der Öffentlichkeit, der Admiralität und der Royal Society den Ruf nach einer zweiten Expedition laut werden. Cook wurde zum Kommandant befördert und stach 1772 mit der HMS Resolution ein weiteres Mal in See, um ein für alle Mal zu klären, ob es diese Terra Australis nun gab oder nicht. Die zweite Südseereise dauerte bis 1775, und diesmal war Johann Reinhold Forster mit an Bord; Joseph Banks hatte in einer divenhaften Anwandlung einen Rückzieher gemacht, weil nicht er zum Kommandanten der Expedition ernannt worden war.

Der Kaiserpinguin, der einsam in der düsteren und wenig inspirierenden Ausstellung von Tring vor mir steht, war zwar nicht von Forster selbst nach England gebracht worden, doch Forster war vermutlich der erste Mensch, der einen Kaiserpinguin sah. Unter James Cook fuhr die Resolution weiter nach Süden als je ein Schiff vor ihr. Am 17. Januar 1773 überquerte sie den Polarkreis, und bei der Erkundung der Gewässer erreichte sie schließlich ein gutes Jahr später den südlichsten Punkt bei 71° 10’ südlicher Breite. Cook muss bis auf ein oder zwei Eisberge an den antarktischen Kontinent herangekommen sein, doch aus unerfindlichen Gründen schaffte er es, das Festland zu verfehlen. In seinen Aufzeichnungen erwähnt Forster Königspinguine, die er hier gesichtet haben will, doch so weit im Süden wird es sich eher um die polaren Kaiserpinguine gehandelt haben als um ihre subpolaren Vettern. Aus größerer Entfernung sieht der Kaiserpinguin dem kleineren Königspinguin zum Verwechseln ähnlich, sodass selbst einem Naturforscher von Forsters Kaliber ein solcher Fehler unterlaufen kann – zumal damals ja noch niemand von der Existenz des Kaiserpinguins wusste.

Auch Cooks zweite Reise lieferte also keinen Beweis dafür, dass es die Terra Australis gab. Er war zwar bis weit nach Süden vorgedrungen, doch abgesehen von einigen kleineren Inseln, die er für die britische Krone beanspruchte, fand er keine Spur von einem Kontinent.

Der Süden lockte also weiter. Während der folgenden 140 Jahre nahmen viele Männer große Entbehrungen und Gefahren auf sich, und viele ließen ihr Leben bei dem Versuch, noch weiter nach Süden vorzudringen als jeder andere vor ihnen. Der Kontinent übte eine geheimnisvolle Anziehung aus, die ein Jahrhundert nach Cooks Heimkehr auch einen Jungen am Ufer des Tyne erfasste – dem Ort, an dem Cooks Laufbahn als Seefahrer begann.

Wie ich nun vor dem etwas ausgebleichten, aber ansonsten bemerkenswert gut erhaltenen Pinguin stehe, der vor 170 Jahren ausgestopft worden ist, wird mir klar, dass ich mehr über diesen Vogel weiß als über den Jungen aus Newcastle. Ich weiß, wo er gelebt, wie er sich vermehrt, wie er sich mit Artgenossen verständigt und was er gefressen hat. Aber wenn ich Levick besser verstehen und herausfinden möchte, warum er dem Lockruf der Antarktis folgte, dann bin ich hier offenbar am richtigen Ort.

Douglas Russell sieht genauso aus, wie man sich den Direktor einer Sammlung für Vogeleier und -nester vorstellt: klein, bebrillt und flink wie ein Spatz, der Brotkrumen aufpickt. Er trägt eine Weste zu den Jeans, doch mit seinem Bart und seiner Brille wirkt er weniger wie ein Rebell und mehr wie ein Bücherwurm. Er ist bemerkenswert herzlich.

