DIE TREPPE ZUM NICHTS - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL - Victor Gunn - E-Book

DIE TREPPE ZUM NICHTS - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Richard Old Dick Tetley war ein ebenso reicher wie exzentrischer Mann. Mit seinen Söhnen John und Charles, die er nicht zu Unrecht für Blender und Nichtsnutze hielt, wollte er noch vor dem Tod abrechnen. Den Großteil seines Vermögens vermachte er deshalb nicht ihnen, sondern seiner Enkelin Jane Bedford, die ihn wirklich liebte, statt nur auf sein Geld zu warten. Der alte Mann löste seine Konten systematisch auf und ließ sich 60.000 Pfund Bargeld in sein einsam gelegenes Haus am Meer schicken. Offenbar plante er die Einrichtung eines Schatzhortes, als sein unvermittelter Tod ihm einen dicken Strich durch die Rechnung machte...    Der Roman  Die Treppe zum Nichts  von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1955.    Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur . 

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VICTOR GUNN

 

 

Die Treppe zum Nichts

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE TREPPE ZUM NICHTS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

 

Richard Old Dick Tetley war ein ebenso reicher wie exzentrischer Mann. Mit seinen Söhnen John und Charles, die er nicht zu Unrecht für Blender und Nichtsnutze hielt, wollte er noch vor dem Tod abrechnen. Den Großteil seines Vermögens vermachte er deshalb nicht ihnen, sondern seiner Enkelin Jane Bedford, die ihn wirklich liebte, statt nur auf sein Geld zu warten. Der alte Mann löste seine Konten systematisch auf und ließ sich 60.000 Pfund Bargeld in sein einsam gelegenes Haus am Meer schicken. Offenbar plante er die Einrichtung eines Schatzhortes, als sein unvermittelter Tod ihm einen dicken Strich durch die Rechnung machte...

 

Der Roman Die Treppe zum Nichts von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1955.  

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  DIE TREPPE ZUM NICHTS

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Leichtfüßig sprang Jane Bedford aus dem putzigen, kleinen Wagen des Lokalzuges, der sie von Norwich hergebracht haue, und betrachtete liebevoll den Bahnhof von Radley End. Als sie ihn vor ein paar Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, trug er ein weißes Winterkleid. Jetzt badete er sich im prallen Sonnenschein eines heißen Sommernachmittags.

Außer Jane verließ niemand den Zug. Während die altersschwache Lokomotive geschäftig weiterpuffte, gab sie ihre Fahrkarte einem alten Mann, der so aussah, dass er als Gnom in einer Walt-Disney-Zeichnung figurieren konnte. Dann ging sie durch den kleinen Schalterraum hindurch auf den verlassenen Bahnhofsplatz. Jetzt lag das verschlafene Dorf Radley End mit seinen verstreuten Häusern vor ihr. Eine kühle Brise wehte vom Meer her und milderte die drückende Hitze.

Kein lebendes Wesen war in Sicht, aber Jane war nicht übermäßig überrascht, dass niemand gekommen war, sie vom Bahnhof abzuholen. Ihr Großvater besaß kein Auto, und schließlich lag Headland-Haus nur eine halbe Meile hinter dem andern Ende des Dorfes. Mit raschen und doch graziösen Schritten machte sich das Mädchen auf den Weg. In ihrem einfachen Baumwollkleid sah sie sehr reizvoll aus. Sie war mittelgroß, schlank und doch kräftig, mit dunklem, welligem Haar und einem Gesicht, das zwar nicht klassisch schön, aber sehr ausdrucksvoll und außerordentlich lebendig war. Ihre flinken, braunen Augen und ihre vollen, roten Lippen schienen schon bei der geringsten Ermutigung zum Lächeln bereit zu sein.

Mit einem Wort, Jane war ein strahlendes junges Menschenkind, das die Aufmerksamkeit aller Männer in geradezu unwiderstehlicher Weise anzog.

»Wenn ich nach zwanzig Jahren nach Radley End komme«, sagte sie zu sich selbst, »...wird das Dorf noch genauso aussehen wie jetzt. Es hat sich ja auch nicht im geringsten verändert, seit ich als Zehnjährige hierherkam.«

Für einen Augenblick ging ein Schatten der Trauer über ihr Gesicht. Ihre Eltern waren durch eine Fliegerbombe getötet worden, als sie zehn Jahre alt war. Damals hatte man sie für eine Weile zu ihrem Großvater gebracht, um sie den Gefahren des Krieges zu entziehen.

Warum mochte Großvater sie wohl jetzt hergerufen haben? In die lebhaften, braunen Augen trat der Ausdruck liebender Zuneigung, als sich ihre Gedanken dem alten Herrn zuwandten. Ihr gegenüber war er immer sehr gütig gewesen. Obwohl er seine Liebe nicht öffentlich zur Schau trug, hatte er sie eine gute und teure Schule besuchen lassen und war auch in anderer Beziehung stets liebevoll um sie besorgt gewesen. Im Übrigen wusste sie nur sehr wenig von ihm, er war für sie stets nur ein unbestimmter und ferner Mensch geblieben.

Sie wusste, dass er seinen achtzigsten Geburtstag gerade hinter sich hatte und schon seit zwanzig Jahren im Ruhestand lebte, nachdem er bei den Tetley-Mühlen eine Menge Geld verdient hatte. In diesem Teil der Grafschaft Norfolk, wo er seit mehr als fünfzehn Jahren allein mit seiner Wirtschafterin lebte, war er überall als Old Dick Tetley bekannt. An ihre Großmutter konnte sich Jane kaum erinnern.

Natürlich war er jetzt sehr alt - wahrscheinlich schon senil. Vielleicht war das einer der Gründe, Weshalb er an seine Enkelin, geschrieben und ihr sozusagen befohlen hatte, heute Nachmittag im Headland-Haus zu erscheinen. Nicht etwa, dass seine Handschrift Zeichen von Senilität gezeigt hätte. Sie schien so fest und kräftig wie immer.

