DER SÜSSE DUFT DES TODES - Victor Gunn - E-Book

DER SÜSSE DUFT DES TODES E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Skandal in Llangethy, einem kleinen Dorf in Wales! Enoch Spencer, der Gutsbesitzer, hat seine Frau verlassen und ist mit Effie Ford, der kleinen Schlampe, durchgebrannt. Damit jedoch tut man Enoch Spencer bitter unrecht: In Wirklichkeit liegt er seit zwei Tagen tot in einem Graben - mit eingeschlagenem Schädel. Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard und sein Assistent Johnny Lister übernehmen den Fall... Der Roman Der süße Duft des Todes von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel In blinder Panik). Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Victor Gunn

 

 

Der süße Duft des Todes

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 204

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER SÜSSE DUFT DES TODES 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Skandal in Llangethy, einem kleinen Dorf in Wales! Enoch Spencer, der Gutsbesitzer, hat seine Frau verlassen und ist mit Effie Ford, der kleinen Schlampe, durchgebrannt.

Damit jedoch tut man Enoch Spencer bitter unrecht: In Wirklichkeit liegt er seit zwei Tagen tot in einem Graben - mit eingeschlagenem Schädel.

Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard und sein Assistent Johnny Lister übernehmen den Fall...

 

Der Roman Der süße Duft des Todes von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel In blinder Panik).  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER SÜSSE DUFT DES TODES

 

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Mit elastischen, kräftigen Schritten schlenderte Dilys Roberts vergnügt und unbeschwert die Dorfstraße von Llangethy in der Grafschaft Carmarthen entlang. Es war ein ruhiger, friedlicher Sonntagabend im Juni, und die Luft war nach der Hitze des Sommertages jetzt frisch und kühl. Ein letzter rötlicher Schimmer vom Sonnenuntergang war noch über den Bergspitzen am Himmel zu sehen, aber das Tal selbst lag schon im tiefen Schatten.

Dilys war vierundzwanzig und für ein Waliser Mädchen ungewöhnlich hellblond. Sie trug ein farbenfrohes Sommerkleid, das ihre schöne Figur voll zur Geltung brachte, und so bot sie einen hübschen Anblick. Wenn ihr überhaupt ein Gedanke durch den Kopf ging, so war es der an das Abendbrot, das sie in der elterlichen Wohnung erwartete, die eine halbe Meile außerhalb des Dorfes lag. Sicherlich hatte sie nicht das geringste Vorgefühl einer Gefahr. Aber eine Gefahr sehr unschöner Art erwartete sie, als sie das letzte Häuschen hinter sich gelassen hatte.

Schon eine Minute später kam ihr eine erste Ahnung davon; sie veranlasste sie, stehenzubleiben und sich umzublicken. Hinter sich hörte sie unsichere, schlurfende Schritte, und jetzt sah sie auch unbestimmt die Gestalt eines Mannes, der ihr näher kam. Offenbar beeilte sich dieser Mann und beabsichtigte, sie einzuholen. Dabei waren seine Bewegungen unzweifelhaft die eines Betrunkenen.

Dilys biss sich ärgerlich auf die Lippen und setzte ihren Weg schneller fort. Aber leider musste sie feststellen, dass ihr unbekannter Verfolger sein Tempo ebenfalls beschleunigte und sogar so sehr, dass er sie rasch einholen musste. Denn Dilys war viel zu selbstsicher und mutig, um etwa feige wegzurennen.

»Warum so eilig, Mädel?«, fragte eine belegte, kehlige Stimme. »Können wir nicht zusammen gehen?«

Sie fühlte, wie sich eine kräftige Hand auf ihren Arm legte, und versuchte vergeblich, sich loszureißen. Auch roch sie den Alkoholdunst, als der Mann nahe an sie herankam. Das bestätigte ihre Ansicht, dass er betrunken sein musste.

»Was ist denn, Mädel? Sie haben doch nicht etwa Angst vor mir?«

»Ach, Sie sind es, Mr. Spencer!«, sagte sie, als sie ihn erkannte. »Ich habe schon von Ihnen gehört...«

»Von mir gehört?«, fiel er ärgerlich ein. »Was haben-Sie denn da gehört? Nun los - was haben Sie von mir gehört? Sie sind doch die Roberts, nicht? Aber das ist doch kein Grund, warum wir nicht zueinander nett sein sollten, nicht?«

»Wenn Sie das wollen, Mr. Spencer, so lassen Sie zunächst einmal meinen Arm los!«, erwiderte sie ärgerlich.

»Damit Sie mir fortrennen, wie?«

»Ach, Sie sind ja betrunken, Mr. Spencer!«

»Vielleicht - aber nicht so sehr, dass ich nicht sehen kann, dass Sie wirklich eine nette Krabbe sind!« Der Mann grinste, hielt ihren Arm noch fester als zuvor und zog ihren schlanken Körper an sich heran. »Wie wäre es mit einem Küsschen? Nur ein kleines Küsschen zwischen Freunden - wie?«

Dilys’ Ärger verwandelte sich in Furcht. Enoch Spencer vom Owen-Hof weiter das Tal hinauf hatte einen sehr schlechten Ruf. Aber Dilys hatte stets angenommen, dass er mit dieser Effie Ford ging, die in Abergollen arbeitete. Effie war - was jedermann im Dorf wusste - keineswegs eine Heilige. Stets war sie hinter Männern her; aber offensichtlich war Enoch Spencer einer Abwechslung durchaus nicht abgeneigt.

»Wenn Sie mich nicht gehen lassen, Sie betrunkener Kerl, dann schreie ich!«, stieß Dilys jetzt wirklich verängstigt hervor.

»Schön, schreien Sie nur!« Er kicherte höhnisch. »Wer wird Sie schon hören? Mein Gott, sind Sie aber hübsch!« Er brachte sein Gesicht so nahe an das ihre, dass ihr vor dem Alkoholdunst fast übel wurde. »Na, kommen Sie schon - nur ein Küsschen!«

»Nein, nein - lassen Sie mich los!«, rief sie empört.

