DAS GEHEIMNIS DER BORGIA-SKULPTUR - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL - Victor Gunn - E-Book

DAS GEHEIMNIS DER BORGIA-SKULPTUR - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Wieder einmal hat es Bill Cromwell, genannt Ironsides, mit einem äußerst schwierigen Fall zu tun: Mr. Francis August Kendrick, Kunsthändler und eines der beliebtesten Originale im Londoner Westend, wird erschossen in seiner Galerie aufgefunden. Zwei Gauner, die eine wertvolle Skulptur in seinem Besitz vermuteten, hatten ihm aufgelauert. Der Borgia-Kopf – vermutlich eine der ersten Goldschmiede-Arbeiten Benvenuto Cellinis – ist verschwunden. Cromwell begibt sich auf die Suche nach der Skulptur und nach den Mördern, ohne zu ahnen, dass einer der Täter direkt vor seiner Nase sein Spielchen mit der Polizei treibt...   Der Roman Das Geheimnis der Borgia-Skulptur von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1959. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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VICTOR GUNN

 

 

Das Geheimnis

der Borgia-Skulptur

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DAS GEHEIMNIS DER BORGIA-SKULPTUR 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Wieder einmal hat es Bill Cromwell, genannt Ironsides, mit einem äußerst schwierigen Fall zu tun: Mr. Francis August Kendrick, Kunsthändler und eines der beliebtesten Originale im Londoner Westend, wird erschossen in seiner Galerie aufgefunden. Zwei Gauner, die eine wertvolle Skulptur in seinem Besitz vermuteten, hatten ihm aufgelauert. Der Borgia-Kopf – vermutlich einer der ersten Goldschmiede-Arbeiten Benvenuto Cellinis – ist verschwunden. Cromwell begibt sich auf die Suche nach der Skulptur und nach den Mördern, ohne zu ahnen, dass einer der Täter direkt vor seiner Nase sein Spielchen mit der Polizei treibt...

 

Der Roman Das Geheimnis der Borgia-Skulptur von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1959. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  DAS GEHEIMNIS DER BORGIA-SKULPTUR

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Scheußliche Geschichte!«, sagte Chefinspektor Cromwell.

Seine Stimme war wutgeladen und der Ausdruck seines Gesichtes womöglich noch bärbeißiger als sonst. Der Telefonhörer flog zurück auf die Gabel. Johnny Lister, der in Hut und Mantel an der Tür stand, ließ seine Hand auf der Klinke ruhen.

»Was ist los, Old Iron?« Der Inspektor verdankte diesen Spitznamen seinem großen Namensvetter Oliver Cromwell, dessen Reiter Ironsides - Eisenseiten - genannt wurden.

»Was soll schon los sein? Mord natürlich!« Bill Cromwells Stimme war jetzt müde und verärgert. »Und ausgerechnet, wenn wir nach Hause gehen wollen! Den ganzen Abend hatte ich schon das verdammte Gefühl, als ob meine Nachtruhe hin wäre.«

Der elegante Kriminalsergeant nickte. »Ging mir genauso«, meinte er, »aber ich bin Gott sei Dank nicht abergläubisch. Ich hab’ nur an das Wetter gedacht, das sich über uns zusammenbraut. Eine widerliche, klebrige Schwüle ist das - der reinste Sirup, aber keine Luft! Haben Sie den Donner gehört? Alles in allem ein gräulicher Abend.«

Der Chefinspektor ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und griff nach dem Telefonhörer.

»Kein Abendbrot für uns, mein Junge«, stöhnte er wehleidig, »und wie mir scheinen will, auch kein Schlaf. Wenn wir das blöde Büro doch nur fünf Minuten eher verlassen hätten! Was hätten wir uns erspart!«

»Und wo ist er ermordet worden?«, fragte der praktische Johnny.

»In der Sackville Street - ein Mann namens Kendrick.«

»Kendrick? Doch nicht der alte Augustus? Ich bin oft in der Galerie Kendrick gewesen. Eine Schande ist das! Old Gus war einer der anständigsten Kerle, die wir hatten.«

 

Mr. Francis Augustus Kendrick war kaltblütig ermordet worden. Sein Hinscheiden bedeutete für Londons Westend den Verlust eines seiner beliebtesten Originale. Old Gus, wie Kendrick liebevoll in Kunstkreisen genannt wurde, war gereizt und ruhelos gewesen, seit er am Nachmittag in London angekommen war - und an seiner Nervosität war nicht nur das Wetter schuld. Er war zu einem ganz bestimmten Zweck nach London gefahren; eigentlich hatte sich der berühmte Kunstkenner und -händler bereits seit fünf Jahren von den Geschäften zurückgezogen und lebte bereits still und friedlich auf seinem Landsitz in Cumberland.

Mr. Michael Gale, der gesetzte, würdige Geschäftsführer, der die Firma jetzt leitete, hatte sofort verstanden, dass ein großer Abschluss in der Luft lag, denn der alte Kendrick, der sowieso ein ernster, schweigsamer Mann war, gab sich heute förmlich als Trappist. Nur seine Augen blitzten so, dass man ohne weiteres auf ein Geschäft von außergewöhnlicher Wichtigkeit schließen konnte. Gales vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg.

»Morgen, morgen, mein lieber Michael - morgen sollen Sie alles erfahren«, hatte Kendrick mindestens ein halbes dutzendmal erklärt. »Sie müssen nicht so neugierig sein.« Und mit einem verschmitzten Lächeln hatte er eine besonders angenehme Überraschung angedeutet.

Kendrick war ein großzügiger Mann, und wann immer er ein wirklich gewinnbringendes Geschäft abschloss, hatte Michael Gale ausnahmslos eine sehr anständige Provision bekommen.