Russell führt mich in sein Büro. Auf dem Weg dahin gehen wir durch gewaltige Hallen, in denen vermutlich die über 300 000 Vogeleier und 4000 Nester in seiner Obhut aufbewahrt werden, nicht zu vergessen die fast 750 000 Vogelbälge, die das Museum heute besitzt (108 der von Edwin Rist entwendeten Bälge bleiben verschwunden). Wenn Russell tatsächlich ein Vogel wäre, dann wahrscheinlich ein Laubenvogel, denn sein Nest quillt von Schätzen über.

Ich frage ihn gleich nach dem unveröffentlichten Manuskript von Levick, das er entdeckt hat. Russell erzählt mir, er sei damals in die Bibliothek im Rothschild-Gebäude gegangen, um etwas zu suchen. Da er es nicht finden konnte, nutzte er die Gelegenheit, um ein wenig in den Kartons zu stöbern. Zufällig griff er sich eine Kiste für Autoren mit dem Buchstaben L, und da er Levick kannte, kam es ihm in den Sinn, sich dessen Papiere anzusehen. Und dabei stieß er auf das dreiseitige Manuskript mit dem Vermerk »Nicht zur Veröffentlichung«. Er wunderte sich, dass diese Seiten etwas enthalten sollten, was nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt war, und sah sich die Sache genauer an.

Offenbar waren die unveröffentlichten Seiten zunächst zur Publikation in Levicks Buch Antarctic Penguins vorgesehen. So lange jedenfalls, bis sich die Führungsetage des Britischen Museums einschaltete.

Russell durchforstete die Archive des Natural History Museum und fand zunächst keinerlei Hinweise auf den unveröffentlichten Text oder weitere Exemplare. Bis er eine handschriftliche Notiz entdeckte, die der zoologische Leiter Sidney Harmer an den obersten Vogelkundler William Ogilvie-Grant geschrieben hatte. Harmer ließ keinen Zweifel aufkommen, dass die Schilderungen über Pinguinsex nichts in Levicks Buch über die Expedition zu suchen hatten und dass von der betreffenden Passage lediglich hundert Exemplare zum internen Gebrauch gedruckt werden durften.

Russell blickt mich mit seinem ernsten Starrblick an und erklärt mir langsam und sachlich: »Harmer schreibt an Ogilvie-Grant und sagt, das muss raus, das werden wir nicht ins Buch aufnehmen.«5

Ich frage Russell, ob er mir das Original des verschollenen Manuskripts zeigen könnte. Er verschwindet in den Schatzkammern des Museums und kommt mit einem braunen Karton zurück. Er zieht das dünne Papier heraus, das abgesehen von ein paar Knicken erstaunlich gut erhalten ist und das bei seiner um ein Jahrhundert verspäteten Veröffentlichung so viel Staub aufgewirbelt hat. Bei seiner Detektivarbeit hat Russell übrigens noch ein weiteres erhaltenes Exemplar des Manuskripts entdeckt: Es steckte in den privaten Papieren zur Terra Nova-Expedition und gehörte Walter Rothschild persönlich.

Als ich Murray Levicks Buch über die Pinguine 1977 zum ersten Mal las, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass er ein Opfer der Zensur geworden sein könnte. Oder dass ich vierzig Jahre später auf der anderen Seite des Planeten in einem Büro sitzen und ein Manuskript in Händen halten würde, in dem Levick das Sexualverhalten der Adeliepinguine in derart glühenden Worten und – soweit ich das nach meiner eigenen Forschung beurteilen kann – in derart korrekten Einzelheiten beschrieb.

Das Manuskript hat leicht dunkle Ränder, die von Russells oder vielleicht sogar von Levicks Fingern stammen könnten. Ich blicke auf und sehe Russell an. Aber eigentlich sehe ich durch ihn hindurch und denke darüber nach, dass es bei meiner Suche nach Murray Levick und dem Pinguinsex auch um mich gehen wird.