Jetzt klang aus ihrer Stimme schon panische Angst, denn er hielt sie mit beiden Händen fest und zog sie trotz ihres Widerstandes an sich heran. Seine Finger griffen in ihr Kleid; krachend zerriss der dünne Stoff und fiel herunter. Nun schrie sie auf.

Ihr Schrei hatte eine von ihr ganz unbeabsichtigte Wirkung. Der Betrunkene, der schon vorher unbeherrscht gewesen war, wurde nämlich daraufhin wirklich gefährlich. Er hielt ihr mit der Hand den Mund zu und fluchte dabei unflätig. Es gelang ihr zwar mit einer verzweifelten Drehung des Kopfes, den Mund wenigstens für einen Augenblick freizubekommen und nochmals um Hilfe zu rufen, aber nun wurde der Mann völlig rücksichtslos. Während seine Augen zornig blitzten, schloss sich seine Hand fest über ihrem Mund. Er war damit so beschäftigt, dass er gar nicht hörte, wie sich leichte, rasche Schritte auf der Straße näherten.

»He - was geht denn hier vor?«, rief eine frische männliche Stimme.

Der Besitzer der Stimme war ein sportlich gestählter junger Mann in Flanellhosen und einem am Halse offenen Hemd.

»Hilfe...«, konnte Dilys nochmals leise hervorstoßen.

Enoch Spencer drehte verwundert den Kopf. Die plötzliche Unterbrechung hatte ihn ernüchtert; er dachte jetzt nur noch daran, unbemerkt zu entkommen. Er ließ Dilys los und schickte sich an fortzulaufen.

»Nein, so geht das nicht!«, herrschte ihn der junge Mann an, den schon ein kurzer Blick auf das Mädchen erschreckt hatte. »Nein, Sie schmutziges Schwein!« Er packte Spencer bei der Schulter, und als der Betrunkene sich umdrehte, schlug er ihm seine Faust mit so vernichtender Gewalt ins Gesicht, dass Spencer vor Schmerz aufheulend rücklings zu Boden fiel. Undeutlich sah der junge Mann dabei auf der Straße zwei andere Gestalten, die aus einiger Entfernung rasch hinzueilten.

»Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber ich werde Sie schon wiedererkennen«, sagte der junge Mann streng. »Sollte ich Sie nochmals bei so etwas erwischen, dann schlage ich Ihnen den Schädel ein! Leute wie Sie verdienen nur, dass man sie totschlägt!«

Enoch Spencer war inzwischen auf die Füße gekommen und rannte eiligst fort. Peter Marlowe zögerte noch einen Augenblick und beugte sich dann über das Mädchen, das halb ohnmächtig zu Boden gesunken war. Er fühlte sich verlegen, als er auf sie, die ohne Kleid in sommerlich leichter Unterwäsche dalag, herabblickte. Als sie bemerkte, dass sich Peter über sie beugte, wurde ihr der Zustand ihrer Kleidung erst bewusst, und sie stieß einen kleinen Schrei der Verlegenheit aus.

»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«, fragte Peter törichterweise.

Schon während er sprach, hatte er sein Jackett ausgezogen. Im nächsten Augenblick half er ihr auf die Beine und legte es ihr um die nackten Schultern. Dankbar hielt sie es über ihrer Brust zusammen.

»Hat er... ich meine...«

»Nein...«, flüsterte sie. »Sie sind noch rechtzeitig gekommen.«

»Gott sei Dank!«, rief Peter erleichtert. »Jedenfalls habe ich ihm einen Hieb versetzt, an den er denken wird. Wer war es denn? Ich hörte Sie aufschreien...«

»Es war der Besitzer vom Owen-Hof, Enoch Spencer«, unterbrach ihn Dilys. »Er war betrunken...«

»Sind Sie das, Miss Roberts?«, fragte nun eine neue Stimme.

Erst jetzt bemerkten Dilys und Peter, dass noch andere Menschen hinzugekommen waren-ein Ehepaar in mittleren Jahren von solidem Aussehen. Der Mann war derjenige, der gesprochen hatte; seine Stimme hatte eifrig und besorgt geklungen.

»Es ist gar nichts geschehen«, antwortete Peter beiläufig. »Ein Betrunkener namens Spencer wurde handgreiflich - das war alles. - Fühlen Sie sich schon wieder wohl, Miss Roberts?«

»Wieder dieser Spencer?«, meinte die Frau in entrüstetem Ton. »Sie haben ganz recht, junger Mann. Er ist wirklich ein übler Bursche.«

Peter wünschte nicht, Dilys’ Verlegenheit zu vermehren, indem er die Unterhaltung verlängerte. So fasste er sie am Arm und führte sie die Straßen entlang, nachdem er dem Ehepaar kurz gute Nacht gewünscht hatte.

»Vielen Dank...«, sagte sie leise, nachdem sie sich etwas entfernt hatten. »Jetzt habe ich mich schon wieder ganz erholt. Sie brauchen sich nicht weiter zu bemühen... Aber ich habe ja ganz vergessen - ich trage doch noch Ihre Jacke!« fügte sie rasch hinzu.

»Ja, und darum muss ich Sie auch nach Hause begleiten«, erwiderte der junge Mann zufrieden. »Übrigens scheint mir dieser Spencer ein ausgemachter Halunke zu sein. Er arbeitet wohl auf dem Owen-Hof, wie?«

»Der Hof gehört ihm«, erklärte Dilys. »Das heißt, eigentlich gehört er wohl seiner Frau. Sie hat ihn erst vor zwei oder drei Jahren geheiratet. Er ist kein Waliser, sondern stammt aus England. Aber Sie sind ja auch Engländer, nicht? Verzeihen Sie, ich wollte damit natürlich nicht sagen...«

»Ich bin erst gestern angekommen - auf Ferien - und wohne im Schloss-Gasthof im Dorf«, erklärte Peter gesprächig. »Ich werde wohl vierzehn Tage hier bleiben. Meine Mutter - sie ist jetzt tot - wohnte vor Jahren hier, und ich erinnere mich an den Ort noch dunkel aus meiner Kinderzeit. Das Tal hier ist doch ganz entzückend - aber gehen wir auch in der richtigen Richtung?«

