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Santanyí, Mallorca: David, ein ausgebrannter Autor, sucht Ruhe und Erholung sowie neue Ideen. Die zufällige Bekanntschaft mit einer Künstlerin beschert ihm unerwartete Aufregungen und wirft ihn völlig aus der Bahn. Die Bildhauerin umgibt ein dunkles Geheimnis, welches sich zu lüften scheint, als er ihr näherkommt. Beide sind nun auf eine gemeinsame Feindin fixiert. Diese ist nicht nur äußerst attraktiv und empathisch, sondern stellt auch alles infrage, was David zu wissen glaubt. Welches Geheimnis verbirgt die Künstlerin? Wer ist Freund, wer Feind? Davids Gefühle gleiten ins Chaos ab. Viel zu oft flüchtet er sich in Fantasiewelten. Da braut sich unbemerkt eine tödliche Gefahr zusammen. "Das Geheimnis der Bildhauerin": Ein emotional dicht geschriebener Liebesroman voller zerbrochener Helden. Jeder für sich genommen ein psychisch Angeschlagener, wachsen sie gemeinsam über ihre Grenzen hinaus. Uns begegnen Santanyí und die Kunst der Bildhauerei, Erpressung und Blutrache. Und da ist die große Liebe eines in Tagträumen versunkenen Autors.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Santanyí, Mallorca:
David, ein ausgebrannter Autor, sucht Ruhe und Erholung sowie neue Ideen.
Die zufällige Bekanntschaft mit einer Künstlerin beschert ihm unerwartete Aufregungen und wirft ihn völlig aus der Bahn.
Die Bildhauerin umgibt ein dunkles Geheimnis, welches sich zu lüften scheint, als er ihr näherkommt. Beide sind nun auf eine gemeinsame Feindin fixiert. Diese ist nicht nur äußerst attraktiv und empathisch, sondern stellt auch alles infrage, was David zu wissen glaubt.
Welches Geheimnis verbirgt die Künstlerin? Wer ist Freund, wer Feind?
Davids Gefühle gleiten ins Chaos ab. Viel zu oft flüchtet er sich in Fantasiewelten.
Da braut sich unbemerkt eine tödliche Gefahr zusammen.
Der Autor begann bereits in frühen Jahren mit dem Schreiben von Novellen, Gedichten und Kurzgeschichten.
Im Mittelpunkt standen und stehen in erster Linie die Dinge, die nicht vordergründig ins Auge stechen. So werden die Reaktionen und Entscheidungen der Protagonisten nicht einfach erzählt, sondern tiefgründig hinterfragt. Dadurch kommt man den Akteuren sehr nah.
Der Autor bereiste über Jahre hinweg regelmäßig Vietnam, aber auch Hongkong oder Teile Spaniens, was sich in seinen Erzählungen durch detailgetreue Beschreibungen von Land und Leuten äußert.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
»Bitte hier entlang!«
Souverän hatte mich der Kellner durch die Menschenmassen hindurch an einen der letzten freien Tische geführt. Er schlängelte sich zeitweise so schnell durch die Gäste, dass ich schon befürchtete, ihn aus den Augen zu verlieren. Dankbar nickte ich ihm zu und nahm Platz.
»Eine Flasche Barriton bitte, eine Tapasplatte und Wasser.« Ich wusste genau, wonach mir war. Dazu brauchte ich keine Speisekarte zu studieren.
»Sí, venid inmediatamente!« Schon verschwand der freundliche Camarero.
Versonnen schaute ich ihm nach. Ein leichtes Kribbeln fuhr mir durch und durch. Hier im Keller der Bar de grutas in Santanyi fühlte ich mich wohl. Normalerweise suchte ich zur Entspannung keine überfüllten Lokale auf. Doch meine Kreativität war in den letzten Wochen auf den Nullpunkt gesunken, ich benötigte unbedingt eine Abwechslung, Input, neue Eindrücke. Die Auszeit, die ich mir mit einem One-Way-Ticket erkauft hatte, führte mich schließlich auf Mallorca. Für vierzehn Tage würde ich im Hostal wohnen. Danach wurde die Finca eines Bekannten frei. Dort konnte ich als Dauermieter einziehen.
Den Platz in der Bar hatte ich bereits gestern online reserviert.
Eine schwarzhaarige Bedienung servierte mir Wasser und Wein, die umfangreiche Tapasplatte reichte mir der höfliche Kellner.
»Buen apetito!«, wünschte er mir und eilte auch schon davon.
Ich war allein. Isoliert inmitten dichten Gedränges, aufgeregten Stimmengewirrs und voll besetzten Tischen. Ohne fremde Hilfe im Universum. Auf mich gestellt. Wie ich es ein Leben lang gewesen war.
Doch heute wurde es mir zum ersten Mal so richtig bewusst. Ich hatte niemanden. Weder Verwandte, die mir nahestanden, noch wirkliche Freunde.
Ach, es war schön, das Leben! Einsam, alleine, ungebunden! Ich konnte nicht begreifen, warum es mir plötzlich in der Herzgegend so stach. Weshalb meine Augen feucht wurden und die Hände so zitterten, dass sie den Wein nicht einschenken konnten.
So klappte ich erst einmal das Netbook auf und breitete mich auf dem Tisch aus. Das Essen wurde nicht kalt, zudem war ich nicht übermäßig hungrig. Warum also nicht einige Seiten schreiben? Die Menschen um mich herum boten genug Vorbilder für spannende Protagonisten.
Die Musik knallte mir in die Ohren. James de Moores ›Blues Sick and Love‹ schaffte die nötige Melancholie:
»Gib mir einen Grund
dich zu verlassen.