Ich frage Russell, ob ich Levicks Feldaufzeichnungen sehen kann – die Kladde, in der er seine Beobachtungen über die Adeliepinguine festgehalten hat. Douglas hatte diese Aufzeichnungen in seinem Kommentar zu Levicks Aufsatz erwähnt, doch nun zögert er. »Nein«, erwidert er schließlich. Das Notizbuch befinde sich im Besitz eines Sammlers, der anonym bleiben wolle. Doch während wir uns in seinem mit Vogelgliedmaßen, Nestern, Papieren und allem möglichen anderen Kram voll gerümpelten Büro unterhalten, kommt eine Art gegenseitige Hochachtung zwischen uns beiden auf. Russell gibt zu, dass er die Aufzeichnungen gern veröffentlicht sähe. Wenn Russell die Erlaubnis dazu erhält, dann wäre es sinnvoll, wenn er einen Pinguinexperten bei der Hand hätte, der Levicks Beobachtungen interpretiert. »Hätten Sie Lust, das zu übernehmen?«, fragt er mich.

Zum Abschied verspricht mir Russell, dass er den Eigentümer kontaktieren und fragen werde, ob wir uns Levicks Aufzeichnungen gemeinsam ansehen können. Er warnt mich allerdings vor: Er könne nicht garantieren, dass seiner Anfrage Erfolg beschieden sein werde.

Ich sitze in der Bibliothek einer eleganten Wohnung im dritten Stock eines Apartmentgebäudes in einem der betuchteren Viertel Londons. Auf dem ovalen Tisch in der Mitte des Raums liegt ein blau eingeschlagenes Büchlein. Auf dem Deckel steht in ungelenken roten Lettern: Zoologische Aufzeichnungen Kap Adare, Band 1.

Es ist die Kladde, in der Murray Levick seine Beobachtungen der Pinguine von Kap Adare festgehalten hat. Soweit ich das beurteilen kann, haben in den mehr als hundert Jahren, die seit der Expedition vergangen sind, nur vier Menschen dieses Büchlein in der Hand gehalten: Levick selbst, der Gentleman, dem die Wohnung mitsamt der Büchersammlung gehört, mein Begleiter Douglas Russell und ich. Vorsichtig schlage ich das Notizbuch auf. Die Schrift ist straff, die mit Füller in schwarzblauer Tinte geschriebenen Buchstaben klein und akkurat. Willkürlich schlage ich eine Seite auf und halte die Luft an. Russell hatte mich bereits vorgewarnt: Ein Teil der Seite wurde mit Papier überklebt und mit Zeichen beschrieben, die ich auf den ersten Blick nicht entziffern kann. Es handelt sich ganz offensichtlich um griechische Lettern, doch ich kann mir keinen Reim darauf machen. Es ist eine Geheimschrift. Aus unerfindlichen Gründen wollte nicht nur Sidney Harmer diesen Teil der Aufzeichnungen vor neugierigen Blicken schützen, sondern auch Murray Levick selbst.

Aber warum? Es handelte sich doch um wissenschaftliche Aufzeichnungen, oder nicht? Beobachtungen von Pinguinen in der Antarktis? Wozu dann diese Vorsicht, wozu diese Geheimnistuerei?

Ich blicke zum Fenster hinaus. Am Himmel türmen sich graue Regenwolken auf, und ich erinnere mich an einen ähnlich grauen Tag vor fast zwanzig Jahren. An den Tag, an dem ich die beiden Pinguinmännchen beim Geschlechtsverkehr beobachtet habe.

Der Fensterladen klappert in einem Windstoß, und ich wende mich wieder der blauen Kladde vor mir zu. Unwillkürlich muss ich an den 16. Januar 1912 denken, an dem Kapitän Robert Falcon Scott die schwarze Flagge von Roald Amundsen entdeckte und einsehen musste, dass er nicht der erste Mensch am Südpol war. Dieses Büchlein ist der unumstößliche Beweis, dass Murray Levick lange vor mir die Perversionen der Pinguine beobachtet hatte. Das Merkwürdige ist nur: Wie diese Seite mit der aufgeklebten Geheimschrift vermuten lässt, wollte er seine Erkenntnisse über das Liebesleben der Pinguine lieber für sich behalten.