»Ja - da vor uns liegt unser Haus!«, erwiderte das Mädchen. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll - aber wenn Ihre Mutter hier gelebt hat, so ist sie wohl auch Waliserin gewesen...«

»Nein - sie war waschechte Londonerin«, unterbrach er sie. »Aber sie brachte mich während des Krieges her - wegen der Bomben. Damals war ich natürlich noch sehr jung, und deshalb kann ich mich nicht mehr sehr gut an den Ort erinnern. Sie sind wohl von hier?«

»Ja, mein Vater ist hier Schullehrer«, erwiderte sie. »Ich selbst habe den Schönheitssalon im Dorf. Genaugenommen ist es nur ein Friseurladen- aber ich verstehe gar nicht, warum dieser schreckliche Mensch mich anfiel. Ich nahm an, dass er nur für Effie Ford Augen hat.«

»Wer ist denn Effie Ford?«

»Ein rothaariges Mädchen, das in der Parfümfabrik weiter unten im Tal arbeitet«, erklärte ihm Dilys. »Ich weiß nicht viel von ihr - nur was sich die Leute erzählen. Es ist aber hier allgemein bekannt, dass sie mit Enoch Spencer recht befreundet ist - obwohl er ein verheirateter Mann ist. Er ist keineswegs ein anziehender Mensch - er betrinkt sich immerfort und hat auch sonst im Tal einen sehr schlechten Ruf.«

Sie hatten inzwischen das Tor eines hübschen kleinen Häuschens erreicht, das, etwas von der Straße entfernt, in einem Garten stand. Aus den Fenstern im Erdgeschoss fiel Licht; das Mädchen zögerte, als sie auf die Klinke am Gartentor drückte.

»Wenn Sie hier warten wollen, werde ich Ihnen Ihre Jacke bringen...«

Das Öffnen der Haustür unterbrach sie; ein breiter Lichtschein fiel auf den Weg durch den Garten hinaus. In der Türöffnung erschien die Gestalt eines Mannes.

»Bist du das, Dilys?«, fragte er mit besorgter Stimme. »Mutter und ich, wir fingen schon an, uns deinetwegen Sorgen zu machen.«

»Ich komme ja schon, Papa.«

Peter handelte jetzt rasch. Von ihrer Stimme mit dem musikalischen Waliser Akzent entzückt, war er fest entschlossen, sie nicht zu verlassen, bevor er sie in hellem Licht gesehen hatte. So stieß er denn das Gartentor auf und führte sie am Arm bis zur Haustür. Dort ließ er sie los. Sie rannte wortlos an ihrem Vater vorbei, wobei sie Peters Jacke über der Brust fest zusammenhielt. Henry Roberts sah ihr erstaunt nach, als sie im Hause eilig die Treppen hinaufrannte.

»Nanu!«, rief der Lehrer erstaunt.

Er sah Peter halb misstrauisch und halb feindselig an, als der junge Mann nun auch über di£ Schwelle trat. Der Lehrer war ein riesiger, breitschultriger Mann, der mehr wie ein Schwergewichtsboxer als wie ein Schulmeister aussah. Er hatte auch das eckige Kinn des Boxers, trug aber dazu ein eisengraues Schnurrbärtchen und eine Hornbrille.

»Was ist denn mit Dilys los?«, erkundigte er sich energisch. »Warum trägt sie Ihr Jackett? Wer sind Sie überhaupt, junger Mann, und was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«

Es war ohne Zweifel der scharfe Ton seiner Stimme, der zwei andere Menschen in die hell erleuchtete Diele führte - eine Frau mittleren Alters und ein junges Mädchen, das wohl die Hausangestellte war.

»Beruhigen Sie sich nur, Sir«, erwiderte Peter ruhig. »Ich habe Ihrer Tochter nichts getan. Aber beinahe hätte es ein anderer, ein Mann namens Spencer...«

»Dieser Taugenichts?«, unterbrach ihn Mr. Roberts, immer noch mit scharfer Stimme. »Aber das erklärt doch noch nicht, warum meine Tochter Ihre Jacke trägt!«

»Sie trägt sie, weil Spencer ihr das Kleid zerriss und sie etwas brauchte, um sich zu bedecken«, erwiderte Peter. »Jawohl, so schlimm war es! Ich ging spazieren, als ich Ihre Tochter aufschreien hörte. Glücklicherweise kam ich noch rechtzeitig, um sie vor ernsthafterem Schaden zu bewahren - wenn man es mild ausdrücken will.«

»Großer Gott - Sie meinen also...«

»Jawohl!«

Peter war recht überrascht, als Hände nach seinen Schultern griffen und ihn wie mit Eisenklammern festhielten. Mr. Henry Roberts war nicht gerade das, was er sich unter einem Schulmeister vorgestellt hatte. Denn in einem Schulmeister hatte er erwartet, einen sanften, harmlosen Mann zu finden.

»Reden Sie weiter! Was geschah dann?«, erkundigte sich Dilys’ Vater mit harter Stimme. »Was hat Spencer mit ihr getan?«

Peter, der sich in dem eisernen Griff recht unbehaglich fühlte, schilderte ihm kurz, was geschehen war. Das Resultat seiner Erzählung war recht beunruhigend. Das Gesicht des Schullehrers lief rot an, als er Peter losließ und zurücktrat; seine riesigen Schultern hoben sich, und die Wut blitzte aus seinen Augen.