Mrs. Boddy, die Wirtschafterin, mochte Jane eigentlich nicht. Sie war eine kalte Frau mit strengen Gesichtszügen, die im ganzen Hause eine Atmosphäre ständiger Düsternis verbreitete. So jedenfalls hatte Jane sie in Erinnerung. Sie musste allerdings zugeben, dass sie Mrs. Boddy nur ein- oder zweimal, und auch dann nur kurz, gesehen hatte, aber der Eindruck war sehr stark gewesen und haftengeblieben. Nach ihrem letzten Besuch im Headland-Haus hatte sie sich gefragt, warum ihr Großvater so einen Griesgram überhaupt in seinen Diensten behielt.

Hinter dem Dorf wurde die Straße jetzt zu einem engen Feldweg, den eine hohe Hecke nach der See zu von dem kühlenden Seewind abschloss. Die Hitze stieg hier in erstickenden Wellen hoch. Die Temperatur musste wohl fast dreißig Grad sein. Es war ja hier schlimmer als in London! Jane fühlte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach.

Sie konnte schon das Dach des alten Hauses sehen, das über die Baumkronen auf dem Gipfel eines kleinen Hügels hinausragte. Es war ein unfreundliches und kalt aussehendes Haus, so erinnerte sie sich, das von seinen Hinterfenstern aus einen Blick über die Klippen und auf das Meer hatte.

Als sie durch das Tor in den Garten vom Headland-Haus einbog und die breite Kiesauffahrt vor ihr lag, bemerkte sie, dass sie heute Nachmittag nicht die einzige Besucherin war. Das überraschte und beunruhigte sie. Ohne irgendwelchen Grund hatte sie angenommen, dass ihr Großvater sie allein sehen wollte. Wer mochten die anderen Leute sein?

Zwei Autos parkten auf dem Platz vor dem Haustor. Das eine war eine hübsche, neue Armstrong-Siddeley-Limousine, deren Lack und Chrom im Sonnenschein glänzten. Das andere, war im Vergleich zu ihr armselig: ein kistenähnlicher alter Austin, dessen Lack so verblichen war, dass es schwer war, die ursprüngliche Farbe festzustellen.

Die große Haustür stand offen, und als Jane näher kam, erschien ein hochgewachsener, jovialer Mann in ihrem Rahmen. Eine halbgerauchte Zigarre steckte im Winkel seines breiten Mundes, und sein ergrauendes Haar, das straff zurückgebürstet war, unterstrich nur das Jugendliche seiner Erscheinung. Er war wohl etwas über fünfzig.

»Du kommst spät, Jane«, sagte er mit gespielter Strenge. »Wir glaubten schon, dass du überhaupt nicht kommen würdest.«

»Der Londoner Zug kam mit Verspätung nach Norwich, Onkel John«, erwiderte Jane, als sie ihm die Hand drückte. »Und der lokale Anschlusszug kroch wie eine Schnecke. Es ist dir wohl nicht eingefallen, dass du mich mit deinem Wagen vom Bahnhof abholen könntest?«

Major John Tetley lachte.

»Ich bin kein Freund davon, die Jugend zu verwöhnen«, entgegnete er und sah sie wohlwollend an. »Du hast ein paar kräftige Beine - übrigens verdammt hübsche Beine -, und ich sah keinen Grund, warum du sie nicht benutzen solltest. Du bist überhaupt viel hübscher als letztes Mal, als ich dich sah, Mädel. Warum schüttelst du mir übrigens nur die Hand? Gibt man seinem Onkel nicht einen Kuss?«

Jane betrachtete ihn mit der kühlen Ruhe, die so charakteristisch für sie war.

»Ich glaube, ich habe dich in meinem Leben noch nie geküsst, Onkel John«, erwiderte sie. »Ich kann keinen Grund sehen, jetzt damit anzufangen.«

»Autsch!«, sagte der Major und zuckte zusammen. »Aber diese Antwort habe ich mir ja selbst herausgefordert, nicht wahr?«

Jane ging an ihm vorüber und betrat die große, in tiefem Schatten liegende Halle. Wenn man aus dem starken Sonnenlicht kam, mussten sich die Augen an das hier herrschende Dunkel erst gewöhnen. Eine unbestimmte Gestalt kam ihr aus einer der Türen entgegen - ein schlecht angezogener Mann von fünfundfünfzig Jahren mit abfallenden Schultern und einem von Sorgenfalten zerfurchten Gesicht. Trotz der Düsternis erkannte Jane in ihm ihren anderen Onkel, Charles.

»Du kommst aber spät, Jane«, klagte er weinerlich. »Mrs. Boddy hält den Tee schon eine halbe Stunde lang bereit. Vater will niemanden von uns sehen, bevor wir nicht Tee getrunken haben. So etwas Lächerliches! Der alte Herr scheint richtig kindisch geworden zu sein.« Er streckte ihr eine schwammige, feuchte Hand entgegen, die Jane flüchtig nahm und rasch losließ. »Nun, er ist ja auch schon alt genug, um senil zu sein. Wenn man über achtzig ist.«

»Was hat das zu bedeuten, Onkel Charles?«, fragte sie. »Ich meine, dass er uns alle heute Nachmittag hierher bestellt hat?«

»Mich darfst du danach nicht fragen, Kind«, antwortete ihr Onkel. »Woher soll ich das wissen? Bist du mit dem Zug gekommen?«

»Jawohl - da keiner von euch beiden daran dachte, mich anzurufen und mir anzubieten, mich im Auto mitzunehmen«, antwortete Jane rasch. »Nun, ich fahre ganz gern im Zug.«

Was für ein reizendes Paar! Und das waren ihre einzigen Verwandten, abgesehen von Old Dick selbst. Ihre beiden Onkel waren für sie tatsächlich Fremde. Sie kannte sie vom Sehen, aber das war auch so ziemlich alles. Bis zu diesem Augenblick waren sie ihr weder sympathisch noch unsympathisch, sie waren ihr gleichgültig gewesen. Jetzt aber empfand sie ihnen gegenüber eine entschiedene Abneigung. Gegen Onkel John wegen seiner verlogenen Jovialität und gegen Onkel Charles wegen seiner nervösen Weinerlichkeit. Sie konnte sich dunkel daran erinnern, dass auch ihr Vater nie ein gutes Wort für seine beiden Schwäger gehabt hatte.

