Das Geheimnis der Gezeitenwelt - Magus Magellan - E-Book

Das Geheimnis der Gezeitenwelt E-Book

Magus Magellan

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Beschreibung

Die Vorgeschichte zu einem deutschen Fantasy-Zyklus der Extraklasse! "Magus Magellan" ist das Pseudonym von vier preisgekrönten deutschsprachigen Autoren: Bernhard Hennen, Hadmar von Wieser, Thomas Finn und Karl-Heinz Witzko. In ihrem Epos über die Gezeitenwelt erzählen sie von der Wiedergeburt der Magie und laden ihre Leser ein, ihnen in eine Welt zu folgen, in der Träume sich erfüllen – und Legenden Wahrheit werden. Als ein schweifender Stern vom Himmel fällt, kommt es überall auf der Gezeitenwelt zu unerklärlichen Phänomenen. Bei der Suche nach deren Ursache stößt das Schlitzohr Varatreo auf uralte, verborgene Manuskripte. Sie erzählen die Geschichte der Prinzessin Genia, die an der Seite ihres Geliebten, des zwielichtigen Ritters Lorenzo, vor den Gegnern des Alten Imperiums flieht. Doch dies sind die Jahre, da noch Zauberer und Ungeheuer unter den Menschen weilen. Und so gerät Genias Flucht zu einem Wechselspiel aus Traum und Alptraum, Legende und Wirklichkeit … "Ein beeindruckendes Projekt. Die originellste Idee, die mir in der Fantasy je begegnet ist!" Andreas Eschbach

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Die Vorgeschichte zu einem deutschen Fantasy-Zyklus der Extraklasse! 

"Magus Magellan" ist das Pseudonym von vier preisgekrönten deutschsprachigen Autoren: Bernhard Hennen, Hadmar von Wieser, Thomas Finn und Karl-Heinz Witzko. In ihrem Epos über die Gezeitenwelt erzählen sie von der Wiedergeburt der Magie und laden ihre Leser ein, ihnen in eine Welt zu folgen, in der Träume sich erfüllen – und Legenden Wahrheit werden.

Als ein schweifender Stern vom Himmel fällt, kommt es überall auf der Gezeitenwelt zu unerklärlichen Phänomenen. Bei der Suche nach deren Ursache stößt das Schlitzohr Varatreo auf uralte, verborgene Manuskripte. Sie erzählen die Geschichte der Prinzessin Genia, die an der Seite ihres Geliebten, des zwielichtigen Ritters Lorenzo, vor den Gegnern des Alten Imperiums flieht. Doch dies sind die Jahre, da noch Zauberer und Ungeheuer unter den Menschen weilen. Und so gerät Genias Flucht zu einem Wechselspiel aus Traum und Alptraum, Legende und Wirklichkeit …

"Ein beeindruckendes Projekt. Die originellste Idee, die mir in der Fantasy je begegnet ist!" Andreas Eschbach

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2015 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2004 by Magus Magellan

Copyright © Idee, Konzeption und Herausgeberschaft: Bernhard Hennen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-699-1

facebook.com/edel.ebooks

Prolog

»Und das hier?« fragte die jüngere der beiden fettleibigen Frauen und drehte einen kleinen blauen Stein zwischen den Fingern.

Seitdem Varatreo ihr und ihrer Schwester hatte weismachen können, die Glassteinchen mit dem aufgeschmolzenen Blattgold seien Klümpchen reinen Goldes, hatte er jegliche Hemmungen abgelegt. Dennoch wollte er nicht völligen Unsinn von sich geben. Schließlich war das Ganze längst kein Spiel mehr, sondern eine Frage von Leben und Tod.

Varatreo betrachtete das blaue Steinchen, das die Frau aus dem Mosaik gebrochen hatte. Soweit er wußte, stammte die Farbe der Glasur tatsächlich von einem zerstoßenen Edelstein. Welcher war es bloß? Amethyst? Beryll? Aquamarin? Das klang gut!

»Es ist ein Aquamarin!« log er andächtig.

»Kenn ich nicht«, antwortete die Frau und besah das Steinchen, als wäre es bloß ein Klumpen Dreck.