»Dieser dreckige Schmutzfink wagt es, meine Tochter zu belästigen?«, brüllte er. »Ich werde zu ihm auf den Hof gehen und ihn mit bloßen Händen erwürgen!«

»Aber beruhigen Sie sich doch, Sir...«

»Ich habe schon gehört, wie er sich Frauen gegenüber benimmt!«, fuhr der Lehrer wütend fort. »Jetzt werde ich ihn lehren, ein anständiges Mädchen zu behelligen!«

»Bitte, Henry...« Seine Frau unterbrach ihn und eilte zu ihm hin. »Mach keine Dummheiten. Du weißt ja, wie du bist, wenn du in Jähzorn gerätst. Schließlich ist doch Dilys gar nichts geschehen!«

»Nichts geschehen?«, erwiderte der Lehrer und starrte seine Frau wütend an. »Ohne das Dazwischentreten dieses jungen Mannes wäre sie vergewaltigt worden! Das weißt du doch auch! Vielleicht hätte der Kerl sie sogar umgebracht! So etwas ist ja schon vorgekommen - sehr oft sogar! Ich breche dem Schuft alle Knochen im Leibe...«

»Nein, Henry!«, unterbrach ihn seine Frau mit ruhiger, wenn auch zitternder Stimme. »Nimm doch Vernunft an! Warte lieber, bis du dich beruhigt hast! Du machst alles nur schlimmer, wenn du das Gesetz in die eigene Hand nimmst.«

Der hünenhafte Mann wurde etwas ruhiger.

»Vielleicht hast du recht, meine Liebe«, murmelte er. »Ich werde ins Dorf gehen und mit Sergeant Williams sprechen. Ich werde ihm schildern, was geschehen ist, und diesen Kerl anzeigen - wie?« Er wandte sich plötzlich an Peter, der versucht hatte, ihm ins Wort zu fallen. »Was wollten Sie sagen?«

»Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass es Ihnen vielleicht nicht angenehm wäre, wenn der Name Ihrer Tochter in eine solche Geschichte hineingezogen würde«, erwiderte Peter verlegen. »Wenn Sie Spencer anzeigen, so spricht sich die Sache doch im ganzen Dorf herum - und ich glaube nicht, dass Ihrer Tochter so etwas recht wäre. Vorläufig weiß noch niemand von der Sache außer mir.«

»Was ist mit den Leuten, die Sie auf der Straße sahen?«, fragte der Lehrer scharf. »Sie haben mir doch erzählt, dass Leute hinzukamen, nachdem Sie Spencer den Boxhieb versetzt hatten!«

»Ach, denen gegenüber legte ich mir eine Ausrede zurecht - ich sagte, der Kerl sei handgreiflich geworden«, erklärte ihm Peter. »Die Leute wissen nicht, was wirklich geschehen ist. Aber wenn Sie Spencer anzeigen - nun, dann muss doch alle Welt davon erfahren.«

»Er hat vollkommen recht, Henry!«, fiel Mrs. Roberts rasch ein. »Es wäre scheußlich, wenn sich so etwas herumsprechen sollte! Du weißt doch, wie die Leute in einem Dorf sind - und Llangethy bildet da keine Ausnahme: Zehn zu eins ist zu wetten, dass die Leute sofort glauben, dass das Schlimmste passiert ist. Wie peinlich wäre das für die arme Dilys!«

»Was ist denn mit der armen Dilys?«, fragte das Mädchen, das jetzt in einem anderen Kleid frisch und vergnügt die Treppe herabkam. »Ich  hörte Vater brüllen - wirklich, Vater, du darfst dich nicht so hinreißen lassen! Wozu soll man deshalb eine Szene machen?«

Sie war so ruhig, so völlig beherrscht, dass auch Mr. Roberts seine Ruhe wieder zurückgewann. Jedenfalls wurde ihm nun klar, dass öffentliches Breittreten das letzte war, was sich Dilys wünschen konnte.

»Nun schön, du magst recht haben, Ethel«, sagte er zu seiner Frau. »Daran hatte ich nicht gedacht.« Er warf einen wütenden Blick auf das Dienstmädchen. »Worauf warten Sie denn, Gwen? Niemand hat Ihnen gesagt, dass Sie hierbleiben sollen!«

Hastig verließ das Mädchen die Diele.

»Das beste ist, die ganze Sache zu vergessen«, meinte Mrs. Roberts. »Er hat dir doch nichts getan, nicht Dilys?«

»Er war eben betrunken«, erwiderte Dilys kurz. »Hier ist Ihre Jacke«, fügte sie hinzu und reichte Peter das Kleidungsstück. »Herzlichsten Dank, dass Sie sie mir geliehen haben - und auch dafür, dass Sie wie ein fahrender Ritter unvermutet auftauchten.«

Sie stellte den Zwischenfall absichtlich als harmlos hin, und Peter musste sie dafür bewundern. Ohne Zweifel kannte sie den Jähzorn ihres Vaters und war daher bemüht, ihn zu besänftigen. Im Übrigen fand Peter es schwer, die Augen von dem Mädchen zu lassen. Zum ersten Mal sah er sie jetzt ja bei hellem Licht, und dieser Anblick brachte ihn vollkommen durcheinander. Er hatte erwartet, ein ziemlich hässliches Mädchen vorzufinden, denn ein schönes Gesicht geht nur selten mit einer schönen Figur zusammen. Aber der Anblick von Dilys’ zartem, ovalem Gesicht mit dem herrlichen Mund und den rosigen Wangen traf Peter wie ein Schlag. Aus ihren grauen Augen sprachen Charakter und Intelligenz; deutlich konnte er erkennen, wie sie sich zusammennehmen musste, um ihren Vater zu täuschen. In Wirklichkeit war sie noch immer sehr nervös, tat aber ihr Möglichstes, um es zu verbergen.

»Jedenfalls freue ich mich, dass ich mich Ihnen nützlich machen konnte«, meinte Peter leichthin, als er sich seine Jacke anzog. »Gute Nacht, Miss Roberts - ich würde mir über diesen Spencer nicht allzu viele Gedanken machen«, fügte er mit einem Blick auf den Lehrer hinzu. »Er ist ja nicht ganz ungestraft entkommen - ich versetzte ihm einen Hieb, den er nicht so schnell vergessen wird.«

Er verabschiedete sich, fest entschlossen, Dilys bei nächster Gelegenheit wiederzusehen - sie war das hübscheste Mädchen, das er je zu Gesicht bekommen hatte -, und dabei hatte er noch mehr von ihr zu sehen bekommen, als ein junger Mann eigentlich hätte erwarten dürfen. Was ihn jedoch hingerissen hatte, war ihr schönes Gesicht mit dem Kranz von goldenem Haar.