Ach ja, dachte sie, Papa hatte doch recht! Gott sei Dank habe ich nicht viel mit ihnen zu tun. 

Sie wollte in das Badezimmer gehen, um sich frischzumachen, aber Onkel John ergriff sie beim Arm und zog sie in das recht schäbige Wohnzimmer mit seinen viktorianischen Möbeln und seinen großen Fenstern, die auf den recht ungepflegten Garten hinaussahen.

Eine Minute später betrat eine große, hagere, flachbrüstige Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war, das Zimmer. Sie brachte auf einem Tablett den Tee. Ihr graues Haar war nach viktorianischer Mode straff nach hinten gezogen. Ihr Gesicht, das offenbar weder Puder noch Rouge kannte, war streng und mit seinen dünnen Lippen und harten Augen beinahe abstoßend. Es war Mrs. Charlotte Boddy, die seit mehr als fünfzehn Jahren den Posten einer Wirtschafterin im Headland-Haus bekleidete.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, liebe Jane«, sagte sie und warf Jane einen Blick zu. »Sie sehen erhitzt aus. Warum gehen Sie nicht schnell in das Badezimmer? Es gibt doch eins am Ende der Halle.«

»Danke schön«, sagte Jane heiter. »Das will ich auch tun.«

Mrs. Boddy lächelte ihr zu, und die Veränderung, die beim Lächeln über ihr strenges Gesicht kam, war überraschend. Es war ein freundliches, ja, liebenswürdiges Lächeln. Aber es währte nur einen kurzen Augenblick. Als Jane aus dem Zimmer lief, lag die strenge Maske schon wieder auf ihrem Gesicht.       

Nach einem raschen Zurechtmachen fühlte sich Jane wieder frischer und konnte den Tee wirklich genießen. Ihr Onkel John sprach dauernd und mit Betonung von den großen Transaktionen, die er in seinem Geschäft zu erledigen hatte, das mit Autos etwas zu tun zu haben schien. Onkel Charles saß schweigend und nervös da, trank kaum einen Schluck von seinem Tee und aß gar nichts.

»Das ist doch lächerlich«, fiel er seinem Bruder schließlich ins Wort. »Bist du mit deinem Tee noch nicht fertig, John? Worauf warten wir denn? Vater sagte, er wolle uns direkt nach dem Tee sehen.«

»Ich habe mich schon gewundert, warum er oben geblieben ist«, sagte der Major, öffnete seinen breiten Mund und biss in ein Stück Kuchen. »Er liegt doch nicht zu Bett?«, fuhr er fort, und seine Stimme klang gedämpft, da er gerade einen großen Bissen im Munde hatte. »Verdammt, er ist so beweglich wie du und ich! So sagt wenigstens Mrs. Boddy.- Er macht immer noch jede Woche einen Besuch in Radley Hall...«

Der Major aß seinen Kuchen auf, stürzte den Rest seines Tees hinunter und stand auf. Zusammen gingen sie alle in die Halle hinüber. Jane, deren Augen sich jetzt an das Düster im Innern des Hauses gewöhnt hatten, musste wieder die Schönheit der Treppe bewundern, die an der Rückseite der Halle auf eine breite Galerie im ersten Stock hinaufführte. Sie erinnerte sich an diese Treppe seit ihrer Kindheit; sie hatte sie immer für die herrlichste Treppe gehalten, die sie je gesehen hatte. Und sie war auch in der Tat ein Kunstwerk, ein Produkt der Zeit, in der Handwerker noch ihre Seele in ihre Arbeit legten.

Onkel John und Onkel Charles waren so höflich, ihr auf der Treppe den Vortritt zu lassen. Am Ende der Treppe, ihr unmittelbar gegenüber, war die schöne Eichentür von Old Dick Tetleys Wohnzimmer. Der alte Herr verbrachte, besonders in den letzten Jahren, den größten Teil des Tages in diesem Raum. Er war zwar noch immer rüstig und in der Lage, auch fünf Meilen zu Fuß zurückzulegen, wenn das notwendig war; aber er liebte es, sich in der ruhigen Abgeschlossenheit seines Zimmers aufzuhalten.

Auf Janes leises Klopfen hin forderte sie eine dünne, pfeifende Stimme auf, einzutreten. Als sie - Jane als erste - ins Zimmer traten, fuhr das Mädchen beinahe zurück... Aber sie fasste sich sofort wieder. Eine Welle stickig heißer Luft, wie von einem Hochofen, schlug ihr ins Gesicht. Old Dick saß in seinem bequemen Lehnsessel vor dem Feuer. Er war ein sehniger, eingeschrumpfter Mann mit glattrasiertem Gesicht und vogelähnlichen Augen. Er ließ ein dünnes, hohes Kichern hören.

»Es ist wohl zu heiß für dich, wie?«, fragte er. »Damit wirst du dich abfinden müssen. Das brauche ich für mein Blut; es ist eben schon ein bisschen verbraucht. Mach die Tür zu, Charles!« Jane lief quer durch das große, bequem möblierte Zimmer, beugte sich über ihren Großvater und gab ihm einen Kuss. Seine Vogelaugen, die scharf wie Nadeln waren und nicht die Hilfe einer Brille benötigten, betrachteten sie kritisch.

»Hübsch wie immer«, murmelte er anerkennend. »Ich freue mich, dich zu sehen, mein Kind. Du hast die Augen deiner Mutter, das habe ich stets gefunden. Lebhafte, intelligente Augen.« Er kicherte. »So wie ich. Du bist eine echte Tetley.«

Er blickte scharf auf, als er sah, dass John an die eine und Charles an die andere Seite seines Sessels getreten waren. Sie betrachteten, ihn mit einem etwas gezwungenen Lächeln.      