»Man findet ihn nur am Meer«, schwindelte Varatreo. »Er wird dort an den Strand gespült und von den Fischern eingesammelt.«

»Ist er wertvoll?«

»Sicherlich. Dafür bekommst du einen Schleier, wie ihn die reichen Frauen in Maganta tragen. Hauchdünner Stoff, fast durchsichtig.« Er merkte sogleich, daß sie mit der Erklärung nichts anzufangen wußte. Flor oder zerschlissenes Leinen – für diese dumme Gans und ihre Schwester war das ein und dasselbe. Er verbarg ein Lachen. »Für ein Aquamarinsteinchen bekommst du mindestens zwei fette Gänse.«

Das verstand sie! Entschlossen setzte die Frau ihr Zerstörungswerk fort. Blaue, rote und goldene Blättchen schossen durch die Luft, als sie erneut mit dem faustgroßen Stein auf die Mosaiken einschlug, mit denen die verlassene Basilika des Abwesenden Gottes ausgeschmückt war. Viel war von ihnen sowieso nicht mehr übrig geblieben. Die Jahrzehnte, in denen das Gotteshaus leergestanden hatte, hatten ihren Tribut gefordert. Was die steinernen Wandbilder einst dargestellt hatten, war kaum noch zu erkennen. Hier eine einzelne Hand mit einer Locke – zweifellos Teil eines Bildnisses der Hochheiligen Sarmantha –, dort ein Kopf mit Helm. Vielleicht der heilige Malachias, vielleicht auch jemand anderes. Die Kirche Aionars kannte viele wehrhafte Heilige.

Varatreo zwang sich dazu, sich wieder mit dem Naheliegenden zu beschäftigen. Selbst wenn die einfältigen Geschöpfe bis zum letzten Mosaiksteinchen glaubten, Gold und Edelsteine von den Wänden zu schlagen, hätte er damit sein Leben nicht gerettet. Mutter wäre mit dem vermeintlichen Schatz nicht zufrieden! Er mußte bald eine Möglichkeit finden, ihr und ihrer Brut zu entkommen.

Zum tausendunderstenmal verfluchte sich Varatreo. Wegen ein paar Bechern scharfen Schnapses hatte er sich in diese Lage gebracht. Um die zu erschnorren, hatte er in der Schenke geprahlt, wie weitgereist, gebildet und welterfahren er sei, und als Beweis eine seiner erfolgreichsten Lügengeschichten zum besten gegeben: die von der verlassenen Stadt mit dem Tempel voller Gold. Wer hatte auch ahnen können, daß es zwei Tagesmärsche entfernt einen verlassenen Ort gab, auf den seine Beschreibung annähernd zutraf? Wer hätte ahnen können, daß zwei der Gimpel, die ihm zuhörten, jedes Wort vollkommen ernst nähmen?

Varatreo hatte das und noch viel mehr erfahren, als er Stunden später mit dröhnendem Schädel und einer riesigen Beule das Bewußtsein wiedererlangt und Mutter kennengelernt hatte: ein Weib, halb so schwer wie ein Ochse und doppelt so reizbar wie ein Stier! Sie und ihre zehnköpfige Brut hatten ihn in dieses seit mindestens hundert Jahren aufgegebene Städtchen geschleppt, auf daß er ihnen die Schätze zeige. Aber hier gab es keine! Hier gab es nur leerstehende Häuser, und das zuhauf. Mutter würde arg enttäuscht sein, wenn sie das erst einmal begriff.

Eine der Frauen schrie auf. Blut lief ihr über die Stirn. Ihre Schwester hatte ihr erbost mit dem Stein auf den Kopf gehauen, nachdem sie von einem der durch die Luft schwirrenden Mosaikplättchen getroffen worden war. Unverzüglich fielen die beiden übereinander her. Sie kratzten sich, hieben aufeinander ein und wälzten sich ineinander verkrallt über den Boden. Welch günstige Gelegenheit, dachte Varatreo. Die beiden waren beschäftigt. Wie er wußte, räumten mindestens sechs ihrer Brüder Schutt aus den Kellergewölben der Basilika. Blieben also höchstens noch zwei übrig ...