Gib mir einen Grund,
dich zu hassen.«
Später am Abend sollten Livekünstler auftreten, doch schon jetzt kochten die Emotionen. Nur spanische Wortfetzen drangen an mein Ohr, scheinbar war die neueröffnete Bar den Touristen noch nicht bekannt. Von oben führten steile Stufen in den Keller des Gebäudes. Alte Weinfässer stapelten sich bis an die Decke, die Wände bestanden aus dekorativem Naturstein. Einige Säulen trugen die Last des darüberliegenden Restaurants. Neben der Theke und dem Durchgang zur Küche war eine Bühne errichtet worden, Synthesizer und Drums waren bereits aufgebaut.
Ich stierte auf das Netbook. Weiß und jungfräulich höhnte mir der Bildschirm sein blasses Gesicht entgegen. Hatte ich eine Blockade? Gut, die Fertigstellung meines letzten Thrillers lag sechs Monate zurück. Seitdem hatte ich ihn immer wieder korrigiert und lektoriert. Vorige Woche konnte ich ihn endlich veröffentlichen. Hatte ich da nicht eine schöpferische Pause verdient?
Nein! Nie und nimmer! Neue Ideen kochten bereits im Unterbewusstsein, es fehlte nur der Auslöser, der passende Trigger! Hoffte ich, ihn hier zu finden? Natürlich! Minuits Menace dröhnte aus den Lautsprechern und putschte mich auf. Mit dem Vorgeschmack auf ein kulinarisches Vergnügen goss ich mir den dunkelkirschroten Barriton ein, dazu ein Glas Wasser. Die Tapas mit Käse, Schinken und gegrilltem Schweinebauch schmeckten fantastisch.
Ja – so würde es klappen! Ich vertiefte mich in das noch nicht vorhandene Manuskript und tippte entschlossen erste Sätze in den Computer.
»Mein Herr?«
Irritiert hob ich den Kopf. Der freundliche Kellner von vorhin stand fragend da.
»Ja?«
»Perdon por las molestias! Entschuldigung! Sie haben Platz para una persona?«
Jemand wollte sich an den Tisch setzen? Warum wurde ich gefragt? Es war doch nicht meine Bar! Abwesend nickte ich. »No me importa.« Ja, es war mir egal. Diesen spanischen Satz hatte ich intus. Er entsprach der Stimmung meiner jetzigen Lebensphase.
»Gracias Señor!« Und schon war der Angestellte verschwunden. Im Glauben, geträumt zu haben, widmete ich mich dem Wein und dem Neubeginn einer Geschichte auf dem Netbook, als eine tiefe Frauenstimme fragte: »Darf ich mich setzen?«
Ohne aufzublicken, nickte ich abwesend. Gerade hatte ich die einleitenden Sätze gefunden! Als würde ein Bierfass angestochen, sprudelten die Gedanken und Ideen nur so hervor. Die Finger waren viel zu langsam, um all die Worte einzutippen, die mein Innerstes plötzlich erfüllten. Die Außenwelt versank um mich herum. Das Universum und ich wurden eins.
»Señor?«
Grässlich, diese Störung! Mein Leben, mein Sein, meine Gefühle, ich versuchte es niederzuschreiben. Welche irrelevanten Belästigungen torpedierten mein Vorhaben? ›One way street‹ – wie inbrünstig Mark Lanegan gerade aus den Lautsprechern erklang!
»Señor?«
Genervt schaute ich hoch und erblickte den Kellner, wie er Gläser und Besteck in den Händen hielt.
»Sie haben Platz etwas für Señora?«
Ach ja, da saß ja jemand am Tisch. Ich hatte mich ziemlich ausgebreitet.
»Natürlich! Entschuldigung!« Immer noch verärgert über die Störung schob ich Gläser und Essen heran. Das Netbook klappte ich zusammen und legte es auf den Stuhl neben mir.
»Es tut mir leid! Ich wollte Sie nicht stören.«
Wem gehörte diese volle Stimme? Überrascht hob ich den Kopf.
»Der Kellner sagte mir, hier wäre noch frei. Alle anderen Tische sind besetzt. Ich benötige nicht viel Platz!«
Mein inneres Universum fiel in sich zusammen. Langsam holte mich die Realität ein. Die Frau gegenüber, um die Dreißig, mit langem, schwarzen Haar, rutschte verlegen auf dem Stuhl hin und her. Ich stierte sie an, keiner Antwort fähig. Ihre grauglänzenden Augen bildeten einen tiefen Kontrast zu ihren schwarzen Locken. Sie waren facettenreich wie Phenakit. Ihre Mundwinkel zog sie ein wenig nach unten, wirkte dadurch melancholisch und geheimnisvoll. Ihre vollen Lippen waren pure Lust. Jedenfalls für mich als Mann.
Die Unbekannte trug einen dunkelgrauen Pullover mit enganliegendem Kragen und einen schwarzen, knielangen Rock. Die dunkelroten T-Spangen Pumps leuchteten unter dem Tisch hervor.
Die Gefühle, die die Frau in mir hervorrief, erstickten jedes Wort. Eben erst meiner Fantasiewelt entsprungen, rutschte ich bereits in eine weitere ab! Mein Gegenüber konnte nicht real sein.
»Ich störe Sie?« Die rauchig dunkle Stimme durchdrang mühelos den Lärm in der Bar.
»Ähm … nein … Mich nicht!«, stotterte ich. Werden Fantasien Wirklichkeit? Inzwischen wurde die unterirdische Bar von Emel Mathlahoutis ›Insanity‹ erfüllt. Unwirklich, verstörend. Gab es diese Frau an meinem Tisch tatsächlich?
»Der Kellner hat mir den Platz zugewiesen. Er meinte, ansonsten wäre nichts mehr frei.«
Ihre feingliedrigen Hände hatte die Unbekannte auf die Knie ihrer überschlagenen Beine gelegt. Ihr Schmuck bestand aus einem Paar goldener Kreolen und einer Goldkette mit einem Saphiranhänger.
