Zwillingsbande - unschuldig gefangen - Michael Kalters - E-Book

Zwillingsbande - unschuldig gefangen E-Book

Michael Kalters

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Beschreibung

"Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." Der geheimnisvolle Mann liebte es, mit diesen Worten geweckt zu werden. Katharina auf Mallorca, Judith in Deutschland - die Zwillinge sind auf Gedeih und Verderben miteinander verbunden. Ihre gegenseitige Abhängigkeit sperrt jeden Fremden aus ihren Leben aus. Dabei sind die Frauen äußerst attraktiv! Das fällt Alex sofort auf, als er auf der Insel Ruhe und Erholung sucht. Sein Hotel liegt ausgerechnet neben Katharinas Eisladen! Schnell entwickeln beide tiefe Gefühle zueinander. Da geschieht das Unfassbare: Ihre über alles geliebte Schwester Judith - eine renommierte Psychologin - verschwindet spurlos! Und mit ihr unersetzliche Forschungsergebnisse! Liebe und Zweifel, Freundschaft und Verbrechen prallen aufeinander.

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Seitenzahl: 982

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über den Autor:

Michael Kalters schrieb bereits im jugendlichen Alter Kurzgeschichten und Gedichte. Wohnhaft im Thüringer Wald zog es ihn dazu immer wieder hinein in die Natur, weg vom stressigen Durcheinander menschlicher Beziehungen. Doch das änderte sich.

Charaktere zu erforschen wurde immer interessanter. So konnte der Roman »Seelen im Aufbruch« oder die Kurzgeschichte »Olivia- die Gestalt unter der Laterne« entstehen. Reaktionen und Entscheidungen von Menschen werden nicht einfach erzählt, sondern tiefgründig hinterfragt. Dadurch kommt man den Akteuren sehr nahe, denn in einigen wird man sich selbst erkennen.

Der Autor bereiste über Jahre hinweg regelmäßig Vietnam, aber auch Hongkong oder Teile Spaniens, was sich in seinen Erzählungen durch detailgetreue Beschreibungen von Land und Leuten äußert, wie zum Beispiel in den Romanen »Das Geheimnis der Bildhauerin« und »Seelen im Aufbruch«.

Inhaltsverzeichnis

Freitag

Erste Sitzung

Montag

Überraschende Einladung

Der Besuch

Zweite Sitzung

Ahnungen

Dienstag

Ein langer Tag

Vorbereitungen

Ein Gespräch

Dunkle Wolken

Bei Alex

Die Entführung

Albtraum

Mittwoch

Eskalation

Im Labyrinth gefangen

Trauthoffs Wahn

Spurensuche

Erwachen in Erdendorf

Alles auf null

Trauthoffs Qualen

Das Gefängnis

Der Schock

Dr. Schäfers Einsichten

Nachmittag – die Ermittler

Die Alte

Der Kommissar

Nachmittag – Mallorca

Kein Ausweg

Ein Kakao im Café Pablo

Judiths Idee

Die alte Dame

Patientenbesuch

Donnerstag

Zweite Nacht im Gefängnis

Schlaflose Krankenschwester

Alex’ Gewissen

Gebet einer alten Frau

Das Verhör

Der Ehrgeiz einer Ärztin

Das Bild in der Akte

Mittag, Mallorca

Zermürbung

Instinkte

Der Versuch

Die Suche

Selbstanalyse

Katharinas Krankheit

Paulas Wesen

Ohne Kraft

Philipps Vorsatz

Die Verbindung

Im Labyrinth

Zusammenbruch

Erster Kontakt

Der Zusammenbruch

Das Team im Einsatz

Paulas Nacht

Freitag

Lähmung

Katharinas Entlassung

Besuch am Abend

Katharinas Geheimnis

Samstag

Paulas Sehnsucht

Alex und Katharina

Auschecken aus Llevant

Alaró

Wieder zu Hause

Trauthoff

Burghaus

Flucht

Der Überfall

Philipp

Hilfe von Freunden

Katharinas Einladung

Frauengespräche

Samstag Abend, Geiselberg

Samstag Abend, Mallorca

Mitternacht, Geiselberg

Santanyi

Sonntag

Das Gespräch

Der gestohlene Laptop

Judith und Philipp

Trauthoffs Geheimnisse

Nachmittag Portocolom

Langer Abschied

Zurück nach Deutschland

Montag

Mitternacht, Geiselberg

Tabea und Judith

Ankunft in Deutschland

Das gastfreundliche Haus

Wiedersehen!

Umsorgt

Katharina trifft Melissa

Ein aufschlussreicher Nachmittag

Montag Abend, verwirrte Gefühle

Dienstag

Dr. Rautes Abschied

Der Plan der Frauen

Der erste Streit

Vertrauensfragen

Nicht allein

Verluste

Verwirrte Gefühle

Santanyí – Paulas Schmerz

Katharinas neue Liebe

Nacht über Santanyí

Liebe, Freundschaft und Probleme

Mittwoch

Paulas Morgen

Zerwürfnis

Partnertausch mit Folgen

Zarte Bande

Nachtspaziergang

Samstag

Die Abreise

Geiselberg

Die Wende

Grenzenlos

Einen Sommer später

Judiths Auszeichnung

Beste Freunde – oder mehr?

Katharinas Rückkehr

Unter dem Himmel nur Wahrheit

Freitag

Erste Sitzung

Der Mann, der ins Zimmer trat, war mittelgroß, untersetzt und trug einen Bürstenschnitt. Die Psychologin holte tief Luft und begrüßte ihren Patienten mit einem aufgesetzten Lächeln.

»Guten Tag, Herr Trauthoff! Schön, dass Sie hier sind.«

»Hallo, Frau Doktor!« Seine zum Gruß ausgestreckte Hand war glitschig.

»Nehmen Sie Platz!« Dr. Weidhaus deutete auf den riesigen schwarzen Ledersessel in der Ecke des Raumes gegenüber dem Fenster.

Mit Befremden hatte die junge Therapeutin die Überstellung des Patienten in ihre Praxis aufgenommen. Ihrer Meinung nach gehörte er in stationäre Behandlung. Doch ihre ehemalige Chefin Dr. Raute würde ihre Gründe haben.

Der Mann setzte sich zögernd. Möchte nur wissen, was ich hier soll! Warum haben die mich hierhergeschickt? Psychiater waren ihm suspekt. Zum Glück verlangte sie nicht von ihm, sich auf eine Couch zu legen! Er starrte die junge Ärztin an. Da kommt die Dr. Raute nicht mehr mit! Die hier ist ja echt gut gewachsen!

»Also, am Besten wird sein, wir stellen uns erst einmal vor. Mein Name ist Doktor Weidhaus.«

»Ich bin Werner Trauthoff, wohne in Erdendorf.«

Sein Atem geriet durcheinander. Die Arme lagen wie gefesselt auf den Lehnen des schwarzen Ledersessels, die Füße standen steif nebeneinander auf den Boden.

»Was denken Sie: Warum wurden Sie hierher überwiesen?«

»Ich war in Königsläutern im Krankenhaus zur Behandlung. Von dorther erhalte ich meine Medikamente.« Der Patient wurde redselig, wirkte jedoch, als verlese er einen Nachrichtentext.

»Welche Arzneimittel bekommen Sie verschrieben?« Dr. Weidhaus blätterte in den Akten.

Als ob sie das nicht weiß! Trauthoff kochte innerlich. Nach außen blieb er ohne Regung. »Diazepam und …« Er überlegte krampfhaft. »Warten Sie, ich glaube, es ist Aripiprazol.«

»Wie hoch ist die Dosierung des Diazepams?«

»Früh und abends jeweils eine Tablette. Wenn es mir schlecht geht, auch mal zwei.«

»Wie fühlen Sie sich heute?« Dr. Weidhaus setzte sich ihm gegenüber in einem alten, graugelben Stoffsessel.

»Normal«, log Trauthoff.

Die Ärztin nahm die Wasserflasche, die auf dem kleinen Beistelltisch stand, goss zwei Gläser voll und machte mit einer Geste klar, dass ihr Patient jederzeit zugreifen könne.

»Gut, ich rede nicht lange drum herum. Lassen Sie uns einfach ein bisschen plaudern.«

Aha, so läuft das hier! Wie alt wird die Schönheit sein? Fünfunddreißig? Aber ohne Arztkittel! Ist mir recht, solche endlosen Beine passen gut in die knallenge Jeans. Und unter dem weiten T-Shirt hat sie ja auch einiges zu bieten!

Er sah sie plötzlich mit ihrer tadellosen Figur und ihrem hübschen Gesicht hinter einer Bar stehen. Sie lächelte ihn an, stellte einen Drink vor ihm ab und hauchte: »Komm! Lass uns ein wenig plaudern. Ich bin so heiß auf dich. Sag, wer bist du?« Stoßweise hetzte sein feuchter Atem aus den Lungen.

Dr. Weidhaus kritzelte in ihren kleinen Schreibblock herum und sah ihn auffordernd an. Der Patient heftete seinen starren Blick auf die weißen Hautstreifen, die zwischen Jeans und Schuh hervorlugten.

»Wissen Sie, ich wohne auf dem Dorf. Da ist nichts los. Kaum einer kennt es. Oder waren Sie schon einmal in Erdendorf?« Er schaute sein aufreizendes Gegenüber mit den roten Locken an. Leichtes Kopfschütteln.

Während der Mann berichtete, schweiften die Gedanken der Ärztin weit ab. Sie dachte an jemand ganz anderen. Jemanden, ohne dem ihr Leben unmöglich war.

