Seelen im Aufbruch - Michael Kalters - E-Book

Seelen im Aufbruch E-Book

Michael Kalters

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Beschreibung

Rainer Burghaus ist ein Genie im Beruf, doch wegen seiner ständigen Panikattacken sozial isoliert. Da lernt er die Verkäuferin Tabea kennen. Er ahnt nicht, dass sie durch einen tragischen Verlust traumatisiert ist. Zaghaft am Anfang, dann immer intensiver erkennen sie, wie gut sie sich gegenseitig tun. Beide müssen schmerzhaft ihre psychischen Grenzen überwinden, wollen sie ihrer Beziehung eine Chance geben. Die Krankenschwester Melissa sorgt zusätzlich für Verwirrung, denn sie ist attraktiv und Single - und dazu Tabeas beste Freundin. Da sorgt ein Selbstmord in der Kleinstadt für Aufsehen. Die Frauen haben den richtigen Instinkt: Es ist ein Verbrechen geschehen! Doch die wahren Ausmaße erkennen selbst sie nicht. Sorglos fliegen sie nach Vietnam in den Urlaub, nicht ahnend, dass ihr Leben in Gefahr ist. Nur Burghaus vermag sie noch retten, ist aber dabei auf die Hilfe der verführerischen Vietnamesin Mai angewiesen. Seelenstriptease und starke Emotionen lassen den Leser mitfühlen. Authentische Orte und Bräuche entführen ihn in die fernöstliche Welt.

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Seitenzahl: 629

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über den Autor:

Michael Kalters schrieb bereits im jugendlichen Alter Kurzgeschichten und Gedichte. Wohnhaft im Thüringer Wald, zog es ihn dazu immer wieder hinein in die Natur, weg vom stressigen Durcheinander menschlicher Beziehungen. Doch das änderte sich.

Menschen zu beobachten und Charaktere zu erforschen wurde immer interessanter.

Im Mittelpunkt standen und stehen in erster Linie die Dinge, die nicht vordergründig ins Auge stechen. So werden die Reaktionen und Entscheidungen der Menschen nicht einfach erzählt, sondern tiefgründig hinterfragt. Dadurch kommt man den Akteuren sehr nahe.

Der Autor bereiste über Jahre hinweg regelmäßig Vietnam, aber auch Hongkong oder Teile Spaniens, was sich in seinen Erzählungen durch detailgetreue Beschreibungen von Land und Leuten äußert.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Zwei Jahre später – die Fremde

Tabea

Die Verabredung

Ein Weinabend

Erkenntnisse

Näherkommen

Melissa

Die Rote Nase

Eine Tasse Kaffee

Das Gift

Der letzte Freund

Die Sorgen einer Krankenschwester

Abreise

Wundervoller Morgen

Sonntag, 05. Oktober

Dienstag, 07. Oktober

Suche

Männergespräch

Donnerstag, 09. Oktober

Tschaikowskys Vierte

Ermittlungen

Freitag, 10. Oktober

Aufbruch nach Cần Thơ

Kein Schlaf

Das Netz

Lohnende Überstunden

Die Einladung

Sonntag, 12. Oktober

Die Nachricht

Tage mit Tina

Mai

Dienstag, 14. Oktober

Vertrauenssache

Ly’s Morgen

Der Pakt

Thanhs großer Tag

Tanz auf dem Seil

Familie Lehmann reist ab

Ly’s Jagd beginnt

Ankunft in Saigon

Die Insel

Die Hoffnung

Aufgegeben

Die Tasche

Spuren

24. Oktober – weit weg von zu Hause

Kontakt

25. Oktober – Tag der Hoffnungen

In Bạc Liêu

Auf der Phượng Hoàng

Langes Warten

Wiedersehen

28. Oktober – ein Jahr später

Epilog

Danksagung

Vorwort

Burghaus ist ein Genie im Beruf und eine graue Maus im Privatleben. Seine Ex hatte es verstanden, ihm jegliche Würde zu stehlen. Ohne Selbstvertrauen und von Panikattacken geplagt, schleicht er durchs Leben.

Völlig unerwartet entdeckt er die Verkäuferin Tabea, die sofort sein Herz erobert. Um sie näher kennenzulernen, muss er seine psychischen Grenzen überwinden. Dass die junge Frau ebenfalls durch schreckliche Erlebnisse belastet wird, macht die Beziehung der beiden bald zu etwas ganz Besonderem.

Die beste Freundin Tabeas sorgt für verwirrte Gefühle, denn sie ist nicht nur attraktiv, sondern auch stets auf der Suche nach dem richtigen Mann.

Dann sorgt ein Selbstmord in der Kleinstadt für Aufsehen. Die Frauen haben den richtigen Instinkt: Es ist ein Verbrechen geschehen! Dass ihr bevorstehender Urlaub unmittelbar damit zu tun hat, ahnen sie jedoch nicht.

Um Schlimmeres zu verhindern, ist Burghaus auf die Hilfe der hübschen Vietnamesin Mai angewiesen. Da bekanntlich Gelegenheit Liebe macht, ist auch ihr Verhältnis zueinander bald ein ganz besonderes.

Währenddessen arbeitet Ly, eine junge Frau in Vietnam, hart und unter Gefahren für eine Menschenhändlerbande. Thanh, ihre Vertraute, geht ihr zur Hand.

Doch alles soll sich ändern!

Menschen sind kompliziert, werden durch vielfältige Einflüsse geformt und gesteuert: Erinnerungen, Erlebnisse, Wünsche, Ziele und nicht zuletzt durch Gefühle.

Ist es möglich, feste Krusten in der menschlichen Existenz aufzubrechen und neue Wege zu beschreiten? Wie wird es den Beteiligten gelingen, ihr Glück im Leben zu finden?

Eine einsame Insel im Golf von Thailand spielt dabei eine genauso große Rolle wie eine kleine Imbissbude gegenüber einem Kaufhaus. Und ein Essen im griechischen Restaurant ist hierbei ebenso wichtig wie ein Weinabend auf einer Terrasse.

Was bedeutet überhaupt wahre Freundschaft?

Eines sei verraten: Die Seelen aller Beteiligten werden aufbrechen und sich verändern. Doch kann dieser Prozess so widersprüchlich sein wie die Gefühle, die schon Catull zum Ausdruck brachte:

»Ich hasse und ich liebe – warum, fragst du vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich fühls – es kreuzigt mich!«

Prolog

Jeder Mensch auf der Erde hat seine Geschichte, und diese ist meine.

Ein Tag wie jeder seit … wer weiß schon wie lange. Immer im Juli gibt es diese trägen, verschwitzten Tage. Dieses Jahr ist es nicht anders. Unter einer dicken Dunstglocke aus abgestandener Luft und morgenfeuchten Nebelschwaden schmiegt sich das Dorf an die Hügel, als wolle es sich verstecken.

Als ich die verklebten Augenlider öffne, steht meine Entscheidung fest. Es ist eine Erleichterung, die mir ein ungewohntes Gefühl vermittelt. Nein, ich werde nichts Großartiges, Heroisches tun. Keiner wird kommen und mir danken für was auch immer. Ich bin dadurch nicht so erleichtert, als hätte ich eine schwere Krankheit überwunden oder einen vermissten Hund gefunden. Es ist nur die Art von Klarheit, die sich einstellt, wenn man sich nach tausend durchwachten Nächten endlich zu einem längst fälligen Entschluss durchringt.

Draußen rattert ein Traktor vorbei. Mein Auge zur Welt, durch dessen Holzrahmen die gelblichen Sonnenstrahlen hereinblenden, saugt die Morgenluft an und ebenfalls die alltägliche Tristheit des Dorfes: schwatzende Frauen auf dem Weg zum Alibibäcker. Es muss ja einen Grund geben, und wenn es nur die täglichen Brötchen sind, sich so früh zu treffen und hinterlistiges Gift zu verspritzen.

Ich denke an ein Gedicht von Hölderlin.

»Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog schön ihn nieder; das Laid beugt ihn gewaltiger.

So durchlauf ich des Lebens

Bogen und kehre, woher ich kam.«

Ein Schwall ekligen kalten Qualmes schleicht sich ins Schlafzimmer. Irgendein Raucher spaziert da unten vorbei. Meine Stimmung wird dadurch nicht besser, aber der Entschluss steht umso fester. Ein Hammerschlag auf den Nagel meiner Entscheidung.

Lohnt es sich noch, zu frühstücken? Ich denke schon. Eile habe ich keine mehr. Mein ignoranter, nervender Boss wird heute vergebens im Büro seinen grimmigen Blick zu meinem Arbeitstisch schweifen lassen. Eine ganze Weile wird er auf mich verzichten müssen. Ich habe die Überstunden und den Resturlaub eingefordert. Trotz allem verziehen sich meine Mundwinkel dabei nicht nach oben, so wie bei einem »Guten Morgen, Herr Nachbar« – Lächeln. Eher wie bei einem unglücklichen Versuch, einen eiternden Pickel auszudrücken.

Also gut. Bad, Morgentoilette. Rasieren. Der Spiegel präsentiert mir ein müdes Gesicht. Ich sehne mich nach einem Schlaf, der Erholung spendet. Wie war ich früher? Egal. Das ist doch jetzt unwichtig. Der Kaffee ist wichtig und meine Entscheidung. Ein Blick auf die Küchenuhr sagt mir, dass ich gut im Zeitplan liege. Es ist zehn Uhr dreißig. Der Kaffeeduft holt mich in die Wirklichkeit zurück. Während ich die warmen, mit Schweineschmalz bestrichenen Brötchen genieße und den heißen Kaffee schlürfe, holen mich wieder die Erschütterungen über jene Geschehnisse ein, die aus mir das seelische Wrack machten, was ich heute bin. Die mir in keiner Weise auch nur den Hauch einer Chance ließen. Es sind die Erinnerungen an Tina, der Frau, die mich gedemütigt hat, bis sie sogar das als zu langweilig empfand.