Warum? Das verblüfft mich noch mehr als der Beweis für Levicks Beobachtungen oder seine Täuschung. Im Grunde ist es einerlei, wer als Erster die homosexuelle Paarung der Pinguine beobachtet oder eine Flagge in einen beliebigen Eisblock rammt. Viel interessanter ist doch die Frage, was einen Mann wie Scott dazu brachte, alles für diesen Augenblick zu opfern. Und in der Stille des Raums mit seinen Hunderten von antiquarischen Büchern komme ich zu dem Schluss, dass es viel interessanter ist herauszufinden, warum Murray Levick das Liebesleben der Pinguine erst entdeckt und dann beschlossen hat, lieber darüber zu schweigen.

Ich blättere um und fotografiere eine Seite nach der anderen ab, wie ein Kriminalbeamter ein Beweisstück. Schließlich klappe ich die Kladde zu. Draußen laufen zwei Männer in wehenden Mänteln hintereinander her, doch aus dem dritten Stock kann ich nicht erkennen, ob sie vor dem drohenden Regen in Deckung gehen oder ob einer den anderen verfolgt, um ihm eine Tracht Prügel oder etwas anderes zu verpassen. Ich lege die Kamera neben das Notizbuch. Ich spüre eine sonderbare Verbundenheit zu dem rätselhaften Mann, der es geschrieben hat. Murray Levick ist für mich das, was Amundsen für Scott war. Aber wir sind nicht mehr zum selben Ziel unterwegs. Jetzt interessiert mich nicht mehr das Verhalten der Pinguine, sondern des Mannes, der sie als Erster erforscht hat.

KAPITEL DREI

Die drei Norweger

Meine Jagd auf Murray Levick gestaltet sich nicht ganz so einfach wie eine Verfolgungsjagd zu Fuß. Ich sehe ihn nicht, und er hat kaum Spuren hinterlassen. Selbst sein Ziel ist mir nicht klar. Mag sein, dass Levick der erste Pinguinforscher ist, doch schon auf den ersten Blick wird klar, dass er nicht aufgebrochen war, um Pinguine zu erforschen. Das haben wir immerhin gemeinsam. Mich haben nicht die Pinguine gelockt, sondern die Antarktis, und ich vermute, dass es Levick nicht anders ging.

Als Junge habe ich Apsley Cherry-Garrards Buch Die schlimmste Reise der Welt verschlungen. Wie Levick gehörte Cherry-Garrard der Terra Nova-Expedition von Robert Scott an. Seine Schilderungen von Heldentum und Abenteuer in der Antarktis vermittelten mir einen Ehrgeiz, den ich bis dahin nicht gekannt hatte: Nun wusste ich, dass ich nichts mehr wollte, als die Antarktis kennenzulernen. Es weckte den Hunger nach eigenen Abenteuern und den Wunsch, meinen Fuß auf den großen weißen Kontinent zu setzen, und diese Sehnsucht wuchs Jahr für Jahr wie ein gutartiges Krebsgeschwür.

1. September 1977. Auf der Südhalbkugel naht der Frühling, und ich bin ein langhaariger Doktorand der University of Canterbury in Christchurch, Neuseelands Tor zur Antarktis. Ich habe mich in Christchurch eingeschrieben, um antarktische Weddellrobben zu erforschen, doch was mich wirklich reizt, ist die Antarktis.

In den Augen eines Mittzwanzigers ist Christchurch ein ödes Nest. Doch selbst das regnerische Frühlingswetter, das auf den nasskalten Winter folgt, kann meine Stimmung nicht trüben. Der Tag meiner Abreise rückt näher. In der chaotischen Studentenbude, in der ich damals hause, könnte die Stimmung nicht besser sein. Ich packe, packe um, packe neu. Vor Aufregung kann ich kaum schlafen.