 

Im gleichen Augenblick, in dem Peter Marlowe das Haus der Roberts’ verließ, betrat weiter oben im Tal Enoch Spencer durch die Eingangstür sein Hofgebäude. Es war ein großes, altmodisches Haus, das von den üblichen Nebengebäuden eines Hofes umgeben war. Aus ein oder zwei Fenstern im Erdgeschoss fiel noch Licht hinaus. Nachdem Spencer die Tür geöffnet hatte, schlich er sich auf Zehenspitzen durch die weite Diele, um zur Treppe zu gelangen. Es war eine sehr hübsche Diele, hell und gut möbliert. Erst kürzlich hatte Mrs. Spencer das Haus modernisieren lassen.

»Wieder betrunken...«, ertönte eine müde Stimme, die den Mann am Fuß der Treppe festhielt. »Wie dumm bist du doch, Enoch! Glaubst du wirklich, dass du dich ins Bett schleichen kannst, ohne dass ich es bemerke?« Ihre Stimme klang bitter. »Aber, lieber Himmel, was ist denn mit deinem Gesicht? So viel Blut...«

Sein Gesicht war in der Tat kein schöner Anblick. Seine Nase hatte nicht nur geblutet, sondern war auch auf das Doppelte der normalen Größe angeschwollen. Auch seine linke Wange war geschwollen und blutig; das linke Auge war blau und fast geschlossen. Der Schlag, den ihm Peter versetzt hatte, war wirklich ein Volltreffer gewesen.

»Mir ist nichts...«, murmelte er mürrisch. »Ich bin gefallen und habe mich dabei im Gesicht verletzt. Lass mich in Ruhe!«

»Sei kein Narr! So kannst du doch nicht schlafen gehen«, antwortete seine Frau schnell. »Geh in die Küche - dort werde ich dir das Gesicht waschen und dir etwas heißen Kaffee machen.«

Unterwürfig gehorchte er. Seine Frau war eine hübsche Person Mitte Dreißig. Ihr dunkles Haar war gut gepflegt, ihr Gesicht glatt und ohne Falten; sie trug ein elegantes Sommerkleid.

Sie führte ihn in die Küche und ließ ihn dort in einem Lehnstuhl Platz nehmen. Es war die große Küche eines Gutshofes, aber durchaus modern mit eingebautem Abwaschtisch, Kühlschrank und elektrischer Waschmaschine eingerichtet. Mrs. Spencer war die wirkliche Herrin auf dem Owen-Hof, und es war nur ihrem Unternehmungsgeist zu verdanken gewesen, dass der Hof ertragreich geworden war.

Während der Kaffee kochte, wischte sie mit einem nassen Tuch das Blut vom Gesicht ihres Mannes ab, der mit zusammengekniffenem Mund wortlos im Stuhl sitzen blieb. So etwas hatte sie schon sehr oft erlebt - allerdings ohne die Gesichtsverletzungen. Denn für Enoch Spencer war es keineswegs ungewöhnlich, betrunken nach Hause zu kommen.

Er hatte den Kaffee erst halb getrunken, als sein Kopf nach vorn sank und er einschlief. Der Alkohol, den er im Übermaß zu sich genommen hatte, zeigte noch Nachwirkungen. Mit finsteren Blicken betrachtete ihn seine Frau.

Jetzt kam ein Mann von der Speisekammer aus in die Küche. Es war ein großer, breitschultriger Bursche von etwa vierzig Jahren, der in seiner Art recht ansehnlich war. Griffith Hughes arbeitete schon seit Jahren auf dem Hof; er war Mrs. Spencers rechte Hand und verstand viel mehr von der Wirtschaft als Spencer.

»Enoch ist also zurück, wie?«, fragte er verächtlich, als er die schlafende Gestalt im Stuhl sah. »Hat er Ihnen Bescheid gesagt?«

»Bescheid über was?«

»Über das, was er heute angestellt hat!«

»Er ist natürlich betrunken«, meinte Mrs. Spencer gleichgültig. »Er hat sich auch im Gesicht verletzt. Mir sagte er, er sei gefallen...«

»Haben Sie ihm das etwa geglaubt?«, unterbrach sie Hughes mit einer verächtlichen Geste. »In Wahrheit erhielt er von einem jungen Burschen, der im Schloss-Gasthof wohnt, einen Hieb ins Gesicht. Der junge Mensch ist ein Feriengast - frisch aus London angekommen. Das ganze Dorf spricht schon darüber.«

»Es ist immerhin etwas Neues, dass sich Enoch in eine Schlägerei einlässt«, meinte Mrs. Spencer verkniffen.

»Nach dem, was ich gehört habe, war es aber keine Schlägerei«, erwiderte Griffith. »Sie kennen doch Dilys Roberts, die Lehrerstochter, die den Frisiersalon im Dorf hat, nicht?«

»Natürlich - ich lasse mir ja von ihr mein Haar machen. Ein hübsches Mädchen - und auch recht schick. Eigentlich viel zu elegant für Llangethy. Aber sie wird wohl auch nicht ewig hier bleiben.«

»Mr. und Mrs. Lloyd kamen gerade vorbei, als es passierte. Enoch bekam das Mädchen wohl zu fassen und versuchte, über sie herzufallen«, sagte Hughes. »Aber auch das ist ja keineswegs erstaunlich. Ihm ist eben einfach alles zuzutrauen, wenn er betrunken ist.«

»Erzählen Sie weiter«, sagte die Frau gepresst.

»Diesmal ging es aber ausnahmsweise schlecht für ihn aus«, fuhr Griffith fort, zog sich die Jacke aus und setzte sich an den Tisch. »Ist noch Kaffee übrig? - Das Mädchen schrie auf, der junge Bursche aus London hörte den Schrei...«

So stand es also mit Peters Hoffnung, die Geschichte vertuschen zu können! Offenbar unterhielt man sich schon allgemein darüber.