Heute endlich ist der Tag gekommen, an dem ich mich erhebe. Nicht etwa gegen dieses menschgewordene Folterinstrument. Ich überwinde die eigene Rücksichtnahme und Bequemlichkeit, mein Streben nach Harmonie.

Ich habe ein Haus geerbt. Die Bewerbung bei Kruschke Air in Saalstedt ist angenommen worden. Und – ich werde Tina verlassen.

Das Schmalzbrot ist verzehrt, der Kaffeepott ist leer.

Ich ziehe eine einzige Lehre aus dem, was mir widerfahren ist: Nie wieder schenke ich einer Frau mein Vertrauen!

Zwei Jahre später – die Fremde

Als er die Frau sah, verspürte er einen Tritt in den Magen. Ein existenzielles Gefühl, etwas völlig Unerklärbares. Das durfte es nicht geben. Irgendwie waren die Schwingungen aber doch real, er musste es hinnehmen.

Es gab hier im Einkaufscenter viele hübsche Verkäuferinnen, gut und chic angezogen und ebenso geschminkt. Ein einnehmendes Lächeln, das nicht mal aufgesetzt wirkte, verschönte die Gesichter und machte sie anziehend, was ja wohl auch gewollt war. Sie passten alle in dasselbe Muster: jung, schlank, freundlich, aufmerksam, etwas aufgedreht.

Das Alter der Frau war schwer zu schätzen. Er sah ihre weichen Oberarme, als sie flink die Vorhänge einer Umkleidekabine zuzog. Fraulich, reif, um die dreißig? Sie trug ein schwarzes Kleid, es reichte bis zu den Füßen, die in hohen Clogs steckten. Sie selbst hatte eine auffallend empfindlich helle Haut, nicht im Solarium behandelt. Er bemerkte keinen Ring an ihren Fingern. Ihr Gang war aufrecht, stolz und selbstbewusst. Sie war mittelgroß, hatte deutlich Oberweite und eine wunderbar frauliche Figur. Sofort war sie ihm aufgefallen! Ihre Blicke kreuzten sich einen Moment, als er so dastand, verloren im Gewimmel der Kunden. Ihre grünen Augen wirkten gelangweilt, als sie ihn ansah. Wahrscheinlich lag es an ihrer Arbeit. Musste sie nicht ständig die Kleidungsstücke aus den Umkleidekabinen wieder zurückhängen? Dabei sah sie wohl so manche biologische Absonderlichkeit. Fette Menschen, die viel zu kleine Sachen anprobierten, schweißtriefende Damen und stinkende Herren. Aber auch hübsche junge Männer, die sie angafften.

Weswegen sollte sie gerade ihm Aufmerksamkeit zeigen? Andererseits meinte er, zu erkennen, dass sie sich beim Aufhängen der verschiedenen Modeartikel absichtlich so stellte, dass sie ihn unauffällig beobachten konnte.

Ob sie jemanden hatte? Jemanden, der sie abends vom Laden mit seinem protzigen Auto abholte, sie flüchtig auf die Wange küssend? Oder vielleicht so einen alternativen Typ auf dem Fahrrad? Oder gar die Mutter mit ihrem Kind an der Hand?

Hey, es ging ihn gar nichts an. Sie waren sich fremd, welche Gedanken durchfuhren ihn nur! Doch warum sah sie immer wieder herüber? Spürte sie etwa seine Emotionen? Konnte er seine Mimik so schlecht kontrollieren? Er war auf eine Art und Weise elektrisiert von dieser Frau, die sich nicht fassen oder beschreiben ließ. Warm wurde es ihm, ja! Und angenehm und wohlig, ein Zuhause tat sich auf, ein Ruhepunkt im Strom des Lebens. Eine magnetische Strahlung ging von ihr aus. Oh nein, was war nur los mit ihm?

Was gab es jetzt zu tun? Konnte er weiter existieren, ohne sie näher kennengelernt zu haben? Natürlich ginge das. Er würde alles Prickelnde dem Alltag opfern und diesen außergewöhnlichen Menschen mit der Zeit vergessen.

Will ich das ernsthaft? Nein, das ist keineswegs möglich. Wo ist sie? Wo? Bemerkt sie meine schwitzende Stirn?

Er drehte sich vorsichtig und scheinbar zufällig um, bis er sie wieder im Blickfeld hatte. Die Frau in Schwarz steckte zwischen zwei Wäschestangen und zupfte mit geübten Griffen die Kleidung glatt, all die Blazer, Kleidchen und Röcke, die anprobiert, aber nicht für würdig befunden worden waren. Egal, vorerst musste er seine Emotionen vergewaltigen und so tun, als sei nichts gewesen. Es fiel auf, wenn er hier so herumstand. Also schlüpfte er in die Kabine und probierte einige Shirts an. Alle passten und gefielen. Gleichzeitig fasste er einen Plan. Er wollte Klarheit, er wollte sein Gefühl testen, er wollte Kontakt aufnehmen. Besonders Letzteres. Er war schon krank, es gab kein Gegenmittel, alles würde seinen Lauf nehmen. Die große silberschwarze Bahnhofsuhr, die schief über einer Kabine hing, zeigte fünfzehn Uhr dreißig. Wann war Feierabend für die Lady in Black, wie er sie nannte? Das lässt sich herausfinden!

Mit hölzernen Schritten marschierte er zur Kasse, wurde freundlich und aufmerksam bedient. Fast 70 Euro für 3 Shirts, die er nur zu Hause anziehen wollte. Egal, nun war alles egal. Es ging nicht um Geld, nicht um Kleidung. Es drehte sich um sie. Er entdeckte das Schild mit den Öffnungszeiten. Heute bis zwanzig Uhr geöffnet, die Verkäuferinnen taten ihm leid.

Zehn vor acht stand er am Eingang des Kaufhauses, erwartungsvoll und unklar in seinen Plänen. Er hatte nur spontan Präsenz zeigen wollen. Alles andere überließ er dem Lauf der Zufälle. Durch die Scheiben erkannte er nichts, sie waren mit Auslagen vollgestopft. War er bereit für eine feste Beziehung? Wollte er wirklich die Frau seines Lebens kennenlernen? Was war an seinem geordneten Alltag auszusetzen? Alles floss doch ruhig und geplant. Er wusste ja um seine Krankheit, jede Unregelmäßigkeit wirkte sich negativ auf ihn aus! Und nun?

Beinahe hätte er die Lady Black übersehen. Nur ihr Gang verriet sie. Jetzt hatte sie ein paar kurze Jeans an, ein blasspinkes Top und Sportschuhe. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, trotzdem fielen sie noch weit über die Schultern. Die Verkäuferin hatte sich von ihrer Kollegin verabschiedet und lief zügig Richtung Bushaltestelle. Diese lag zehn Minuten vom Kaufhaus entfernt. Ihre Hüften waren rund und wiegten sich hin und her. Sie schritt voller Energie, selbstbewusst und stolz vor ihm her. Alles Zweifeln hatte ein Ende. Das war sie! Nur sie berührte sein Herz. Ihr Gang, ihre Haltung, ihre Figur, ihre Selbstsicherheit – nur einmal gab es solch eine Frau. Und er hatte sie entdeckt. Doch wie ging es weiter? Er musste ihr einfach hinterherlaufen, er wollte sie sprechen, sie kontaktieren, sie einnehmen.

Am Ende des Tages wusste er die Adresse: Mühlenweg 11. Und dass sie offenbar allein wohnte, was ja noch nichts über ihren Beziehungsstatus aussagte. Am Klingelschild der kleinen Auffahrt zum Haus standen mehrere Namen. Da sich kurz nach ihrem Betreten des Mehrfamilienhauses ganz oben, unterm Dach, ein Fenster öffnete, vermutete er ihre Wohnung logischerweise im obersten Geschoss. Hier gab es nur eine Klingel. Der Name berauschte ihn sofort, als er ihn las. Nicht wegen des Namens selbst, sondern weil er ein Stück vorwärtsgekommen war. Trotz aller Planlosigkeit hatte er logisch gehandelt. Die Lady war nicht mehr anonym. Sein Leben formte sich. Er hatte den Mut aufgebracht und die tägliche Routine durchbrochen. Seine Panik besiegend war er ihr in den berstend vollen Bus gefolgt. Den Schweißausbruch, das Zittern und die Angst in einem mit Menschen gefüllten Raum hatte er auf sich genommen. Und er wurde belohnt! Jetzt wusste er ihre Adresse und ihren Namen. Und niemals würde er ihn wieder vergessen, auch nicht, wenn er auf der Heimfahrt wiederum tausend Tode im voll besetzten Bus starb. Seine Krankheit konnte das Interesse an dieser Frau nicht besiegen. Tabea, Tabea Engel.

Und immer noch kein Plan. Er fühlte sich elend. Warum fiel ihm nichts ein? Möglicherweise war sie ja schnippisch, eingebildet, geizig und intolerant. Vielleicht hatte sie aber auch ein gutes und weites Herz. Das alles musste er herausfinden. Er, Rainer Burghaus, war im Zugzwang.

Zu Hause angekommen, zog er sich erst einmal um. Die Medikamente, die in der Hemdentasche steckten, legte er auf den Nachtisch. Er hatte sie unterwegs nicht benötigt. Doch ohne sie griffbereit zu wissen, wäre er gestorben. Akribisch hängte er die Straßenkleidung an den Kleiderdiener und zog sich bequeme Hosen und eines der neuen T-Shirts über. Ein Blick zur Uhr – es war Zeit, zu Abend zu essen. Burghaus wohnte in der Siedlung am Stadtrand. Das Häuschen hatte er von den Großeltern geerbt. Es war ruhig hier, es gab keine Hauptverkehrsstraße. Allerdings gab es auch keinen großen Supermarkt in der Nähe, der die Kunden bis zweiundzwanzig Uhr mit allem versorgte. Die kleinen Tante-Emma-Läden schlossen um achtzehn Uhr – die Bürgersteige waren dann menschenleer. So blieb nur ein Blick in das Tiefkühlfach. Hier lagerte Burghaus seine wöchentlichen Einkäufe. Er brachte es gerade mal fertig, einmal pro Woche einzukaufen. Öfters traute er sich nicht in die Menschenmassen, da die Panikattacken dort nicht auszuhalten waren.