Die drei Angestellten der Kunsthandlung waren nach Geschäftsschluss nach Hause gegangen. Danach hatte Mr. Kendrick die Gelegenheit ergriffen, mit Gale die Bücher durchzusehen, und dieser machte sich um sieben Uhr bereit, das Geschäft zu verlassen.

Das Wetter war immer schwüler und drückender geworden; schwere Wolken senkten sich über das Westend. Eine unbestimmte, unheimliche Drohung hing in der Luft, und Gale zögerte mehrere Male, bevor er endlich ging.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie mich heute Abend nicht mehr brauchen, Mr. Kendrick?«

»Gute Nacht, Gale.«

»Wenn ich vielleicht noch irgendetwas für Sie tun könnte...«

»Nach Hause können Sie gehen«, unterbrach Kendrick ihn kurz. »Ich werde froh sein, wenn das Wetter endlich losbricht. Vielleicht gibt es dann etwas Luft«, fügte er mit einem Blick auf den Himmel hinzu.

Da stand er nun auf der Schwelle seines berühmten Ladens - die Galerie bestand lediglich aus einigen Räumen über dem Geschäft ein kleiner, drahtiger, gepflegter und gutangezogener Mann, und lächelte verschmitzt vor sich hin. Seine Zähne waren von fast unglaublicher Makellosigkeit, sein langes graues Haar glänzte und stand über den Ohren wie zwei riesige Puderquasten ab. Lange Jahre war er im Westend eine bekannte Erscheinung gewesen, jetzt sah man ihn nur noch bei seltenen Gelegenheiten, wenn ihn besonders wichtige Geschäfte nach London führten.

Im Gegensatz zu seinem Chef war Gale lang und hager mit stets gebeugten Schultern. Den Regenmantel, der heute offenbar sehr nötig war, über dem Arm, entschloss er sich endlich zum Gehen.

Mr. Kendrick grinste verstohlen hinter ihm her, als er sich in den Laden zurückzog und die Tür schloss. Er dachte an Gales offensichtliche Besorgnis. Eine schöne Überraschung würde der morgen erleben!

Dann schlenderte der kleine Mann einige Zeit müßig durch den halbdunklen Laden, besah sich verschiedene Kunstgegenstände, rückte an ihnen herum und bemühte sich redlich, die Zeit bis acht Uhr zu vertrödeln.

Um halb acht kam es ihm vor, als ob er fernes Donnergrollen hörte. Er zog sich in das durch Glas abgetrennte hintere Ende des Raumes zurück und knipste die Lampe auf seinem Schreibtisch an. Die Sackville Street war jetzt in ihre übliche abendliche Schläfrigkeit versunken. Der Himmel hing voller Gewitterwolken, und eine vorzeitige Dämmerung lag über der Stadt. Bis jetzt war noch kein Tropfen Regen gefallen.

Es war vierzig Minuten nach sieben Uhr.

Old Gus in seinem Büro horchte erstaunt und verärgert auf, als ein Klingeln anzeigte, dass die Ladentür geöffnet worden war. Er hatte absichtlich nicht zugesperrt, aber dem äußeren Anschein nach war das Geschäft geschlossen, und er erwartete keine Kunden mehr. Jedenfalls nicht bis acht Uhr - und auch dann nur einen einzigen.

Er öffnete die mit einer Glasscheibe versehene Tür des Büros und blickte in den langen, dunklen und mit zahllosen Kunstgegenständen vollgestopften Raum. Zwei Kunden hatten den Laden betreten. Wie unangenehm, dachte er. Ausgerechnet jetzt.

»Es tut mir leid, meine Herren...« Er hielt erstaunt inne, als er erkannte, dass der eine der beiden Männer die Ladentür verschloss. Daraufhin wandten sich die zwei Gestalten ihm zu und kamen mit schnellen, sicheren Schritten näher.

»Mr. Kendrick?«

»Darf ich mich vielleicht erkundigen, wie Sie dazu kommen, meine Tür abzuschließen?«, fragte Old Gus in ziemlich scharfem Ton. »Das Geschäft ist jetzt geschlossen, und ich habe nicht die Absicht...«

»Nur keine Aufregung, Mr. Kendrick«, unterbrach ihn der größere der beiden Männer. »Es wird Ihnen nichts geschehen, wenn Sie genau das tun, was ich sage. Das Ding in meiner Hand ist eine Pistole mit Schalldämpfer. Ich hoffe sehr, dass ich sie nicht benutzen muss.«

»Großer Gott!«, stieß Mr. Kendrick hervor.

Es ging ihm durch den Kopf, dass Gale wirklich ein Vorgefühl kommenden Unheils gehabt haben müsse, und er zitterte vor Wut über die unglaubliche Frechheit eines solchen Überfalls am helllichten Tage. Sicher hatte er von solchen Vorfällen gelesen, aber in den dreiundzwanzig Jahren seiner Tätigkeit hatte er niemals etwas Ähnliches erlebt. Er konnte einfach nicht glauben, dass er seine augenblickliche Lage dem besonderen Geschäft zu verdanken habe, das ihn nach London geführt hatte.

Kendrick hatte durchaus nicht den Kopf verloren.

»Ich habe keine Ahnung, was Sie zu finden hoffen«, meinte er mürrisch. »Dieser Laden enthält eigentlich nichts, was Sie interessieren könnte, und in meiner Brieftasche habe ich nur einige Pfund.«

»Schon gut, Mr. Kendrick«, sagte der große Mann in gelassenem Ton. »Wir wissen, was wir suchen. Sie setzen sich jetzt an Ihren Schreibtisch, legen Ihre beiden Hände auf die Platte und lassen sie dort liegen, damit ich sie im Auge behalten kann. Und vor allen Dingen fangen Sie nicht an zu schreien. Es würde mir sehr leid tun, wenn ich grob werden müsste.«

In seinem dünnen blauen Regenmantel machte der wohlbeleibte Mann einen durchaus freundlichen und vertrauenerweckenden Eindruck. Mit seinem feisten Gesicht und dem dünnen Schnurrbart, Marke Zahnbürste, sah er wie ein gutmütiger Landedelmann aus. Zwei Goldzähne glänzten im Licht der Lampe, wenn er sprach. Der andere Mann sah ganz und gar unauffällig aus - nichts als ein ängstlicher Zuschauer, mit einem mageren, glattrasierten Gesicht und kleinen, ruhelosen Knopfaugen.