»Na ja, das Dorf hat ja nichts zu bieten. Wir werden von Geiselberg aus verwaltet. Aber ein echt uriges Wirtshaus schmückt das Dorfzentrum. Das ist der Erlkönig, mein Gasthaus!« Der Stolz aus seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Ich wurde in diesem Nest geboren. Mit der Schulzeit fing eine schreckliche Zeit für mich an. Jeden Morgen um halb sieben fuhr der Schulbus nach Geiselberg und nahm eine Horde müder, unausgeschlafener Kinder mit sich mit. Ich wurde in der Schule nur gehänselt. Heute sagt man ja Mobbing dazu.« Angewidert verzog er das Gesicht. »Alles hatte seine feste, unverrückbare Ordnung. Der Wecker klingelte, die Mutter kam und rief flüchtig in mein Zimmer: ›Aufstehen!‹ Das Frühstück stand auf dem Tisch, meist gab es Haferflocken oder ähnliches Getreide mit Milch und Honig.«

Dr. Weidhaus starrte in eine unbestimmbare Ferne. Was sollte sie mit diesem Mann anfangen? Er gehörte nicht in ihre Therapiestunde! Andererseits liebte sie ihren Job. Es reizte sie, sich in andere hineinzuversetzen und ihnen psychische und psychologische Hilfe anzubieten. Möglicherweise hatten die frühen Kindheitserlebnisse den Patienten zu dem geformt, was er heute war? Sie bemühte sich, seinen Ausführungen wieder zu folgen.

»Die Toilette stand als Holzhäuschen mit einem Herzfenster in der Tür mitten im Hof. An die schreckliche Kälte im Winter und den Gestank im Sommer hatte ich mich gewöhnt.«

Judith Weidhaus schüttelte es innerlich, als sie sich vorstellte, so ein Plumpsklo aufzusuchen. Unter den Augen der Nachbarn! Widerlich.

Der Mann wurde zunehmend wütender, als er über die vielfältigen ausgeklügelten Methoden der Mitschüler berichtete, die nur darauf aus waren, ihn zu mobben.

Dr. Weidhaus unterbrach ihn nicht, sondern nickte nur. Ab und zu trank sie einen Schluck. Es war warm im Zimmer. Auch der Patient griff zum Glas. Er hustete ein paar Mal, da er sich vor Aufregung ständig verschluckte. Seine Hände zitterten und hatten Mühe, das Wasser nicht zu verschütten. Die junge Psychologin hörte ihrem Gegenüber mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Gerade hatte sie sich ›häuslichen Frieden vorgaukeln‹ notiert. Darauf würde sie noch eingehen – später.

Sein Plauderton hätte jeden anderen irregeführt. Nicht so aber Frau Dr. Weidhaus! Sie als ausgebildete und erfahrene Psychologin vernahm mehr als das gesagte Wort. Etwas stimmte ganz und gar nicht mit diesem Mann. Lügen verbargen sich gekonnt hinter Wahrheiten. Sie schätzte ihn als äußerst intelligent ein – und er war ein gefährlicher Schauspieler. Den Bezug zur Realität hatte er verloren. Stattdessen schien er sich in seiner eigenen zerrissenen Welt aufzuhalten. Wie dem auch war, für heute war die Sitzung zu Ende.

Herr Trauthoff hatte nochmals zum Wasserglas gegriffen. Sein schweißnasses Gesicht drückte Verachtung und Unlust aus.

Sie stand auf. Ihr Lächeln war professionell. »Für heute belaste ich Sie nicht länger, die Zeit ist schon um. Wir sehen uns wieder am Montagnachmittag.«

Der Mann stakste unsicher zum Ausgang und drehte nur kurz den Kopf. »Bis zum nächsten Mal.«

Die Tür schloss sich und eine angenehme Stille verbreitete sich im Therapieraum. Judith riss das Fenster auf. Unverbrauchte Luft wagte den Weg ins Zimmer. Erfrischender Amselgesang drang vom Kirschbaum vor dem Haus herüber. Ganz im Gegensatz dazu kam sich die Psychologin erbärmlich und unwürdig vor. Sie ließ sich in den Sessel fallen und starrte ins Nichts. Ihre Gedanken trieben ohne jede Kontrolle. Es war ihre eigene, individuelle Art, ein Problem zu untersuchen.

Der Tag war nicht freundlich zu ihr gewesen. Wichtige Unterlagen – Anfänge ihrer Forschungsarbeit – waren aus dem Krankenhaus verschwunden. Sie hatte die ersten Ansätze zu ihrer bahnbrechenden Forschung über Komapatienten zwar auf dem Laptop gespeichert. Warum jedoch waren die ausgedruckten Seiten nicht mehr auffindbar?

Dann war da noch etwas sehr Persönliches.

Wie sie ihre Schwester vermisste! Der letzte Chat mit ihr lag einen ganzen Tag zurück. Wie mochte es ihr gehen? Ob sie sich auf Mallorca auch so verlassen fühlte wie sie hier in Deutschland?

Wehmut lähmte ihr Herz. Der bittere Geschmack im Mund ließ sich nicht mit Wasser hinunterspülen.

Montag

Überraschende Einladung

Der Tag glühte. Gleißende Sonne heizte das Land auf. Es gab nirgends ein Entkommen aus dieser Hitze. Nur die Schatten der Häuser in den schmalen Straßen Cala Figueras spendeten etwas Kühle. Die wenigen Touristen in der Fußgängerzone am Hafen waren erschöpft. Am Eisladen herrschte Hochbetrieb.

Alex überlegte, ob er das Appartement überhaupt verlassen sollte. Er war kein Sonnenanbeter, eher ein Kellerkind. Angeblich war es ja gesund, sich der Sonne auszusetzen. Also beschloss er, am zweiten Urlaubstag endlich die Umgebung näher kennenzulernen. Nachdem er sich gründlich mit Sonnencreme eingerieben hatte, setzte er den Strohhut auf und verließ seine Unterkunft. Grelles Licht hüllte ihn sofort ein, als er die Straße betrat.

Direkt neben dem Eingang des Appartements Llevant lag eine kleine Eisdiele. Warum nicht erst in Ruhe ein frisches Orangeneis genießen? Eine englischsprachige Familie mit ihren drei Sprösslingen hatte dieselbe Idee gehabt und stand nun vor ihm an der Theke. Während die Kinder glücklich ihre Waffeln mit den Eiskugeln in den Händen hielten, blieb Alex Zeit, sich etwas umzuschauen. Sein Atem stockte, als sein Blick auf die Eisverkäuferin fiel.

Es war nicht allein ihre ausgesprochene Schönheit, die ihm weiche Knie bescherte. Er hatte solch ein Gefühl nie zuvor wahrgenommen. Es kribbelte am ganzen Körper, der Magen rumorte. Unendliche Traurigkeit befiel ihn, dass er von dieser Frau getrennt leben musste, sie nicht kannte, nicht ihr Freund war. Sie hatte ihn kurz mit ihren katzengrünen Augen gestreift. Dabei kam er sich vor wie ein kleines Kind. Hilflos, verloren im Universum. Unlogisch, irrational, aber real! Der IT-Forensiker, bisher nur durch Logik beherrscht, fand keine Ursache für sein Gefühl. Chemie? Hormone? Eine psychische Störung?

Die Verkäuferin mochte in den Dreißigern sein und war nur einen halben Kopf kleiner als er. Ihre ganze Haltung verriet Stolz und Würde. Sie bediente sehr zuvorkommend und schenkte den Kunden ein aufrichtiges Lächeln. Die rotbraune Lockenpracht fiel ihr weit über die Schultern.

Die englischsprachige Familie gab den Platz frei und zog Richtung Fußgängerzone davon.

»Orange. Bitte. Zwei Kugeln.« Alex formulierte seinen Wunsch übertrieben langsam und untermalte die Worte mit reichlich Gesten.

»Im Becher oder mit Waffel?«

»Oh, Sie sprechen aber gut Deutsch!«

»Ich bin Deutsche«, lächelte die Frau.

»Ah, Entschuldigung. Im Becher bitte.« Er war verwirrt und neugierig. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Kommt darauf an, was es ist!«, schmunzelte sie.

Der schüchterne Alex träumte davon, bald auf einer Insel wie Mallorca zu wohnen und den Lebensunterhalt dort zu verdienen. Also fasste er Mut.

»Wie ist es möglich, dass Sie als Deutsche hier arbeiten können? Leben Sie dauernd hier?« Über seine eigene Dreistigkeit überrascht, fügte er schnell hinzu: »Entschuldigung! Ich bin indiskret.«

Die Frau musterte ihn einen Augenblick lang intensiv mit ihren grünen Augen, wobei ihre Hände reflexartig das gewünschte Eis in einen Pappbecher portionierten.

»Drei Euro sechzig, bitte.«

Er legte die Münzen passend auf den Geldteller.

»Vielen Dank, lassen Sie es sich schmecken!« Die vollen Lippen der Verkäuferin lächelten.

»Danke! Einen schönen Tag noch!« Alex wandte sich zum Gehen, als ihn die Stimme der Frau zurückhielt.

»Sie sind Tourist, machen Urlaub hier?«

»Ja. Ich bin dort nebenan im Hostal untergebracht.« Dabei deutete er auf die Haustüre neben der Eisdiele.

»Wieso interessiert es Sie, warum ich hier auf Mallorca arbeite?«

Alex biss sich auf die Zunge, am liebsten hätte er seine Äußerung zurückgezogen. Mit einem Mal wurde aus der simplen Frage so eine große Sache. Es wurde peinlich.