Varatreo schlich zum Eingang, spähte hinaus und rannte so schnell er konnte davon: vorbei an eingeschossigen Häuschen aus unbehauenen Steinen, die mit Schiefer gedeckt waren. Man sah ihnen auf den ersten Blick gar nicht an, daß sie schon so lange leerstanden. Einst hatten sie mindestens tausend Menschen als Zuhause gedient. Was war aus den Bewohnern geworden? Warum waren sie weggezogen? Der Ort mußte einmal sehr wohlhabend gewesen sein. Die Straßen waren sogar gepflastert. So etwas gab man nicht ohne weiteres auf! Hatte eine Krankheit die Bewohner dahingerafft, oder waren sie vor einem Kriegsherrn geflüchtet? Das Spießland war ein unruhiges Land. Viele hatten Varatreo gewarnt, als er vor gut vier Wochen erwähnt hatte, daß er hindurchreisen wolle.

Meide dieses schreckliche Land! hatten sie ihm geraten. Dort wohnen nur böse Leute! Er hatte es nicht glauben wollen, hatte standhaft beteuert, ein Land voller Bösewichte gäbe es nicht. Unsinn! Natürlich gab es das! Jetzt wußte er es. Alle hatten recht gehabt. Alle bis auf ihn.

Varatreo lauschte dem Klatschen seiner Sandalen. Er wunderte sich, wie spärlich Gras und Keimlinge in den Fugen zwischen den Pflastersteinen wuchsen. War der Boden so schlecht, oder sorgte heimisches Getier dafür, daß der Bewuchs niedrig blieb? Vielleicht Ziegen?

Sein erster Fehler war diese Reise gewesen, dachte Varatreo grimmig, aber nicht sein letzter! Der war es, durch das Bergland von Enostasia zu wandern. Wieder hatte er alle Warnungen in den Wind geschlagen, sogar mit gewitzelt, als jeder gespottet hatte: Willkommen in den Bergen, wo der Schnaps blendend schmeckt und auch so wirkt und jeder Jüngling zu seiner Liebsten Schwester oder Mammi sagt! Enostasia, Inzuchtasia! Ja, ja, wie lustig hatte das aus der Ferne geklungen!

Aus der Nähe aber nicht mehr, wenn man überall dieselben leeren Gesichter um sich hatte, derselben verbissenen Wortfaulheit ausgeliefert war und demselben lauernden Schweigen. Vor drei Tagen hatte Varatreo am Eingang eines Dorfes einen Mann ausspucken sehen. So weit er blicken konnte, hatte das jeder Mann im gesamten Dorf fast gleichzeitig ebenso gehalten. Ganz genau dieselbe Bewegung. Und wenn er Mutters Brut betrachtete, so legten auch ihre Söhne und Töchter beredtes Zeugnis ab. Angeblich stammten sie von sechs verschiedenen Vätern. Das sah man nicht.

Allerdings, räumte Varatreo ein, hatte er gar keine Wahl gehabt, als den Weg über Enostasia zu nehmen, nachdem dieses Land voll bösartiger Menschen von einem Tag auf den anderen wahnsinnig geworden war. Binnen einer Woche hatte ein kleiner Priester den höchsten Würdenträger der Aionarskirche ermordet, sich an seine Stelle gesetzt und verkündet, ein Zeitenwandel stehe bevor. Die Bauern hatten sich erhoben und lieferten sich seither blutige Schlachten mit den Heeren des Adels. Oft erfolgreich, da sie nach Landessitte kaum schlechter bewaffnet waren als deren Spießträger und Speerwerfer. Man sprach von Zehntausenden Toten. Angeblich brannten ganze Städte, und Fische waren aus den Flüssen gesprungen, weil ihnen zuviel Blut im Wasser war.

Die einzige Begründung, die Varatreo für dieses Aufflackern von Gewalt gehört hatte, war der Verweis auf den neuen Stern, der vor kurzem entdeckt worden war. Wie konnte ein einzelner Stern ein ganzes Land in Unordnung stürzen? Am Nachthimmel hingen unzählige Sterne. Wer hatte sie je gezählt? Wer konnte guten Gewissens bezeugen, daß nicht jede Nacht ein Stern verschwand oder hinzukam? Wie konnte man deswegen nur so viel Aufhebens machen?