Mr. Kendrick war sich natürlich nicht klar darüber, dass ihm ein bemerkenswert vornehmer Besucher die Ehre gab. Frederick Charles Brody war einer der schlauesten Gauner in ganz Europa. Von Geburt Australier, mit langjährigen Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, betrachtete er die großen europäischen Hauptstädte als sein Haupttätigkeitsfeld. Brody war so klug, dass Scotland Yard ihn noch niemals hatte erwischen können, und nur die Wiener Polizei besaß Akten über ihn. Vor acht Jahren war er dort einmal unvorsichtig gewesen und in Verdacht geraten. Aber selbst damals hatte man ihn nicht überführen können. Mr. Brody umgab sich mit Luxus und lebte wie ein reicher Mann, der er auch tatsächlich war. Seinen Reichtum bezog er von seinen zahlreichen, klug ausgewählten Opfern. Ted Willis, sein Begleiter, war nichts als ein treuer Sklave.

»Ich habe nicht die Absicht, Sie lange aufzuhalten, Mr. Kendrick«, erklärte Brody im gleichen herausfordernd gelassenen Plauderton. »Sie brauchen mir nur den Borgia-Kopf auszuliefern. Das ist alles, was Sie zu tun haben.«

Kendrick zuckte unmerklich zusammen.

»Den Borgia-Kopf?«, wiederholte er erstaunt.

»Ganz richtig.«

»Und was, wenn Sie mir die Frage erlauben wollen, ist der Borgia-Kopf?«

»Ruhe, Ruhe, mein Lieber, leugnen hilft gar nichts!« Brody lächelte jetzt breit. »Ich würde so was Dummes gar nicht erst versuchen, wenn ich Sie wäre. Wir vertrödeln nur unsere Zeit. Sie wissen ebenso gut wie ich, was der Borgia-Kopf ist, und außerdem haben Sie ihn hier in Ihrem Büro.«

»Was mich zu dem Geständnis zwingt, dass Sie mehr wissen als ich«, gab Kendrick freundlich zurück.

Brody fing sichtlich an, seine Herzlichkeit zu verlieren. »Sie glauben wohl, dass Sie mich aufhalten können, bis Dodd kommt, wie?«, sagte er. »Jawohl, ich weiß alles über Mr. Preston Dodd«, fuhr er fort, als er Kendrick auffahren sah. »Der kommt aber nicht vor einer Viertelstunde. Wie Sie sehen, habe ich die Zeit für meinen Besuch mit großer Sorgfalt gewählt.«

Kendrick machte mit den Händen eine ungeduldige Bewegung, aber seine Augen hatten jetzt einen außerordentlich besorgten Ausdruck.

»Das ist ganz einfach lächerlich...«, fing er an.

»Ganz meine Meinung«, zischte Brody und hob die Pistole. »Lächerlich ist das richtige Wort. Hände auf den Tisch, Mr. Kendrick, und keine überflüssigen Bewegungen, wenn ich bitten darf!«

»Und was sollte ich wohl für Bewegungen machen?«, erkundigte sich Kendrick mit mühsam bewahrter Geduld. »Bilden Sie sich ein, dass ich mit Revolvern in den Taschen umherlaufe, oder erwarten Sie von mir, dass ich Sie mit bloßen Fäusten anfalle? Sie haben mich in der Hand, und ich muss mich fügen, aber das ändert gar nichts. Was immer Sie glauben, hier in diesem Raum gibt es keinen Borgia-Kopf.«

»Langsam vergeht mir die Geduld«, bemerkte Brody kalt. »Ich komme doch nicht einfach hierher, ohne mich genauestens zu informieren. Wenn Sie meinen, dass Ihre geschäftlichen Transaktionen in der letzten Zeit geheim geblieben sind, dann irren Sie sich, Mr. Kendrick. Solche Sachen sprechen sich herum, und ich weiß, dass Sie für einen Ihrer Kunden, Mr. Preston Dodd, den Erwerb des Borgia-Kopfes betrieben haben. Er ist hier - der Kopf, meine ich und Mr. Dodd wird gleichfalls bald hier sein, um ihn abzuholen, wie er glaubt. Aber vorher werde ich ihn abgeholt haben. Ganz einfache Sache, wie Sie sehen. Und nun: Wo ist der Kopf?«

Der kleine Kunsthändler war viel bestürzter, als er sich nach außen hin anmerken ließ. Brodys Informationen waren vollständig richtig. Kendrick hatte, bei einem seiner seltenen Besuche in London, vor zwei Monaten in seinem Klub Mr. Dodd kennengelernt, den großen Mr. Preston Dodd, der Amerikaner, Multimillionär, Präsident des Dodd-Stahl-Konzerns und leidenschaftlicher Kunstsammler war. Sie waren ins Gespräch gekommen, und Dodd hatte die Gerüchte über den sagenhaften sogenannten Borgia-Kopf - eine Skulptur aus dem sechzehnten Jahrhundert - erwähnt. Man flüsterte sich in Kunstkreisen zu, dass er, nach einem der großen Luftangriffe auf das Kloster Monte Cassino, unter einer zusammengestürzten Mauer gefunden worden sei. Jawohl, hatte Kendrick bestätigt, er habe von diesen Gerüchten gehört. Er glaube auch, dass es mehr als Gerüchte seien. Er habe viele Verbindungen auf dem Kontinent und sei überzeugt, dass er den Kopf kaufen könne - allerdings zu einem phantastischen Preis. Darauf hatte ihn Preston Dodd sofort beauftragt. Er sei mit jedem Preis einverstanden, ohne Einschränkungen. Er hatte tausend Pfund angezahlt und später von Kendrick erfahren, dass dieser Erfolg gehabt hatte und nun fünfzigtausend Pfund fordere. Heute Abend sollte das Kunstwerk endlich in seine Hände gelangen. Mr. Preston Dodd wollte um acht Uhr mit einem Scheck über neunundvierzigtausend Pfund erscheinen.