»Ihr fragt euch wohl, wie lange ich noch zu leben habe, wie?«, fragte der alte Herr und ließ seine Augen von einem zum andern schweifen. »Wisst ihr denn nicht, dass ich ein Gedankenleser bin?«

»Aber Vater, das ist wirklich nicht fair«, protestierte John, und tiefer Unwille klang aus seiner Stimme. »Ich freue mich zu sehen, wie gut du aussiehst.«

»Lüge nicht«, antwortete Old Dick. »Das freut dich keineswegs. Du hofftest, mich schon mit einem Fuß im Grabe anzutreffen. Ich habe mir nie eingebildet, dass du viel für mich übrig hast.«

»Ist es wirklich notwendig, an einem heißen Sommertag so ein Feuer zu haben?«, fragte Charles und trat ein paar Schritte vom Kamin zurück. »Das kann doch für dien nicht gut sein, Vater. Darf ich nicht ein Fenster aufmachen?«

»Ich weiß allein, was für mich gut ist«, fiel ihm Old Dick scharf ins Wort. »Versuch ein Fenster aufzumachen, mein Junge, und ich schicke dich sofort aus dem Zimmer. Ich habe es gern, wenn es heiß ist. Mir passt das. Setzt euch! Ich habe euch etwas zu sagen.«

Jane setzte sich trotz der intensiven Hitze dicht zu ihrem Großvater. Onkel John und Onkel Charles suchten sich Stühle, die so weit wie möglich vom Feuer entfernt waren. Die gefühlsmäßige Atmosphäre im Zimmer war gespannt und bedrückend. Dies konnte kaum eine liebevolle Familienzusammenkunft genannt werden.

»Das ahnten wir schon, Vater«, sagte der Major und versuchte, in liebenswürdigem Ton zu sprechen. »Wir wussten ja, dass du uns nicht ohne Grund aus unserer Arbeit herausgerissen und hergerufen hast. Unsere Zeit ist wertvoll.«

»Unsinn!«, unterbrach ihn Old Dick scharf. »Janes Zeit vielleicht - aber deine nicht. Und nicht die von Charles. Ihr beide könntet einen ganzen Monat lang weg sein, und niemand würde den geringsten Unterschied merken. Gott weiß, dass mir gut bekannt ist, wieviel ihr in euren herrlichen Berufen wert seid.«

John und Charles antworteten nicht, sondern bewahrten ein mürrisches Schweigen.

»Ich will nicht um den heißen Brei herumgehen«, fuhr der alte Herr fort. »Ihr seid meine Familie, mindestens zwei von euch warten seit Jahren auf meinen Tod - und fragen sich, was sie bekommen werden, wenn ich tot bin.«

John und Charles wollten heftig protestieren, aber Dick Tetley hielt seine knochige Hand in die Höhe.

»Leugnet nicht!«, quiekte er. »Ich weiß das! Nicht du, meine Liebe«, fügte er hinzu, beugte sich vor und streichelte Janes Knie. »Ich glaube nicht, dass du froh sein wirst, mich tot zu sehen.«

»Nein, natürlich nicht, Großpapa«, rief sie.

»Deine Onkel hatten nie etwas für mich übrig, seit sie die Wiege verließen«, sagte Old Dick und richtete seine scharfen Augen auf die beiden Männer. Sie blieben schließlich auf John haften. »Keiner von euch beiden taugte je etwas.« Er wandte seine Augen wieder auf Charles. »Seht euch heute an! Was habt ihr erreicht? Was habt ihr aus eurem Leben gemacht?«

»Wenn du uns herbestellt hast, um uns zu verhöhnen, Vater, so bedauere ich, dass ich gekommen bin«, sagte der Major mit Würde. »Das ist kein schönes Benehmen! Und noch dazu in Gegenwart unserer Nichte!«

»Old Dick Tetley ist seit Jahren in Norfolk als ein Mann bekannt, der sagt, was er denkt«, sagte der Herr von Headland-Haus scharf. »Und zwar ungeschminkt -und sachlich. Das ist der einzige Weg, um Missverständnissen vorzubeugen. Zwei reizende Söhne habe ich!« Er betrachtete beide fast mit Verachtung. »Beide wart ihr schlecht auf der Schule! Beide machtet ihr mir nur Sorgen, während ihr studiertet - ewig kamt ihr in Schulden oder sonstige Schwierigkeiten!«

»Das ist doch alles schon viele Jahre her, Vater«, sagte Charles.

»Du warst nicht ganz so schlimm wie John, aber schlimm genug«, fuhr ihn der alte Herr an. »Als ihr von Oxford zurückkamt, hattet ihr beide große Rosinen im Kopf. Ihr hieltet euch für viel zu groß und wichtig, um bei mir im Mehlgeschäft zu arbeiten. Die Mühle war unter eurer Würde. So widersetztet ihr euch meinen Wünschen und zogt es vor, euch selbst eure Kariere auszusuchen.« Seine scharfen Augen blitzten. »Und was stellt ihr heute vor? Wohin hat eure Karriere euch gebracht? Jetzt seid ihr beide über fünfzig und nicht weiter, als ihr mit fünfundzwanzig wart. Versager seid ihr! Elende, schwächliche Versager!«

Unwille und gekränkte Eitelkeit stiegen wie eine Flut in Major Tetleys Gesicht hoch.

»Nun, Vater...«, begann er wütend.

»Ruhe!«, kreischte Old Dick. »Es. hat keinen Zweck, vom Stuhl aufzuspringen! Setz dich wieder und versuche nicht, mir etwas vorzumachen. Was bist du denn, wenn nicht ein Versager? Du bist jetzt Autoverkäufer, der eine verbindliche, joviale Art dazu benützt, um Kunden einzufangen. Du hast die Art von Beruf, zu der schließlich Menschen deines Typs gelangen, die eine Zeitlang beim Militär gewesen sind, nachdem ihnen alles andere fehlschlug. Jetzt kommst du hierher in einem großen Luxusauto, das du dir für diesen Zweck von deiner Firma geborgt hast. Du bist ein Protz, der nur Eindruck schinden will!«

Der Major zitterte vor Wut, und sein großes Gesicht lief vor Ärger hochrot an. Nur mit Mühe hielt er sich im Zaum und war froh, dass sein Vater sich jetzt Charles zuwandte.