Tabea Engel.

Bebend, erschauernd dachte er an sie. Sie war doch nur ein Mensch. Bestimmt hatte sie wie alle Frauen drei Schuhschränke im Haus. Auch sie würde keine passenden Sachen zum Anziehen finden, obwohl die Schränke überquollen. Warum ausgerechnet sie? Weshalb dieses starke Gefühl? Und sie hatten nicht mal ein einziges Wort gewechselt! Hatte sie eine Piepsstimme? Oder rauchte sie – etwas, was er gar nicht ausstehen konnte?

Er hatte eine Forelle aufgetaut und würzte sie mit Salz, Pfeffer, Zitrone und Zwiebelringen. Eingewickelt in eine Aluminiumfolie steckte er sie in den kleinen Elektroofen und stellte den Timer auf 30 Minuten. In der Zwischenzeit garten die gewaschenen Kartoffeln im Schnellkochtopf. Aber bei allem war er nicht so recht bei der Sache. Seine Gedanken kreisten um sich selbst, um seine Beweggründe. Und wie er es anstellte, diese Frau kennenzulernen.

Nach dem Abendbrot wusch er mit gewohntem Widerwillen das Geschirr. Es war schon spät geworden heute. Der morgige Arbeitstag bei Kruschke Air begann halb sieben in der Frühe. Da er gut 30 Minuten von der Siedlung in Geiselberg nach Saalstedt ins Büro der Firma fahren musste, würde die Nacht nicht lang sein. Trotz allem, ein Glas Wein musste noch sein. Er holte eine Flasche Aventino aus seinem kleinen Lager. Er mochte den spanischen Tempranillo, obwohl er natürlich einen Artadi Viña Elsilber Pisón 2007 bevorzugte, diesen Rioja mit einem stolzen Flaschenpreis von 190 Euro. Aber wer kann sich das schon für den alltäglichen Weinkonsum leisten? Der Korken glitt mit einem lauten Plopp aus dem Flaschenhals. Dunkelrot, fast violett, lief der Rotwein ins Glas. Burghaus holte einen Manchego-Käse aus dem Kühlschrank, schnitt ihn in Würfel und stellte alles auf einen kleinen Beistelltisch ab.

Ein Tag verabschiedete sich. Genussvoll aß er Stück für Stück vom Schafskäse, trank den glutroten Wein und ließ die Seele baumeln. Dabei reifte ein Plan, wie er es anstellen konnte, Tabea Engel kennenzulernen. Aber der Knackpunkt, die Sollbruchstelle im ganzen Vorhaben blieben seine Nerven. Würde er da über sich hinauswachsen können?

Mittlerweile war es eine Stunde nach Mitternacht. Zwei Gläser Wein und vorzüglicher Schafskäse hatten ihn zufrieden werden lassen. Er räumte das Geschirr in die Spüle, ohne es zu waschen, schluckte seine Medikamente und schlurfte ins Bad. Rasieren konnte er sich auch nach dem Aufstehen, jetzt nur schnell ins Bett! Beim Zähneputzen nahm er sich vor, morgen eher schlafen zu gehen, wohl wissend, dass dies nie der Fall sein würde.

Burghaus stellte den Handywecker und glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der wieder mal viel zu kurz war.

°°°

Leise Musik drang durchs Zimmer. Das Smartphone las die neuesten Nachrichten vor, vermeldete das Wetter und die aktuellen Termine. Es hieß, aufzustehen. War denn die Nacht schon wieder vorbei?

Burghaus wollte sterben. So wie er jeden Morgen um diese Zeit sterben wollte und es doch nicht konnte. Schwankend erreichte er das Bad, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und wollte erneut sein Leben beschließen, als er daran dachte, dass er sich rasieren musste. Groß und übermächtig stand für ein paar Sekunden Lady Black vor ihm, als alles zusammenbrach. Jetzt war Alltag. Er musste funktionieren. Frühstücksbrote schmieren und Tasche packen wurden wichtiger als alle Gefühle der Welt. Wohnungstür verschließen, ins Auto setzen, fahren. Das war sein Leben. Zuvor hatte er schnell zwei Durchfalltabletten geschluckt, sein Magen war schon lange aus dem Ruder gelaufen.

Tabea

Geschafft! Der Tag war vorbei. Es dunkelte. Die Einsamkeit warf sich wieder einmal wie ein Mantel um ihr Herz. Das Glas Wein in ihrer Hand tröstete sie ein wenig. Das schmale Budget ließ es eigentlich nicht zu, eine so teure Flasche Rioja zu kaufen.

Allein, mit 32 Jahren.

Das war doch ab und zu einen vorzüglichen spanischen Rotwein wert? Bilder des Tages zogen an ihr vorbei, während der Geschmack von Brombeeren und Eichenfässern an ihrem Gaumen wahre Sinfonien erzeugten. Endlose Stapel von T-Shirts sah sie vor sich. Zusammenlegen, aufhängen, wieder zurücklegen. Und heute hatte sie sich außerdem beobachtet gefühlt! Ein Mann hatte dauernd zu ihr hingesehen. Versonnen schaute sie ins Glas und sah seine Augen darin. Warum musste sie an ihn denken? Weshalb in diesem Augenblick? Jetzt, wo sie doch so gerne in ihrer Einsamkeit schwelgen wollte? Sie goss nach. Wer war der Mann? Hatte er nur zufällig geschaut?

»Hehe, ich bin ja nicht unbedingt hässlich, oder?«, versuchte sie sich, Mut zu machen. Sie ließ den Blick an sich hinabgleiten. Viel sah sie da nicht, denn die üppige Brust verdeckte die Sicht auf ihren fast nicht vorhandenen Bauch. Die geraden Beine lagen auf dem Fußschemel. Unwillkürlich schmunzelte sie. Ein Mann sah nach ihr? Kann nicht sein. Blöder Tag gewesen. Lieber noch mal nachschenken. Und vergessen. Nur nicht anfangen, Fantasien nachzugehen.

Die kurze Nacht brachte dann kaum Erholung, sie bescherte absonderliche Träume, an die sie sich aber nicht mehr zu erinnern vermochte.

Tabea schaffte es gerade noch zur Busstation. Wie immer war das Aufstehen eine Qual. Zum Glück gab es gegenüber dem Kaufhaus eine Imbissbude, die einigermaßen vernünftige Gerichte anbot. Besonders lecker fand sie die vegetarischen Frikadellen. Dass sie kein Gramm Fleisch enthielten, schmeckte man nicht heraus. Sie lief zum Hintereingang des Warenhauses Kleidermode Deluxe und identifizierte sich durch ihre Chipkarte. Die Tür schwang auf und Tabea betrat ihre Arbeitswelt. Irgendwie fehlte hier immer Sauerstoff. Trotz Belüftung und Klimaanlagen war es stickig. Ein paar Kolleginnen waren schon da. Sie grüßten sich auf dem Weg zum Umkleideraum für Angestellte.

Sie öffnete ihren Spind und hängte einen Bügel mit schwarzem Kleid an die Tür. Das blaue T-Shirt mit der Aufschrift Testsieger streifte sie über den Kopf. Die Stretchjeans zog sie ebenfalls aus und legte sie oben ins Fach. Die Sportschuhe verstaute sie ganz unten. Da fiel ihr Blick mehr zufällig als gewollt auf ihr Spiegelbild gegenüber. Aus unerfindlichen Gründen stand da nämlich kein Schrank, sondern ein hoher, vom Fußboden aus bis an die Decke reichender Spiegel. Er sollte es den Damen ermöglichen, vor der Arbeit ihr Aussehen zu prüfen und nötigenfalls zu korrigieren. Tabea hatte bisher kaum diese Möglichkeit genutzt. Sie war ja oft nur für das Lager zuständig und wusste außerdem aus dem Gefühl heraus, ob ihre Kleidung saß oder nicht. Nun stand ihr da eine halb nackte Frau in blauem BH und Slip gegenüber.

»Zu dick«, murmelte Tabea vor sich hin, als sie ihre Figur im Gedanken mit der ihrer zwanzigjährigen Kolleginnen verglich. Ihre Beine waren zwar gerade, aber kräftig, die Brust fand sie sowieso zu groß. Deprimiert wandte sie sich ab und streifte das schwarze, lange Kleid über. Es war luftig und in dieser heißen Sommerzeit angenehm zu tragen. An die Clogs hatte sie sich erst gewöhnen müssen, inzwischen lief sie sicher und bequem darin. Außerdem wechselte sie nach Lust und Laune ihre Schuhe, Auswahl stand genug unten im Schrankboden. Sie liebte Schwarz, es machte schlank und entsprach ihrem Lebensgefühl. Nicht, dass sie ein pessimistischer Mensch gewesen wäre. Aber Schwarz war ihrem Alltag angepasst.

Die Haupteingangstür wurde pünktlich um acht Uhr geöffnet und die ersten Kunden strömten herein. Heute half sie bei der laufenden Inventur im Lager. Endlose Reihen und Stapel warteten darauf, eingescannt und verbucht zu werden. Wenn auch nur eine einzige Differenz auftrat – was sich niemand wünschte – würde es ein langer Abend werden. Statt eines Gläschen Rotweins in Ruhe zu Hause war dann das Suchen nach den Fehlern angesagt. Als würde das Leben davon abhängen.

Mittagspause war für Tabea heute ausnahmsweise erst um dreizehn Uhr. Sie freute sich auf Kaffee und eine Frikadelle vegetarische Art. Als sie um zwölf Uhr immer noch im Lager stand und einscannte, entging ihr der Mann, der ziellos in ihrer Abteilung herumlief und ständig suchend um sich schaute. Sie ahnte nicht, dass sich ihr Leben in der nächsten Stunde verändern würde.