Kein Zweifel, Brody war einwandfrei unterrichtet und hatte auch die Zeit seines Besuches mit großem Geschick gewählt. Er wusste ja, dass er den Borgia-Kopf in Amerika unter der Hand ohne jede Schwierigkeit verkaufen konnte - und zürn gleichen Preis wie Kendrick. Dies war das Geschäft seines Lebens, und dazu noch das einfachste und gefahrloseste Unternehmen, das er jemals gestartet hatte.

»Diese ganze Angelegenheit ist wirklich sehr betrüblich«, meinte Old Gus. Er versuchte seiner Stimme - nicht ganz erfolgreich - Festigkeit zu geben. »Ich kann nur annehmen, dass Sie falsch informiert wurden. Es ist wahr, dass ich eine Verabredung mit Mr. Dodd habe - dieser Teil Ihrer Information ist durchaus korrekt -, aber ich weiß nicht das geringste über Ihren sogenannten Borgia-Kopf!«

»Schwach, Mr. Kendrick, ganz schwach«, erwiderte Brody. »Was Antiquitäten betrifft, wissen Sie mehr als alle Kunstkenner und Fachleute Londons zusammen, und wenn Sie mir erzählen, dass Sie niemals etwas über den Borgia-Kopf gehört haben, verraten Sie sich nur selbst.«

»Habe ich gesagt, dass ich niemals davon hörte? Selbstverständlich habe ich davon gehört. Es muss übrigens ein bemerkenswertes Beispiel italienischen Kunsthandwerks des sechzehnten Jahrhunderts sein, wenn die Gerüchte über diese Arbeit nicht übertreiben. Die Borgia-Dokumente enthalten einige vage Hinweise, und es scheint, dass diese Hinweise durch einen Brief bestätigt werden, den Benvenuto Cellini im Jahre 1552 schrieb und von dem nicht bezweifelt werden kann, dass er authentisch ist. Aber wie dem auch sei, der Kopf ist seit Jahrhunderten verschwunden und verschollen, und ich habe wirklich keinen Grund zu der Annahme, dass er kürzlich wieder aufgetaucht ist, wie Sie sich einzubilden scheinen. Irgendjemand hat Sie gründlich an der Nase herumgeführt, mein Freund. Hier ist wirklich kein Borgia-Kopf.«

»Hut ab vor Ihrem Mut und Ihrer Ruhe«, gab Brody lächelnd zurück. »Sie sind ein meisterhafter Spieler, Mr. Kendrick. Ich würde Sie auch liebend gern weitersprechen lassen, aber leider - die Zeit drängt. Geben Sie mir den Schlüssel zu Ihrem Geldschrank.«

»Lass mich den lieber aus seiner Tasche holen«, ließ sich Willis zum ersten Mal vernehmen. Er sprach schnell und leise. »Er könnte irgendeine faule Sache versuchen, wenn du ihm erlaubst, die Hände vom Tisch zu nehmen.«

»Oh, Himmel, was ist das bloß für eine alberne Geschichte«, sagte Kendrick in ergebenem Ton. »Der Schlüssel zum Safe ist nicht in meiner Tasche. Er liegt in einer Schublade. Hier, in der linken Schublade des Schreibtisches. Es wäre mir schrecklich unangenehm, Ihnen unnötige Mühe und Scherereien zu verursachen.«

Willis trat vor und zog die von Kendrick bezeichnete Lade auf. Im gleichen Augenblick versuchte Old Gus mit einer schnellen, zielsicheren Bewegung den darin befindlichen Revolver zu ergreifen.

»Achtung!«, schrie Willis.

Brody reagierte augenblicklich und tatsächlich mehr oder weniger automatisch. Ehe Kendricks Finger sich um die Waffe schließen konnten, gab Brodys Pistole einen sonderbaren, gedämpften Ton von sich, eine leichte, scharf riechende Rauchwolke verbreitete sich im Zimmer, und Mr. Francis Augustus Kendrick sackte über seinem Schreibtisch zusammen. Der einzige Ton, den er von sich gab, war ein merkwürdiger Seufzer. Dann wurde es totenstill.

»Himmlische Gerechtigkeit!«, stöhnte Willis.

Brody steckte die Pistole in seine geräumige Manteltasche. Schweißperlen glänzten auf seinem feisten Gesicht. Er atmete schwer, und seine Goldzähne glitzerten im Lampenlicht.