Gewiß, anders als andere Sterne wurde der neue Nacht für Nacht ein wenig heller und größer. Inzwischen war er sogar schon bei Tag zu sehen. Wenn das so weiterging, würde er in zwei Wochen der Sonne den Himmel streitig machen und ihn in zwei Monden ganz ausfüllen. Doch wenn es heute zu regnen begönne und nie wieder aufhörte, wäre in zwei Monden trockenes Brennholz ebenfalls ein nebensächliches Problem ...

Varatreo hörte ein Meckern. Aha, die Ziege, dachte er. Zwei Schritte später blieb er wie erstarrt stehen.

Das Tier trat aus einem Hauseingang. Es war fast so groß wie ein Kalb. Seine Hufe, die Ohren, der Schwanz, der Rumpf und auch das kurzhaarige, braun-schwarz gescheckte Fell erinnerten an eine Ziege. Doch nicht der Kopf und schon gar nicht die Zähne, die nicht zum Graszupfen und Blätterzermalmen taugten. Varatreo hatte von Wolfsziegen gehört. Niemand mußte ihm erklären, daß er einer gegenüberstand. Wenn diese Tiere etwas verschmähten, dann allenfalls Gras oder junge Triebe. Ganz gewiß aber nicht totes oder lebendiges Fleisch.

Bisher war Varatreo die abschüssigen Straßen der Ortschaft aufwärts gerannt: hin zu den Berggipfeln, weg von Mutter und dem blutrünstigen Wahn in den Tälern und Ebenen. Nun lief er wieder zurück. Umgehend hörte er hinter sich Hufe auf Pflastersteinen und ein verlogenes, Harmlosigkeit vortäuschendes Meckern.

Wohin? dachte er.

In eines der Häuser? Wer konnte sagen, wie es dort drinnen aussah? Das wäre leichtsinnig. Vielleicht begäbe er sich damit in eine auswegslose Falle und führte sein eigenes Ende herbei! Was dann? Da vorn wuchs ein Baum ... Das war die Rettung!

Nur noch fünf Schritt! Das Hufgetrappel kam näher. Nur noch drei! Varatreo vermeinte heißen Atem in seinem Nacken zu spüren. Nur noch einer! Er sprang, zog sich an einem Ast hoch und meinte ein Schnappen ganz in der Nähe zu hören.

Er setzte sich auf den Ast. Der Baum, nein bestenfalls das Bäumchen, wie ihm bewußt wurde, geriet ins Schwanken. Die Wolfsziege rieb sich am Stamm. Varatreo krallte die Finger in die rauhe Borke. Ihr Heiligen, laßt mich nicht hinunterfallen, flehte er. Ein furchtbarer Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Hoffentlich hatte das Raubtier nicht noch mehr Gemeinsamkeiten mit Ziegen. Die kamen in Herden. Zwanzig oder dreißig Stück dieser absurden Ungeheuer waren nichts, was er sehen, geschweige denn treffen wollte!

Plötzlich richtete sich die Wolfsziege auf die Hinterbeine auf. Mit den Hufen der Vorderbeine stützte sie sich gegen den Stamm. Varatreo schrie auf, als das zähnestarrende Maul immer näher kam. Blitzschnell zog er die Füße an und richtete sich mit pochendem Herzen auf. Nun stand er mit angehaltenem Atem auf dem zitternden Ast. Das Tier ließ sich wieder auf alle viere nieder.

Hufe, dachte Varatreo erleichtert. Wenigstens konnte die Bestie nicht damit klettern. Doch welche unfreundlichen Überraschungen hielt sie wohl noch bereit?

Ein Stein traf ihn am Kopf.

Mühsam gelang es Varatreo, sich auf den Beinen zu halten. Er klammerte sich an den Baumstamm und sah, daß Mutter und ihre gesamte Bande gekommen waren. Sie trugen Fackeln und warfen mit Steinen nach der Bestie. Ganz außer sich brüllte Mutter ihren Zweitgeborenen an, der offenbar den Stein geworfen hatte.