»Na ja …«, versuchte er eine Erklärung, »Ich erwäge, später aus Deutschland wegzugehen und mich hier auf Mallorca niederzulassen.« Nach einer kaum wahrnehmbaren Pause fügte er leise hinzu: »Oder irgendwo anders, nur weg!«

Die Schönheit am Tresen griff zögernd in ihre Schürzentasche, zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie ihm mit zitternder Hand. »Diese Woche arbeite ich bis dreizehn Uhr. Rufen Sie irgendwann nachmittags mal an! Meine Geschichte kann ich Ihnen jetzt nicht erzählen, es kommen schon die nächsten Kunden. Wir treffen uns dann in irgendeinem Café.«

Alex wurde rot, ungläubig starrte er auf die ausgestreckte Hand der Frau. »Danke! Ich melde mich.« Er nahm die Karte entgegen, drehte sich um und lief gedankenverloren hinunter in den Hafen.

Welcher Teufel hat mich da nur geritten?, stöhnte die junge Frau. Nachdenklich sah sie dem Fremden hinterher. Da forderten ungeduldige Kunden ihre Aufmerksamkeit.

Ein schmaler Weg führte Alex inzwischen um den Hafen Cala Figueras. Rechts lagen zahlreiche kleine Schiffe am Ufer. Das Wasser war klar, er sah etliche Fische darin herumschwimmen. Linker Hand erklommen abschüssige Steinstufen die schroffen Hänge. Die Häuser waren in den Berg hineingebaut und vermittelten ein unvergleichlich idyllisches Flair. Alex erreichte die Biegung am Ende der Wasserstraße und lief auf der gegenüberliegenden Seite der Anlegestellen wieder zurück. Schließlich gelangte er zu einer breiten Treppe, die steil nach oben führte. Er überlegte sich, ob er in dieser Hitze die Strapaze eines Aufstiegs unternehmen sollte. Doch warum die Eile? Er war im Urlaub, hatte Zeit! So setzte er sich in den Schatten einer Pinie, genoss die Aussicht und griff in die Hosentasche, um die Visitenkarte der Eisverkäuferin näher zu betrachten. Dabei durchfuhr ihm wieder jenes Urgefühl der Verbundenheit und des Getrenntseins, das sich nicht erklären ließ.

»Katharina Weidhaus, Camí de s’Estret d’es Temps 5, Cala Figuera«, las er, dazu eine Telefonnummer. Er fotografierte die Karte mit dem Handy ab, steckte sie zurück und versank einen Augenblick in Gedanken. Warum hatte er die Verkäuferin so ausgefragt? Hatte ihre Ausstrahlung, ihr Wesen etwas damit zu tun? Er suchte doch keine Abenteuer! Heuchler!, beschimpfte er sich selbst. Sie fasziniert dich! Brauchst es gar nicht zu leugnen!

Die aufkommende Hitze zerschlug bald diese Überlegung, denn sie ließ ihn träge und apathisch werden. Er erklomm die steile Treppe und gelangte nach schweißtreibender Anstrengung endlich auf einen von Steinmauern umsäumten Weg. Als er sich umschaute, überfiel ihn ein eigenartiges Gefühl. Es war, als käme er nach Hause. Alles an dem Bild, welches durch die Augen in sein Gehirn drang, stimmte. Die zahllosen Steine links und rechts der schmalen Straße bildeten eine schützende Grenze, hinter der sich das Grün der Insel ungehindert ausbreitete. Tief unten schimmerte das dunkelblaue Wasser des Hafens. Etliche Fischerboote schaukelten dort. Er wandte den Blick vorwärts und wanderte der staubigen Fahrbahn entlang. Endlich einmal nicht im Büro sitzen, keine Computer sehen. Nicht genau wissen, wo das Ziel liegt – ja, so stellte er sich Urlaub vor!

Und dann war da das angenehme Kribbeln in der Magengegend und der Geschmack von Orange auf den Lippen.

Einige Zeit später mündete der Weg in ein ebenes Plateau an der Steilküste. Ein uralter Leuchtturm tauchte rechter Hand auf. Alex genoss den fantastischen Ausblick. Das Fischerdorf lag unter ihm, bilderbuchblaues Wasser erfüllte den Raum bis an den fernen Horizont. Vereinzelt düsten Boote vorbei. Neben dem alten, funktionslosem Turm surrte leise die Radarantenne vor sich hin. Kein Tourist war hier.

Die Ebene lud zum Wandern ein. Büsche, Bäume und die verschiedensten Gräser schufen den Eindruck einer wilden Landschaft hoch über dem Meer. Als Alex schließlich eine enge Straße nahe dem Steilufer erreichte, stockte er. Der Straßenname auf dem kleinen blauen Holzschild kam ihm bekannt vor. Wo hatte er ihn schon einmal gehört? Camí de s’Estret d’es Temps stand da. Er ärgerte sich nicht zum ersten Mal über sein schlechtes Namensgedächtnis.

Das alles währte nur wenige Augenblicke, der Anblick des Meeres ließ ihn die Straße wieder verlassen und zum Rand des Steilufers eilen. Hier setzte er sich auf einen von der Sonne erhitzten Kalkfelsen. Der Abhang fiel rund dreißig Meter hinunter zum Wasser ab. Das dumpfe Grollen der Wellen am Ufer, das Geräusch des ungehindert strömenden Windes und die Wildheit der Landschaft erzeugten Ehrfurcht und Bewunderung in ihm.

Seine Seele füllte sich mit der Atmosphäre des Augenblickes. Alle konkreten Gedanken verschwanden, er gab sich Gefühlen hin und wurde unbedeutend und winzig. Geborgenheit umschloss ihn. Kein Mensch weit und breit! Reine und unbändige Natur erfüllte alles um ihn herum. Alex schwebte über Zeit und Raum, vergaß sein Ich und war sich doch bewusst, wie dringend er einen Fixpunkt benötigte, um nicht wahnsinnig zu werden. Zu gut kannte er dieses Gefühl, das ihn überfiel, wenn er alleine mit sich selbst war. Es war gefährlich für die Psyche, sich so aufzulösen. Ziele und Pläne verwischten sich. Wo kam er her, wo ging er hin? Nur die Welt der Fantasie umschloss ihn. Er träumte. Umgeben von Menschen, Freunden, die es in Wirklichkeit nicht gab. Sie alle waren wie er, ruhig und verschlossen. Man genügte sich selbst. Eine tiefe Melancholie breitete sich aus, lähmend und wunderbar schmerzhaft.

Alex’ weit aufgerissene Augen starrten hinaus aufs Meer, ohne tatsächlich etwas zu erkennen. Seine Welt hatte sich von außen nach innen verschoben.

»Camí de s’Estret d’es Temps – hier wohnt die Frau aus der Eisdiele!«, murmelte er plötzlich laut vor sich hin. Dabei strich für den Bruchteil einer Sekunde ein Geruch vorbei, der ihn sofort in die ersten Lebensjahre zurückwarf. Heftiges Herzklopfen und tiefe, schnelle Atemzüge begleiteten die Erinnerungen an jenen Augenblick. Es war der Duft einer frischen, grünen Wiese, genauer gesagt irgendeines Krautes, welches in ihm ein Bild aus früher Kindheit lebendig werden ließ. Er hatte sich vor dem Heuwenden gedrückt und lag stattdessen faul im Schatten einer Kastanie. Fetzen einer Erinnerung. Rückkehr zum Kind. Ein Sog. Leere Augen.

Alex schüttelte mit dem Kopf, erst langsam, dann immer energischer. Mit übermächtiger Anstrengung versuchte er, sich aus der Vergangenheit zu lösen.

»Wie lange sitze ich hier schon?« Selbstgespräche gehörten zu seinem Alltag. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass eine über eine Stunde verflossen war, seit er sich hier am Steilufer niedergelassen hatte. Da fiel ihm wieder ein, wo er sich befand. In der Camí de s’Estret d’es Temps wohnte die Verkäuferin, die er anrufen sollte!

Alex erhob sich ächzend, sein Körper war steif vom langen Sitzen. Hunger und Durst machten sich bemerkbar. Er stolperte zurück zur schmalen Straße und suchte nach einem Haus mit der Nummer 5. In der Ferne erschienen vereinzelte Gebäude am linken Straßenrand. Rechts stürzte der steile, gefährliche Abhang zum Meer hinunter.

Da, die erste Casa hatte die gesuchte Hausnummer! Sie lag etwa zwanzig Meter hinter einer Steinmauer inmitten eines großzügig angelegten Gartens. Zwei Palmen verdeckten die Sicht darauf. Es war ein solides, altes Gebäude, nicht sehr groß, im typisch mallorquinischen Stil aus graugelben Natursteinen gebaut.

Alex sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mittag. Ein Klingeln lohnte also nicht, da Frau Weidhaus noch arbeitete. Mit einem ehrlichen und tiefen Seufzer kehrte er um und machte sich auf den Weg zurück ins Fischerdorf Cala Figuera, wo er sich erst einmal ein reichliches Essen leisten würde. Dann lockte da seine kühle Unterkunft, wo er den Nachmittag schlafend auf dem Balkon verbringen würde. Ja, war das nicht Urlaub? Das breite Schmunzeln in Alex’ Gesicht verriet, wie wohl er sich fühlte. Oder war da wieder irgendeine Erinnerung aus den Tiefen der Vergangenheit in ihm lebendig geworden?

°°°

Endlich Feierabend! Katharina Weidhaus erklomm die steilen Stufen, die die Carrer Virgen del Carmen mit der höher gelegenen Carrer Juan Sebastián Elcano verbanden. Hier stand ihr kleiner Ford in einer winzigen Parklücke. Kaum öffnete sie die Autotür, schlug ihr ein betäubend heißer Luftstrom entgegen und raubte ihr den Atem. Sie warf ihre Tasche auf den Rücksitz und setzte sich auf den von der Sonne erhitzten Sitz. Ihr kurzer Rock schob sich nach oben und die nackten Oberschenkel verbrannten sich beinahe am überhitzten Stoffbezug. Sobald sie den Motor gestartet hatte, schaltete sie die Klimaanlage ein. Die ersten Minuten waren die schwierigsten, denn es dauerte, bis kalte Luft aus dem Gebläse strömte. Fast jeden Tag die gleiche Qual!