»Üble Sache«, sagte er mit eiskalter Stimme. »So was bringt einen garantiert in Scherereien. Ist aber noch lange kein Grund, so verstört auszusehen, Ted. In drei Minuten sind wir draußen. Wir haben nichts angefasst - und Handschuhe haben wir auch beide an.«

»Du hättest ihn nicht umlegen sollen«, murmelte der schlotternde Willis. »Das hättest du nicht machen dürfen, Charlie. Warum hast du das bloß getan? In meinem ganzen Leben hab’ ich noch nichts mit Mord zu tun gehabt. So was bringt einen an den Galgen, Charlie.«

»Hör auf zu stottern, du furchtsames Kaninchen«, fuhr ihn Brody an, indem er ihn gleichzeitig kräftig schüttelte. »Reiß dich doch zusammen, Mensch! Er hat’s ja einfach herausgefordert, der Kerl, oder meinst du, dass ich ihn an seine Kanone ranlassen durfte? Eine Sekunde später, und er hätte mich erschossen. Das war kein bloßer Angeber. Ein verdammt geistesgegenwärtiger alter Knabe war das. Um ein Haar hätte er mich erwischt. Da muss doch selbst ein solcher Idiot wie du einsehen, dass es nur darum ging, wer zuerst schießt.«

»Aber Mord bleibt es trotzdem, Charlie«, winselte der andere. Er konnte die Augen nicht von der zusammengesunkenen Gestalt am Schreibtisch abwenden. »Niemals, niemals vorher sind wir so weit gegangen. Mord ist das, sage ich dir - wir müssen raus hier«, setzte er in jäh ausbrechender Panik hinzu.

»Wir hauen hier ab, wenn wir gefunden haben, was wir suchen«, antwortete Brody verächtlich. »Ich hab’ wirklich nicht gewusst, dass du ein so feiger Hund bist! Los, mach dich ran, hilf mir das Zimmer absuchen! Wir müssen uns beeilen.«

»Ist ja gut, Charlie.« Willis riss sich mit Mühe zusammen. »Herrgott, ich wünschte, ich hätte deine Nerven!«

Brody war tatsächlich so kühl und ruhig, als wenn sich nichts ereignet hätte. Es stellte sich heraus, dass in der Schublade keine Schlüssel lagen. Ohne zu zögern und mit sicheren Händen untersuchte Brody Kendricks Taschen so geschickt, dass die Lage des Leichnams kaum verändert wurde. Die festanliegenden Handschuhe schienen ihn überhaupt nicht zu behindern.

Kendricks Schlüsselbund war schnell gefunden, und danach war es das Werk einer Minute, den großen, altmodischen Safe aufzuschließen, der in einer dunklen Ecke des Raumes stand. Brody fing zuversichtlich und entschlossen an, den Safe zu durchsuchen, aber je länger es dauerte, desto hastiger und nervöser wurden seine Bewegungen.

Der Safe enthielt einige verhältnismäßig wertvolle Gegenstände, aber nichts von besonderem Interesse. Zwei Bündel Ein-Pfund-Noten, einige antike Goldmünzen, drei oder vier seltene Erstausgaben und ein paar vielbenutzte Kontobücher, aber nichts, was nur im Entferntesten dem von Brody gesuchten Gegenstand ähnelte.

»Verdammt - nichts! Wo, zum Teufel, kann das Ding bloß stecken? Es muss doch hier im Zimmer sein!«

Ziemlich aufgebracht, besah er sich die verschiedenen Gegenstände, mit denen das Büro angefüllt war. Die Zeit drängte. Er hatte fest damit gerechnet, den Borgia-Kopf im Safe zu finden.

»Dieser alte Geheimniskrämer! Was, zum Teufel, kann er damit angestellt haben? Durchsuch den Schreibtisch, Ted, während ich mir die Regale vornehme. Dreh einfach alles um.«

»Was ist mit seinen Taschen?«, erkundigte sich Ted zögernd.

»Herrgott, wie kann man nur so ein armer Irrer sein? Das Ding hat Lebensgröße. Wie soll er es denn in die Tasche geschoben haben? Vermutlich hat er es in irgendeiner Kiste oder Schachtel versteckt. Nach so was musst du dich umsehen.«

Und weiter ging die Suche - je mehr Zeit verstrich, desto wilder und verzweifelter wurde ihr Tempo.

»Das Ganze ist einfach unwahrscheinlich«, stöhnte Brody, nachdem er einen alten Schreibtisch wiederum vergeblich durchwühlt hatte. »Das Ding kann doch in kein Mauseloch geraten sein, es ist ja viel zu groß. Es steckt bestimmt hier in diesem Raum, starrt uns vermutlich an und lacht uns aus, verflucht noch mal. Im Traum wäre mir nicht eingefallen, dass wir solchen Ärger kriegen.«

»Wir hätten früher kommen sollen«, beklagte sich der schlotternde Willis. »Es ist fast acht Uhr, Charlie.«

»Na und? Wir werden den Kopf schon noch finden, ehe Mr. Dodd eintrudelt«, gab Brody mit einem sonderbaren Lachen zurück. »Wir müssen ihn finden. Und außerdem kann er nicht rein - die Tür ist zugeschlossen.«

Ted Willis machte plötzlich ein ziemlich dummes Gesicht.

»Aber...«

»Es ist so verdammt blödsinnig«, unterbrach ihn Brody. »Die Zeit war prima angesetzt, und Kendrick musste den Kopf da haben. Mitten auf dem Schreibtisch, hab’ ich gedacht, würde er stehen.«

Und wiederum sah er sich im Raum um. Es war einfach gewesen, den alten Schreibtisch und den Safe durchzuwühlen, aber der Raum war vollgestopft mit Möbeln, und es würde viel Zeit kosten, sie alle zu durchsuchen.

Brody fing langsam an zu begreifen, dass der schlaue Mr. Kendrick den Borgia-Kopf meisterhaft versteckt hatte, obwohl er seinen reichen Kunden um Punkt acht Uhr erwartete. Er machte einen großen Schrank auf und leuchtete das Innere mit seiner Taschenlampe ab, er suchte in den verschiedensten antiken Kommoden und Behältern herum.

»Einfach nicht da«, stöhnte er. »Diese ganze Angelegenheit ist völlig unmöglich. Alles war bestens vorbereitet. Der Alte musste ganz einfach den Kopf hier haben, nachdem er Dodd um acht Uhr erwartete. Ich sage dir, der Kopf ist hier irgendwo ganz in der Nähe.«

»Vielleicht im Laden?«, schlug Willis vor.