»Kein Problem!«, brachte ich endlich hervor. »Ich bin nur überrascht. Aber sehr froh, dass Sie Deutsch sprechen. Sind Sie Deutsche?«
»Nein. Ich stamme aus Madrid, wohne jedoch hier im Ort. Ich habe in Berlin studiert, da beherrsche ich die Sprache ein wenig.« Ihr verlegenes Lächeln jagte mir Schauer über den Rücken.
»Welchen Wein trinken Sie?« Ihre Augen schauten fragend auf die geöffnete Flasche.
»Ähm … Barriton … Möchten Sie ihn probieren?«
Statt einer Antwort winkte die Unbekannte dem Camarero und ließ sich ein Weinglas bringen.
Ich goss ihr ein. Mit zitternden Händen. Und einer tiefen Scham über meine Nervenschwäche.
»Mmh … Lecker. Den bestelle ich mir auch!«
»Trinken wir doch zusammen die Flasche!«, forderte ich sie auf.
»Gerne! Aber die nächste zahle ich!«
»Denken Sie, dass wir so viel trinken werden?« Mit einem Schmunzeln versuchte ich mich zu entkrampfen.
Statt einer Antwort trank sie genussvoll einen Schluck und winkte erneut dem Kellner. Scheinbar bestellte sie das Essen.
Schweigen. Genießen. Vorfreude auf eine ungewöhnliche Bekanntschaft.
»Sie schreiben?«
Fragend schaute ich sie an.
»Na ja, Sie saßen ganz vertieft an ihrem Laptop. So konzentriert schreibt man keine E-Mails … Geschichten schon!« Die Frau schlug die Beine in die andere Richtung übereinander. Das starke Wippen ihres in der Luft hängenden Fußes zeigte mir, dass sie keineswegs so gelassen war, wie sie vorgab.
»Sie sind eine scharfe Beobachterin!« Mein Kompliment war aufrichtig.
»Sind Sie Reporter?«
»Nein. Schriftsteller.« Jetzt kamen wieder Fragen wie: Was schreiben Sie denn? Sind Sie berühmt? Habe ich Sie schon gelesen? Oh! Ah! Ein richtiger Autor!
Mich ödeten diese Bemerkungen an. Ich war ein kleines Licht. Dass ich gut schrieb, sah man noch lange nicht an den Verkaufszahlen meiner Bücher. Wäre ich nicht vor ein paar Jahren in den Genuss einer bescheidenen Erbschaft gekommen, müsste ich immer noch in irgendeinem Büro schuften. Und abstumpfen dabei.
»Dann sind wir Künstlerkollegen.« Die rauchige Stimme meiner Tischgenossin riss mich aus den trüben Gedanken. Überrascht sah ich sie an.
»Ich bin Bildhauerin. Allerdings könnte ich davon nicht leben, eine kleine Erbschaft macht mich unabhängig.«
Mein Unterkiefer fiel herunter. Zum Glück tafelte die Kellnerin das Essen auf. Eine Tapasplatte!
»Sie nehmen dasselbe wie ich?«, fragte ich erstaunt.
»Ähm … Ja … Es sah so lecker aus … Ich bin kein Stammgast hier. Bevor ich mich durch die Speisekarte wühle …«
»Dann wünsche ich guten Appetit!«
»Danke!«
In diesem Moment betrat ein kleiner, untersetzter Mann mit Hakennase und ungepflegten, fettigen Haaren die improvisierte Bühne. Keiner beachtete ihn. Die Leute in der Kellerbar redeten durcheinander, aßen und tranken. Die flackernden Schatten der LED-Fackeln an der Wand zauberten eine intime Atmosphäre. Die brennenden Teelichter auf den Tischen waren heller als das gedimmte Licht der Deckenleuchten.
»Was sagt der Mann? Mein Spanisch ist nicht so gut …«
»Er kündigt eine Gruppe Musiker an, ich kenne sie nicht.«
»Ich hätte nicht vermutet, dass es hier sogar Livemusik gibt!«, erwiderte ich überrascht und angelte mir ein Stück des leckeren Serranoschinkens von der Olivenholzplatte. Unser Tisch stand unweit der Bar, ich hatte hervorragende Sicht auf die winzige Bühne. Mehr als das Geschehen dort interessierte mich aber die unbekannte Frau. Der Ärger über die Unterbrechung hatte sich in Luft aufgelöst. Sicher, ich hatte gerade ein neues Kapitel begonnen, war erfüllt von Inspiration und Ideen, die so lange auf sich hatten warten lassen. Der Zauber, der von der fremden Schönheit ausging, überwog jedoch um ein Vielfaches.
»Vielleicht sollten wir uns bekanntmachen?« Ich erschrak, meine Tischgenossin hatte ihr Glas erhoben und hielt es mir entgegen. Im Prinzip hatte ich nichts dagegen. Doch sollte ich mich mit realem Namen vorstellen? Ich war als Autor unter einem Pseudonym bekannt und wollte dies so beibehalten. Ihr Lächeln ließ mir keine Zeit zum Grübeln.
»Gerne. John Goodman.«
»Aitana Ruiz.«
»Ist das ihr Künstlername? Oder ihr realer Name?«
Irritierte Augen flackerten mich an. Todesangst schien mich aus ihnen anzuschreien. Sicherlich täuschte ich mich, schließlich war es hier in der Bar ziemlich dämmrig. »Ich habe keinen Künstlernamen.«
»John Goodman ist mein Autorenname, ein Pseudonym. Ich … Meinen realen Namen gebe ich nicht gerne preis.«
Schweigen. Zwei Gläser in der Luft, die darauf warteten, zum Mund geführt zu werden. Eingefroren. Kälte.