Heute war Einkaufstag! Sie fuhr in Richtung Santanyí davon. Dort kaufte sie im Supermarkt äußerst günstig ein. Außerdem erwartete sie einen Telefonanruf! Ein fremder Mann würde sich bei ihr melden! Ich werde selbst kochen und ihn zu mir ins Haus einladen! Das lasse ich mir doch nicht nehmen! Katharina war plötzlich sehr aufgewühlt und fühlte sich wie ein Teenager vor dem ersten Date.

Der Besuch

Alex fingerte am Handy herum. Er hatte noch keine Auslandsoption gebucht, wie sollte er da die Nummer auf der Visitenkarte anrufen? Er wusste doch, wo die Schönheit aus der Eisdiele wohnte! Warum nicht einfach dort vorbeifahren und klingeln? Der Schlummer am Nachmittag hatte ihm wieder Kraft verliehen, nicht nur physisch. Er war bereit für Herausforderungen! Den inneren langweiligen Alltags-Alex schüttelte er ab.

Er war entschlossen, völlig Neues in Angriff zu nehmen. Zu Hause in Deutschland wäre er nie so spontan gewesen.

Schnell checkte er eingegangene E-Mails auf seinem Tablet, dann duschte er und zog ein frisches Hemd an. Es war fast achtzehn Uhr geworden. Leichte Winde huschten als Vorboten des Abends um die glühenden Sandsteinmauern der eng stehenden Gebäude. Die Sonne berührte mit ihren äußersten Rändern bereits die hohen Felsen der Steilküste.

Alex hatte das Glück gehabt, den Mietwagen in Sichtweite des Appartements parken zu können. Meist war er gezwungen, in der hoch gelegenen Querstraße, der Carrer Juan Sebastián Elcano, nach einer Parklücke zu suchen. Dann musste er stets die steilen Treppen hinaufsteigen, um zum parkenden Auto zu gelangen. Doch gestern hatte er überraschenderweise einen Parkplatz unweit des Hostals gefunden. Er lief die paar Schritte hinauf auf die Carrer Virgen del Carmen und stieg in den Peugeot Partner. Der Wagen hatte zahlreiche Dellen und Kratzer, die angesichts seiner rund 9000 gefahrenen Kilometer verwunderlich schienen. Jedenfalls stammten sie nicht von ihm. Alex bemühte sich immer um eine sichere Fahrweise, auch wenn er oft zu schnell fuhr.

Bis zur Camí de s’Estret d’es Temps, dem Ziel, musste er einen ziemlichen Umweg um das Hafengebiet herum fahren. Laut dem Navi sollte er das in neun Minuten schaffen. Er gab Gas. Zuerst die starke Steigung, dann abbiegen, der MA-6102 folgend. Schließlich bog er Richtung Cami de s’ Erico steil rechts ab und folgte wieder einer engen, von Steinmauern umsäumten Straße. Er hätte das Navi gar nicht benötigt, irgendwie fühlte er sich hier wie zu Hause und sehr souverän. Er verschwendete nicht einen Gedanken daran, dass es der jungen Frau nicht recht sein könnte, wenn er vor ihrer Tür auftauchen würde.

Schließlich wollte er ja nur einen Termin mit ihr vereinbaren. Warum umständlich telefonieren, wenn er sie direkt fragen konnte?

Am Ziel angekommen, parkte er den Wagen etwas abseits der schmalen Straße im unbefestigten Gelände des Plateaus. Alex hatte die Macht über das, was er tat, verloren. Zu ungeheuerlich war das alles für ihn! Im normalen Leben ging er nie auf fremde Menschen zu, unter keinen Umständen hätte er es gewagt, in die Privatsphäre anderer einzudringen. Na ja – das stimmte nicht ganz. Sein Beruf verlangte von ihm, dass er genau das tat. In der IT-Sonderabteilung von Kruschke-Air in Saalstedt war er verantwortlich für proaktive Prävention im Wirtschaftssektor. Unter seinem Chef, Rainer Burghaus, fühlte er sich sehr wohl. Solange Alex nicht jemanden aus Fleisch und Blut gegenüberstand, war er weder nervös noch unsicher.

Doch ob man am Computer sitzt und sich in fremde Systeme hackt oder persönlich vor Häusern steht und mit wildfremden Menschen Kontakt aufnimmt, war ein riesengroßer Unterschied! Was wollte er denn von dieser Frau? War seine Frage nach dem Grund ihres Aufenthaltes auf Mallorca so wichtig, dass er solch einen physischen und seelischen Aufwand betreiben musste? Die gesamte Situation überforderte ihn hoffnungslos. Wie so oft schützte ihn da nur die Flucht in ein Fantasiegebilde.

Sich selbst von außen sehend war er nicht mehr er Alex, sondern ein anderer, der mit Alexander Stützer nichts zu tun hatte. Er sah sich, wie er zaghaft auf den Klingelknopf der Sprechanlage drückte, die kein Namensschild trug. Nur das unweit stehende Straßenschild und die große Nummer 5 am Torbogen der Einfahrt sagten ihm, dass er hier richtig war. Hätte ich ein Geschenk mitbringen sollen?, schoss es diesem Mann am Tor durch den Kopf, als er eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher hörte: »Ja, hallo?«

Da wurde der Mensch vor dem Tor wieder zu Alex. Warum fragt sie? Da ist eine Kamera, sie muss mich sehen! Fast unwillig beugte er sich vor und hatte doch keine passenden Worte.

»Ja, hallo! Ich war heute früh ..., ich bin Alex, eigentlich wollte ich telefonieren, aber …«.

Sich angesichts seiner Unsicherheit verfluchend, sah er in die Kamera, hoffend, dass die Frau ihn erkennen würde. Schweigen.

»Ich war zufällig hier. Ich dachte bei mir, ich könnte doch auch persönlich wegen eines Termins fragen.«

Schweiß brach ihn aus allen Poren. Was gab er da von sich? Wegen eines Termins – ja, war er denn hier beim Arzt? Er schämte sich in Grund und Boden. Stammelte herum wie ein Erstklässler!

»Ach, Sie sind das! Kommen Sie doch herein!« Die freundliche Stimme der Frau ergänzte sich mit dem Summen des Türöffners zur wohlklingendsten Symphonie. Alex betrat erleichtert das Grundstück.

Der Kies knirschte unter den Schuhen, als er durch den parkähnlichen Garten aufs Haus zuging, vorbei an einer uralten Palme. Sein Herz raste. Ein Gefühl in ihm ließ sich nicht mehr unterdrücken, aus dem Urgrund seines Innern quoll es hervor: Ich komme nach Hause!

Noch nie zuvor hatte Alex etwas als so übermächtig empfunden. Selbstverständlich umfing ihn die Wohnung in Geiselberg jeden Tag nach Feierabend mit der Geborgenheit, die er so suchte. Doch das war kein Vergleich zu dieser mallorquinischen Casa, die vor ihm ihren Charme ausbreitete.

Die Haustüre war überdacht von der oben liegenden Terrasse. Als sich die Eingangstür öffnete und die Hausherrin mit ihrer langen Haarpracht und einem gewinnenden Lächeln heraustrat, war es Alex, als würde ihn jemand mit heißem Wasser übergießen.

»Hallo, Herr Stützer, das ist ja eine Überraschung!« Das war nicht nur so daher gesagt! Katharina war wie vom Schlag getroffen. So souverän sie in der Eisdiele mit Kunden umging, so unsicher wurde sie plötzlich. Im Laden gab es eine Theke als Grenze zwischen ihr und den anderen, jetzt gab es keine Wand, die sie schützte.

»Entschuldigen Sie, dass ich einfach so auftauche!«

Alex stand wenige Meter von ihr entfernt und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Immerhin musste er nicht mehr krampfhaft nach Worten suchen wie vorhin am Tor.

»Ich habe noch keinen Tarif für das Telefonieren gebucht. Der reine Zufall führte mich heute früh hier entlang, da entdeckte ich Ihr Haus.« Er versuchte, sein Verhalten einleuchtend und wahrheitsgemäß zu begründen. »Ich gehe sofort wieder. Wo könnten wir uns zum Reden treffen? Sie kennen sich hier besser aus als ich.«

Katharina war überrascht, dass dieser Mann ihr nicht mal die Hand zur Begrüßung reichte, sondern fast drei Meter vor ihr stehen blieb. Er war groß, hatte braune Haare und dunkelbraune Augen. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig, Anfang vierzig. Sein Wesen strahlte eine unglaubliche Wärme und Vertrautheit aus.

»Jetzt sind Sie schon mal da. Möchten Sie nicht mein Gast sein?«, fuhr es ihr über die Lippen.

Die unbedachten, aus Freundlichkeit geäußerten Worte entsetzten sie selbst so sehr, dass sie sich am Türknauf festhalten musste, um den Stand zu bewahren. Doch was war gegen Spontanität einzuwenden? Sie hatte heute eingekauft, kochte sowieso! Ihre Haltung entspannte sich.

Alex besaß die Fähigkeit, überraschende Wendungen, die Emotionen hervorriefen, mit einem unbewegten Gesichtsausdruck zu quittieren. Obwohl alles in ihm jubilierte, zeigte sein Gesicht keinerlei Regung. Katharina schien dies falsch zu deuten.

»Ich meine, falls Sie … Sie haben etwas anderes geplant? Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie die Einladung annehmen.«

Die Sonne färbte sich langsam über dem Meer. Das Haus Katharinas erstrahlte in einer unwirklichen Beleuchtung.

»Ich bin Urlauber, da habe ich keine Pläne.« Sein Lächeln wirkte erleichternd und vertrieb alle Spannungen, so wie Sonnenstrahlen den Morgennebel auflösen.