»Heiliger Himmel! Wie stellst du dir das vor? Um den Laden abzusuchen, brauchen wir einen Monat.« Brody geriet langsam in Schweiß. »Und außerdem ist er nicht im Laden«, fügte er wütend hinzu. »Hier ist er, weil er hier sein muss. Hölle, Tod und Teufel, all dieser Ärger und...«

Rrrr!

Die Klingel schnarrte im Büro, so nah, so unerwartet, dass die beiden Männer in wildem Schrecken zusammenfuhren. Willis klappte buchstäblich zusammen und musste sich am Schreibtisch festhalten.

»Was ist das?«, stieß er heiser hervor.

»Die Türklingel, du Idiot«, erklärte ihm Brody, aber auch in seinen Zügen malten sich Bestürzung und Erstaunen. »Ich kann gar nicht verstehen, wieso... Warte! Es muss einen Weg geben. Bleib von der Tür weg, verdammt noch mal. Dein Schatten fiel eben genau auf das Glasfenster...«

Er brach ab und lief zu einer hölzernen Schiebetür in der Wand, die er schon vorher bemerkt und deren Zweck er sofort erraten hatte. Sie diente dazu, dass Kendrick, ohne von seinem Schreibtisch aufzustehen, in den Laden sehen konnte. Eine ausgezeichnete Methode, die Kunden unbemerkt zu beobachten. Die Ladentür hatte ein Oberteil aus Glas, und Brody konnte im abendlichen Zwielicht den Helm eines Polizisten dahinter erkennen. Der Beamte war offensichtlich bemüht, die Tür zu öffnen.

»Das Licht!«, zischte Willis. »Großer Gott, wir haben das Licht vergessen. Wir müssen es ausmachen.«

Er griff nach dem Schalter der Schreibtischlampe, aber Brody fiel ihm wütend in den Arm.

»Und ich hatte mir eingebildet, du wärst ein kluger Bursche. Ein Feigling und Dummkopf, das bist du, Ted. Der haut vielleicht ab, wenn er nichts Verdächtiges entdeckt, aber was glaubst du, das er macht, wenn das Licht plötzlich ausgeht?«

»Aber wir können doch nicht hierbleiben«, protestierte Willis. »Nicht nach dem...« Er musste schlucken und starrte gebannt auf den zusammengesunkenen Körper am Tisch. »Nicht nach dem, was passiert ist«, brachte er endlich heraus.

Brody fluchte leise, aber kräftig.

»Stimmt, hierbleiben ist nichts«, gab er zu. »Viel zu gefährlich. Aber es muss doch eine Hintertür geben, und wenn es sie gibt, dann werden wir sie finden.«

In dieser verzweifelten Lage hatte er seine eiskalte Gelassenheit wiedergefunden. Er wusste, es ging um Sekunden. Sie mussten fort, und zwar sofort. Jeden Augenblick konnte es dem eifrigen Polizisten da vorn einfallen, um das Haus herumzugehen.

Brody warf einen letzten Blick auf das altmodische Büro mit seinen alten Möbeln, seiner einsamen, abgedunkelten Lampe auf dem Schreibtisch und seinem toten Besitzer. Äußerlich war er vollkommen ruhig, aber innerlich hatte der Verlauf dieser Angelegenheit ihm doch einen heftigen Stoß versetzt. Ein Misserfolg! Und die ganze Zeit hatte er daran gedacht, dass der Raub des Borgia-Kopfes der müheloseste Erfolg seiner Karriere werden würde.

Schon vorher hatte er eine schmale Tür hinten im Raum entdeckt; jetzt ging er auf sie zu und öffnete sie. Sie führte auf einen schmalen Gang. Das Haus war alt, und der Gang hatte viele Windungen, aber - und das war für die beiden das wichtigste - er führte wenigstens zur Hintertür. Sie war verriegelt, und eine Kette hing davor. Im Nu hatte Brody sie geöffnet. Draußen wurden sie vom ersten dumpfen Donnergrollen empfangen. Sie befanden sich auf einem kleinen Hof.

»Charlie«, flüsterte Ted Willis verzweifelt, »hier geht’s nirgends weiter. Wir sind hin. Wir kommen nicht raus aus diesem Hof.«

Brody gab keine Antwort. Ein schneller Blick hatte ihn sofort den Ausweg erkennen lassen. Er zog sich links an der Hofmauer hinauf und spähte hinüber. Wie erwartet, sah er drüben eine schmale Gasse. Sie war menschenleer. Im Handumdrehen war er auf der Mauer und ließ sich auf der anderen Seite hinuntergleiten. Ted Willis folgte.

»Ruhe jetzt«, murmelte Brody. »Geh gefälligst so, als ob wir nichts als einen Verdauungsspaziergang im Sinn hätten, und mach um Himmels willen bloß nicht so ein Gesicht, dass jeder Idiot im Dunkeln erkennen kann, was für eine Angst du hast.«

Sie verließen die Gasse, ohne jemandem zu begegnen, und kamen in eine stille Seitenstraße.

Fünf Minuten später tauchten sie auf dem Piccadilly Circus in der Menge unter.

»Was nun?«, fragte Willis, der seine Haltung so weit wiedergefunden hatte, dass er wieder normal aussah. »Was willst du jetzt machen? Glatter Reinfall. All unser Ärger für nichts. Der alte Kendrick tot für nichts...«

»Mensch, halt’s Maul! Musst du so ein blödes Zeug quasseln, mit der ganzen Menschenmenge rundherum?«, fuhr ihn Brody an. »Kendrick ist dran gewesen mit Sterben, und sein Geheimnis hat er mitgenommen. Aber ich bin noch lange nicht am Ende meiner Weisheit. Jetzt erst recht nicht, sage ich dir.« 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Polizeiwachtmeister Jack Bradley war das schwache Licht in den hinteren Räumen der Galerie Kendrick aufgefallen. Der ruhige und kluge Beamte pflegte im Dienst Verstand und Augen gut zu gebrauchen. Trotzdem verlief seine Streife meist recht ereignislos. Durch die Sackville Street war er schon viele hundert Male zu allen Tages- und Nachtstunden gekommen, ohne jemals etwas Verdächtiges zu entdecken.