»Nicht auf den, du Nichtsnutz«, kreischte sie. »Den brauchen wir doch. Auf das Vieh! Auf das Vieh!«

Zornig prügelte sie auf ihren Sohn ein. Daß sie keinen Stock in der Hand hielt, sondern eine brennende Fackel, kümmerte sie nicht weiter. Der beinahe dreißigjährige Mann duckte sich unter den Schlägen, wagte aber selbst dann, als er unter dem wütenden Ansturm seiner Erzeugerin zu Boden ging, keine Gegenwehr. Er schützte sich nur mit den Armen und schrie: »Nicht, Mammi! Nicht!«

Mutter ließ erst von ihm ab, als die Wolfsziege bereits das Weite gesucht hatte. Der junge Mann riß sich rasch die Kleidung vom Leib, da sie Feuer gefangen hatte, und trampelte auf ihr herum. Mutter kam unterdessen zum Baum.

So also ging sie mit ihren Kindern um, dachte Varatreo verzweifelt. Was blühte dann ihm? Daß er zu flüchten versucht hatte, ließ sich nicht leugnen.

»Runter!« befahl Mutter düster. Als Varatreo vom Baum geklettert war, fuhr sie fort: »Zur Basilika!«

Varatreo verstand die Welt nicht mehr. Er hatte damit gerechnet, von der ganzen Schar verprügelt, verbrannt oder in Stücke gerissenen zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Was hatte das zu bedeuten? Der Singsang einer leisen Stimme in seinem Rücken ließ ihn vor Entsetzen schaudern: »Mammi mag dich!«

Das Ziel waren die Kellergewölbe der Basilika. Varatreo hatte die Söhne nur deswegen dazu angestiftet, dort unten nach Schätzen zu suchen, um sie los zu sein. Doch wider Erwarten waren sie fündig geworden. Eine Tür mit Eisenbeschlägen und mehrere achtstrahlige rote Sterne, die Tür und Rahmen versiegelten, bewiesen es.

Mutter deutete auf eine Inschrift über der Tür. »Lies!«

Varatreo zuckte die Schultern, da er keine Ahnung hatte, was die Schriftzeichen bedeuten mochten.

»Du kannst nicht lesen?« fragte Mutter drohend.

»Doch, doch«, antwortete er erschrocken. Diese Fähigkeit schützte ihn schließlich vor ihr. »Aber es ist eine alte Schrift. Sie hat nichts zu bedeuten. Wäre sie wichtig, so wäre sie so geschrieben, daß ich sie lesen kann.«

Als Mutters Kinder die Tür aufbrachen, verfluchte sich Varatreo. Vielleicht war das sein letzter Fehler gewesen. Warum hatte er nicht einfach behauptet, die Inschrift bedeute: Diese Kammer ist gefüllt mit Schätzen. Wer sie stehlen will, ist des Todes ...

Vielleicht hätte er auf diese Weise entkommen können!

Die Fackeln leuchteten in einen rotgetünchten Raum. In die Wände waren Wandbilder eingelassen. Auf Lesepulten standen Leuchter und lagen dicke Wälzer. Die Leuchter waren aus Kupfer und bis auf zwei dunkel angelaufen. Die verbliebenen glänzten in strahlenderem Rot, als es Kupfer gemeinhin tat. An Haken hingen Überwürfe aus Leder. Varatreo entdeckte Geräte, deren Bestimmung ihm ein Rätsel war, und seltsam geformte Vasen. Eine von ihnen war mit einem vielarmigen blauen Geschöpf bemalt. Sie ging unter einem Fußtritt zu Bruch, kaum daß er einen Blick auf sie geworfen hatte.

Die Bilder zogen ihn magisch an. Eines zeigte einen großen und viele kleine Sterne, die vom Himmel fielen. Ein anderes eine große Gestalt mit Löwenmähne, die von Lichtstrahlen umgeben war. Danach wurden die Darstellungen wirrer. Er sah Wesen, die nur aus einem Rachen und Tausenden von Beinen bestanden, geflügelte Pferde, schwebende, vielleicht auch aus großer Höhe stürzende Männer und Frauen, die aus Pflanzen wuchsen.