»Na dann, herein mit Ihnen!« Katharina trat zurück und Alex stieg die flache Treppe nach oben. Er reichte ihr eine warme, feste Hand zum Gruß. Keinem der beiden war der lange Blick peinlich, den sie sich zuwarfen. Es war ein Prüfen, ein Erkennen und Einordnen. Sie löste sich zuerst.

»Ich bin beim Kochen. Helfen Sie mir?«

»Was gibt es denn?«, fragte Alex neugierig und bereute im gleichen Augenblick seine spontane Frage.

»Sind Sie mit einer Tapas-Platte einverstanden? Käse, Schinken, Tomaten, gebratenes Ei, Salat zusammen mit frischen Baguettes? Etwas Pilzgemüse dazu?«

Er war aufrichtig begeistert. »Dann zeigen Sie mir, wie ich helfen kann!«

»Hier, das ist die Küche.«

Alex bewunderte die moderne Ausstattung. Es dauerte nicht lange, bis er sich wie zu Hause fühlte und schnitt, schälte und briet. Beide kochten wie ein Team. Es war noch nicht zwanzig Uhr, als Katharina ihre hellblaue Küchenschürze über eine Lehne hängte und auf der Terrasse servierte. Als Alex den gedeckten Tisch sah, stutzte er.

»Kommt ein weiterer Gast?«

Die Hausherrin hatte zwei riesige Olivenholzbretter aufgetafelt, aber drei Weingläser bereitgestellt.

»Nein, es wird niemand mehr kommen.« Ihre Stimme klang dabei unendlich müde und traurig.

Er spürte instinktiv, an ein Geheimnis der jungen Frau gerührt zu haben. Sie wird es mir schon noch erzählen! So schwieg er erst einmal und setzte sich. Sie eilte ins Haus zurück, um die Wasserkaraffe und den Wein zu holen. Dabei sah ihr Alex versonnen hinterher. Sie trug kurze, helle Shorts. Obwohl sie fast ein Meter achtzig groß war, bewegte sie sich geschmeidig und katzengleich. Ihre Knie waren rund, nicht knochig und spitz, die geraden Beine endeten in weißen Ballerinas. Das übergroße, blassblaue T-Shirt hing ihr einseitig weit über die rechte Schulter herab. Alex wurde es heiß und kalt.

Als Katharina zurückkam und Karaffe und Flasche auf den Tisch absetzte, meinte sie leichthin: »Das Glas ist für meine Schwester. Es ist nur ein Ritual. Denken Sie sich nichts weiter dabei!«

Sein Magen kribbelte. Drängte sich jetzt eine unsichtbare, dritte Person zwischen sie? Vielleicht war es ja gut so …?

»Tja, Herr Stützer, greifen Sie zu. Es freut mich, dass Sie mit Hausmannskost zufrieden sind.« Das strahlende Lächeln Katharinas war aufrichtig und lockerte den unsicher gewordenen Gast wieder auf.

»Frau Weidhaus, ich danke Ihnen für die Einladung! Es ist …« Auf die grandiose Landschaft blickend, suchte Alex nach den richtigen Worten. »Es ist fantastisch hier! Unten am Hafen ist es ja auch schön. Trotz alledem ist es hier oben stimmungsvoller, einsamer, melancholischer. Sie wohnen äußerst romantisch hier!«

Katharina folgte seinem Blick hinaus über dem Steilufer zum Meer, schlug die nackten Beine übereinander und musterte ihn eindringlich.

»Sie sind seit Langem der erste Besucher hier. Ich gebe zu, dass ich aufgeregt bin. Immerhin kenne ich Sie gar nicht. Ich weiß nur, dass Sie Ihren Urlaub hier verbringen und ein paar Fragen an mich haben.«

Alex war von ihrer offenen Art überrascht. Alles war perfekt. Das Haus, die untergehende Sonne über dem Meer, die leckere Mahlzeit und die erotische Frau ihm gegenüber. Er verfiel immer mehr dem Zauber, der von ihr ausging.

»Ich bin genauso aufgeregt, glauben Sie mir!« Hilflos hob er die Hände.

»Wir werden erst einmal essen!«, beschloss Katharina und angelte sich ein Baguette mit Serranoschinken und Oliven. »Schenken Sie bitte den Wein ein und bedienen sich?«

Alex goss zuerst Wasser in die hohen Gläser, dann entkorkte er den Rioja und füllte damit die Römer. Schließlich stellte er sich ein Schälchen Pilzgemüse auf sein Olivenbrett, brach ein Stück vom Baguette ab und genoss ein Häppchen nach dem anderen. Niemand sprach ein Wort. Nur ab und zu schauten sie auf das leere Weinglas.

Endlich überwand sich Alex. »Es schmeckt alles hervorragend! Ich möchte Sie in der Tat einiges fragen. Aber vielleicht sollte ich Ihnen zuerst sagen, dass dies gar nicht meinem Wesen entspricht.«

»Das Essen?«, lächelte Katharina.

»Nein, nicht das Essen.« Alex wurde verlegen. »Es ist nicht meine Art, mich selbst bei jemandem einzuladen. Oder neugierig zu sein. Wirklich nicht!«, betonte er, als würde Katharina ihm nicht glauben wollen. »In Deutschland arbeite ich als Computerspezialist. Leider darf ich Ihnen über den Beruf nicht mehr erzählen, Sie wissen schon – Betriebsgeheimnisse und so.«

Sie nickte. »Sind Sie verheiratet, haben Sie Familie?«

Alex nahm die Frage ohne Hintergedanken an. »Nein, ich hatte bisher keine Zeit und habe auch niemanden gefunden. Oder gesucht. Wie Sie wollen.« Er erkundigte sich nicht nach Katharinas Familienverhältnissen, sondern schaute versonnen auf das leere Weinglas auf dem Tisch.

Die Gastgeberin ignorierte es und fragte ihn weiter aus: »Wo leben Sie in Deutschland?«

»In Geiselberg, einer Kleinstadt im Ruhrgebiet, sie werden diese kleine Stadt nicht kennen«

Katharina wurde blass, sie riss die Augen weit auf und ihre Mundwinkel fingen an zu zucken. Sie setzte beide Füße auf den Boden und richtete sich kerzengerade auf. »Wo sagen Sie?« Bestimmt hatte sie sich verhört!

Alex war der Schreck seiner Gastgeberin nicht entgangen. »Sie kennen Geiselberg?«

Da die Sonne mittlerweile fast untergegangen war, kam die Meeresluft frisch und kühl hier oben an. Katharina murmelte ein »Entschuldigung!«, eilte in die Wohnung und kam wenig später in eine lange, weiße Wolljacke gehüllt zurück. Für ihren Gast brachte sie eine Decke mit.

»Hier, nehmen Sie, es wird kalt. Sonst bekommen Sie in Ihrem Urlaub noch eine Erkältung!« Scheinbar hatte sie sich wieder gefasst.

Alex schaute sie prüfend an. Diese Frau gefiel ihm! Sie war nicht so oberflächlich wie viele Leute, die er kannte. Etwas schien sie sehr zu beschäftigen. Sie hatte beide Beine auf den Boden gestellt und sich leicht über den Tisch zu ihm herübergebeugt.

»Geiselberg – meine Schwester wohnt und arbeitet dort! Sie hat da ihre Praxis. Ich vermisse sie so! Kennen Sie sie etwa? Das kann doch kein Zufall sein!« Dabei starrte sie auf das dritte Weinglas, welches niemand eingeschenkt hatte. Misstrauen stieg einen Moment lang in ihr hoch. Da sprach sie ein wildfremder Mann an, der in derselben Stadt wohnte wie ihre heiß geliebte Schwester? Jetzt saß er hier bei ihr! Was steckte dahinter?

»Hat Sie meine Schwester geschickt?« Aufgeregt und fast suggestiv stellte Katharina diese Frage.

»Ich kenne sie nicht. Ist sie Anwältin? Oder Ärztin? Sie sprachen von einer Praxis.«

Katharinas Augen flammten auf wie ein Lagerfeuer im Wind. Ihre Begeisterung war nicht mehr zu bremsen. »Sie ist äußerst intelligent, müssen Sie wissen! Sie hat ihren Doktor in Neurologie und Psychiatrie, außerdem ist sie als Psychologin zugelassen.« Plötzlich fiel sie sichtbar in sich zusammen. »Wir haben uns so lange nicht gesehen!«

Alex wunderte sich über die völlig verwandelte Gastgeberin. Schweigen. Er musste etwas sagen. Die Stille würde sonst zu einer trennenden Mauer werden.

»Hat sie dort in Geiselberg Familie?«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, brauste Katharina auf. »Nein, was denken Sie sich da! Wir beide sind Schwestern, wir gehören zusammen!«

Ihr unkontrollierter Ausbruch dauerte nur wenige Augenblicke. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Herr Stützer, Sie mögen das nicht verstehen. Ehrlich gesagt, möchte ich jetzt nicht darüber reden. Das ist alles sehr kompliziert, glauben Sie mir.«

Sie schlug die Beine wieder übereinander, die bis zu den Knien mit der Jacke bedeckt waren, griff zum Römerglas und trank einen großen Schluck Rioja.

Alex war irritiert. Etwas stimmte nicht mit dieser Frau. Durfte ein schwesterliches Verhältnis so eng sein, dass es unmöglich war, eine Familie zu gründen? Warum bewachte Katharina ihre Schwester so eifersüchtig? Oder wollte sie sie beschützen? Ihm schwirrte der Kopf.

»Sie haben doch nichts gegen ein wenig Musik?« Die Hausherrin lief kurz ins angrenzende Zimmer. Bald darauf erklang aus der Musikanlage unaufdringlich Lana Del Rey’s Song Ride.

»Mögen Sie die Sängerin?« Katharina setzte sich wieder.