Dann der Absturz. Sechs Wochen vor Abfahrt erfahre ich, dass mein Forschungsprojekt nicht angenommen worden ist. Was nun? Ich will unbedingt in die Antarktis, und wenn die Robben mich nicht dorthin bringen, was dann? Zum ersten Mal watschelt mir der Gedanke ins Gehirn, mich mit Pinguinen zu beschäftigen.

18. Oktober 1977. Ich sitze an Bord eines Starlifters der US-Marine, eingepackt in eine dicke gelbe Daunenjacke, umringt von bärtigen Männern, die alle viel älter sind als ich. Wir fliegen zur McMurdo-Station in der Antarktis, und von da geht es für mich weiter mit dem Helikopter zur Brutkolonie der Adeliepinguine von Kap Bird auf der Ross-Insel.

Als ich nach sechs Stunden Flug aus dem kleinen runden Fenster blicke, bestaune ich ehrfürchtig die vollständig von Eis bedeckte Wildnis, aus der eine Bergkette ragt. Selbst aus zehn Kilometern Höhe kann ich die Gletscherspalten erkennen. Ein gewaltiger Gletscher, die Drygalski-Eiszunge, ragt weit ins Rossmeer hinaus, das von Millionen leuchtend weißen Eisschollen bedeckt ist und aussieht wie ein riesiges Puzzle. Mein Herz hämmert vor Vorfreude, dass ich endlich meinen Fuß auf diesen eisigen Kontinent setzen werde, auch wenn ich weiß, dass ich längst nicht der Erste bin, der den Lockruf der Antarktis vernimmt.

Wenn man bedenkt, wie groß die Antarktis ist und wie lang die Vorstellung der TerraAustralis schon durch die Köpfe der Geografen spukt, ist es eigentlich verwunderlich, dass der Kontinent erst vor zwei Jahrhunderten entdeckt wurde. Als offizieller Entdecker gilt Fabian Gottlieb von Bellingshausen, baltischer Kapitän in russischen Diensten, der die Antarktis am 28. Januar 1820 sichtete; im gleichen Jahr folgten englische und amerikanische Seefahrer.

21 Jahre später, vier Jahre nach der Krönung der jungen Königin Viktoria, führt der englische Entdecker James Clark Ross eine Expedition in die Antarktis und entdeckt das Rossmeer, die große Delle im Kontinent, die sich direkt gegenüber von Neuseeland befindet. Mit an Bord seines Schiffs HMS Erebus ist der Naturforscher Joseph Dalton Hooker, der einige Kaiserpinguine vom Meereis aufsammelt. Das zweite Schiff der Expedition, die HMS Terror, steht unter dem Kommando von Ross’ Freund Francis Crozier. Ross, Crozier und die beiden Schiffe hinterlassen ihre Namen auf den Landkarten der Antarktis und sollen mir und Levick sehr vertraut werden.

Die Insel am südlichen Ende des Rossmeers erhält den Namen Ross-Insel, und die beiden Vulkane der Insel, einer aktiv und der andere erloschen, werden Mount Erebus und Mount Terror genannt. Die Ostspitze der Insel, auf der Kaiser- und Adeliepinguine brüten, erhält den Namen Kap Crozier. Die Nordspitze wird schließlich Kap Bird getauft, nach dem Kapitänleutnant der Erebus – ein passender Name angesichts der zigtausend Adeliepinguine, die jeden Sommer hierherkommen. Kap Bird wird auch meine Heimat werden, das Ausgangslager meiner jahrzehntelangen Erforschung der Pinguine.