»Und du«, fuhr Old Dick fort, während sich Charles im Stuhl aufrichtete und den Arm schützend vorhielt, als ob er einen Schlag abwehren wollte, »du bist ein kleiner Jammerlappen geblieben, da dir die Frechheit und das Mundwerk deines Bruders fehlen. Seit vielen Jahren schlägst du dich mühsam als Versicherungsagent durch. Und wie ich höre, leistest du auch dabei nichts. Du hoffst nur, dass man dich nicht entlässt, bevor du reif für die staatliche Altersrente geworden bist.«

»Nun, da muss ich doch sagen...«, begann Charles schwach und unsicher.

»Meine Söhne sind menschlich wertlos und eine Enttäuschung für mich!«, wiederholte Old Dick, und seine Stimme klang bitter. »Keiner von euch hat geheiratet, weil ihr euch das finanziell gar nicht leisten konntet, und nun ist es dafür zu spät. Keiner von euch hat mir Enkel gegeben, die die Familie Tetley fortleben lassen - eine Familie, die im ehrlichen Handel eine fünfhundertjährige Tradition hat. Wenn ich tot bin, ist diese Tradition zu Ende.«

Er wandte sich zu Jane, und sein Ton änderte sich vollkommen. Aus seinem zerfurchten, alten Gesicht strahlten jetzt Zuneigung und Liebe, und eine überraschende Weichheit kam in seine Augen.

»Du bist das Kind meiner Tochter, Jane«, fuhr er fort, und seine Stimme zitterte. »Gott sei Dank bist du wie sie.« Er sah sie scharf an. »Erstaunlich! In deinem Alter sah sie genau wie du aus! Sie war die einzige von meinen Kindern, die etwas taugte, und sie heiratete einen guten Mann. Dein Vater war für mich mehr als meine zwei Söhne, viel, viel mehr. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass er und deine Mutter im Kriege umkamen, während meine beiden Söhne nicht den geringsten Schäden davontrugen.«

Tränen traten Jane in die Augen.

»Es hat keinen Zweck, Großpapa, an die Vergangenheit zu denken«, sagte sie sanft. »Ich bin froh, dass ich noch ein Kind war, als meine Eltern umkamen. Kinder leiden nicht so tief wie Erwachsene, und sie erholen sich schnell.«

Major Tetley rutschte auf seinem Stuhl unruhig herum.

»Ist das der Grund, warum du uns hierhergerufen, hast, Vater?«, fragte er, und in seinem Benehmen spürte man die unterdrückte Wut. »Nur, um -mich und Charles zu schmähen und die kleine Jane auf ein Piedestal zu stellen? Ich glaube, dann gehen wir besser fort!«

»Du wirst erst gehen, wenn ich dir das gesagt habe, wozu ich dich herkommen ließ«, erwiderte Old Dick böse. »Ich will es jetzt sagen. Ich ließ dich kommen, um dich mit dem Inhalt meines Testaments bekannt zu machen, damit du genau weißt, was du zu erwarten hast, wenn ich tot bin.«

»Oh!«, sagte John, und ein gieriger Ausdruck erschien in seinen Augen.

»Ich werde, wie es meine Art ist, ungeschminkt sprechen«, fuhr der alte Herr fort. »Ich bin in meinem Leben zu einem recht guten Erfolg gelangt, und als ich mich vor zwanzig Jahren zur Ruhe setzte, besaß ich mehr, als ich für meine Bedürfnisse benötigte. Ich habe seitdem ruhig in meinem Hause gelebt und sehr wenig Geld ausgegeben. Infolgedessen hat sich mein Vermögen nicht vermindert. Nun will ich euch sagen, was ihr nach meinem Testament bekommen werdet.«

Er wies mit seinem knochigen Finger auf den Major.

»Du, John, bekommst fünftausend Pfund. Du, Charles, ebenso viel. Du, Jane, bekommst fünfzigtausend Pfund. Da keiner von euch dieses Haus haben will, hinterlasse ich es Mrs. Boddy, zusammen mit einer Leibrente. In meinem Testament sind noch ein oder zwei kleinere Legate, aber sie ergeben keine großen Beträge und werden euch nicht weiter interessieren.«

Er hörte zu sprechen auf - und nun brach der Sturm los.

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Aber noch nicht sofort. Für einige kurze Sekunden blieben John und Charles Tetley sitzen, als ob sie einen Schlag erhalten hätten und gelähmt wären. Nur Jane öffnete ihre schönen Augen in verwundertem Erstaunen.

»Fünftausend!«, brüllte der Major und sprang so plötzlich auf, dass sein Stuhl mit einem Krach nach rückwärts fiel. »Fünftausend für mich! Fünftausend für Charles! Und fünfzigtausend für Jane? Bist du denn wahnsinnig, Vater?«

Old Dick kicherte vergnügt.