Auch jetzt hatte er keinen Verdacht. Er fand es nur auffallend, dass das Licht brannte. Wie für diese Tagesstunde üblich, war der Laden offensichtlich geschlossen. Aber warum hatte Gale im Büro Licht gelassen? Er kannte Michael Gale recht gut, hatte oft mit ihm einen Schwatz gehalten und mochte den alten Knaben gern. Von ihm wusste er auch, dass Old Gus Kendrick, der Besitzer des Ladens, sich seit Jahren von den Geschäften zurückgezogen hatte und auf dem Lande lebte.

Manchmal blieb Gale länger im Geschäft, aber dann ließ er immer auch das Licht im Laden brennen. Dieses Licht im Büro war etwas anderes. Niemand hatte auf sein Klingeln geantwortet, es war ihm nur so vorgekommen, als habe er einen Schatten auf der Glasscheibe in der Tür gesehen. Wenn Gale noch da war, warum reagierte er dann nicht auf das Läuten?

Sonderbar, dachte Bradley. Sieht dem alten Knaben gar nicht ähnlich, wegen nichts und wieder nichts Licht brennen zu lassen. Hoffentlich ist ihm nicht schlecht geworden, und er liegt hilflos in dem stickigen, kleinen Büro.

Was den Schatten auf der Scheibe betraf, so war er nicht ganz sicher. Möglicherweise hatte er sich geirrt. Wohl die meisten Beamten hätten unter diesen Umständen ihre Streife fortgesetzt und die ganze Sache mit einem Achselzucken abgetan. Nicht so der eifrige und pflichtbewusste Bradley. Er klingelte noch einmal und wartete etwa zehn Minuten ab. Dann ging er zur nächsten Telefonzelle, rief sein Revier an, das sich ganz in der Nähe befand, und meldete den Vorfall.

Inspektor Hammond war am Apparat und hörte sich Bradleys Meldung an.

»Sie haben ganz richtig gehandelt, Bradley«, sagte er. »Gut möglich, dass nichts dahintersteckt, aber es kann nicht schaden, sich davon zu überzeugen. Ich kenne Mr. Gale persönlich. Er ist ein pedantischer alter Kauz. Sieht ihm gar nicht ähnlich, wegzugehen und einfach Licht brennen zu lassen. Ich komme gleich rüber und schaue mir die Sache mal an. Auf bald also!«

»Vielen Dank, Sir«, sagte der Wachtmeister erfreut und hängte ein. Dann ging er zurück zur Galerie Kendrick.

Hätte Jack Bradley nicht eine so scharfe Beobachtungsgabe besessen, wäre der Mord erst am anderen Morgen entdeckt worden. Wenn Bradley jedoch gewusst hätte, dass Mr. Kendrick selbst in London war, wäre die Meldung wahrscheinlich ganz unterblieben. Er hätte dann sicher angenommen, dass Kendrick nicht gestört werden wolle und darum das Läuten nicht beachtet habe.

Als er auf den Laden zusteuerte, bemerkte er einen Mann, der die Tür mit Fäusten bearbeitete, und beschleunigte seine Schritte. Der Fremde erwies sich als ein großer, schlanker älterer Herr mit weißem Haar, das unter der Krempe seines weichen Hutes hervorquoll. Er war glattrasiert und trug eine randlose Brille. Ganz offensichtlich waren er und sein gutsitzender Anzug amerikanischer Herkunft.

Die ersten Regentropfen fingen an zu fallen.

Der weißhaarige Fremde hämmerte mit der Faust an die Tür, während ein Finger der anderen Hand auf den Klingelknopf drückte.

»Hat keinen Zweck, solchen Lärm zu schlagen, Sir«, sagte Bradley gutmütig. »Es ist längst Geschäftsschluss. Ich glaube nicht, dass jemand da ist. Die Galerie ist für heute geschlossen.«

»Ich weiß«, gab der andere ungeduldig zurück, »aber ich habe eine Verabredung mit Mr. Kendrick für acht Uhr.«

»Gerade acht Uhr vorbei, Sir«, sagte Bradley. »Eine Verabredung mit Mr. Kendrick?« fügte er erstaunt hinzu. »Aber Mr. Kendrick ist ja gar nicht hier. Er hat sich schon vor Jahren zurückgezogen und lebt auf dem Lande.«

Der alte Mann machte eine ungeduldige Bewegung.

»Mein Gott, das weiß ich doch. Aber heute ist er in London. Er hat mich vor ein oder zwei Stunden angerufen und sich mit mir für heute Abend verabredet. Er sagte mir auch, dass der Laden für den Kundenverkehr geschlossen sein würde, dass er die Tür aber offenlassen wolle und ich nur direkt hineingehen solle. Jetzt kann ich weder hinein, noch ist die Tür offen - und niemand antwortet auf mein Klingeln.«

»Das ist natürlich eine andere Sache, Sir«, sagte der Beamte. »Ich wusste nicht, dass Mr. Kendrick in London ist, und habe gerade eine Meldung über das Licht im Büro gemacht. Vielleicht war das ganz überflüssig. Mr. Kendrick könnte die Zeit vergessen haben...«

»Ganz unmöglich«, unterbrach ihn der Fremde. »Kendrick ist nicht der Mann, der vergisst, wie spät es ist. Meine Verabredung mit ihm ist von größter Wichtigkeit. Kendrick ist nur nach London gekommen, um mich zu treffen. Zum Teufel, was ist hier los? Die Sache gefällt mir nicht.«

In diesem Augenblick erschien ein Polizeiwagen mit Inspektor Hammond und einem Beamten in Uniform. Hammond streifte den weißhaarigen Fremden mit einem schnellen, forschenden Blick.