Unerwartet Bassdrums und Gitarren. Die Band hatte die Bühne betreten. Der Schlagzeuger mit Sonnenbrille und Mütze und der glatzköpfige Gitarrist eröffneten das Programm mit einem kurzen Solo. Die Sängerin betrat die Bar von einem der Hintereingänge aus und schlängelte sich durch die Tische. Auch an unserem musste sie vorbei. Dabei legte sie ihre Hand einen Moment lang auf meine Schulter, ehe sie zur Bühne schritt. Sie war groß und hager, ihre blonden Haare hatte sie lieblos hochgesteckt. Sie trug ein schulterfreies, bis zum Boden reichendes schwarzes Kleid. Die Ärmel waren übergestreift und reichten bis ans Dekolleté. Die üppige Goldimitatkette und die überlangen Ohrringe wirkten klischeehaft. Sie war keine Schönheit.
Ich wollte mich gerade wieder meiner Gesprächspartnerin zuwenden und die taktlose Antwort entschärfen, als die Stimme der Sängerin erklang. Mich schauerte. Ein Loch im Boden öffnete sich und zog mich in die Tiefe. Warum reagierte ich so sensibel auf Sprachfärbungen?
Das Lied erkannte ich sofort.
»Kennen Sie den Song?«, schoss es aus mir heraus, immer noch das Glas zum Anstoßen bereithaltend. »Das ist ›Glory Box‹!« Tatsächlich unterschied sich das Cover dieser Band kaum vom Original! Ich war begeistert.
»Mein realer Name ist David Thaler.«
Aitana zog die Mundwinkel nach unten. »Es geht doch.«
Schweigend und erleichtert trank ich einen großen Schluck. Der Wein war schwer, trotz des feinen Aromas und dezenten Geschmackes.
»Ich werde Ihr Pseudonym nicht lüften. Sie können mir vertrauen.«
»Ich weiß!« Woher ich diese Überzeugung nahm, wusste ich selbst nicht. Möglicherweise trieb mich die Musik in den Wahnsinn, denn voller Inbrunst hauchte die Sängerin gerade ›Don’t forget about me‹!
Aitana! Was für ein Name! Soeben winkte sie dem Kellner. Als ich wieder aufsah, stand eine neue Schale Oliven mit Aioli auf dem Tisch.
»Sie schreiben Krimis? Oder Romane?«
Ermüdet senkte ich die Augen. Also doch. Dieses Schubladendenken. Ich war maßlos enttäuscht. So eine fesselnde Frau sollte mehr Intelligenz besitzen. Krimis? Romane? Thriller?
»Entschuldigen Sie. War eine dumme Frage. Muss der Wein sein. Ich wollte mich nur etwas unterhalten.«
Mein befreiendes Lächeln übertrug sich auf die Frau gegenüber. Sie zeigte zum ersten Mal an diesem Abend ihre makellos weißen Zähne. Ihr Schmunzeln ermutigte mich.
»Ich schreibe kein Genre. Ich schreibe mein Herz.«
»Das kenne ich sehr gut.« Ihr Lächeln verschwand, wehmütig schloss sie einen Moment lang die Augen. »Ich nehme nie Auftragsarbeiten an.
Manchmal …« Sie stockte. »Darf ich mich etwas näher zu Ihnen setzen?«
Ich nickte und versuchte, das Jubelnde im Innern durch einen gleichgültigen Gesichtsausdruck zu verschleiern. Aitana rückte den Stuhl an meine Seite und räumte das Essen um.
»So kann ich die Bühne sehen … das Reden fällt auch leichter.« Ich musste etwas herausfinden. »Sind Sie oft abends in Bars unterwegs?«
Ihre funkelndgrauen Augen durchdrangen mich. »Ich bin nicht verheiratet. Und nein – ich bin eher selten nachts in Lokalen. Bin total solide. Selbst wenn … Muss ich Ihnen Rechenschaft geben?«
Künstler mit ihrer verdammten Sensibilität! Warum hatte ich das übersehen!
»Ich auch nicht. Weder noch.« Sie verstand meine Antwort, denn wieder blitzten ihre Zähne.
»Entschuldigung, ich habe Sie unterbrochen. Sie sprachen von Aufträgen, die Sie nicht annehmen?«
Während die Band mit ihrer charismatischen Frontfrau ›Back to the dirty town‹ performte, genoss ich Wein mit einer mir unbekannten Frau in einer fremden Bar in einem fremden Land – und fühlte mich glücklich.
»Ich will damit sagen, dass man sich nicht festlegen sollte. Aufträge bringen Geld. Aber bei mir töten sie die Kreativität. Ich muss wie Sie auf mein Herz hören. Dann habe ich Freude am Ergebnis der Arbeit!« Der Wein trank sich zunehmend leichter. Aitana widersprach nicht meinem Winken nach dem Camarero. Eine zweite Flasche des roten Goldes wanderte auf den Tisch. Leckere Käsecracker wurden vom Haus spendiert.
»Ahhm … Köstlich! Darf ich mal nach Ihnen googeln?«
Sie griff zum Handy und lachte plötzlich laut auf.
»Ist schon komisch. Sitze hier und google Sie!« Ihr Lachen klang tief und herzlich. Warm. Geborgen. Umschlungen. Vertraut. Seit Ewigkeiten gewohnt. Das melancholische ›Downtown Train‹- Cover der unbekannten Band heizte mich auf. Alles passte. Stopp! Nie stimmt alles auf der Welt! Irgendetwas ist immer faul! Da konnte etwas nicht richtig sein.
»Sie sind nicht sehr gesprächig …«
Ich roch Aitanas Körper. Sie trug ein süßes, aber leichtes Parfüm und schwitzte ein wenig, ihre Haut funkelte im Schein der Fackeln.
»Ich bin es gewohnt zu schreiben. Da kann ich mich besser ausdrücken.«
Die Sache war erledigt. Die Frau an meiner Seite schwieg und ließ mich Musik und Wein genießen. Irgendwann verschwand sie für eine Weile in den Toiletten. Fasziniert schaute ich ihr hinterher.
In meinem Kopf legten sich mehrere Schalter im gleichen Augenblick um. Mir wurde schwindlig. Verschiedenen Welten fingen mich ein. Eine davon war die meiner Protagonisten. Ich sah die Gestalten vor mir, konnte mit ihnen sprechen. Nein – sie sprachen vielmehr zu mir, ohne dass ich es wollte!