»Schön, schön! Die Bestimmungen meines Testaments scheinen dir nicht zu gefallen!«, krähte er. »Reg dich nicht auf, John, ich bin noch nicht tot, und ich beabsichtige, noch viele Jahre zu leben. Du wirst auch auf deine Fünftausend noch lange zu warten haben, und darum besteht keine Veranlassung, sich jetzt schon so aufzuregen.«

»Warum, zum Teufel, soll dieses junge Ding den Hauptteil deines Geldes bekommen?«, fragte John hitzig. »Das ist doch aber wirklich nicht fair, Vater. Das ist furchtbar ungerecht. Charles und ich, wir sind deine eigenen Söhne. Jane ist nur...«

»Nimm dich in acht, mein Junge«, unterbrach ihn Old Dick. »Jane ist das Kind meiner Tochter - und die einzige, die mir je Liebe entgegengebracht hat. Sie ist auch die einzige von euch, die je Mut, Initiative und Unternehmungsgeist besessen hat. Und die einzige«, fügte er böse hinzu, »die sich des Namens Tetley würdig erwiesen hat. Dass sie diesen Namen nicht trägt, will dabei nichts besagen. Sie hat mehr von einer Tetley als einer von euch, die ihr nach eurer armen Mutter schlagt, Gott hab’ sie selig.«

»Ich glaube, dass du uns das nicht hättest antun dürfen, Vater«, sagte Charles weinerlich. »Mindestens hättest du uns unsere Illusionen noch ein paar Jahre lassen können. Du hast uns doch jetzt von deinem Testament nur erzählt, damit du dich den Rest deines Lebens hindurch über unseren Ärger lustig machen kannst. Das ist deiner nicht würdig, Vater. Es ist niedrig und kleinlich.«

»Es ist gerecht«, fiel der alte Herr ein. »Ihr habt aus eurem Leben nichts zu machen verstanden, und keiner von euch beiden verdient auch nur fünftausend Pfund. Dieses Kind...« Er wies auf Jane. »...dieses Kind ist gerade über zwanzig, und dabei hat sie schon ein kleines Schreibbüro auf die Beine gestellt, mit dem sie sich einen guten Lebensunterhalt verdient. Sie ist jung, unternehmungslustig und arbeitet schwer, und darum soll sie den Hauptteil meines Geldes bekommen. Ich habe mein Testament gemacht... und zwar endgültig. Ich erzähle euch nur von ihm, damit ihr euch keine Illusionen macht.«

»Liebster Großpapa«, fiel Jane ein und ergriff damit zum ersten Male das Wort, »ich brauche doch so viel Geld gar nicht. Ich weiß ja gar nicht, was ich mit fünfzigtausend Pfund anfangen soll.«

»Unsinn, Kind! Du bist tüchtig und hast einen guten Kopf, genau wie deine Mutter; ich könnte mein Geld gar nicht in bessere Hände legen«, sagte Old Dick mit Überzeugung. »Ich hoffe allerdings, dass noch ein paar Jahre vergehen werden, bevor du es bekommst...«

»Oh, das hoffe ich auch!«, rief Jane.

»Aber einmal wirst du es doch bekommen«, lächelte ihr Großvater. »Du wirst dann mehr Lebenserfahrung haben als heute Er brach ab, runzelte die Stirn und wandte seine plötzlich wieder kalten Augen seinen beiden Söhnen zu. »John! Hör auf, dich wie ein Narr zu benehmen! Charles! Wenn du schon winseln musst, winsele woanders! Wenn ich euch beide nur sehe, wird mir ganz übel.«

»Das ist ja eine ganz reizende Geschichte!«, tobte John. »Du hast uns also nur herkommen lassen, um uns zu demütigen! Das lasse ich mir, bei Gott, nicht gefallen! Und Charles wird es sich auch nicht gefallen lassen! Wir werden das Testament anfechten...«

»John!«, fiel ihm Charles entsetzt ins Wort.

Old Dick ließ ein glucksendes Kichern hören.

»Schön von dir, Charles. Ich freue mich, dass wenigstens du noch Sinn für Anstand besitzt«, sagte er, und seine Züge verzogen sich zu einem gnomenhaften Grinsen. »Noch bin ich nicht tot, John, und es ist daher verfrüht, davon zu sprechen, dass du mein Testament anfechten willst. Worauf wartest du eigentlich hier noch? Ich habe dir alles gesagt, was ich dir zu sagen hatte.«

Der Major öffnete seinen Mund, um zu sprechen, besann sich aber eines Besseren, drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Charles folgte ihm. Jane ging zu ihrem Großvater hin und gab ihm einen Kuss.

»Lass dich von ihnen nicht ins Bockshorn jagen, Jane«, sagte Old Dick, blinzelte schlau und streichelte ihr die Hand. »Aber ich möchte wetten, dass du ihnen für jeden Schlag zwei wiedergeben kannst.« Seine alten Augen sahen ihr forschend ins Gesicht. »Da ist Charakter drin«, murmelte er. »Viel Charakter! Du bist doch eine echte Tetley, mein Kind!«

Mit Tränen in den Augen rannte sie aus dem Zimmer, hielt aber an der Tür inne, um sie leise zu schließen. Die Kühle der Galerie war nach der stickigen Hitze des Wohnzimmers eine Erleichterung. Janes Beine zitterten, als sie die schöne, alte Treppe hinabstieg. Ihre Onkel stritten sich laut in der Halle, und Mrs. Boddy trat aus ihrem Zimmer mit einem schockierten Ausdruck in ihren verkniffenen Zügen.

»Er ist ja verrückt!«, sagte John, und seine Stimme zitterte vor Wut. »Vollständig vertrottelt - jawohl! Fünftausend für jeden von uns, und fünfzigtausend für dieses Stückchen...«

»Es hat doch keinen Sinn, eine Szene zu machen, John«, fiel ihm sein Bruder mit einem nervösen Blick auf die Wirtschafterin ins Wort.                                

»Er ist senil!«, donnerte der Major. Er war ein Mann, der große Szenen liebte, weil er sich dabei wichtig vorkam. »Der alte Narr ist ja wieder kindisch geworden! Warum sollte man das verheimlichen? Als er sein Testament machte, stand er unter dem Einfluss von Jane! Sie hat hier Erbschleicherei getrieben...«

»Das ist nicht wahr, Onkel John«, fiel ihm Jane empört ins Wort. »Das lasse ich mir von dir nicht sagen! Ich bin schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen...«

»Das glaube ich dir nicht«, unterbrach sie der Major grob. »Du bist eine Intrigantin - jawohl! Ich möchte gern wissen, wie oft du heimlich hergekommen bist, ohne dass dein Onkel Charles oder ich davon wussten, und dem alten Mann schöngetan hast »Das ist nicht wahr!«, schrie Jane.