Was für Fieberträume waren das?

Eine von Mutters Töchtern schrie auf. Sie hatte ein Buch geöffnet und schlug Seiten um, die so alt waren, daß sie beim Umblättern aus ihrer Bindung brachen. Was darauf stand, war ebenfalls in der alten Sprache verfaßt, so daß Varatreo nichts damit anzufangen wußte. Doch die sorgfältig gemalten Bilder ähnelten denen an den Wänden, stellten aber noch weit Schreckliches dar. Sie flößten Varatreo so viel Angst ein, daß er sich einige Augenblicke lang sogar mit Mutters Tochter verbunden fühlte.

»Keine Schätze«, erklang Mutters Stimme.

Varatreo wußte nicht, wie er sie noch länger hinhalten sollte. »Nein, keine Schätze«, gab er zu.

»Er lügt«, behauptete einer ihrer Söhne. Auch er hatte in einem der Bücher geblättert.

»Ich lüge nicht«, widersprach Varatreo. Denn wenn Mutter zu der Ansicht gelangte, er wolle ihr etwas verheimlichen, würde sie ihn sicherlich foltern lassen.

»Doch, er lügt«, beharrte der Sohn. Er legte den Finger auf eine der Buchseiten und sagte zögernd: »Gold ... Edelstein... Schätze ... Kronen ... drei Reiche ...«

Varatreo starrte ihn an: »Du kannst lesen?«

»Nur die wichtigen Worte«, antwortete der Sohn und kam mit dem Buch zu ihm.

Varatreo blickte auf das wellige Pergament. Das Buch war zwar nicht in der alten Sprache verfaßt, dennoch klangen die Worte altertümlich. Er staunte. Hier war tatsächlich von Zehntausenden Goldstücken die Rede, von Edelsteintruhen, Kaiserkronen und der Macht des Imperiums. Varatreo wunderte sich. Imperium? Anscheinend war damit nicht das Merkantilische Imperium gemeint, sondern das alte, das vor Jahrhunderten zerstört worden war.

Er blätterte einige Seiten weiter, las von Prinzessinnen und Königen und entdeckte Angaben in einer längst nicht mehr gebräuchlichen Zeitrechnung. Noch ein paar Seiten weiter sprangen ihm die Worte ins Auge: »Wie gestern erscheint es, doch bereits ein halbes Menschenleben ist es her, daß sich der fleischgewordene Gott Aionar gen Süden wandte, um seine geflügelte Widersacherin zu bekriegen. Das wiederum war lange nachdem die Sterne verschwunden und sich die vier Himmel verdunkelt hatten. Derweil befahl er dem Heer seiner Diener, das Reich des Gottkaisers zu bestürmen.«

Varatreo schwindelte. Das Buch gab vor, aus einer Zeit zu stammen, als sich die allmächtige Kirche Aionars noch nicht über den ganzen Kontinent verbreitet hatte und der Abwesende Gott leibhaftig unter den Sterblichen gewandelt war. Dann mußte es vor rund fünfhundert Jahren geschrieben worden sein ... Nun, nicht gerade dieses Buch, jedoch das Original, von dem es wer weiß wie oft kopiert worden war. Damit kannte er sich aus. Immerhin hatte er selbst eine vergleichbare Tätigkeit im Kontor seiner eulykischen Herrin ausgeübt, bis er eines Tages mit der Kasse durchgebrannt war. Eine der wenigen klugen Entscheidungen seines Lebens, auch wenn er seither vermied, länger als ein halbes Jahr am selben Ort zu bleiben.

Varatreo schloß das Buch und betrachtete es von allen Seiten. Der Einband war nicht verziert, das Buch war auch keine Urschrift. Warum wurde es dann in diesem Kellerraum voller Seltsamkeiten aufbewahrt?

»Wo sind die Schätze?« brachte sich Mutter in Erinnerung.