Die andere Welt war die der geheimnisvollen Bar, in der ich zufällig eine Frau getroffen hatte. Deren gesamtes Wesen, das Rätselhafte in ihren Augen und ihre Empathie warfen ein Lasso nach mir.
Und dann stand da meine Mutter vor mir, die ohne Worte, nur mit hochgezogenen Augenbrauen, ihr Missfallen zum Ausdruck brachte. Ich wusste nicht mehr, was fest war im Leben. Hatte jeglichen Halt verloren.
›Don’t worry about me‹ – ein weiteres Cover, exzellent interpretiert, schaufelte Schwermut in mein Herz. Oder war es die Abwesenheit der geheimnisvollen Unbekannten mit dem schönen Namen?
Möglicherweise war der Weinkonsum nicht unschuldig an den Gefühlen, keineswegs jedoch die Ursache.
»Da bin ich wieder! Haben Sie mich vermisst?«, scherzte Aitana, als sie zurückkam, sich neben mich setzte und die Beine übereinanderschlug.
War es der Blues, der Alkohol – oder mein wirkliches Empfinden? »Ja, sehr!« Die Antwort war unbedacht, entschlüpfte mir, als ich immer noch zwischen den Welten schwebte.
Aitana schüttelte ihre Haare nach hinten und wandte das Gesicht zur Bühne. Ich erkannte nicht, wie sie die Beichte aufnahm. Denn eine solche war es! Mein Innerstes hatte sich offenbart. Es gab kein Verstellen, keine Lüge.
Später verabschiedeten sich die Musiker unter andauernden Applaus. Der Großteil der Gäste machte sich auf den Weg nach Hause, einige würden in der nächsten Bar hängenbleiben. Aus den Lautsprechern erklangen ausgesuchte Songs, passend für eine verlorene Nacht.
»Darf ich Sie etwas fragen? Etwas Privates?« Aitanas dunkle Stimme erschreckte mich. Ich hatte alles um mich herum vergessen.
»Sie sind im Urlaub hier? Oder wohnen Sie ständig auf Mallorca?« Langsam kehrte ich in die Gegenwart zurück. Den letzten Schluck aus dem formschönen Weinglas trank ich mit großem Bedauern. Die junge Frau hatte eine komplizierte Frage gestellt. Da der Wein getrunken und das Essen verzehrt waren, gab es keinen Grund mehr, das Gespräch
hier in der Bar weiterzuführen.
Scheinbar missverstand Aitana mein Schweigen. Sie bedeutete dem Kellner, die Rechnung zu bringen.
»David, es war ein schöner Abend! Danke, dass ich hier sitzen durfte.«
»Aber … Sie … Natürlich, gerne!«, stammelte ich fassungslos.
Sie bezahlte, erhob sich und verabschiedete sich mit einem Perlenlächeln. Ihr atemberaubender Körper wiegte sich davon, die Treppen hinauf, um schließlich zu verschwinden. Die Eiszeit brach herein. Mich fror. Der Funke meines Lebens verlor sich unter den Gästen. Gelähmt saß ich da, unfähig, irgendetwas zu unternehmen.
Endlich machte es Klick in mir. Hastig winkte ich dem Kellner. Wann nur brachte er die Rechnung? Warum dauerte alles so lang? Da! Die Silberschale mit dem Kassenbon! Ich bezahlte großzügig, hängte mir die Laptoptasche um und hastete nach oben. Der kleine Platz vor der Bar de grutas lag menschenleer in der nächtlichen Dunkelheit. Santanyí schlief.
Trotz der Schwüle der Nacht fror ich. Vorbei! Was hatte ich denn erwartet? Dass die Unbekannte begeistert war über meine Unhöflichkeit und eventuell auf mich warten würde?
Ich verfluchte mich. Ständig lebte ich nur in Fantasiewelten, während die Realität so viel spannender war, reichhaltigere Gefühle bot und …
»Ein Glas Wein vertrage ich noch. Und Sie?«
Wie konnte ich nur dieses Klick-klack der Pumps überhören? Der schönste schwarze Schatten der Welt stand plötzlich neben mir. Kam näher. Eine der Laternen warf diffuses Licht auf einen atemberaubenden Körper.
Ich war nicht so! Ich war kein Aufreißer! Wenn ich etwas fühlte, hatte das eine Grundlage, nicht beeinflusst vom Aussehen! Unvermittelt sah ich einen meiner Akteure vor mir, der sich mir mit höhnischem Gesicht zuwandte. Dahinter stand meine Mutter mit ernstem Blick. Der Verstand hatte sich längst verabschiedet. Ich fiel. Niemand hielt mich auf.
Nichts war richtig, alles war falsch. Der Schatten kam zögernd näher.
Ich sah zwei graue Sterne strahlen und eine Reihe weißer Zähne funkeln.
Von aller Logik verlassen und jeglichen Verstandes beraubt, zog ich Aitana heran. Das schien sie nicht zu überraschen, denn sie umarmte mich ebenfalls fest und ließ mir keine Luft zum Atmen. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich kannte niemanden auf der Welt, der mir näherstand als sie!
Drei Stunden Bekanntschaft bildeten nie die Grundlage für solch ein Verhalten. Waren diese Frau und ich womöglich …? Ich wagte nicht, den Gedanken über Seelenverwandtschaft zu Ende zu führen.
Als wir wenig später vor dem Café Pablo ankamen, wurden wir uns ohne Worte einig: Hier kehren wir ein! Holzfässer dienten als Bartische. Wir bestellen überbackenen Toast und eine Flasche Faustino 2009.
Täuschte ich mich, oder waren es nur meine begehrlichen Fantasien? Aitanas Kleid schien kürzer geworden zu sein. Wie schade, dass sie diesen hochgeschlossenen Pullover trug! Doch ihre Wärme, der leicht harzige Duft ihrer langen Hare und ihre rauchige Stimme entschädigten für Vieles.