»Das werde ich mir nicht gefallen lassen!«, rief Mrs. Spencer wütend und warf einen zornigen Blick auf ihren schlafenden Mann. »Es genügt ihm also nicht mehr, dem kleinen Luder, der Effie Ford, nachzulaufen! Er muss sich auch an ein so anständiges Mädchen wie Dilys heranmachen!«

»Vergessen Sie nicht, dass er betrunken war!«

»Wollen Sie ihn etwa entschuldigen?«, fragte sie scharf. »Jetzt habe ich es satt! Mein Gott, ich habe es in diesen letzten Jahren schon oft bereut, dass ich ihn geheiratet habe - aber das ist wirklich zu viel!«

Griffith Hughes sah sie überrascht an. Selten hatte er sie so aufgebracht gesehen. Sie war an die Kneiptouren ihres Mannes und seine verliebten Abenteuer so gewöhnt, dass sein Benehmen ihr bereits gleichgültig geworden war. Hughes stand auf und ging zu ihr hinüber. Als er sich über sie beugte, trat in seine Augen ein eigenartiges Leuchten.

»Warum lassen Sie sich nicht von ihm scheiden?«, fragte er leise.

Plötzlich verflog ihr Zorn, und nach einem vorsichtigen Blick auf den schlafenden Enoch lächelte sie. Es war ein sanftes, fast streichelndes Lächeln.

»Das möchten Sie wohl gern, Griffith, wie?«

»Und Sie nicht?«, flüsterte er mit zitternder Stimme. »Er ist doch ein Taugenichts, Gladys! Er ist für den Hof nur eine Belastung! Warum versuchen Sie nicht, ihn loszuwerden?«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Am folgenden Morgen trat Peter Marlowe aus der Tür des Schloss-Gasthauses am Dorfplatz von Llangethy und blickte vergnügt in den blauen Himmel, in dem weiße Federwölkchen schwammen. Es war ein herrlicher Junimorgen, und nur die fernen Bergspitzen waren noch nicht ganz klar.

Peter fühlte sich großartig. Gestern hatte er sich noch die Frage gestellt, ob es von ihm klug gewesen sei, sich ein so ruhiges, abgelegenes

Waliser Tal als Ferienziel zu wählen; jetzt war diese Frage für ihn entschieden. Denn in diesem Tal lebte ja Dilys Roberts - sie wohnte nur eine Meile vom Dorf entfernt - und leitete im Dorf selbst einen Frisiersalon. Die Frage, die ihn jetzt beschäftigte, lautete vielmehr: Wie sollte er es anstellen, sie wiederzusehen?

Es war gar nicht so einfach. Er konnte doch nicht ohne weiteres in einen Damensalon gehen. Andererseits konnte es schließlich nicht schaden, sich den Laden nochmals anzusehen. Er hatte es zwar schon gestern Nacht getan, nachdem er ins Dorf zurückgekehrt war, hatte aber in der Dunkelheit nicht viel erkennen können. So schlenderte er denn gemächlich die Dorfstraße entlang und rief sich Kindheitserinnerungen an den Ort zurück. Llangethy war ein großes Dorf, das sich ziemlich weit am Fuß der Flügel hinzog. Manche Leute nannten es eine kleine Stadt, aber die Einwohner zogen die Bezeichnung Dorf vor.

Hier war nichts modern. Selbstbedienungsläden und Milchbars hatten in diese stille Gemeinde noch keinen Eingang gefunden. Die meisten Läden waren altmodisch, und es gab nur ein oder zwei Neonlichter. Als er jetzt herumschlenderte, gefiel Peter das, was er sah, gerade weil es in so krassem Gegensatz zu der Geschäftigkeit stand, in der sich sein Alltagsleben abspielte. Peter bediente als Techniker eine elektronische Rechenanlage, und das Werk, in dem er sich sein Gehalt - übrigens ein sehr ordentliches Gehalt - verdiente, lag am Stadtrand von London in Croydon.

Der Frieden und die Ruhe von Llangethy waren schon in ihm eingezogen, obgleich er erst achtundvierzig Stunden im Orte weilte. Jetzt sah er sich eifrig nach einem kleinen Laden um, in dem ein hübsches Mädchen arbeitete - ein Mädchen, das ihm noch vor vierundzwanzig Stunden gänzlich unbekannt gewesen war, ihn jetzt aber stärker beschäftigte, als ihn irgendein Mädchen zuvor beschäftigt hatte. Eigentlich war dieser Zustand recht beunruhigend.

Er brauchte nicht weit zu gehen, um den Schönheitssalon Zur gelben Narzisse zu finden. Der Laden lag nämlich dem Schloss-Gasthaus fast gegenüber, auf der anderen Seite des Dorfplatzes. Der Gasthof war ein behagliches Haus, das noch aus den Tagen der Postkutsche stammte; jetzt stellte er das beste Hotel des Dorfes dar.

Nachdenklich blieb Peter vor dem Fenster des Frisiersalons stehen. Die Schaufensterauslage bestand aus Kosmetika, Seifen und bunten Parfümfläschchen.

Schließlich kam ihm ein Einfall, und er betrat kühn den Laden, in dem er aus den abgeteilten Kabinen auf der Hinterseite Unterhaltung und Lachen hörte. Das Summen eines Haartrockners mischte sich mit dem Echo der Türglocke. Sehr schick in einem schneeweißen Kittel trat nun Dilys Roberts zu ihm. Als sie ihn erkannte, sah sie im ersten Augenblick recht verlegen aus.

»Guten Morgen, Miss Roberts«, begrüßte sie Peter eifrig.

Ihre Verlegenheit beruhte ohne Zweifel auf der Tatsache, dass auch sie an diesem Morgen häufig an den jungen Mann hatte denken müssen; sie konnte die traurige Veranlassung ihres Zusammentreffens nicht vergessen - traurig jedenfalls von ihrem Standpunkt aus. Sie bemühte sich jedoch, ihre Verlegenheit zu verbergen, indem sie seinen Besuch als Scherz behandelte.