Die Verabredung

Burghaus hatte sich für die Mittagspause abgemeldet und war ins Kaufhaus gefahren. Er hatte seinen ganzen Mut zusammen genommen und wollte klar Schiff machen. Er musste sich mit der Lady Black treffen. Wie groß war die Enttäuschung, als er die Frau nirgends entdeckte! Hatte sie etwa ihren freien Tag? Ja natürlich, das hätte er doch berücksichtigen müssen! Oder war sie krank? Vielleicht im Urlaub? Burghaus schaukelte sich innerlich immer mehr hoch und kämpfte mit Schweißausbrüchen, die von seinen Panikattacken herrührten.

Heute waren auffallend wenig Verkäuferinnen im Einsatz. Also gut. »Muss ich es eben später nochmals probieren!«, murmelte er vor sich hin und verließ das Geschäft. Ein unangenehmes, peinliches Gefühl beschlich ihn, als er, ohne etwas zu kaufen, an den Kassen vorbeischlich. Gleichzeitig wusste er aber, dass solche Gedanken völlig daneben waren.

Gegenüber dem Kaufhaus bemerkte er eine Imbissbude, die recht solide aussah. Er überquerte die Straße und musste dabei alle Sinne zusammennehmen, denn der Verkehr bildete hier eine dichte Lawine an Fahrzeugen. Burghaus hatte Hunger und auf der Arbeit konnte er sowieso nichts mehr essen, die Mittagspause war längst vorbei, wenn er wieder erscheinen würde. Es war ja jetzt schon kurz nach dreizehn Uhr. So stellte er sich hinten an die Schlange an und versuchte, während der Wartezeit das große Speisekartenschild zu lesen. Es gab eine reiche Auswahl an fettreichen Speisen, aber auch Hausmannskost. Schlussendlich entschied er sich dafür, einmal einen vegetarischen Klops mit Kartoffelsalat zu essen.

Vor ihm stand ein breitschultriger Glatzkopf, er bestellte sich eine Tüte Pommes und zwei Currywürste. Wieder brach leichter Schweiß aus, die Stirn sonderte salzige Tropfen ab. Mitten in einer Warteschlange zu stehen, kostete viel Überwindung. Endlich konnte er sein Essen verlangen.

»Sie meinen aber schon die Frikadellen, oder?«, meinte der Verkäufer nachsichtig lächelnd, weil Burghaus doch tatsächlich zwei Klopse bestellt hatte.

»Natürlich!«, pflichtete dieser fast schuldbewusst bei. »Ich sage halt immer Klopse zu den Frikadellen.« Diese überflüssige Bemerkung quittierte der Essensverteiler mit einem grunzenden »Ja ja.«

Burghaus entdeckte einen freien Stehtisch und marschierte schnell darauf zu, das Essen auf einem Pappteller balancierend. Neben ihm schien eine Frau die gleiche Idee zu haben. Beide rempelten sich an und murmelten ein kurzes »Tschuldigung!«, ohne sich zu beachten. Als er den Tisch erreicht hatte, stellte er seinen Teller ab und packte das Plastikgeschirr aus der Serviette.

Da fragte eine tiefe, kräftige Stimme: »Ist doch sicher noch ein Plätzchen frei?« Die Frau, mit der er eben fast kollidiert war, hatte nur den Tisch im Blickfeld und konzentrierte sich auf die Portion auf ihrem Teller.

Die nächsten Sekunden wären für einen zufälligen Beobachter der zwei Personen recht aufschlussreich gewesen. Der Mann hob den Kopf, um der Frau irgendetwas zu erwidern, ebenso sah sie ihn jetzt an.

Schweigen.

Beide stockten in ihrer Bewegung.

Die Zeit verwandelte sich in eine Masse aus Gelee.

Burghaus’ Rücken wurde klitschnass. Er dachte erst, seine Einbildungskraft würde ihn jetzt ganz und gar aus der Realität holen. Doch nein! Doch ja! Lady Black! »Hilfe, sie darf hier nicht weg!« Seine Gedanken überschlugen sich. »Was hat sie gefragt? Ob frei ist? Natürlich! Für sie doch immer!«

Er nickte nur ein paar Mal, die Augen starr auf ihr Gesicht richtend.

Tabea erschrak ebenfalls gewaltig, sie war perplex. Warum denn? Sie kannte ihn nicht! Oder? Als sie ihre Frage nach einem freien Platz aus Höflichkeit stellte, sah sie ihr Gegenüber an.

»Diese Augen! Sie sind es! Sie haben dich beobachtet! Das ist der Mann, der dir gestern Abend die Ruhe genommen hat! Hier? Was will er hier? Essen! Na klar, jeder darf hier speisen! Warum nickt er immerzu so komisch, ohne mich aus den Augen zu lassen? Ach ja, ich habe ja etwas gefragt!« Ihre Gedanken vollführten Sprünge.

Schweigen.

Ihr Herz klopfte und schrie. »Nein!«, atmete sie tief durch. »So geht es hier nicht weiter!«

»So kann es nicht weitergehen!« Burghaus überwand sich mit Urgewalt und sprach die Frau an.

»Sie haben das gleiche Menü wie ich, da ist natürlich noch ein Platz frei für Sie!« Sein Lächeln war echt, schmal, aber sympathisch.

»Sie essen gerne vegetarisch? Ich nur manchmal, diese Frikadellen zum Beispiel schmecken sehr lecker!« Tabea redete drauflos, sie hatte die Kontrolle über die Worte verloren, die ihr über die Lippen schlüpften.

»Der Verkäufer hat mich ausgelacht, weil ich Klopse bestellt hatte. Jetzt weiß ich auch, dass das Frikadellen sind.« Ihm kamen die Sätze ebenfalls nur durch sein Unterbewusstsein gesteuert hervor. Beide hatten noch keinen Bissen verzehrt, sie standen sich nur versteinert gegenüber, während ringsum Menschen und Autos herumquirlten. Wie zwei Felsen in einem Fluss waren sie in diesem Moment erstarrt.

Endlich kam zumindest Tabea ein bisschen zur Vernunft. »Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit! Lassen wir das Essen nicht kalt werden!«

»Danke, gleichfalls!«, erwiderte Burghaus wie unter Hypnose. Beiläufig nahm er ihre Hände wahr, die neben dem Pappgeschirr auf dem Tisch lagen. Was er entdeckte, versetzte ihm einen Riesenschreck. Sie trug einen Ring! Aber es sah eher nach Schmuck aus, stellte er dann beruhigt fest.

Man sollte nie die Wirkung einer guten Hausmannskost unterschätzen. Sobald beide anfingen zu essen, konnten sie wieder klarere Gedanken fassen.

Tabea war in dieser Hinsicht schneller und sagte leichthin, während sie genüsslich die Frikadelle ohne Fleisch kaute: »Ich komme oft hierher. Ich arbeite da drüben im Kaufhaus, da ist die Imbissbude recht praktisch. Sie essen wohl nur selten hier?«

Rainer Burghaus durchschaute ihre Frage. Er war nervös, aber nicht dumm. Und da er ein Mann war, der gerne alles geradlinig hatte, beschloss er, schonungslos ehrlich zu sein.

»Nein, ich komme eigentlich nie hierher. Um diese Zeit bin ich normalerweise auf Arbeit.« Ein bisschen Kartoffelsalat zwischendurch gab ihm die Möglichkeit, sich die Worte zurechtzulegen. »Ich bin, offen gesagt, nur wegen Ihnen hier. Aber ich wusste nicht, dass Sie ausgerechnet jetzt hier speisen.« Sein Hals verkrampfte sich, das Essen ließ sich schwer schlucken. Tabea hingegen war wie vom Blitz gerührt. Was erzählte denn dieser Mann? Mit Spannung hing sie an seinen Lippen und vergaß, dabei zu kauen.

»Ich kaufte in Ihrem Kaufhaus dort ein«, fuhr er fort und deutete mit dem Gesicht auf das Kleidermode Deluxe auf der anderen Straßenseite. »Es war Zufall, dass ich Sie dort gesehen habe. Ich weiß also bereits, wo Sie arbeiten.«

Tabea wurde immer unbehaglicher zumute, doch auch Burghaus fühlte sich trotz allem Glücks einfach nur elend. So nahm er allen Mut zusammen und erklärte weiter:

»Sie müssen entschuldigen. Ich besitze keine Übung darin, jemanden anzusprechen. Aber ich wollte Sie wiedersehen. Unbedingt.« Sein bedächtiges Kopfnicken bekräftigte seine Worte. »Heute waren Sie nicht da. Und wie sollte ich Sie ansprechen? Bitte«, fügte er hinzu, als er ihre immer größer werdenden Augen sah, »Haben Sie keine Angst vor mir. Ich bin kein Stalker oder so etwas.« Bist du doch!, sagte er zu sich selber. Du bist ihr hinterhergelaufen, du weißt, wo sie wohnt und wie sie heißt. Du bist ein elender Lügner! »Ich … hätte Sie nur gerne kennengelernt.«, schloss er und hoffte, dass sie ihm hier in der Öffentlichkeit keine Ohrfeige geben würde.

Tabea musste das alles erst einmal verarbeiten. Also doch!, resümierte sie, zufrieden mit ihrer Beobachtungsgabe. Ich hatte mich nicht getäuscht! Er war es, der mich beobachtet hat!

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie aggressiver als beabsichtigt.

»Ich möchte, dass Sie uns eine Chance geben, uns kennenzulernen. Eigentlich …«

»Ja? Was? Und wieso uns?«, erwiderte sie mit ihrer sonoren Stimme.