»Also? Warum bist du hier, David Thaler?«
»Entschuldige, ich hatte vorhin Mühe zu antworten. Ich mache keinen Urlaub, wohne aber auch nicht dauernd hier. erst mal auf unbestimmte Zeit.«
Aitana runzelte die Augenbrauen nach oben. »Sehr geheimnisvoll!«
»Nein, es ist viel profaner. Ich bin ausgebrannt, mir fehlen jegliche Ideen. So habe ich mich kurzerhand aufgemacht und lebe für ein paar Tage im Llevant in Cala Figuera.«
»Ich kenne die Pension. Von dort aus hat man einen wunderbaren Ausblick in den Hafen.«
»Kommst du mal vorbei? Ich würde mich freuen. Ich wohne im Apartment 4.2, habe sogar einen Aufzug.«
Lächelnd schenkte Aitana die Gläser ein. Das Eis war gebrochen. Während der delikate Wein unsere Sinne immer mehr berauschte, verriet die fesselnde Bildhauerin Details ihrer Arbeit. Im Gegenzug erzählte ich ihr von meinen Fantasien und Geschichten. Beide stellten wir fest, wie ähnlich wir uns waren. Allmählich kam es uns vor, als kannten wir uns ewig. Irgendwann fragte Aitana mit verführerischem Lächeln: »Gefallen dir meine Knie so sehr?«
Scheinbar stierte ich unbewusst immer wieder unter den Tisch, angezogen von der weißen Haut ihrer Beine. Ich sah keinen Grund, mich zu rechtfertigen, und antwortete kurz und knapp: »Ja! Kann mich nicht sattsehen.«
Die aufrichtige Antwort machte sie verlegen. Irritiert überschlug sie die Beine in die andere Richtung. »Normalerweise gehe ich nie in eine Bar.
Ist mir zu teuer. Und zu viele Menschen.«
»Wie kommt es, dass es heute anders war?«
Das Klappern von Geschirr durchdrang die Nacht, ab und an grölte einer der Gäste, woraufhin am Tisch schallendes Gelächter ausbrach.
Auch ich spürte die Wirkung des Alkohols.
»Ich weiß nicht. Irgendwie – mir ist die Decke auf den Kopf gefallen.«
Plötzlich lachte sie laut auf: »Habe keine Ideen zurzeit. Wie du. Wollte mir Input holen. Nun bin ich betrunken.« Mit erhobenem Zeigefinger fügte sie hinzu: »Fast. Nur fast!«
Den Rest vom Faustino goss ich mir gedankenverloren ins Glas. Aitanas Weinglas war noch halb voll.
»Wie lange ist hier geöffnet?«
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Erst jetzt fiel mir auf, wie außergewöhnlich diese war. Das weiße Zifferblatt wurde verziert von goldenen Stundeneinteilungen. Das Band schien aus Stoff zu sein, es konnte jedoch auch aus Silber bestehen. Es gab keinen Minutenzeiger, lediglich eine Kugel wanderte in einer Rille und zeigte die Stunden an.
»Nur noch dreißig Minuten. Du musst dich beeilen mit dem Trinken!«
Das bereitete mir die wenigsten Sorgen. Was mein Herz schwer machte, war der Gedanke daran, bald den außergewöhnlichsten Menschen verlassen zu müssen, der mir in den letzten Jahren begegnet war. Oder vielmehr im Leben überhaupt. Versonnen nippte ich am Glas.
»Begleitest du mich nach Hause?« Aitanas Stimme klang ernst, nicht verführerisch, nicht einladend. »Ich habe sehr viel getrunken. Bin nicht betrunken. Das darfst du nicht denken von mir. Aber es ist dunkel.
Und …«
Ehe sie noch mehr Gründe hervorkramen musste, antwortete ich schnell: »Ich gehe mit dir. Musst mir nur sagen, wo du wohnst. Und ich zahle hier, okay?«
Die grauen Augen Aitanas schauten geheimnisvoll. Ihr Mund lächelte nicht. Sie war eine reife Frau, kein Teenager. Sie konnte ihr Begehren gekonnt verbergen. Dennoch durchschaute ich sie. Und sie mich.
»Du musst mir etwas versprechen, tust du das?«, fragte sie ernst. Ich nickte nur.
Ihr Gesicht näherte sich und sie flüsterte mir ins Ohr. Ich war berauscht und gleichzeitig ernüchtert.
»Ich gebe mein Wort. Es fällt mir schwer, aber ich tue alles, was du verlangst! Ich werde dich nicht berühren, nicht mal die Hand geben, versprochen!«
Ein Schatten legte sich über ihre grauen Augen. Hätte ich ihrem Wunsch lieber widersprechen sollen?
Die Steine und das Straßenpflaster waren aufgeheizt vom vergangenen Tag. Immer noch spendeten sie Wärme und Intimität.
»Setzen wir uns ein wenig?« Aitana deutete auf eine Steinmauer.
Wir waren erst seit ein paar Minuten gelaufen. Enge Gassen umschlossen uns, warfen den Mantel von Vertrautheit über uns. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, hechtete sich die junge Frau auf die eineinhalb Meter hohe Mauer. Ich tat es ihr nach.
Der Sternenhimmel war mir fremd, er zeigte andere Sternbilder, als ich es gewohnt war. Eventuell bildete ich es mir das nur ein. Neben mir pulsierte das Leben in Form einer mir bisher unbekannten Frau. Sie vereinnahmte mich völlig, nahm Gedanken und Gefühle in Beschlag, ohne mich dabei zu bedrängen. Ich war verwirrt. Und auch wieder nicht.
»Erzähle mir deine letzte Geschichte, bitte. War es nicht eine Novelle?« Die dunkelroten Pumps schaukelten in der Dunkelheit, das Weiß ihrer Beine machte mich wahnsinnig. Nicht berühren! Versprochen ist versprochen …!