Varatreo wußte im selben Augenblick eine Antwort. Er lächelte und klopfte auf den Einband des Buches: »Hier drin. Hier drin steht es irgendwo. Man muß nur die richtige Stelle finden.«

»Wo?«

»Ich muß es erst lesen.«

»Lies laut«, befahl Mutter und ging mit schwerem Schritt zur Treppe. Varatreo folgte ihr nach oben in die Kulthalle des Gotteshauses. Dort suchte er eine Stelle, wo er bequem sitzen konnte und ausreichend Licht hatte. Bald darauf begann er mit klarer Stimme vorzutragen: »Es begab sich nicht lange vor der Regenzeit des Jahres 243 seit Gründung des Imperiums, daß der göttliche Imperator in den Krieg gegen die Götzendiener Aionars zog. Nach Hunderttausenden zählten die Krieger, die sich bei Duros Xenthos unter den Sternenstandarten versammelt hatten. Der Imperator hatte sich geschworen, die Horden des Savannengottes durch die reine Macht des Willens zu brechen und Weh und Pein in ihre Länder zu trauen. Um die Barbaren aus den grasbewachsenen Ebenen durch den Glanz seiner Herrlichkeit zu blenden, ließ er auf den Höhen über dem Grünen Kalykados die besten Ritter aus neunzehn Königreichen zum Turnier antreten. Unter ihnen befand sich auch der stolze Lorenco, der an jenem Tag die Gunst einer Prinzessin gewann und die eines Gottes verlor ...«

Das Lächeln einer Prinzessin

Bei den Ruinen von Duros Xenthos, Königreich Gatanien, Kaiserreich der Fünf Rosen, am 30. Tag des Roten Erntemondes, im 243. Jahr des Imperiums, Vergangenheit

Rotgoldenes Abendlicht brach sich in hundert Sternen. Rings um die weite Tribüne waren die Standarten des Imperiums aufgepflanzt, die Feldzeichen des größten Heeres, welches das Reich jemals gesehen hatte.

Ein Geier wollte sich auf einer der Standarten niederlassen; seine Krallen griffen nach dem goldenen Stern und fanden keinen Halt. Krächzend machte er sich mit schwerem Flügelschlag davon. Die Standarte geriet ins Schwanken. Ein Soldat eilte herbei, ein großer blonder Krieger der Leibwache, doch er kam einen Herzschlag zu spät. Die scharlachfarbene Stange mit dem goldenen Stern stürzte in den Staub. Alle Zuschauer auf der Tribüne wurden Zeuge des Vorfalls.

Seit Jahren waren die Sterne vom Himmel verschwunden. Ein böses Vorzeichen für ein Imperium, das Sterne als Feldzeichen trug! Und nun stürzte eine der Standarten am Vorabend der Schlacht gegen die Barbaren ...

Lorenco, der Erste Ritter des Imperiums, war kein abergläubischer Mann. Und doch beunruhigte ihn, was er gesehen hatte. Dieses Omen warf einen Schatten auf seinen Sieg im Turnier, dachte er verärgert.

Müde lenkte er sein Pferd vor den Ehrenplatz des Imperators Rigorius Gratianus. Blanker Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er war versucht, sich mit der Hand über das Gesicht zu wischen. Doch diese Geste wäre zu bäurisch für einen Adeligen. Jedenfalls wenn der ganze Hofstaat zusah. Verfluchte Hitze! Auch der Abend brachte keine Kühlung. Die stickige Luft des Dschungels machte ihn noch ganz krank!

Erwartungsvoll blickte der Ritter zum Herrscher empor und senkte dann die Lanzenspitze. Das stumpfe Krönchen, das anstelle eines geschliffenen Speerblatts auf der Spitze der Waffe steckte, war verbogen.

Cassandra, Tochter und Favoritin des Imperators, beugte sich vor und schlang ihren Schal um den Lanzenschaft. »Heil, Lorenco Nardes Odem, Erster Ritter des Imperiums, Schwert und Schild meines Herrn des Imperators«, hauchte sie mit dunkler Stimme.

»Heil, Lorenco Nardes Odera, Erster Ritter des Imperiums, Schwert und Schild meines Herrn, des Imperators«, rief der Orator Guelfo, die Stimme des Kaisers, und sein Ruf hallte weit über den Turnierplatz, um tausendfach aufgenommen zu werden.