Alex antwortete nicht. Er liebte dieses Lied. So viele Male hatte er es zu Hause gehört, hatte Erinnerungen damit verbunden. Wie konnte er seine innersten Regungen einer fremden Person gegenüber offenbaren? Er vermied es, die schöne Frau anzusehen. Stattdessen starrte er auf sein halb volles Weinglas.

Katharinas große graugrünen Augen fixierten den Gast. In ihr keimte ein Gefühl. Es ließ sich nicht begründen. Instinktiv wusste sie, dass sie diesem Menschen völlig vertrauen durfte! Sie schämte sich wegen ihres grundlosen Aufbrausens. Er hatte doch nur ein wenig mehr über sie erfahren wollen!

»Okay, ich stelle die Anlage wieder ab!«

»Nein! Lassen Sie die Musik bitte laufen.«

Jetzt ahnte auch die Frau, die nur eine Eisverkäuferin war, dass ihr Gegenüber kein einfacher Durchschnittsmensch war, sondern wie sie psychische Probleme hatte.

»Ich habe manchmal einen etwas schrägen Musikgeschmack, wundern Sie sich bitte nicht«, lächelte Katharina ihrem Gast ermunternd zu. Spätestens, als dann Asa Chan Minkara auf dem Hang Drum spielte, wurde dies klar. Doch er fand die Klänge wundervoll.

»Das erinnert mich an ein Mittelalterfest«, murmelte er zwischen zwei Schluck Wein.

»Erzählen Sie!«

»Es ist eine Weile her.« Alex räusperte seine Verlegenheit weg. »Ich hatte das Spektakel mit jemandem besucht, den ich … der mir sehr nahestand.« Über seine Augen legte sich ein düsterer Schatten. Wer diese Begleitung auch gewesen sein mochte, er schien sie grenzenlos zu vermissen.

Katharina schenkte nach. Sie hatte Zeit. Wie schmerzlich und intensiv manche Erinnerungen waren, wusste sie aus eigener Erfahrung. Sie war eine Frau, die schweigen konnte, ohne dass es unangenehm wurde.

Alex genoss das rote Gold. »Wir saßen auf der Spitze der alten Burg, nur wenige Leute hielten sich dort oben auf. Der Massenauflauf war unten, im Schlosshof. In der Höhe war es kühl, fast wie jetzt auf dem Balkon. Da kamen drei mittelalterlich gekleidete Musiker und improvisierten auf ihren Hang Drums einige Stücke. Eine andere Welt tat sich auf, Jahrhunderte alt, geheimnisvoll und ursprünglich. Nein, Ihr Musikgeschmack ist nicht sonderbar!« Alex wollte hinzufügen, dass er auf eine sensible Persönlichkeit hindeutete, auf jemanden, der noch träumen konnte. Doch so nahe stand er dieser Frau nun auch wieder nicht.

Plötzlich fiel ihm etwas Praktisches ein: »Wann müssen Sie morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen?«

Katharina hatte ihrem Gast aufmerksam zugehört. Wellen der Sympathie stiegen in ihr hoch. »Machen Sie sich keine Gedanken. Ich bediene erst ab dreizehn Uhr. Außerdem bin ich eine Nachteule und froh, wenn der Abend so kurzweilig verläuft wie heute.« Schnell drehte sie ihr Gesicht hinaus, dem endlosen Meer zu. Warum plappere ich alles aus, was ich auf dem Herzen habe? Das ist doch gar nicht meine Art! Selbstbeherrschung, Katharina, Selbstbeherrschung! Wie ein Mantra wiederholte sie ständig lautlos diesen Satz.

»Ja, was ich Sie ursprünglich fragen wollte, Frau Weidhaus: Wie kommt es, dass Sie hier auf Mallorca arbeiten? Wissen Sie, ich möchte nicht in Ihr Privatleben eindringen. Doch ich will weg von Deutschland. Möglicherweise könnte ich hier auf der Insel den Lebensunterhalt verdienen. Ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert. Vielleicht haben Sie ja einige Tipps für mich. Verstehen Sie also meine Frage bitte nicht falsch!« Endlich erklärte Alex sein ursprüngliches Anliegen.

»Trinken Sie noch etwas Wein?« Katharina wartete die Antwort nicht ab, sondern verschwand in der Wohnung. Wieder bestaunte der hinterherblickende Alex ihren angenehmen, geschmeidigen Gang.

Wenig später kehrte sie zurück, entkorkte selbst die Flasche, schenkte ein und erzählte: »Es war eine Erbschaft, die mich hierher verschlug. Da unsere Eltern verstarben, als wir vierzehn waren, kam der Großvater mütterlicherseits eine Zeit lang nach Deutschland, um sich um uns zu kümmern. Als er starb, erbten wir dieses Haus von ihm. Judith, meine Schwester, war mitten im Medizinstudium. Ich hatte die Ausbildung zur Industriekauffrau beendet und dachte, eine Trennung hilft uns, die gegenseitige Abhängigkeit zu überwinden. So zog ich vor knapp zwanzig Jahren in die Finca und arbeitete in Palma in einem Büro. Der Arbeitsweg war beschwerlich, der Job eintönig.«

Katharina wandte den Kopf. Bisher hatte sie Alex direkt angeschaut, jetzt starrte sie hinaus in die Dunkelheit. Wie zu sich selbst sprechend, fuhr sie fort: »Dann lernte ich die Chefin der Eisdiele unten im Dorf kennen. Ich kündigte in Palma und verdiene mir seither als Verkäuferin mein Brot.«

Es trat eine Stille ein, die Alex nicht durch weitere Fragen unterbrechen wollte. Er wusste: Im Laufe der Zeit erfuhr er mehr! Er drängte nicht. Gab es doch für ihn den einen großen, allumfassenden Plan, dem sich alles fügen musste.

Katharina Weidhaus hatte sein Interesse geweckt. Diese Frau aktivierte Kräfte in ihm, die er nie zuvor gekannt hatte. Er war ein passiver Mensch, passte sich an. Das hieß nicht, dass er seine Grundsätze dabei verriet. Nein, aber er ließ normalerweise andere in Ruhe. Warum brachte ihn die rotgelockte Schönheit im tiefsten Innern auf eine unerklärbare Art zum Vibrieren?

Alles war offen. Alles war anders. Alles konnte passieren.

Katharina hatte sich erhoben und ihm den Rücken zugedreht. Sie schaute hinaus aufs Meer, dem Sonnenuntergang entgegen. Sie hob beide Arme und ordnete ihre Haare. Obwohl dies nur einen Augenblick lang währte, brannte sich das Bild für immer in Alex’ Erinnerung ein. Schlanke Arme hielten die üppigen Locken am Hinterkopf fest und zogen die Mähne nach oben. Die Strahlen der untergehenden Sonne durchdrangen dabei das T-Shirt unter den Achseln. Schattenhafte Rundungen zeichneten sich ab. Gleichzeitig wurden viele winzige Härchen im Gegenlicht zur Feuerglut. Eine unaussprechliche Weichheit und Wärme umflossen die Frau.

Sie setzte sich wieder und schlug die nackten Beine übereinander.

Bob Dylans Song It’s all Over Now, Baby Blue erklang inzwischen leise aus dem Haus. Verwirrt über ihre eigene Offenheit, fragte Katharina ihren Gast:

»Ja, so kam ich hierher. War es das, was Sie wissen wollten? Konnte ich Ihnen helfen?«

Alex sah in ihre glänzenden, tiefgründigen Augen. Er saß hier mit einer bezaubernden Frau, trank Wein und aß Tapas mit ihr, führte gute Gespräche – was wollte er mehr? Der Computerexperte aus Geiselberg konnte sehr gut mit allem umgehen, was digital war. Doch diese Situation stellte einen nie gekannten Input dar. Nach einem kräftigen Schluck aus dem Glas erwiderte er ehrlich:

»Ich hätte tatsächlich noch Fragen. Bezüglich der Behörden, den Vorschriften und so. Aber nicht jetzt. Nicht mehr heute!«

Die Meereswellen krachten an die Felsen vor der Steilküste. Bis hierher ins Haus drang ihr Geschmetter.

Irgendwann räusperte sich der Besucher. »Der Abend mit Ihnen hier ist sehr schön. Und aufregend. Ich bin ein Fremder, doch Sie haben mich hereingebeten und mir Ihre Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt. Ich sehe das nicht als selbstverständlich an. Vielen Dank dafür!«

Katharina unterdrückte nur mit Mühe das freudige Lächeln.

»Sie wohnen neben der Eisdiele im Llevant?« Als Alex nickte, fuhr sie fort: »Wenn Sie mehr Fragen haben – nun ja, ich habe morgen ausnahmsweise Spätschicht bis neunzehn Uhr. Dann kaufe ich ein. Ich könnte ja ungefähr zwanzig Uhr dreißig bei Ihnen vorbeischauen?«

Was sprach sie da! Kaum hatte ihr Herz die Worte aus dem Mund gestoßen, hätte sie diese am liebsten zurückgeholt. Wie konnte sie so aufdringlich sein, sich so anbieten!

Ihr Gast nickte eifrig: »Ich werde ein kleines Abendessen zubereiten. Ihr Besuch würde mich unheimlich freuen!«

»Wo muss ich klingeln?«

Alex nannte ihr die Nummer des Appartements, blieb jedoch sitzen. Sein Weinglas war leer, langsam spürte er die Wirkung des Alkohols. Ehe er widersprechen konnte, schenkte seine Gastgeberin nach.

»Ich muss noch fahren!«, gab er halbherzig zu bedenken.