Während ich ihr von Olivia und Mario berichtete, die sich auf mysteriöse Weise in dunkler Nacht im Hafen von Cala Figuera begegneten, schlugen die Glocken von Sant Andreu erst viermal einen hohen Ton, dann zweimal tief. Es war zwei Uhr morgens!
Es dauerte nochmals eine Weile, bis ich die unglückliche Liebe der beiden Menschen zu Ende erzählt hatte. Das Wippen der Beine neben mir hatte längst aufgehört.
»Das ist nur grob zusammengefasst. Du solltest es lesen. Damit du eintauchen kannst in die Stimmung.«
»Du erzählst sehr gut!« Sie schwang sich von der Mauer, war jetzt genauso groß wie ich, der völlig versunken dasaß. Erinnerungen überrollten mich. Das war nicht gut, brachte nur Depression und Trauer!
»Dort hinten wohne ich! Carrer del Castell Nouvo 25. Kommst du?«
»Nein!«
»Nein?«
Aitana erinnerte mich skurrilerweise an einen nicht abgeholten Koffer im Flughafen. Verlassen, einsam, verloren. Gefährlich. Explosiv.
»Warum nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?«
Schweigen.
Dann ihre Stimme: »Du weinst ja!« Ihre ausgestreckte Hand verharrte in der Luft, fiel kraftlos herab. Statt mich zu berühren, schwang sie sich zurück auf die Mauer. »Okay, ich bleibe hier sitzen.«
Schweigen.
»Wie alt bist du?« Meine Taktlosigkeit war nicht mehr zu übertreffen.
»Achtundzwanzig. Warum fragst du danach?« Aitana war weder beleidigt, noch kokettierte sie.
Was sollte ich antworten? Ihre Empathie setzte eine große Lebenserfahrung voraus. Sie war reifer als eine durchschnittliche Frau in diesem Alter. Was hatte sie erlebt? Welches Geheimnis barg sie? Ich wich aus.
»Ich bin fünfunddreißig.«
»Das war nicht meine Frage!«
»Du bist mir unheimlich, weißt du das?«
»Warum?« Sie klang ehrlich überrascht.
Was sollte ich erwidern? Dass mir ihr Einfühlungsvermögen Schauer einjagte? Dass mich ihre Intelligenz und künstlerische Fantasie weit in den Schatten stellten? Dass mich ihr Körper anzog wie ein Magnet?
»Ich kann … ich darf das jetzt nicht begründen.« Schwach, ganz schwach, David!
»Ich wohne dort, am Ende der Straße!« Aitanas Arm zeigte in die Dunkelheit. »Du kannst nicht fahren, wir haben beide zu viel getrunken! Schlafe bei mir im Haus!«
Ich sprang von der Mauer, half Aitana herunter und brachte schon wieder kein Wort hervor.
»Jetzt hast du mich doch angefasst!« Bevor ich etwas erwidern konnte, umschlossen ihre Lippen meinen Mund und ich wurde Wachs unter ihren Händen. Zum Glück hatte sie die Augen geschlossen, so fiel es mir leichter, mich zu lösen.
»Ich habe versprochen, dich nicht zu berühren … unter allen Umständen! Verzeih!«
Schweigen.
Es fiel mir schwer, die schwankende Frau nicht zu stützen, sie nicht in den Arm zu nehmen.
Das letzte Haus in der Carrer del Castell Nouvo, mit der Hausnummer 25, war eine einstöckige Casa im typisch mallorquinischen Stil. Das unverschlossene Gartentor ließ uns einen kleinen Gartenweg betreten. Zur Haustüre waren es nur einige Stufen. Aitana wühlte den Hausschlüssel aus ihrer überfrachteten Handtasche und schloss auf. Die Tür stand bereits offen, als sie sich abrupt umdrehte.
»Ich vertraue dir, David Thaler! Oder John Goodman. Wie du willst! Enttäusche mich nicht!«
Wie immer brachte ich kein Wort hervor, wenn es notwendig gewesen wäre. Außerdem: Ich konnte auch weggehen! Der Mietwagen parkte irgendwo, ich hatte den Standort in meinem Handy gespeichert. Alkohol – na und? Besser, als beleidigt zu werden! Vertrauen! Bah! Musste ich mir das gefallen lassen?
Aitana hatte inzwischen das Flurlicht angeschaltet. Ihre grauen Augen blitzten angriffslustig.
»Habe dich gekränkt? Bist du eingeschnappt?« Meine Sprachlosigkeit bestätigte sie in ihrer Vermutung. »Du großes Kind, du mit deinen fünfunddreißig Jahren! Komm endlich rein!«
Ich schloss die Tür. Von innen. Und war zu Hause. Für immer. Am Ende des Tages ein ewiges Ziel erreicht!
Aitana führte mich herum. »Hier ist das Bad. Ich dusche oben. Du schläfst hier!« Damit deutete sie auf ein rotes Schlafsofa im Wohnzimmer.
Plötzlich drehte sie sich um sich selbst. Einmal. Zweimal. Dreimal. Jauchze laut auf. Ihre langen Haare flogen nur so.
»Halt! Du wirst schwindelig und ich darf dich nicht berühren, nicht auffangen!«
»Okay, ist ja gut. So betrunken bin ich nicht. Ich dusche jetzt, du auch. Wir treffen uns oben auf der Veranda. In zwanzig Minuten! Ich gebe dir Zahnbürste und Handtuch.«
Was für ein Tag! Ich war nicht aktiver als sonst gewesen. Dennoch befand ich mich hier, bei einer atemberaubenden Frau. In ihrem Zuhause.
In meinem Zuhause.
Geborgen.
Natürlich kam das alles vom reichlich genossenen Alkohol. Morgen würde die Welt wieder real sein.