»Ich bin Rainer Burghaus, wohne hier im Ort in der Wiesenstraße 13.« Er ignorierte ihre Frage. »Ich weiß, gleich müssen Sie und ich wieder zur Arbeit. Deswegen, ich bitte Sie: Könnten Sie sich vorstellen, zu einem kleinen Weinabend zu mir zu kommen? Übermorgen, am Freitag, zwanzig Uhr?« Burghaus war plötzlich über eine Schwelle gesprungen, hatte eine innere Mauer überwunden, war selbstsicher und eloquent geworden. Diese Frau war so besonders! Sie nötigte ihn aus einer ihm nicht bekannten Ursache einhundertprozentigen Respekt ab. Er fühlte, dass er ihr vertrauen durfte. Sie würde ihn nicht ohrfeigen. Das alles bestärkte ihn, über seinen Schatten zu springen. Obwohl die Einladung, objektiv gesehen, viel zu plump und direkt war.

»Was verstehen Sie unter einem Weinabend?«, fragte sie. »Wer kommt noch und was haben Sie da vor? Und wenn schon überhaupt eine Einladung, warum nicht in einem Restaurant?« Jetzt, als Tabea diese Frage stellte, wunderte sie sich wirklich über sein Anliegen, das sie natürlich ablehnen würde.

»Ich habe Schwierigkeiten, mich unter vielen Leuten aufzuhalten. Ich leide unter Panikattacken. Deswegen lade ich Sie für ein, zwei Stunden auf ein Gläschen Wein ein. Bei mir zu Hause.«

Diese Offenheit beeindruckte Tabea, doch sie konnte sich nun wirklich nicht mit dem Gedanken anfreunden, einen fremden Mann in dessen Wohnung zu besuchen. Nicht, dass sie Angst hätte. Ach so, warum dann nicht?, hörte sie plötzlich eine innere Stimme.

»Burghaus, Wiesenstraße 13. Freitag, acht Uhr abends. Bitte, kommen Sie!«

Als er ihre zweifelnden Augen sah, fügte er aufgeregt hinzu: »Ich bin nicht darin geübt, eine Frau einzuladen.« Sein Gesicht und seine Gesten wirkten hilflos. »Ich plane nichts Schlechtes. Und wenn ich Sie damit überfallen habe, entschuldigen Sie bitte. Aber ich könnte es mir nie verzeihen, eine solch zufällige Gelegenheit wie jetzt ungenutzt verstreichen zu lassen.« Nach einer kurzen Pause wiederholte er nur: »Denken Sie bitte nicht schlecht von mir.«

»Herr Burghaus, mein Name ist Engel und ich werde es mir überlegen. Ich muss zurück zur Arbeit.«

Ihre tiefe Alt-Stimme drang direkt in Burghaus’ Herz. Solch eine Stimmlage hörte man selten. Ob sie rauchte?

»Mehr kann ich nicht erwarten.«

Sie nickte bestätigend und warf die Reste mit dem Pappteller in den Abfallkorb. Ohne sich umzudrehen, ging Tabea zur Straße, überquerte sie wie in Trance und fand sich irgendwann im Lager wieder. Wer war der Mann? Was wollte er von ihr? War sein Anliegen, seine Einladung, nicht verrückt? Im Geiste ließ sie alle Meldungen über Entführer, Vergewaltiger und sonstige dunkle Gestalten der Lokalmeldungen vor ihrem Auge vorüberziehen. Nein. Nichts, was diesen Burghaus verdächtig machte. Er hatte erklärt, dass er sie durch Zufall beim Einkaufen entdeckt hatte, dass sie sein Interesse geweckt hatte. Ob er immer so geradlinig war? Sympathisch war er ihr schon von Anfang an gewesen, das musste sie widerstrebend zugeben. Er war kein muskelbepackter Sportstyp. Sie schätzte ihn auf 35, der Kleidung nach hatte er Geschmack. Er war gut einen Kopf größer als sie, obwohl sie mit ihren 1,78m nicht klein war. Er trug eine Brille und hatte, so fand sie, ausdrucksstarke Augen. Nicht wegen der Farbe oder Form, sondern wegen einer rätselhaften Ausstrahlung. Sie konnten lustig und verschmitzt blicken, aber auch in abgrundtiefer Traurigkeit versinken.

Der Abend kam, die Arbeit hatte Tabea doch mehr mitgenommen, als sie vermutet hätte. Als sie sich zum Feierabend wieder umzog, betrachtete sie sich lange im Spiegel gegenüber ihrer Umkleide. Was fand er bloß an ihr? Soweit sie mitbekommen hatte, hatte er ihr nur ins Gesicht gesehen. Ein Lüstling schien er nicht zu sein.

°°°

Sie kam spät nach Hause. Eine leere Wohnung gähnte ihr hämisch entgegen. Sie schaltete das Licht an, lief ins Bad und machte sich für die Nacht fertig. Nach einer guten halben Stunde kam sie zurück, öffnete die angefangene Flasche Nembus, einen spanischen Rotwein und klappte das Netbook auf.

»Wiesenstraße 13«, murmelte sie laut vor sich hin. »Mal sehen, wo das liegt.« Die Adresse gab es wirklich, das war schon mal nicht gelogen. Es war ein Haus außerhalb der Stadt. Von der nächstgelegenen Busstation aus musste sie nur zehn Minuten laufen. Dann googelte sie den Namen Burghaus. Sie fand verschiedene Einträge, war sich aber nicht sicher, ob diese überhaupt etwas mit ihrem Burghaus zu tun hatten. Einen Facebookaccount hatte sie nicht, so blieb ihr die Suche dort verwehrt.

»Tabea, du bist über dreißig, da lädt dich jemand ein und du zögerst?« Sie musste wegen der Oberflächlichkeit ihrer späten Abendgedanken schmunzeln und leerte das Glas mit einem Zug.

Das letzte Gefühl vor dem Einschlafen war ein leichtes Kribbeln im Bauch und das Bewusstsein, bald einen interessanten Menschen bei einem noch interessanteren Weinabend kennenzulernen. Dann griffen die Hände aus dem Traumland nach ihr und führten sie weit weg.

Ein Weinabend

Der Abend war lau und die orangefarbene Sonne lugte durch die Äste der Kastanienbäume. Burghaus musste vor Aufregung mehrmals die Toilette besuchen. Er stellte einen kleinen Tisch auf die Terrasse. Eine lila Tischdecke bedeckte das braun lackierte Holz. Richtig vornehm sah es nun aus. Ob sein Gast überhaupt den Weg fand? Zwei Weingläser und eine Käseplatte standen bereit. Was hier passierte, sprengte seine Vorstellung, die Normalität seines Alltags. Weshalb tat er sich das an? Woher nahm er die innere Kraft, über seinen Schatten zu springen?

Tabea! Lady Black! Na klar, Hormone hatten das Sagen, er wusste das schon. Doch es war zu spät.

Ein Klingeln riss ihn aus den Gedanken. Der Blick in den Spiegel zeigte ihm einen gut gekleideten, aufgedrehten Mittdreißiger mit Tonnen von Adrenalin im Blut. Schweiß brach aus, er öffnete die Tür.

»Da bin ich!« Die kräftige, volle Stimme Tabeas schwappte zur Tür herein und bescherte Rainer Burghaus eine Gänsehaut.

»Frau Engel, treten Sie ein!« Sein Hals war trocken, das Sprechen bereitete ihm Mühe.

Sie trat vorsichtig näher und stand in einem quadratischen Flur, an dessen Wand Kopien alter Gemälde hingen, ausdrucksstark und ausgefallen. Nie zuvor hatte sie so intensiv wirkende Motive gesehen. Herr Burghaus hatte einen exklusiven Geschmack. Ihre Bedenken, den wildfremden Mann zu besuchen, zerstreuten sich zunehmend.

Burghaus’ Herz raste, sein Rücken war klitschnass. Der Atem ging flach und konnte nicht den nötigen Sauerstoff in die Lungen pumpen. Wieder mal eine Panikattacke! Alles hatte er geplant, an so vieles gedacht. Doch was jetzt? Sollte er Lady Black auffordern, ihre Schuhe gegen ein Paar bequeme Pantoffel einzutauschen? Sie fühlte sich bestimmt unwohl in den Pumps. Einer glücklichen Eingebung folgend sprach er dieses Thema aber nicht an.

»Es freut mich überaus, dass Sie kommen konnten!«

»Ich danke Ihnen für die Einladung, Herr Burghaus.« Die Altstimme Tabeas wurde von einem bezaubernden Lächeln begleitet. »Sie wohnen schön hier, abgelegen vom Straßenlärm und inmitten richtiger Natur!«

»Ich habe das Häuschen von den Großeltern geerbt, sonst würde ich irgendwo zur Miete in der Stadt wohnen müssen.« Unsicherheit umschloss ihn wie ein Krakenarm. »Kommen Sie bitte mit!«

Sie stiegen auf der breiten Wendeltreppe ins obere Stockwerk. Er lief durch das Wohnzimmer direkt zur Tür, die auf die großzügig angelegte Veranda führte.

Tabea Engel wagte einige schnelle Blicke in die Zimmer, die sie durchschritten. Es war ordentlich, aber nicht spießig. Rainer Burghaus schien kein Interesse daran zu haben, ihr die Wohnung zu zeigen. Oder mit ihr anzugeben. Denn das hätte er durchaus gekonnt! Das »Häuschen«, wie er es nannte, entpuppte sich als pure Luxuswohnung. Geschmackvoll eingerichtet, nicht protzig, eher ein bisschen intim, wie sie fand.

»Bitte, nehmen Sie Platz!«

Seine auffordernde Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. Sie hatten die Terrasse erreicht. Der Anblick, der sich ihr bot, unterdrückte jede Erwiderung. Eine himbeerrote Lichterflut durchbrach die grüne Wand der Kastanienallee und reichte bis in den Himmel, wo rote Wolken durch ein eigenartiges Farbspiel eine märchenhafte Stimmung zauberten.