»Wie hast du denn überhaupt dein famoses Schreibbüro aufmachen können?«, höhnte Onkel John. »Er hat dir wohl das Geld dafür gegeben, wie?«

»Nun, ja

»Du gibst es also zu? Du gibst zu, dass du ihn herumgekriegt hast.«

»Keineswegs«, sagte Jane verletzt. »Als ich die Schule verließ, wollte ich nicht müßig herumsitzen und nahm eine Stellung an. Dann dachte ich daran, ein eigenes kleines Schreibbüro zu eröffnen, fuhr hierher und erzählte Großvater davon. Das war das einzige Mal, dass ich hierhergekommen bin, seitdem ich die Schule verließ. Großvater meinte, es sei eine gute Idee, und lieh mir hundert Pfund. Er wollte mir das Geld eigentlich schenken, aber ich wollte es nur als Darlehen annehmen.«

»Die Art von Darlehen kenne ich!«, höhnte Onkel John. »Nun wirst du ja das Geld nicht mehr zurückzuzahlen brauchen.«

»Ich habe es schon zurückgezahlt«, erwiderte sie ruhig. »Auf Heller und Pfennig! Die letzten zwanzig Pfund habe ich Großvater erst vor vierzehn Tagen geschickt!«

»Sehr zur rechten Zeit; denn gerade in diesen vierzehn Tagen hat er wohl sein lächerliches Testament gemacht«, sagte der Major wutschnaubend.                 

Mrs. Boddy hustete.

»Entschuldigen Sie meine Einmischung, Major Tetley, aber das ist nicht richtig«, sagte sie und sah ihn mit kalten, feindseligen Augen an. »Ihr Vater ließ sich seinen Anwalt vor drei Monaten kommen, und damals wurde das Testament gemacht.«

»Das macht keinen Unterschied«, fiel Charles säuerlich ein. »Das Mädchen hat ihn eben schon damals herumgekriegt. Das war sehr schlau von dir, Jane, wirklich sehr schlau. Es war auch ein raffinierter Schachzug, ihm sein Geld so pünktlich zurückzuzahlen. Damit wurdest du ja die gute, arbeitsame Tochter seines Lieblingskindes!«

Jane sah ihre Onkel mit Verachtung an.

»Als ich aus Großvaters Zimmer kam, habe ich geweint. Auch ich hatte das Gefühl, dass Großvater zu hart zu euch war«, sagte sie schneidend. »Aber das ist vorbei. Jetzt kann ich durchaus verstehen, warum er euch nur so wenig vermachte. Und ihr braucht auch nicht zu denken, dass ich mich überreden lasse, euch einen Teil von meiner Erbschaft abzugeben.« Sie wandte sich brüsk ab und ging zu der Wirtschafterin hinüber. »Adieu, Mrs. Boddy, ich gehe jetzt.«

Mrs. Boddy nickte ihr wortlos zu, aber in ihren für gewöhnlich kalten Augen war ein warmes Leuchten, als sie für einen Augenblick Janes Hand drückte. Dann schritt Jane entschlossen zur offenen Haustür, während ihre Onkel sie schweigend beobachteten.

Nur Charles begann sich zu überlegen, ob sie nicht diesem selbstsicheren Mädchen gegenüber eine falsche Taktik einschlugen. Es sah seinem Narren von Bruder ganz ähnlich, zu versuchen, mit Grobheit auf sie Eindruck zu machen.

Ein Schatten fiel über die Schwelle der großen Haustür. Ein dicklicher, älterer Herr trat mit der Vertrautheit eines häufigen Gastes ein. Aber knapp hinter der Tür blieb er stellen und blinzelte - der Wechsel vom hellen Sonnenschein im Freien zu der Düsternis im Innern des Hauses war zu plötzlich.

»Was ist denn los?«, fragte er freundlich. »Ach, da sind Sie ja, Mrs. Boddy. Ich glaube, ich hatte noch nicht das Vergnügen - großer Gott! Natürlich! Das sind doch John und Charles! Ich habe Sie beide ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Dr. Martin Priester, der Dorfarzt, streckte den beiden Tetleys herzlich die Hand hin. Erst einen Augenblick später wurde er der gespannten Atmosphäre gewahr, und viel von seiner natürlichen Freundlichkeit verflüchtigte sich.

»Großvater hat uns hergebeten«, erklärte Jane und brach damit ein peinliches Schweigen. »Ich bin gerade dabei, wieder wegzufahren, Herr Doktor. Wie geht es Großvater denn? Tut es ihm wirklich gut, an so einem warmen Tag sein Zimmer zu heizen?«

»Sie gehen schon wieder, meine Liebe?«, fragte Dr. Priester und sah sie mit Wohlgefallen an. »Mein Gott, was für eine hübsche junge Dame Sie geworden sind. Aber Sie sollten nicht so schnell wieder von hier fortfahren! Wegen des Feuers im Kamin des alten Herrn, wie? Nun, um die Wahrheit zu sagen, es tut ihm gar nicht gut. Ich habe ihm davon abgeredet, bis mir die Zunge wehtat. Er hat nämlich diese Flitze gar nicht nötig. Für einen Mann seines Alters ist er kerngesund und hat gar keine Veranlassung, sich zu verhätscheln.«

Jane sah erleichtert aus.

»Dann ist er also ganz wohl und munter?«, fragte sie.