»Was haben Sie eigentlich an einem Ort wie diesem zu suchen, Mr. Marlowe?«, fragte sie und blinzelte vergnügt. »Möchten Sie eine Dauerwelle - oder vielleicht eine Maniküre?«

Eigentlich war er noch hübscher, als sie ihn in Erinnerung hatte. Gestern Abend war sie ja nicht imstande gewesen, ihn in Ruhe zu betrachten. Aber jetzt gefielen ihr sein gewelltes braunes Haar und seine braunen Augen, und sein entschlossenes Kinn deutete unzweifelhaft auf einen starken und unabhängigen Charakter hin.

»Ich... ich wollte mir eigentlich heute Morgen mein Haar waschen«, meinte Peter verlegen. »Sie haben doch diese kleinen Shampoon-Kissen zu verkaufen, nicht?«

»So etwas bekommen Sie in der Drogerie - ein Stückchen weiter die Straße entlang«, erwiderte Dilys sanft. »Dort sollten Sie sich danach erkundigen.«

»Natürlich haben Sie recht«, gab er zu. »Wie dumm von mir! Aber jetzt bin ich schon einmal hier... Wie fühlen Sie sich heute Morgen?« Er betrachtete sie prüfend. »Keine üblen Nachwirkungen?«

»Natürlich nicht!« Sie lachte. »Übrigens sind Sie der, der üble Nachwirkungen verspüren könnte. Was machen Ihre Knöchel?«

Er warf einen Blick auf seine Knöchel, deren Haut geplatzt war. Sie hatten zwar etwas wehgetan, aber er ging über dieses Thema mit einer Handbewegung hinweg. Er machte einen kleinen Einkauf und wollte sich dann rasch verabschieden, denn er hatte das Gefühl, dass sein Besuch hier ein nicht gerade geschickter Schritt gewesen sei und dass er sich damit zum Narren gemacht hatte. Wie idiotisch, einfach in einen Damenfrisiersalon einzudringen!

Bei genauerer Überlegung kam er jedoch zu dem Schluss, dass dieser Besuch trotz allem erfreuliche Resultate erbracht hatte. Er hatte das Mädchen bei vollem Tageslicht sehen und beobachten können, wie frisch und fröhlich es aussah. Nun wusste er wenigstens, dass ihn sein erster Eindruck nicht getäuscht hatte. Wenn möglich, war sie noch viel hübscher, als er bisher geglaubt hatte. Ihre Stimme mit dem leichten Waliser Akzent erschien ihm geradezu bezaubernd. Ohne richtiges Ziel schlenderte er nach dem Gasthaus zurück.

Eigentlich war seine Absicht eine ganz andere gewesen; er war nach Llangethy gekommen, um hier in Ruhe seine Ferien zu verbringen, ohne auch nur im leisesten zu ahnen, dass er sich hier für ein Mitglied des anderen Geschlechts interessieren könne. Dabei zerbrach er sich jetzt den Kopf, wie er Mittel und Wege finden könnte, um seine Bekanntschaft mit der Tochter des Schullehrers zu vertiefen.

Seine Gedanken wurden durch den Anblick eines eleganten, glänzenden Vauxhall-Cabriolets unterbrochen, das ein Stückchen weiter auf der Straße stand. Die hübsche, gut angezogene Frau am Steuer des Wagens richtete an den Mann, der neben ihr saß, einige Worte, stieg aus dem Wagen und ging in die Drogerie. Aber Peters Interesse war dadurch geweckt worden, dass der Mann, der im Wagen sitzen geblieben war, ein blaugeschlagenes Auge und eine erheblich geschwollene Nase besaß. Da er im Düster des gestrigen Abends nur einen oberflächlichen Blick auf Enoch Spencer geworfen hatte, hatte sich Peter kein klares Bild machen können, wie der Mann eigentlich aussah. Aber diese Merkmale waren nicht zu verkennen. Außerdem sah der Bursche auch sonst mürrisch und niedergeschlagen aus.

Na also!, dachte Peter befriedigt.

Er hatte nie zu hoffen gewagt, dass sein Boxhieb einen so durchschlagenden Erfolg gehabt haben könnte. Das war also der gemeine Lump, der versucht hatte, Dilys Roberts anzufallen! Er sah eigentlich auch durchaus danach aus! Wahrscheinlich war seine Frau nur in die Drogerie gegangen, um dort ein Medikament für sein zerschundenes Gesicht zu kaufen. Peter stellte bei sich fest, dass es sich durchaus gelohnt habe, sich die Knöchel abzuschürfen.

Ein oder zwei Leute, die vorbeigingen, warfen im Vorübergehen forschende Blicke auf Enoch Spencer, und diese Blicke waren keineswegs freundlich. Schließlich blieben zwei Frauen neben dem Wagen stehen, und Peter vermutete, dass sie sich anschicken wollten, Spencer anzusprechen. In diesem Augenblick kam jedoch ein Mädchen, das mit seinem feuerroten Haar recht herausfordernd aussah, auf einem Fahrrad vorbei. Es war, wenn auch etwas auffallend und frech, doch recht hübsch. Das Mädchen trug ein buntes Sommerkleid, das die üppige Brust und ein erhebliches Stück ihrer gutgeformten Beine zeigte. Sie sprang vom Rad, stellte sich neben das Auto und sprach auf Enoch Spencer ein.

Sieh mal an!, sagte sich Peter erneut.

Konnte das Effie Ford sein? Das Mädchen, von dem er gehört hatte - das Mädchen, das mit Enoch Spencer recht befreundet und Männern gegenüber allzu zugänglich sein sollte? Ganz entschieden sah sie so aus. Unzweifelhaft war sie frech und ungehemmt. Bei der Unterhaltung nahm Spencers Gesicht einen besorgten Ausdruck an; dann protestierte er anscheinend heftig gegen etwas - wobei er ängstliche Blicke nach der Drogerie hinüberwarf. Aber das rothaarige Mädchen lachte nur und schüttelte den hübschen Kopf. Einen Augenblick später trat jedoch Mrs. Spencer aus der Tür der Drogerie; ihre Augen blickten zornig, als sie die Szene zu sehen bekam, die sich auf der Straße abspielte.