Wie es das Schicksal so will, hinterlassen Ross, Crozier, die Erebus und die Terror ihre Namen auch auf der Landkarte der Arktis. Kurz nach der Rückkehr aus der Antarktis im Jahr 1843 werden die beiden Schiffe nämlich dem Befehl von Sir John Franklin unterstellt, der die seit Langem gesuchte, aber bis dahin unbekannte Nordwestpassage finden soll, eine Verbindung zwischen Nordatlantik und Pazifik durch das Arktische Meer. Im Mai 1845 lichten die Erebus und die Terror in England erneut die Anker, und im September des folgenden Jahres sind sie im arktischen Eis eingeschlossen. Franklin und viele der Männer überleben die nächsten zwölf Monate nicht. Crozier übernimmt die Führung der verbleibenden Mannschaft, doch auch die hält sich nicht mehr lange. Nachdem die britische Admiralität drei Jahre lang nichts von der Expedition gehört hat, schickt sie James Clark Ross aus, um nach Franklin und seinem Freund Crozier zu suchen. Zwei Jahre dauert die Suche, doch sie bleibt erfolglos. Nachdem eine Belohnung von 20 000 Pfund ausgesetzt worden ist, machen sich weitere Expeditionen auf die Suche nach Franklin. Auf der Insel Beechey werden die Gräber von drei Angehörigen der Mannschaft gefunden, und später werden weitere Überreste auf King William Island entdeckt.

Keiner der 129 Angehörigen der Franklin-Expedition überlebte. Es ist bis heute das größte Unglück in der Geschichte der Polarforschung. Und über anderthalb Jahrhunderte später macht sie wieder Schlagzeilen.

2. September 2014. Der Eisbrecher CCGS Sir Wilfrid Laurier der kanadischen Küstenwache gleitet durch die ruhigen Gewässer des Queen Maud Gulf, inmitten einer Landschaft, die nach Königin Viktoria und der während ihrer Regentschaft durchgeführten Franklin-Expedition benannt wurde: Viktoria-Insel, Viktoria-Straße, Franklin-Straße. An Bord des Eisbrechers behalten zwei kanadische Archäologen ein Sonargerät im Auge, als sie auf ihrem Bildschirm in elf Meter Tiefe die geschwungene Form eines Schiffsrumpfs erkennen. Kein Geringerer als der kanadische Premierminister Stephen Harper selbst verkündet der Welt, dass die Expedition, die zur Suche von Franklins Schiffen ausgesandt wurde, die HMS Erebus gefunden hat. Es ist »ein wirklich wichtiger Tag«, wie er sagt.

Ich entdecke die Nachricht, als ich auf meinem Rechner im Büro die Website der BBC besuche. Gebannt starre ich auf die braunen, röntgenähnlichen Sonaraufnahmen des Videos, das den Bericht begleitet. Der Rumpf scheint intakt, nur das Heck ist zerstört; dort war die Kajüte des Kapitäns, und ich vermute, dass heute Franklins Leichnam dort liegt.

Der kanadische Premierminister schlägt poetische Töne an, als er ausführt, wie wichtig dieser Moment für die kanadische Geschichte ist. Das interessiert mich allerdings weniger. Ich freue mich darüber, was das für das südliche Ende der Welt bedeutet. Schließlich handelt es sich um das Schiff, auf dem Joseph Dalton Hooker den Kaiserpinguin mitnahm, den ich im Rothschild-Museum in Tring gesehen habe. Dieses Schiff war der Namensgeber für Mount Erebus, die prominenteste Erhebung des Teils der Antarktis, der mir zur zweiten Heimat geworden ist. Vor allem aber weckte dieses Schiff in einem jungen Mann namens Roald Amundsen den Wunsch, die Polarregionen zu erforschen, und das wiederum stieß die Ereignisse an, die Murray Levick nach Kap Adare führten. Auf den sepiafarbenen Aufnahmen erscheint es greifbar und real, obwohl es vor 166 Jahren untergegangen ist.

Es ist nicht nur für Kanada ein wichtiger Moment, sondern auch für mich.