»Dann übernachten Sie doch im Gästezimmer! Shorts, T-Shirt und Zahnbürste sind immer da.« Wie nebenher, ganz beiläufig und mit Blick hinaus aufs mittlerweile schwarz werdende Meer unterbreitete ihm Katharina Weidhaus diesen Vorschlag. »Jetzt ist es sowieso schon spät, wir haben viel getrunken. Und das Haus ist groß.« Das ihr das Herz zur Kehle heraussprang, konnte man nicht sehen.

Jule Neigels Sehnsucht erklang aus der Stereoanlage nebenan. Alles war unwirklich. Alex, der logisch denkende Analytiker, hörte sich sagen:

»Einverstanden!«

Er teilte den Rest des vorzüglichen Weines auf, hob sein Glas und sagte: »Ich bin Alex.«

»Ich bin Katharina. Willkommen!« Sie hatte ihr Glas ebenfalls erhoben und beide tranken in dem Bewusstsein, gerade eine Freundschaft eingegangen zu sein, die alles offenließ.

Bevor der nächste Song vom Wohnzimmer her seine Stimmung verbreitete, wurde es einen fast endlosen Moment lang still. Nur das Meer und der kühle Wind waren zu hören. Van Cantos sang dann Last Night of the Kings und Alex war klar, dass diese Frau wirklich einen äußerst speziellen Geschmack hatte. Das gefiel ihm immer mehr.

»Wo hast du deinen Wagen geparkt?«

Er hatte sich durch die Musik entführen lassen und erschrak, als er Katharinas Frage vernahm.

»Er steht ein paar Meter neben der Toreinfahrt, auf der anderen Seite der schmalen Straße.«

»Es ist besser, du fährst ihn hoch in die Einfahrt.« Katharina wäre keine Frau gewesen, wenn sie die Miene ihres Gegenübers nicht zu deuten gewusst hätte. »Du musst keine Bedenken haben, was die Leute über einen Mietwagen im Hof denken!«

Zusammenhanglos fragte Alex: »Vermisst du etwas hier auf Mallorca? Ich meine damit nicht Familie und Freunde, sondern andere Dinge?«

Katharina antwortete sofort, ohne lange zu überlegen. »Den Regen, wie er fein herunterfällt, die Wiesen tränkt und die Erde dann ihren würzigen Geruch verbreitet. Die Herbstblätter. Wie sie beim Laufen rascheln und duften. Und das frische Grün des Frühlings.«

Fast zu hastig war die Antwort ausgefallen. Hatte er ihr Heimweh gespürt? Du musst vorsichtiger sein!, schimpfte sie sich im Innern.

The last night Of the kings verklang, es wurde still.

»Soll ich noch etwas anderes heraussuchen?«

Er schüttelte leicht den Kopf. Nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens fand er es nicht mehr so schwierig, seine Gefühle offenherziger zu zeigen. Oder lag es am Wein? Jedenfalls schuldete er der Gastgeberin gegenüber eine gewisse Offenheit. »Mich faszinieren das Meer und dieses Plateau. Es ist sehr schön, hier zu sitzen.«

Da hatte Katharina eine Idee. Ein wenig schwankend schraubte sie sich aus dem Sessel. »Kommen Sie mit!« Als sie merkte, dass sie wieder ins Sie abgerutscht war, verbesserte sie schnell: »Sorry, ich meine: Komm mit!«

Alex stand auf. Was hatte die Frau vor? Er eilte ihr in die Diele hinterher. Sie warf sich eine dünne Stola über, tauschte die Ballerinas mit einem Paar Sportschuhe und lief zur Haustür.

Draußen war es kühl geworden. Auf der Terrasse hatte die Hauswand den Windzug abgemildert, hier aber zog es ungemütlich. »Ich habe eine Jacke im Auto. Und noch ein paar Sachen.«

Katharina lächelte Alex überrascht an. »Nimmst du immer eine ganze Ausrüstung mit?« Da machte es schon Plopp, die Lichter des Peugeots blinkten kurz auf. Alex öffnete die hintere Tür und zog die Fleecejacke heraus, die auf dem Rücksitz lag. Am Morgen hatte er sie benötigt. Er blickte zu seiner Begleiterin, die nur schemenhaft zu sehen war. »Soll ich den Wagen gleich hochfahren?«

»Nein, ich möchte zuerst ein paar Schritte laufen. Bist du dabei?« Natürlich war er dabei! Katharina kannte sich gut aus. Sie führte ihren Gast erst die Straße Richtung Norden. In weiter Ferne funkelten die Lichter vereinzelt stehender Häuser. Die schmale Mondsichel tauchte die Landschaft in ein fahles Gelb.

»Hast du eine Taschenlampe dabei?« Alex bekam keine Antwort.

Katharina bog rechts zum Steilufer ab. Mittlerweile hatten sich die Augen an das schwache Licht der hereinbrechenden Nacht gewöhnt. Wie Ungeheuer aus einem Märchen erhoben sich dunkel und unheimlich vereinzelte Felsbrocken. Noch immer kreischten gelegentlich Möwen. Das Meer war schwarz und wirkte bedrohlich. Es schickte eine kühle Brise zu den Spaziergängern hinauf.

»Halt!« Katharina packte Alex am Arm und riss ihn an sich. »Bleiben Sie bitte in meiner Nähe!« Der Wind war es nicht, auch nicht der Schreck, der Alex eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

»Danke! Aber waren wir nicht beim Du?«

Die Schattenfrau vor ihm wandte sich um. »Entschuldigung. Tut mir leid! Ich bin so dumm!«

Alex war es unangenehm, dass sich seine neue Fast-Freundin so klein machte. »Ist doch kein Drama. Wahrscheinlich kommt das von deiner Arbeit. Nur bin ich kein Kunde, den du Eis verkaufst – na ja, vielleicht morgen wieder!«

Sein Lächeln, welches die Situation bei Tageslicht entschärft hätte, konnte sie nicht sehen. Wollte sie sich schützen, ihre Emotionen nicht zeigen? Dann würde sie doch aber nicht ihre Lieblingsmusik mit ihm teilen!

Warum must du in jede Kleinigkeit etwas hineininterpretieren? Alles so kompliziert machen? Alex fühlte sich zerrissen.

Einen endlos dauernden Augenblick lang verschmolzen sie zu einem einzigen Schatten, konnten ihren Atem spüren.

»Komm mit!« Katharina hatte seinen Arm losgelassen und lief wieder voran.

Er stolperte erneut ein paar Mal, ehe beide eine dunkle Linie vor sich sahen. Diese Grenze schied das schwarze Wasser und den Sternenhimmel. Es stellte sich als ein breiter Abschnitt des Steilufers heraus, der einen waagerechten Vorsprung bildete.

»Vorsicht, hier muss man etwas klettern!«, mahnte Katharina.

Alex war schleierhaft, wie man sich in der Finsternis so gut zurechtfinden konnte. Das bedeutet, dass sie öfters im Dunkeln diese Stelle aufsucht. Und falls das stimmt, ist das ein intimer Ort für sie. Und hierher führt sie ausgerechnet mich? Und dass, obwohl wir uns kaum einige Stunden kennen? Sein Gehirn arbeitete logisch wie immer, auch wenn er heute eindeutig mit Eindrücken übersättigt worden war. Ganz abgesehen von der Wirkung des Riojas. Da erfasste die tiefer stehende Frau seine Rechte und dirigierte ihn nach unten. Er stolperte dicht an ihr vorbei, roch ihren Duft und spürte die Hitze ihres Körpers. Ihre nackten Beine berührten sich. Einen Wimpernschlag später stand er neben ihr auf der Plattform.

»Hier … setzen wir … wir uns … hierher!« Es war nicht die Anstrengung, die Katharina heftig atmen und stottern ließ.

Die Steine, auf denen sie Platz genommen hatten, waren warm von der Sonnenflut am Tag. Mit dem Rücken lehnten sie an einem senkrecht stehenden Felsen, der den Wind aufhielt. Kaum zwei Meter vor ihnen stürzte die Klippe in die Tiefe. Unten brachen sich rhythmisch grollende Wellen. Das Meer vereinte sich mit dem Sternenhimmel zu einer Demonstration von Macht und Schönheit.

Alex musterte die Frau neben ihm. Es waren nicht die langen dunklen Haare, ihre Rundungen oder die aufregenden Beine, die ihn in erster Linie beeindruckten. Ihn berührten vielmehr ihre kerzengerade Haltung und der stumme Schrei, der aus ihren Augen drang. Eine schwer zu durchschauende Frau!

Sie saß aufrecht und steif da, was sehr vornehm wirkte. Alex hatte immer Menschen bewundert – ob Männer oder Frauen – die sich solch eine gerade Körperhaltung bewahrt hatten. Er saß stets gebückt da, eine Folge des zumeist im Sitzen ausgeführten Berufes. Katharina mochte sich ebenfalls ein Bild von ihrem Gegenüber gemacht haben, sie drehte den Kopf und starrte traurig aufs Meer hinaus. Fast schien es, als fände ein kleiner Teil des endlosen Wassers Platz in ihren Augen.

Alex lehnte sich zurück und genoss es, wie sich in der weiten schwarzen Fläche da draußen Mond und Sterne spiegelten. Keinem war nach Sprechen zumute. Welches Wort durfte sich auch in dieses stille Gebet der Natur einmischen? Alle Fragen, die Alex durch den Kopf schossen, mussten vertagt werden. Je leerer sein Gehirn wurde, desto voller wurde sein Herz.