Nun, es lohnt schon, sich das anzusehen!, dachte Peter bei sich.

Mrs. Spencer, deren gutes Aussehen durch den Zorn in ihrem Gesicht beeinträchtigt war, überquerte den Bürgersteig und blieb bei dem Mädchen stehen. Jetzt sprühten ihre Augen geradezu Feuer.

»Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten, Effie Ford!«, rief sie mit lauter, drohender Stimme. »Aber lassen Sie meinen Mann in Ruhe!«

Das Mädchen sah sie geringschätzig an.

»Ich will gar nichts von Ihrem verdammten Mann!«, entgegnete sie mit höhnischem Lachen. »Von mir aus können Sie ihn behalten! Nach dem, was gestern Abend geschehen ist...«

»Ich denke gar nicht daran, mit Ihnen zu diskutieren«, unterbrach sie Mrs. Spencer angeekelt. »Mein Gott, Sie stinken ja wie ein Straßenmädchen - das sind Sie auch!«

Für einen Augenblick wurde Effie totenblass; dann stieg ihr die Zornesröte ins Gesicht.

»Halten Sie Ihren Mund, Mrs. Spencer!«, stieß sie hervor. »So etwas dürfen Sie keinem anständigen Mädchen sagen! Deswegen werde ich Sie anzeigen! Und dieses Parfüm ist ein Spezialparfüm von Mr. Morgan - sein teuerstes! Es sieht Ihnen ganz ähnlich, darüber Bemerkungen zu machen, die nur Ihre Kenntnislosigkeit verraten!«

»Wenn ich Sie noch einmal mit meinem Mann erwische...«

»Lass doch Effie in Ruhe!«, schrie Enoch Spencer sie feindselig an. »Musst du denn in aller Öffentlichkeit eine Szene machen?«

»Keine Angst, Enoch - ich gehe schon«, sagte Effie Ford und warf seiner Frau einen herausfordernden Blick zu. »Mit dir bin ich sowieso fertig - nach dem, was du gestern Abend angestellt hast! Ja, ich weiß Bescheid! Alle wissen ja darüber Bescheid!«

Wieder schüttelte sie ihren Haarschopf, sprang auf ihr Rad und radelte fort. Sie hatte solche Eile und fuhr so schlecht, dass sie beinahe in Peter hineingefahren wäre, der gerade die Straße überqueren wollte. In ihrer Hast achtete sie auch nicht darauf, dass ihr der Wind den Rock so hoch hob, dass man mehr als nur den Saum eines spitzenbesetzten Schlüpfers zu sehen bekam.

Peter roch einen starken Parfümduft, der so durchdringend war, dass er ihn wie eine Wolke einhüllte. Er musste grinsen. Wie so viele Mädchen ihrer Art verstand Effie Ford nicht, Parfüm zu verwenden. Sie tränkte einfach alles mit dem Zeug.

Amüsiert beobachtete er auch die Abfahrt des Vauxhall. Mrs. Spencer saß mit zusammengekniffenen Lippen am Steuer. Neben ihr zeigte sich auf dem entstellten Gesicht ihres Mannes ein sehr hässlicher Zug.

Wieder ein dörflicher Sturm im Wasserglas! Diese Waliser, so meinte Peter, waren doch recht hitzköpfig. Sie waren Leute, die sich nicht viel gefallen ließen, und hatten nichts für Getue übrig.

Fünf Minuten später lag die Hauptstraße wieder ruhig da, und die wenigen Passanten, die den kurzen Wortwechsel beobachtet hatten, hatten sich zerstreut. Wieder wusste Peter nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er ging zur Garage auf der Rückseite des Schloss-Gartens und holte sich seinen Austin-Sportwagen heraus. Dann fuhr er mit ihm in den Bergen spazieren und genoss die Landschaft. Aber plötzlich kam ihm ein glänzender Einfall, und er kehrte mit Höchstgeschwindigkeit nach Llangethy zurück.

Als er wieder in den Frisiersalon stürzte, ließ er sich nicht mehr zum Rückzug bewegen. Mit erheblicher Überraschung betrachtete ihn Dilys.

»Da ist mir gerade etwas eingefallen, Miss Roberts!«, rief er atemlos. »Wie wäre es mit einem Mittagessen im Schloss-Gasthof? Man kocht dort vorzüglich!«

»Vielen Dank, Mr. Marlowe.«

»Ach - soll das etwa heißen, dass Sie ablehnen?«

»Ich muss es leider. Ich gehe zum Mittagessen immer nach Hause«, erklärte Dilys sanft. »Meine Mutter erwartet mich schon. Aber es war sehr nett von Ihnen, mich einzuladen. Vielleicht ein andermal...«

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Peter eifrig. »Schön - dann werde ich Sie gleich festnageln, Miss Roberts! Wie wäre es mit morgen?«

Aber sie gab ihm kein festes Versprechen, und er musste sich mit einem »Vielleicht« begnügen. Immerhin war es besser als nichts, wenn er jetzt auch sein Mittagessen im Schloss-Gasthof einsam verzehren musste. Er überlegte beim Essen, ob Dilys’ Vater nicht doch noch gegen Enoch Spencer bei der Polizei Anklage erheben sollte, da jetzt offenbar das ganze Dorf sowieso von dem Überfall wusste. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass Roberts nicht wünschen konnte, die Verlegenheit seiner Tochter noch dadurch zu vergrößern, dass er den Fall vor Gericht brachte.

Der Rest des Tages verging ihm recht angenehm. Heute war Montag, und das bedeutete, dass er fast noch volle vierzehn Tage hierbleiben konnte. Wenn er an Dilys dachte, wusste er, dass ihm die Zeit nicht lang werden würde.

Aber er suchte sie erst wieder am folgenden Tage auf, und obwohl sie es wieder ablehnte, mit ihm zu Mittag zu essen, versprach sie ihm doch, am Abend nach Ladenschluss mit ihm spazieren zu gehen.