Während die heißen Wasserperlen aus der Brause schossen und mir den Rücken massierten, schweiften meine Gedanken ab. Wer war die Frau, die es schaffte, mich in ihr Haus zu locken? Warum blieb stets ein geheimnisvolles Funkeln in ihren Augen? Weshalb war sie nicht verheiratet – mit diesem Körper, dieser Figur, diesem Aussehen, dieser Ausstrahlung? Wieso die Todesangst in ihren Augen, als ich nach ihrem Künstlernamen fragte?
Fragen über Fragen. Was hatte sie erlebt, um so feinfühlig zu werden?
Was hatte die Traurigkeit ihrer Mundwinkel zu bedeuten? Aus welchem Grund hatte ich das ständige Bedürfnis, sie im Arm zu halten und zu beschützen? Ich kannte sie doch kaum! Und ich kannte mich nicht mehr.
Wenig später hastete ich, frisch geduscht, mit noch nassen Haaren, hinauf in den ersten Stock. Wo war die Hausherrin? Ich wollte nicht rufen. Vorsichtig öffnete ich eine der Türen. Dunkelbraunes, schweres Holz – edel und teuer! Das Schlafzimmer! Schnell schloss ich die Tür wieder und lief zum Ende des Ganges. Beherzt trat ich ein. Ein gedimmter Deckenfluter in der hintersten Ecke erzeugte eine gespenstische Stimmung. Was mir zuerst auffiel, war ein knallrotes Sofa. Es stand als Raumteiler in der Mitte, Kommoden und ein kleiner Schrank pressten sich an die Wände. Dann fielen mir die zahlreichen außergewöhnlichen Bilder auf.
»Kommst du raus?«
Ich erschrak. Rechter Hand führte eine Tür ins Freie. Dort erkannte ich einen menschlichen Schatten. Aitana!
»Hast du dich verlaufen? So groß ist meine kleine Finca doch gar nicht!«
Ich fiel ihr gegenüber in den bequemen Sessel. »Du hast ausdrucksstarke Bilder im Wohnzimmer hängen. Ich konnte sie gar nicht richtig begutachten!«, jammerte ich.
»Du wirst noch Zeit dazu finden. Öffnest du den Allende?«
Warum überraschte es mich nicht, dass sie Wein und Tapas aufgetafelt hatte? Ich sah mir die Flasche genauer an, während ich das bereitliegende Kellnermesser auseinanderklappte. Es war ein Rioja aus dem Jahre 2010. Vierzehn Monate in Eichenfässern gereift und sicherlich nicht billig!
»Sollten wir nicht für heute aufhören zu trinken?«, fragte ich halbherzig, während ich schon den Korken zog.
»Wir haben heute noch nichts getrunken. Die zwei Flaschen waren gestern!« Ihre Augen blinzelten listig. Tja, wo sie recht hatte, hatte sie recht! Schließlich war es bereits nach Mitternacht, ein neuer Tag hatte begonnen.
»Du hast dir viel Mühe gegeben. Das sind alles ausgesuchte Leckereien!« Mein Lob war ehrlich und sie verstand es so.
Erst jetzt sah ich mir die Gastgeberin genauer an. Das Licht, welches abgeschwächt aus dem Wohnzimmer herausdrang, beleuchtete kaum die kleine Veranda. Sie hatte sich scheinbar schon bettfertig gemacht. Ihr blau-weiß-rosa gestreifter Top war bauchfrei. Die Shorts zierte eine elegante Schleife eines angedeuteten Stoffgürtels. Ihre langen, glatten schwarzen Haare hingen feucht herunter. Ich hingegen trug immer noch die kurzen Bermudas und das dunkellila karierte Hemd.
Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, das Aitana meine musternden Blicke genoss.
»Ich bin indiskret, aber ich muss etwas fragen.«
»Weshalb ich nicht verheiratet bin?«
»Woher weißt du …?« Mir wurde unheimlich zumute. Konnte sie in mein Innerstes schauen?
»Du musterst mich von oben bis unten. Da sind diese Gedanken doch naheliegend.« Eine kurze Pause, dann wieder ihre tiefe, volle Stimme:
»Du findest mich attraktiv?«
Diese Frau machte mich wahnsinnig! Schnell goss ich den Allende 2010 in die Gläser. Tiefrubinrot funkelte er im schwachen Licht.
Mein Schweigen war der empathischen Künstlerin Antwort genug. Ein glückliches Lächeln strahlte mir über dem Weinglas entgegen. »Der Wein hält nichts geheim! Alter Trinkspruch!«
»Da hast du recht!« Wie sie mir jede Peinlichkeit abnahm! Wir genossen den leckeren Tropfen, aßen einen Bissen und schwiegen. Draußen legte sich der schwarze Himmel auf einige weit entfernte Berggipfel. »Ich sehe nirgendwo Häuser. Gibt es keine Nachbarn hier?«
»Ich wohne am Ende der Straße. Hier sind nur Wiesen.«
Während ich erneut mit ihr trank, bemerkte ich, wie ihre Augen leicht flackerten. Als erlebte sie einen besonders starken Gefühlsausbruch, den es zu kaschieren galt. Eine Eruption an Emotionen, die sie geheim halten wollte. Wie war es möglich, der Frau schon nach ein paar Stunden so vertraut zu sein? Da stimmte etwas nicht! Alles in mir riet, Vorsicht walten zu lassen. »Ich weiß, du hast ein Geheimnis.«
Aitana sah mich traurig an. »Du bist zu neugierig!«
Plötzlich kam mir ein völlig anderer Gedanke. »Warum schlafe ich unten und nicht im Wohnzimmer? Hier steht eine große Couch!«
»Wenn du möchtest, gerne. Habe ich gar nicht daran gedacht.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre dichten schwarzen Haare. Mit ernstem Gesicht fragte sie: »Geht es dir darum, näher an meinem Schlafzimmer sein?«
Das war hart. Das war beleidigend. Das war – die Wahrheit!
»Ja.«