»Er ist so gesund, wie man es von einem Mann von achtzig Jahren nur erwarten kann«, antwortete der Arzt lächelnd. »Hin und wieder hat er eine kleine Erkältung, aber das ist dann stets seine eigene Schuld. Aus einem stickig heißen Raum in einen kalten Zugwind zu gehen, ist eben unvernünftig - aber er tut es immer wieder. In der letzten Zeit haben diese Erkältungen die Tendenz gehabt, sich ihm auf den Magen zu legen, und das ist natürlich unangenehm. Aber trotzdem bin ich überzeugt, dass wir ihn noch eine hübsche Zahl von Jahren unter uns sehen werden. Sein Herz ist erstaunlich kräftig.«

»Das freut mich«, sagte Jane und warf ihren Onkeln einen verächtlichen Blick zu. »Ich hoffe, er wird neunzig. Oder noch besser: hundert!«

»Nun, was soll denn das?«, fragte der Arzt, und Überraschung malte sich auf seinem runden, freundlichen Gesicht. »Warum sagen Sie das mit solcher Betonung, meine junge Dame? Zweifellos werden Sie ja einen Teil von dem Geld Ihres Großvaters erben. Ist es Ihnen etwa zu lange, zwanzig Jahre darauf zu warten?«

»Mir nicht«, sagte Jane mit Nachdruck.

»Hier gibt es etwas, was ich nicht verstehe«, sagte Dr. Priester - verwundert.

»Fragen Sie Onkel John«, erwiderte Jane. »Oder Onkel Charles! Die können es Ihnen erklären. Auf Wiedersehen, Herr Doktor!«

Rot und erregt ging sie geradewegs zur Tür hinaus und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Wenn einer ihrer Onkel ihr jetzt angeboten hätte, sie in seinem Wagen nach London zurückzubringen, so würde sie das abgelehnt haben. Ihr unabhängiger Geist hätte sich gegen jeden solchen Vorschlag aufgelehnt. Was das Geld anlangte, so brauchte sie es nicht, und es war ihr heiliger Ernst gewesen, als sie dem Arzt gesagt hatte, sie hoffe nur, dass Old Dick hundert Jahre alt werden möchte.

Aus dem heißen August wurde ein sonniger September. Jane war, nachdem sie sich vierzehn Tage Ferien in der Bretagne gegönnt hatte, wieder zurück in ihrem Büro und so geschäftig wie früher. Sie hatte ihren Besuch im Hochsommer im Headland-Haus schon fast vergessen. Ein großer Ansturm von Aufträgen zwang sie, bis Anfang Oktober zu arbeiten, ohne auch nur aufzusehen... Aber am ersten Oktober erhielt sie plötzlich ein Telegramm. Mit tiefem Erschrecken las sie seinen Inhalt:

BEDAUERE MITTEILEN ZU MÜSSEN, DASS GROSSVATER HEUTE NACHT SANFT ENTSCHLAFEN STOPP DOKTOR PRIESTER TRIFFT NOTWENDIGE ANORDNUNGEN STOPP BEERDIGUNG MONTAG  STOPP  MRS BODDY

Janes erster Gedanke war, mit dem nächsten Zug nach Radley End zu fahren. Aber dann überlegte sie, dass eine solche Reise zwecklos wäre. Was konnte sie denn dort tun? Sie würde nur allen im Wege sein. Es war besser, bis Montag zu warten und dann zur Beerdigung zu fahren. So telegrafierte sie nur, um ihre Trauer zum Ausdruck zu bringen, und fuhr am Montagmorgen mit dem ersten Zug nach Norfolk.

Es war kalt und regnerisch, und von der Nordsee her blies ein scharfer Herbststurm. Als sie nach Headland-Haus kam, dessen Fenster verhängt waren, fand sie das Haus voller Menschen. Ihre beiden Onkel sahen feierlich und ernst aus. Mrs. Boddy, in noch tieferes Schwarz als sonst gekleidet, bewegte sich wie ein Geist. Dr. Priester war zusammen mit Sir Howard Norton gekommen, dem Besitzer von Radley Hall, dem großen Herrenhaus am entgegengesetzten Ende des Dorfes. Lady Norton war nicht erschienen, da sie krank war. Es waren noch viele andere gekommen - auch Miss Amy Gibbons, die energische und gesprächige Postmeisterin. Amy Gibbons war in ihren jungen Tagen die Dorfschönheit gewesen, und obwohl sie inzwischen älter geworden war, sah sie noch immer überraschend anziehend aus. - Der Vikar, Hochwürden Aubrey Simkins, spielte natürlich eine große Rolle. Jane konnte kaum die Missbilligung übersehen, mit der er Miss Gibbons betrachtete. Denn die fesche Amy war in ihren jungen Jahren ja nicht nur die Schönheit, sondern auch die Sirene des Dorfes gewesen, und wenn auch Hochwürden sie deshalb ablehnte, so war sie - vielleicht aus dem gleichen Grunde - bei den übrigen Dorfbewohnern außerordentlich beliebt.

»Nun, Jane, heute führt Sie ja ein sehr trauriger Anlass her«, sagte Sir Howard Norton, als er ihr die Hand schüttelte. »Ich habe Sie leider nicht gesehen, als Sie im Sommer hier waren - ich war damals verreist, auf dem Kontinent. Aber schließlich ist dieser Todesfall ja nicht überraschend. Ihr Großvater hat doch ein hohes Alter erreicht und ist ganz friedlich entschlafen.«

»Sie waren mit ihm wohl sehr befreundet, Sir Howard?«

»Ich glaube, ich kann sagen, dass ich während der letzten fünfzehn oder zwanzig Jahre der einzige wirkliche Freund war, den er hier in Radley End besaß«, antwortete der Gutsherr, wie er sich gern nennen ließ. »Wir spielten Schach miteinander, und zwar ganz regelmäßig. Am Dienstag kam er zu mir ins Herrenhaus - in den letzten Jahren holte ich ihn immer mit meinem Wagen ab -, und am Freitag kam ich hierher zu ihm. Ihr Onkel war ein ganz erstklassiger Schachspieler. Er hatte den scharfen, analytischen Verstand dafür. Er hat mich in zehn Spielen siebenmal geschlagen. Er war eben in jeder Beziehung ein großartiger alter Herr.«

»Aber - aber sein Tod kam doch so unerwartet«, sagte Jane und warf Dr. Priester, der sich ihnen zugesellt hatte, rasch ein Lächeln zu. »Als ich ihn im Sommer sprach, sagte er mir, er sei davon überzeugt, noch viele Jahre zu leben.«