Sie genoss die einmalige Aussicht auf den sich verabschiedenden Tag. Die laue Luft roch würzig nach Weiden und Klee. So saßen beide stumm, schauten aneinander vorbei in den Abend und hatten doch so unterschiedliche Gefühle dabei.

Tabea fühlte sich angeregt und erfrischt und ergötzte sich an der herrlichen Abenddämmerung. Natürlich schlummerte in ihrem Innern immer noch ein nicht unerhebliches Misstrauen. Burghaus hingegen kämpfte gegen heftige Depressionen an, Schwermut durchflutete seinen Geist. Es war ein Sonnenuntergang, ein weiteres Sterben, ein Abschied, eine Auflösung. Gleichzeitig genoss er die Traurigkeit. Und er war nicht allein! Seine Lady in Black war zu Gast! Er durfte nicht seinen Gefühlen nachgeben. Das Adrenalin pulste überdosiert durch seinen Körper. Erst jetzt fiel ihm auf, wie vornehm sich Tabea gekleidet hatte. Ihre schwarz-roten Haare glänzten. Die dunkle, enge Bluse war am Kragen und an der Knopfleiste mit Nieten besetzt und weit aufgeknöpft. Ihre Haut hingegen wirkte blass und zerbrechlich, hatte etwas von Porzellan. Da bemerkte er den Ring an ihrem rechten Ringfinger. Es war ein Silberring, der auf der Oberseite in sich selbst verschlungene Schleifen aufwies und mit Zirkoniasteinen besetzt war. Außergewöhnlich – doch mit Sicherheit kein Ehering! Die langen Haare hatte sie hochgesteckt. Dadurch wirkte ihr Gesicht jugendlich und frech. Die schwarzen Jeans lagen eng an und betonten ihre frauliche Figur. Rainer konnte es an nichts Bestimmten festmachen, doch er verfiel ihr zusehends.

Langsam wendete Tabea den Kopf und sah ihn direkt an. Grünen Augen, geheimnisvoll und klar, schauten den Mann an, der es fertiggebracht hatte, sie in eine fremde Wohnung zu locken. Das markante Gesicht hatte sie von Anfang an fasziniert. Die braunen Augen mit den übergroßen schwarzen Pupillen vermittelten Ruhe und Geborgenheit. Er war groß. Nicht schlank, aber auch nicht mit Bierbauch. Da gab es noch etwas, was sie nicht zu deuten wusste und sie faszinierte.

»Ich freue mich so sehr, dass Sie gekommen sind!« Seine Augen strahlten ein aufrichtiges Feuer. »Ich vermag mich nicht so ausdrücken, ich bin nicht so viel unter Menschen.«

Ihr Nicken ließ die hochgesteckten Haarspitzen hüpfen. Nach einem langen Blick in den feuerroten Himmel seufzte sie tief auf.

»Ich hatte große Bedenken, und es fiel mir nicht leicht. Doch mittlerweile gefällt es mir bei Ihnen. Es ist beruhigend hier. Trinken wir etwas zusammen?«

Dass das auch geplant war, verrieten die zwei Gläser auf dem Tisch sowie die abgedeckte Käseplatte.

Burghaus wurde rot. »Natürlich. Er atmet schon.« Dass er damit den bereitgestellten Wein in der Küche meinte, musste man erahnen.

Tabea lächelte in sich hinein. »Was ist es denn für Wein?«, rief sie ihm hinterher.

»Ein Izadi Selección Reserva 2006.«

»Sie bevorzugen spanische Weine?«, fragte sie erfreut.

»Ja, normalerweise schon!«

Er kam mit der geöffneten Flasche zurück und goss das rote Gold vorsichtig in die Stielkelche. Tabea bemerkte sein Zittern und die Schweißperlen auf seiner Stirn. Sie hob langsam das Glas und schaute ihm direkt in die Augen.

»Trinken wir auf den ersten gemeinsamen Weinabend?« Ihre kräftige Altstimme, untypisch für eine Frau, jagte ihm Schauer über den Rücken.

»Stoßen wir darauf an, dass es nicht der Einzige bleiben wird!«

Sie verharrte einen Augenblick, sog den Geruch des Weines ein. Ihre vollen Lippen saugten sich an das Glas, sogen einen winzigen Schluck ein. Der dunkelkirschrote Rioja hatte einen kräftigen Tanningeschmack, die Reifung in Fässern aus französischer Eiche ließ sein Bouquet lang anhaltend und elegant werden. Fast rauchig im Geschmack entfaltete er sein ganzes Aroma und wirkte äußerst betörend. Sie genoss den edlen Tropfen mit allen Sinnen. Selbst würde sie ihn sich nie leisten können.

»Oh, der ist aber besonders! Er schmeckt wirklich gut!«, rief sie begeistert aus.

Er spießte sich ein Käsehäppchen auf und riet: »Sie müssen ein Stück Manchego dazu essen, das verstärkt das Bukett noch!« Es überkam ihn ein Gefühl, als wäre er ein Seemann und nach langer Fahrt endlich in den heimatlichen Hafen eingelaufen. Ruhe verdrängte die Panik in ihm.

Tabea spürte die Kraft des Alkohols. Schnell griff sie zu einem Happen, genoss das exquisite Aroma des spanischen Schafskäses und musterte Burghaus verstohlen. Dieser schaute versunken hinaus in die Kastanienallee. Er hatte ein markantes Profil. Sein Haarschnitt war völlig out. Die Koteletten waren lang und im Genick rollten sich die Haarspitzen nach außen. Er trug ein lilafarbenes, kariertes Hemd und dunkle, weinrote Hosen. Die Kombination wirkte extravagant, aber keineswegs geschmacklos.

Burghaus dreht sich zu ihr herum und musterte sie direkt, fast schon unverschämt. Seine Brillengläser dämpften nicht den Ausdruck der großen braunen Pupillen. Tabea wich seinem Blick nicht aus. Wie sie diese Augen fesselten! Sie war sehr angetan davon, dass er ihr statt ins großzügige Dekolleté lieber ins Gesicht schaute.

»Ich freue mich wirklich außerordentlich, dass Sie meine Einkladung angenommen haben.« Seine Stimme klang müde, fand sie. Ihr Weinglas war fast leer, sie spürte schon, wie der Alkohol wirkte. Aber es war ein angenehmes Gefühl, es verbreitete Wärme und regte den Geist an.

»Was denken Sie über mich?«, fragte er. »Na ja, ich meine, sie werden bestimmt nicht öfters von wildfremden Männern eingeladen?« Er stockte, als er merkte, dass sie diese Frage auch durchaus als Beleidigung auffassen konnte. »Entschuldigen Sie, aber ich möchte ehrlich zu Ihnen sein.«

»Ja?«

Burghaus wollte die innere Mauer nicht aufrechterhalten, nicht dieser Frau gegenüber. Irgendjemand sollte den Anfang machen, musste die Gelegenheit ergreifen.

»Ich arbeite bei Kruschke Air in Saalstedt, dort bin ich verantwortlich für die EDV-Anlagen. Zufällig entdeckte ich Sie zwischen den Tausenden Klamotten, als ich neue T-Shirts suchte. Ich spreche nicht gleich jede Frau an, denken Sie das bitte nicht von mir. Trinken Sie noch einen Schluck?« Schon goss er ihr nach.

»Danke«

»Außerdem leide ich unter Panikattacken, sobald mich viele Menschen umgeben. Wenn ich in der Masse feststecke, drehe ich durch. Wie in Ihrem Kaufhaus. Oder im Bus. Mittlerweile vermag ich, darüber zu reden.« Er sah gedankenverloren an Tabea vorbei. »Sie haben sicher bemerkt, wie meine Hände zittern.« Es war keine Frage. »Wenn ich nervlich unter Stress bin, na ja, was soll ich’s leugnen. Dann spielen die Nerven einfach verrückt. Urteilen Sie bitte deshalb nicht vorschnell über mich.« Sein Blick wanderte hilfesuchend zu ihr. Konnte sie ihn verstehen?

Tabea war sprachlos. Sie, die so stabil erschien, erkannte sich immer mehr in Rainer Burghaus’ Worten. Hatte sie doch eine schwierige Zeit durchlebt, die schon fast vergessen schien. Und jetzt wieder hervorbrach. Sie trank einen S »Nein, ich denke nicht schlecht über Sie, Sie sind äußerst angenehm für mich. Und ich verstehe Sie sehr gut.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie sichtlich mühsam fort: »Wir sind nur Menschen. Ich habe auch – na ja, Probleme mit mir. Doch der heutige Abend ist zu schön für solche Überlegungen. Und ist morgen nicht Samstag, ein freier Tag? Also lassen wir die trüben Gedanken.« Tabea spielte nervös an ihrem Ring. Etwas brannte ihr auf der Seele.

»Ich schätze Ihre Offenheit. Ehrlich gesagt … Ich war im Zweifel, ob es angebracht war, hierher zu kommen. Gut, dass ich meine Bedenken überwunden habe!«

Burghaus konnte seine Freude darüber nicht verbergen. Ermutigt fragte er: »Welche Musik hören Sie gerne? Keine Angst, ich lass die Anlage aus!« Dabei deutete er auf die Stereoanlage im dahinterliegenden Wohnzimmer.

»Weshalb fragen Sie danach?«

»Sehen Sie, die Musik sagt viel über uns aus!« Er suchte nach den richtigen Worten. »Ich meine, es wäre schön, wenn wir außer der Liebe zum spanischen Wein noch eine andere Gemeinsamkeit hätten. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Sie müssen nicht antworten, es geht mich ja nichts an.« Er nahm einen Schluck Rioja und sah ihn die Ferne, der versunkenen Sonne hinterher. »Ich höre vieles. Mittelalter, Klassik, Jazz, Blues … sogar Zwölfton.« Lächelnd wandte er sich ihr wieder zu. »Eben wie Stimmung und Gelegenheit aufeinandertreffen.«

Sein Lächeln entspannte Tabea wieder. »Im Kaufhaus spielen sie dauernd seichte Schlager. Die nehme ich schon gar nicht mehr wahr.« Ein Schluck aus dem Weinglas unterbrach ihre Antwort. »Wenn Sie mich so fragen: Klassik höre ich nur bedingt, zum Beispiel Bach und Chorwerke von Verdi. So richtig entspanne ich bei chinesischer Musik.« Das preiszugeben, war ihr peinlich. Unsicher starrte sie hinaus ins Dunkel, welches die glutrote Sonne schon lange vertrieben hatte.