»Was Neues, Bradley?«

»Nichts, Sir. Es meldet sich immer noch niemand.«

»Wer ist dieser Herr?«

»Er sagt, er habe sich für acht Uhr mit Mr. Kendrick verabredet.«

»Aber Mr. Kendrick ist seit Jahren nicht mehr im Geschäft...«

»Das weiß ich doch längst«, unterbrach ihn der Fremde. »Darf er denn sein eigenes Geschäft nicht mehr betreten, wenn’s ihm Spaß macht? Meine Verabredung mit ihm ist von größter Bedeutung. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum er nicht hier ist. Er hat mir ausdrücklich acht Uhr gesagt und dass die Tür offen sein würde und ich direkt hineingehen solle.«

Der Fremde sah jetzt ganz bekümmert aus. »Ich bin fünf Minuten zu spät gekommen. Er kann doch nicht angenommen haben, dass ich nicht mehr komme, und die Tür verschlossen haben. Das wäre doch einfach blödsinnig.«

»Schon gut, schon gut, Sir. Gar kein Grund, sich aufzuregen«, beschwichtigte ihn Hammond. »Wenn Sie mir nur sagen würden, wer Sie sind.«

»Mein Name ist Dodd, Preston Dodd. Ich wohne im Piccadilly-Hotel, gleich um die Ecke. Darum bin ich zu Fuß.«

In Inspektor Hammonds Benehmen trat eine merkliche Veränderung ein. Preston Dodd - Piccadilly-Hotel. 

Dodd war Millionär, Präsident des riesigen Dodd-Stahl-Konzerns in Amerika, seit einigen Wochen im Piccadilly-Hotel abgestiegen und ein sehr anspruchsvoller Gast. Er hatte einen großen Koffer deponiert und galt als ein leidenschaftlicher Kunstsammler.

»Es wird schon alles in Ordnung sein, Mr. Dodd.« Hammonds Ton war jetzt außerordentlich höflich. »Sicher gibt es eine ganz einfache Erklärung für diese Verzögerung.«

»Ich hoffe zu Gott, dass Sie recht haben«, erwiderte Dodd in besorgtem Ton. »Sie haben ja keine Ahnung, warum ich hier bin. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Ich sage Ihnen, wenn diesem Kopf etwas passiert...«

»Wem bitte, Sir?«

»Ach, ganz egal. Ich will zu Kendrick. Es ist gleich acht Uhr zwanzig, und ich versprach - Pfui Teufel! Habt ihr immer so ein Sauwetter hier?«

Der Regen hatte jetzt richtig eingesetzt - ein regelrechter Wolkenbruch -, und es blitzte und donnerte heftig. Mr. Preston Dodd flüchtete in den Schutz der Türöffnung und blickte durch das Glas nach dem schwachen Lichtschein hinten im Geschäft.

Hammond drückte auf die Türklinke. »Verschlossen«, stellte er fest. »Und Sie konnten keine Antwort kriegen, Bradley? Was ist denn mit dem Hintereingang? Wird doch hoffentlich einen geben, wie? Irgendwie müssen wir ja rein. Mir gefällt die Sache ganz und gar nicht.«

»Vielleicht durch die Seitengasse«, schlug Bradley vor. »Das Haus muss eine Hintertür haben. Ich weiß nur nicht, ob man dran kann.«

»Versuchen Sie’s doch mal, Bradley. Wenn es nicht anders geht, müssen Sie eben über ein paar Mauern steigen. Aber richten Sie mir keinen Schaden an. Mr. Kendrick kann schnell für fünf Minuten rausgegangen sein, und wir würden schön dastehen, wenn wir ihm inzwischen seine Tür eingeschlagen hätten.«

Der Wachtmeister verschwand, und Hammond läutete noch einmal. Der aufgeregte Millionär und er konnten die Glocke leise anschlagen hören.

»Kendrick ist bestimmt nicht nur für Minuten rausgegangen, wie Sie meinen«, erklärte Dodd in äußerster Besorgnis. »Passt gar nicht zu ihm. Ich habe fürchterliche Angst, dass was passiert ist. Mein Gott! Und mein Kopf...«

»Das ist das Gewitter, Sir.«

»Was?«

»Das Gewitter. Ich meine, viele Leute kriegen Kopfweh bei Gewitter.«

»Wovon, zum Kuckuck, reden Sie eigentlich?«, fuhr ihn Preston Dodd ungeduldig an. »Das einzige Kopfweh, das ich spüre, stammt von meiner Sorge um Kendrick. Er muss den Kopf hier im Laden haben.«

»Ach, den Kopf meinen Sie! Den, von dem Sie vorhin auch schon sprachen«, sagte Hammond. »Ich dachte, Sie meinten - Oh, hallo! Da kommt ja endlich jemand.«

Sie konnten durch die Scheibe erkennen, dass hinten im Laden eine Bewegung entstand. Die Bürotür hatte sich geöffnet, und ein Mann kam durch den langen, dunklen Laden auf die Vordertür zu.

»Dem Himmel sei Dank!«, rief Dodd erleichtert aus.

Aber eine Minute später dankte er dem Himmel nicht mehr, denn der Mann, der die Tür aufschloss, war Polizeiwachtmeister Bradley - und eine Veränderung war mit ihm vorgegangen. Bradley war ganz blass geworden.

»Mord«, stieß er heiser hervor.

»Zusammenreißen, Bradley!«, fuhr Hammond ihn an.