Katharina hatte lange gezweifelt, ob es richtig war, den Fremden hierher zu führen. Wenn es sich ermöglichen ließ, war sie täglich hier. Und ihr Gast war kein Grund, ihrer Lieblingsstelle auf der Insel fernzubleiben. Er begriff die Einmaligkeit dieses Ortes sowieso nicht. Sollte er jetzt anfangen zu reden, würde sie ihn schon sagen, er solle seinen Mund halten! Seit sie ihm von der Klippe heruntergeholfen hatte und sich ihre Körper aneinander rieben, war er in ihrer Achtung enorm gestiegen. So mancher hätte die Lage ausgenutzt. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer. Und hier waren nur das Meer, die Sternennacht und die Einsamkeit. Welcher Situation bedurfte es denn noch, um einem Mann die Kontrolle über seine Gefühle zu nehmen? Sie war darauf vorbereitet, sich massiv zu wehren, falls es nötig sein sollte. Ihr Gast machte jedoch keine Anstalten, die Lage auszunutzen und ihr zu nahe zu treten! Bewundernd hatte Katharina das zur Kenntnis genommen. Sein Schweigen zeigte ihr an, dass er einen besonderen Charakter hatte!

Sie hatte bemerkt, wie er sie gemustert hatte. Dabei hatte sie genau verfolgt, so gut es die Dunkelheit zuließ, wohin er schaute. Sie konnte nicht erkennen, dass Alex sie begaffte. Nein, es war kein Fehler gewesen, den fremden Gast am heutigen Abend hereingebeten und mit ihm gegessen zu haben.

Oder mit ihm hierher zu wandern.

Oder jetzt die linke Hand ganz sachte auf seinen Arm zu legen.

Alex fuhr zusammen, als er Katharinas Wärme spürte. Würde sie nun sentimental? Müssen Frauen immer alles zerstören? Da hörte er ihre Stimme, kaum lauter als der heraufziehende Wind.

»Wenn du jetzt deinen Arm wegziehst, sage ich künftig nur noch Herr Stützer zu dir!«

Scheinbar hatte er sich unbewusst lösen wollen und Katharina hatte dies bemerkt. Die Worte seiner Nachbarin zauberten ein flüchtiges Lächeln in sein Herz, und er ließ sie gewähren. Beide saßen weiter schweigend nebeneinander. Alex fragte sich, wie seine Bekannte – oder Freundin? – empfand. Was ihn betraf, so formte sich im Innern etwas Neues, nie Gekanntes. Der frische und stetige Wind war so ursprünglich, das Schlagen der Wellen an den Klippen so eindringlich, dass der Büroangestellte vollends mit Eindrücken überflutet wurde. Hinzu kam die Anwesenheit der geheimnisvollen Unbekannten, die ihn durch ihre Reize und ihr Verhalten völlig aufwühlte. Wieder schaute er sie versonnen an. Ihr Blick war verklärt, sie schien nichts wahrzunehmen.

Welche Gefühle oder Erlebnisse verband sie mit diesem Ort? Was es auch war, sie teilte sie mit ihm, einem für sie fremden Urlauber! Wäre da nicht die Weite der Landschaft gewesen, die Unermesslichkeit des Meeres – Alex wäre erstickt an der Menge der Eindrücke und Emotionen, die in ihm entstanden.

Nach Ewigkeiten erhob sich die Frau, der Mann folgte ihr und beide tasteten sich langsam zurück durch die Dunkelheit. Links und rechts raschelte es in den von der Sonne ausgetrockneten Gräsern. Ab und zu stolperte einer von ihnen in der Finsternis über einen der zahllosen Kalksteine, bis sie endlich die schmale Straße erreichten. Den Weg zum Haus liefen sie schweigend, ab und zu stießen sie aneinander und genossen diese flüchtigen Berührungen.

»Ich gehe vor und schließe das Tor auf!«

Als der Wagen in der Einfahrt stand, alle Türen des Hauses verschlossen waren und Alex sein Zimmer bezogen hatte, zeigte die Uhr weit nach Mitternacht.

»Gute Nacht!«, murmelte er. Es sollte gleichgültig klingen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er sich von der hübschen Gastgeberin verabschiedete und sich Richtung Gästezimmer aufmachte.

Ein aufgekratztes »Gute Nacht, Alex!«, ließ ihn sich nochmals umwenden. Katharina fügte hinzu: »Ich freue mich, dass du bleibst! Bis morgen!« Und schon lief sie davon, ehe er antworten konnte.

Zweite Sitzung

»Guten Morgen, Herr Trauthoff, Sie sind äußerst pünktlich!« Dr. Weidhaus lobte den eintretenden Patienten und deutete mit der Hand auf den Sessel am Fenster.

»Guten Morgen, Frau Doktor!« Sein gehauchtes Lächeln war aufgesetzt und nervös. Der blonde Bürstenschnitt sollte wohl jugendlich wirken, überdeckte aber nicht seinen abgewrackten Zustand. Gesicht und Augen waren übermüdet. Dr. Weidhaus bemerkte den schwankenden, trippelnden Gang des Mannes und zog ihre Schlussfolgerungen.

»Möchten Sie Wasser trinken? Bedienen Sie sich!« Sie deutete auf die Gläser am Beistelltisch und ließ sich in ihren bequemen Sessel fallen. Da nahm sie wahr, wie ihr Gegenüber sie von oben bis unten taxierte. Widerlich, wie er ihre Beine bis zur Hüfte musterte! Schnell schlug sie sie übereinander, als sein Blick auch schon zu ihrer Brust wanderte.

Werner Trauthoff saß erst einmal. Zum Glück. Zehn Uhr war nicht seine Zeit. Viel zu früh, um zu leben! Jetzt hatte er ein anstrengendes Gespräch vor sich, ein Pingpong an Worten, welches er unbedingt steuern und gewinnen musste! Sein Privatleben ging dieser Dame gar nichts an, obgleich sie sexy und sympathisch war. Ihre langen Beine in den hautengen Jeans ließen ihn schneller atmen. Als sein Blick versonnen zwischen ihren Schenkeln zum Stillstand kam, schlug sie die junge Frau übereinander und verdarb alles. Aber auch oben herum war sie eine wahre Bombe! Das Kribbeln im Bauch vermochte Trauthoff nur schwer unter Kontrolle zu halten.

Sein Adrenalinspiegel schoss ins Unermessliche. Hatte ihn nicht schon Dr. Raute aus dem Klinikum in Königsläutern auf die Erotik der jungen, naiven Ärztin hingewiesen? In ihren Hypnosesitzungen hatte er sie sogar nackt gesehen! Dr. Raute hatte ihm jede Einzelheit beschrieben. Der Patient leckte sich über die Lippen.

Sie steht auf mich! Nur zeigen darf sie es eben nicht! Irgendwann gebe ich ihr, was sie sich von einem richtigen Mann erhofft!

»Trinken Sie einen Kaffee?« Dr. Weidhaus’ Angebot kam ihm gelegen, verschaffte ihm Zeit, sich zu konzentrieren.

»Ja, bitte, eine große Tasse.«

Die Frau erhob sich katzengleich mit einem eleganten Hüftschwung aus ihrem Sessel und eilte in die kleine Küche nebenan. Er gaffte ihr hinterher. Das war nicht seine Ärztin, das war seine Prinzessin! Groß, aufrechte Haltung, tadellose Figur. Die grauen Stretchjeans bildete eine zweite Haut und regten die Fantasie an. Die marmorierte, langärmlige Bluse gab der jungen Frau einen Hauch von Lässigkeit. Sie hat sich für mich hübsch gemacht!

Trauthoff hatte dafür ein Gefühl, schließlich war er ein Künstler, wenn auch ein verkannter. Leider traut man einem Wirt ja keine höheren musischen Fähigkeiten zu! Wenig später schlürfte er mit größtem Wohlbehagen den heißen, duftenden Kaffee. Seine chronische Müdigkeit zog sich zurück, sein Verstand arbeitete messerscharf.

Du hast keine Chance gegen mich, Prinzessin! Jung, sexy und so was von naiv!

»Wie bitte? Was sagten Sie?«

»Ach nichts. Habe nur gemurmelt. Der Kaffee schmeckt lecker. Danke!«

»Wie gehts Ihnen denn heute?«

»Wie immer.« Diese grünen Augen der Therapeutin! Sie sahen tief in seine Seele, erkannten alles! Schnell wich er ihrem Blick aus. Wenn nur das Flackern seiner Augen nicht wäre!

Dr. Weidhaus entgingen nicht die rhythmischen Bewegungen seiner Pupillen. Sie notierte etwas auf ihrem Block und fuhr dann mit unbekümmerter Stimme fort: »Hatten Sie am Wochenende wieder Angstattacken?«

»Nein, alles normal.«

»Nahmen Sie Medikamente ein?« Die Psychologin wusste genau, wann jemand lügt.

»Na ja, wie immer.«

Ruhe bewahren, Judith!, raunte ihr eine innere Stimme zu. Der Patient war extrem einsilbig, ließ niemanden an sich herankommen. Ganz anders als am Freitag, als er so bereitwillig aus seiner Kindheit erzählt hatte.

»Herr Trauthoff, wir beide wissen, dass sie krank sind und extreme Ängste auszustehen haben. Warum reden Sie nicht offen mit mir darüber? Denn wenn es Ihnen so gut gehen würde, wären Sie nicht hier, oder?«

Der Patient fing an zu zittern und presste die schweißnassen Hände gegeneinander. Die Ärztin sprach deutliche Worte. Sein ganzes Konzept brachte sie durcheinander! Er hatte sich auf hinterlistige und tastende Fragen eingestellt. Jetzt dies? Einfach offen die Karten auf den Tisch legen? Da war etwas faul.

»Sehen Sie, ich könnte eine Blutprobe entnehmen lassen.« Dr. Weidhaus schlug die Beine entgegengesetzt übereinander und lehnte sich zurück, um bequemer zu sitzen.

Trauthoff erbebte innerlich vor Gier nach dieser Frau, die ihm da ihre wohlgeformten Schenkel vors Gesicht hielt. Ihr weites T-Shirt war über die rechte Schulter gerutscht. Er sah keinen BH, nur weiße, samtige, unschuldige Haut. Genau wie Dr. Raute sie beschrieben hatte.