Burghaus hatte einen siebten Sinn für die Gefühle andere. So drang er nicht weiter in sie, stellte aber mit großer Genugtuung fest, dass auch er sehr gern Musik aus China hörte.

Es war inzwischen halb zehn, der Himmel schwarz bis auf einem roten Streif am Horizont. Die Temperatur war merklich abgefallen, es zog Feuchtigkeit auf. Die Wiesen verströmten einen intensiven Erdgeruch. Es wurde still.

»Es ist kühl. Möchten Sie lieber drin sitzen?«, fragte er. »Ich kann aber auch eine Decke holen!«

Tabeas Augen schauten ihn groß an. Welcher Mann bietet einer Frau schon eine Decke an? Dass er ihre Jacke hätte holen wollen, wäre ihr noch in den Sinn gekommen. »Eine Decke? Warum nicht. Die frische Luft tut gut.« Sie fühlte sich auf der Terrasse wohler als im geschlossenen Zimmer.

Burghaus verschwand kurz und kam mit einer braunen Kuscheldecke zurück. Für sich hatte er eine Fleecejacke mitgebracht.

»Beugen Sie sich mal nach vorn?«

Tabea gehorchte und er legte ihr die Decke über den Rücken.

»Okay! Mummeln Sie sich ein. Nicht, dass Sie sich erkälten.« So ganz ernst schienen seine Worte aber nicht gemeint. Das war ihr recht, denn sie hasste es, bemuttert zu werden. Er zog die orangenfarbene Fleecejacke über, die so gar nicht zur übrigen Kleidung passte. Tabea lächelte im Innern. Männer!

»Wie gefällt Ihnen Ihr Job?«, fragte sie unvermittelt.

Burghaus sah sie aus seinen großen braunen Augen an. »Es geht. Ich befürchte, wenn ich jetzt anfange zu erzählen, rede ich nur noch über Computer. Aber es gibt Schlimmeres.« Dass ihm die stressige Beschäftigung regelmäßig im Herbst und Frühjahr eine heftige Magenschleimhautentzündung einbrachte, verschwieg er. Außerdem – er durfte sowieso nicht über die Tätigkeit bei Kruschke-Air reden.

»Und Sie? Wünschen Sie sich nicht manchmal heraus aus dem Kaufhaus?«

Tabea schluckte »Ja!«, wollte sie schreien. Aber was ging das diesem Rainer Burghaus an? Es war ihr Leben. Welches Recht hatte er eigentlich? Da bemerkte sie, dass sie ihm unrecht tat. Hatte er sich doch nur nach ihrer Tätigkeit erkundigt. Tabeas Gedankengänge dauerten wohl schon zu lange, sodass Burghaus nachhakte.

»Ich frage nur, weil ich gesehen habe, was Sie da so machen. Und ich halte Sie …« Er wurde knallrot, »… für eine intelligente, sensible Frau. Na ja, die Arbeit muss ja sein. Aber … ob … ich denke …«, verhaspelte er sich vollends und schwieg resigniert.

Tabea verstand ihn nur zu gut. War sie so leicht zu durchschauen? Wie vermochte dieser fremde Mann, so in ihre Gefühlswelt einzudringen? Sie hasste ihre Tätigkeit. Wenn sie wenigstens Kunden hätte bedienen dürfen. Aufräumen, was andere liegen ließen, ab und zu mal Inventur und Warenannahme, das wars dann schon.

»Der Abend ist so angenehm. Haben Sie noch ein Schlückchen?«

Burghaus schenkte sich und Tabea ein. Die Flasche wurde leer. Er hatte die junge Frau verstanden. Sie schwiegen. Fühlten sich wohl dabei. Nach einer Weile ertönte wieder die tiefe Stimme Tabeas, etwas leiser als sonst.

»So ein Weinabend mit Ihnen ist sehr schön. Sie müssen wissen, dass ich öfters zu Hause sitze, mir einen Wein gönne und dazu lese. Es beruhigt mich. Dann kann ich nachdenken und entspannen. Ich nehme es Ihnen auch nicht mehr übel, dass Sie in mein privates Umfeld eingedrungen sind.« Als sie seine erhobenen Augenbrauen staunen sah, fügte sie schnell hinzu; »Na ja, ich wusste doch nicht, wer Sie sind!«

Da griffen ihre Hände in ihr hochgestecktes Haar, lösten den Knoten und entfernten die Spange, die auf dem Tisch landete. Volle, rötlich-schwarze Strähnen fielen ihr bis über die Schultern. Er nahm deren Geruch wahr. Eine wohlige Wärme strahlte diese Frau aus, emotional und körperlich.

»Wissen Sie, ich trage mein Haar lieber offen, nicht wie auf der Arbeit …« Sicherlich hatte der Wein etwas nachgeholfen. »Ich denke, jetzt kann ich auf das verzichten.«

Er spürte, dass sie sich langsam heimisch fühlte. »Was unternehmen Sie morgen?«, fragte er.

Tabea überlegte kurz. »Ich schlafe erst einmal richtig aus, dann muss ich sauber machen, Einkaufen gehen, kochen, Wäsche machen.« Ein Hochziehen der Brauen und Verdrehen ihrer grünen Augen verriet nur allzu deutlich, wie ungern sie das alles tat.

»Stört es Ihren Tagesablauf, wenn Sie abends zum Griechen eingeladen werden würden?« Hoffnungsvolle Augenpaare schauten Tabea an.

»Wird das etwa ein Date?«, lachte sie. Dann fügte sie ernster hinzu: »Es würde mich sehr freuen. Aber nur …«, sie überlegte einen Augenblick, » … falls ich Sie im Gegenzug dafür in die Rote Nase einladen darf. Sonntag, einundzwanzig Uhr?«

Er wusste, die Rote Nase war ein uriges Weinlokal abseits vom Zentrum. »Einverstanden. Gerne! Ich gebe Ihnen hier meine Karte wegen der Telefonnummer und E-Mail. Na ja, ich benötige sie sonst nur dienstlich. Aber manchmal sind sie auch privat nützlich.«

Tabea schrieb ihre Handynummer auf einen Zettel, den sie mitsamt dem Stift aus der Handtasche gekramt hatte.

»Ich darf Sie abholen?«, fragte Burghaus.

Tabea nickte lächelnd und erhob sich. »Es war ein schöner Abend! Ich danke Ihnen sehr. Aber ich muss jetzt gehen, mein Bus fährt in zwanzig Minuten.« Als sie sah, dass er etwas erwidern wollte, fügte sie schnell hinzu: »Ich nehme den Bus, okay?« Ihr Okay hatte für Burghaus den erotischsten Klang, den er jemals gehört hatte. Es schaffte eine verschwörerische Verbindung zwischen beiden. Tabea merkte davon nichts.

Steif stand er auf und geleitete sie zur Tür nach unten, nachdem er ihr die Decke abgenommen hatte. Wortlos nahm er ihre Jacke vom Haken. So ein dünner Stofffetzen war keine Kleidung, die wirklich wärmte.

»Auf Wiedersehen und vielen Dank fürs Kommen!« Er sah ihr direkt in die grünlich schimmernden Augen.

»Bis morgen! Ich erwarte Ihren Anruf.« In Tabea stieg urplötzlich das Verlangen auf, diesen Mann zum Abschied zu umarmen. Aber er hielt ihr schon die Hand mit dem dünnen Jäckchen entgegen. Doch ihr spanisches Temperament war durch den genossenen Alkohol und der Abendstimmung geweckt worden. Ehe Burghaus es sich versah, hauchte sie ihm einen Kuss auf die linke Wange. Die Bartstoppeln kitzelten auf ihren Lippen.

Als sich die Wohnungstür schloss, blieb ein erfrischendes Gefühl zurück. Jemand war in sein Leben getreten, Weichen wurden gestellt, Veränderungen würden die Zukunft bestimmen. In Hochstimmung und gleichzeitiger tiefer Traurigkeit räumte er die Terrasse auf, lief ins Bad, machte sich bettfertig und legte sich schlafen. Lange lag er wach und sah Tabeas Gesicht vor sich. Ob es ihr ebenfalls so ging?

Erkenntnisse

Er hatte äußerst unruhig geschlafen. Es war ihm ein Kribbeln und Jucken unter die Haut gefahren. Immer wieder wälzte er sich herum. Um acht stand er auf, war wie durch einen Fleischwolf gedreht. Wieso hatte er versucht, seinem Leben eine andere Richtung zu geben? Was sollte das alles? Musste diese zusätzliche Aufregung denn sein? Dann verteidigte er sich mit dem Gedanken, dass man einen so guten und teuren Wein, wie er ihn gestern serviert hatte, unmöglich alleine trinken konnte. Nein! Dieses Vergnügen musste man mit einem Menschen teilen, der das zu schätzen wusste. Wie Tabea Engel.

Er wurde sich bewusst, wie wirr seine Überlegungen waren. Deprimiert schlich er ins Bad. Beim Rasieren schauten ihn tief liegende Augen an. Kritisch musterte er sich im Spiegel. Die Haare wirkten verwahrlost, sie hatten dringend einen ordentlichen Schnitt nötig. Das Barthaarsprießte bereits üppig. Nur einen Tag ohne Rasur, und er hatte den schönsten Drei-Tage-Bart. Während Burghaus den Rasierschaum mit dem Pinsel verteilte, dachte er daran, dass es heute ein aufregender Tag für ihn werden würde. So wurde er langsam wach.

Wie an jedem Morgen brühte er sich einen riesigen Pott Kaffee. Er schüttete zwei gehäufte Teelöffel Coffee Chon, eine vietnamesische Spezialität, in den Metallfilter und setzte ihn auf die Tasse. Das sprudelnd kochende Wasser entlockte dem schwarzen Pulver einen unwiderstehlichen Geruch. Jetzt konnte er sein Gehirn zum Laufen bringen.

Er hatte es geschafft, Kontakt mit dieser Frau aufzunehmen. Warum hatte er das gewollt? Die Frage verwarf er sofort wieder. Lady Black wollte und musste er kennenlernen. Das war ein Fixum. Unabänderlich. Seine Augen sahen unbestimmt in die Ferne und sein Mund lächelte, ohne dass er sich dessen bewusst wurde. Seine Gefühle ihr gegenüber mussten schon sehr stark sein, wenn er es wagte, sie trotz seiner Phobien zum Essen einzuladen.

Die Medikamente schluckte er mit Kaffee hinunter. Er hoffte, die Nerven würden heute Abend nicht verrücktspielen. Stets hatte er in seiner Hemdentasche einen Steifen Diazepam sowie Tabletten gegen Durchfall bei sich. Krampfanfälle hatte er schon lange nicht mehr bekommen. Aber oft stand es auf Messers Schneide. So wie ein Krabbeln in der Nase einem Niesen vorausgeht, so spürte er oft unangekündigt die Vorboten eines Anfalles. Dann wurde Burghaus zu einer erbärmlichen Figur, schwitzend und panisch. Starkes Zittern und elementare Existenzängste erfassten sein gesamtes Sein. In jenen Momenten elektrisierte ihn elektrischer Strom, der seine linke Körperhälfte unter Kontrolle bringen wollte. Äußerlich war nichts zu erkennen. Innerlich starb er tausend schmerzhafte Tode. Diese Krankheit hatte sein ganzes Leben geprägt. Sie setzte ihm Grenzen, die ein gesunder Mensch nicht kannte und nie zu verstehen in der Lage war. So fiel es ihm unheimlich schwer, nach draußen zu gehen. Alles außerhalb der als schützend empfundenen Wohnung war verletzend und bedrohlich. Theater, Kino, Schwimmhalle, Restaurants – das waren Orte, die er hasste. Und doch hatte er Tabea eingeladen!

Was hatte er überhaupt vor? Strebte er eine dauerhafte Beziehung mit ihr an? Wie würde sich sein Leben verändern? Im selben Moment, in dem er sich diese Fragen stellte, verachtete er sein geradliniges Denkmuster. Nichts war entschieden! Er wollte einfach nur diese Frau mit der geheimnisvollen Ausstrahlung kennenlernen. Erst einmal nur das! Doch er war ein Mensch der Logik.

Eine Erinnerung überfiel ihn völlig unvorbereitet. Die Gegenwart löste sich auf und der Zeitbrunnen verschluckte ihn. Ihm schwindelte. Vergangene Geschehnisse brachen sich ihren Weg. So plastisch und überdeutlich stand alles wieder vor seinen Augen.

Im Alter von sieben Jahren bekam er einen Metallbaukasten geschenkt. Viele flache Metallleisten, gleichmäßig gelocht, verschiedene Winkel und Schienen bildeten das Sortiment. Achsen, Räder und vier Millimeter Schrauben vervollständigten die Ausrüstung. Schraubenzieher und zwei Schraubenschlüssel gehörten genauso dazu. Alles konnte er exakt verschrauben, im Winkel anordnen. Bis später Kunststoffteile hinzukamen. Er hasste diese Bauteile, die man verbiegen musste, um sie als Dach oder Motorhaube verbauen zu können. Nein, das war nicht nach seinem Charakter, lief seinem ganzen Wesen zuwider. Er liebte klare Verhältnisse, fest im Winkel, berechenbar.

Als er an diesem Morgen so dasaß, dreißig Jahre später, wurde er sich dessen erst richtig bewusst. Sein Ich öffnete sich ihm mit einer hässlichen Fratze. Wollte er ständig alles geordnet haben im Leben? Nur Routine ohne Abwechslung? War dies der Halt, der ihn aus den Panikzuständen heraushalf?

Bis heute liebte er Geradlinigkeit. Das war nicht immer von Vorteil für ihn. Wo sich andere durch ellenlanges Plappern profilierten, fanden seine knappen Worte kaum Gehör, obwohl sie die gleiche Aussage hatten. Und da war noch etwas: Wie stand es mit der Bereitschaft, ein Risiko einzugehen?

Wut kochte in ihm hoch. Über sich, sein Leben, seine Unfähigkeiten, seine Panik. Am hellen Tag mit offenen Augen flüchtete er sich in Fantasien, die sich nur ihm erschlossen. Burghaus konnte sich seit seiner Kindheit eine Traumwelt erschaffen, die für ihn immer dann die Realität ersetzte, wenn es nicht so lief, wie er wollte. Jetzt, mit 36 Jahren, hatte er das natürlich überwunden. Oder?

Der Kaffee war leer getrunken.

Entschlossen nahm er sein Handy und reservierte beim Griechen am Rothschildplatz einen Tisch für zwei Personen.

Näherkommen

Der Alltag holte Tabea schnell wieder ein. Hausarbeit, die Fahrt zum Supermarkt, all das erledigen, was die gesamte Woche über aufgeschoben worden war. Und doch war heute alles anders. Sie hatte ein Date! Würde seit gefühlten Ewigkeiten zum ersten Mal wieder mit einem Mann ausgehen! Was für ein warmes, prickelndes, gutes Gefühl sie erfüllte.

Als dann achtzehn Uhr das Handy klingelte, war sie doch überrascht. Was, schon so spät? Sie wischte sich schnell ihre vom Aufwasch nassen Hände an den Jeans ab. Ihr Herz klopfte.

»Ja, hier Tabea Engel?«

»Hallo, ich hier. Äh, Rainer Burghaus. Wann darf ich Sie abholen? Ich habe auf zwanzig Uhr reserviert.«

»In einer Stunde. Geht das okay?«

»Gut, bis neunzehn Uhr!«

»Bis gleich!«

Tabea legte auf. Eine Stunde. Nur sechzig Minuten. Das ging so nicht! Nie zu schaffen! Steif stand sie da, konnte sich nicht rühren. Endlich schlich sie automatengleich zur Spüle, wusch in Zeitlupe den Rest des Geschirrs, ließ das Wasser heraus und trocknete sich die Hände. Das beruhigte sie. Sie war ins Restaurant eingeladen worden, na und? Aber ein Mann lud sie ein, Burghaus! Die Verabredung drehte sich doch nicht um ein Essen.

Sie duschte. Dann eilte sie splitternackt ins Schlafzimmer. Ein großer Schrank, der viele Möglichkeiten bot, stand vor ihr. Was nur sollte sie anziehen? Hosen, Rock oder Kleid? Sie mochte sich nicht herausputzen, wollte so natürlich sein, wie sie es liebte.

Dreißßig Minuten später klingelte es. Tabea nahm den Hörer der Sprechanlage ab.

»Hallo?«

»Ja! Ich bin es. Ich stehe am Gartentor!«

»Kommen Sie kurz herauf? Ich wohne ganz oben!«

Das Schloss der Gartentür summte, Burghaus drückte aufgeregt dagegen. Warum kam sie nicht herunter, sondern lud ihn in ihre Wohnung ein? Die Haustür war verschlossen. Sollte er nochmals klingeln? Da hörte er schon das Summen, öffnete die Tür und trat ins Haus. Er stürzte die Betontreppen hoch.

Im Treppenhaus fiel ihm die Frische und Sauberkeit auf, kein aufdringliches Bohnerwachs erinnerte an spießige Verhältnisse. Die Wohnungstür stand einen Spaltbreit offen. Sein Keuchen musste drinnen zu hören sein.

»Kommen Sie herein!«

Eine Wohnung und deren Einrichtung sagt viel über einen Menschen aus. Rainer Burghaus war gespannt, was ihn erwartete und trat ein. Ein leicht süßlicher Duft empfing ihn. Er mochte kein Parfüm, aber diesen Geruch konnte er mehr als akzeptieren. Der kleine quadratische Flur war zweckmäßig eingerichtet. Ein großer Schuhschrank und eine Tiefkühltruhe füllten den Platz fast vollständig aus. An der Wand hingen ein paar Kleidungsstücke, Boleros, Blousons und ein dünner Anorak. Er erkannte die Jacke wieder, die sie bei ihrem Besuch.

»Hallo!« Tabea trat mit einem strahlenden Lächeln durch die Tür. »Kann ich so gehen?« Herausfordernd drehte sie sich einmal um sich selbst. Sie trug ein schwarzes, langärmliges Kleid mit einem dunkelblauen Muster aus kleinen und großen Kreisen. Knielang hatte er eine klar strukturierte Linie, war dabei äußerst feminin, was durch den leichten Drapage-Effekt an der Seite betont wurde.

»Sie sehen extrem vornehm aus.« Ohne künstliche Scham musterte er sie von unten bis oben. Er konnte nicht anders. Sie hatte ihr rotbraunes Haar hochgesteckt. Ihr Gesicht mit den unergründlich grünen Augen wurde durch ihre Frisur noch betont. Ihr tiefes Dekolleté zierte eine Goldkette mit einem extravaganten würfelförmigen Anhänger, in dessen Mitte ein kleiner Edelstein funkelte. Der dazu passende Silberring mit den sich umgreifenden Schlaufen steckte an ihrem linken Ringfinger. Welche Bedeutung sie der Einladung beimessen musste!

Er selbst trug einen dunkelblauen Blazer zur schwarzen Jeans. Hätte er vielleicht doch zum Sakko greifen sollen?

»Möchten Sie kurz meine bescheidene Wohnung sehen, bevor wir aufbrechen?«