Dem Ritter ging das Herz auf. Er hob die Lanze und streckte die Arme zum Himmel. Wieder umtoste ihn Jubel.

Cassandras Schal rutschte den glatten Lanzenschaft herab. Zart wie Rosenblätter berührte der flatternde Stoff sein Gesicht. Er duftete nach Moschus, nach dunkler Verheißung. Ein Lächeln zwischen Einladung und Triumph spielte um die sinnlichen Lippen der jungen Frau. »Wollt Ihr etwas sagen, Ritter?«

Lorencos Mund war plötzlich staubtrocken. Damit hatte er nicht gerechnet, er, der sonst nie um schöne Worte verlegen war. »Es war mir eine Ehre, meine Lanze in Eure Dienste zu stellen ...« War er von Sinnen? Was sagte er da!

Die Prinzessin erbleichte kurz. Dann überspielte sie die Bemerkung mit einem falschen Lachen. Sie war wohl die schönste Frau des Imperiums. Wie Kaskaden geronnener Nacht fielen ihre gelockten Haare auf die sanft gerundeten Schultern. Ihre Augen hatten das zarte Grün junger Zedernnadeln. Weiß wie Stutenmilch schimmerten die Zähne. Ihr Pharos, der perlenbestickte rote Prunkmantel, war ihr von den Schultern gerutscht; die Fibel, die den Mantel hielt, hatte sich gelöst. Deutlich zeichneten sich die Knospen ihrer zarten Brüste durch den Chiton ab.

Cassandra stand in der Blüte ihrer Jugend. Sie war sechzehn, Tochter und Geliebte des Imperators, zumindest für diesen Sommer. Und er, Lorenco, hatte ihr in Anwesenheit ihres Vaters und des Hofstaats ein zweideutiges Kompliment gemacht, auf das sie mit einer einladenden Geste antwortete.

Lorenco bemerkte den Blick des Imperators. Dem Herrscher war nichts entgangen.

Förmlich verneigte sich der Ritter noch einmal. Auf der ganzen Tribüne herrschte atemlose Stille. Kein Zweikampf des Turniers war so aufmerksam verfolgt worden.

Lorenco war sich bewußt, das jedes weitere Wort seine Lage nur noch verschlimmern würde. Langsam wendete er das Pferd, ritt an der Tribüne entlang und dann quer über den Turnierplatz. Auf der anderen Seite des Kampfplatzes hatte man nicht hören können, was vor der Loge des Imperators gesprochen worden war. Hier wurden dem Ritter Blumen und schmachtende Blicke zuteil.

Lorenco beachtete all dies kaum. Hoch aufgerichtet saß er im Sattel und spürte den Blick des Imperators in seinem Rücken. Jeder bei Hof wußte, wie eifersüchtig Rigorius Gratianus war. Und Lorenco hatte einen gewissen Ruf, was schöne Frauen anging. Der Ritter war sich nur allzu bewußt, was folgen würde. Nur zu gut erinnerte er sich an Gigondros von Pandrakur, einen jungen Adligen, der zur Garde gehört hatte. Er war ein gutaussehender Mann und vielversprechender junger Ritter gewesen. Und dann war das Gerede laut geworden. Es hatte geheißen, Cassandra habe Gefallen an ihm gefunden. Vor zwei Wochen hatte man ihn tot in seinem Zelt gefunden. Er sei an einer Fischgräte erstickt, so sagte man ... Lorenco war dabei gewesen, als man den Toten fortgetragen hatte. Die Meuchler hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, Gigondros die Lederschlinge vom Hals zu nehmen, mit der sie ihn erdrosselt hatten.

Der Imperator kann mir nichts tun, versuchte Lorenco sich einzureden. Zumindest nicht morgen bei der Schlacht. Sein Blick schweifte über das weite Land zu Füßen des Hügels. Der Ort war gut gewählt, um sich dem Heer der Savannenvölker zu stellen. Der Dschungelgürtel, der den Süden des Kaiserreichs der Fünf Rosen einnahm, konnte von einem Heer nur entlang der Via Antilopia durchquert werden. Und hier, bei Duros Xenthos, war gewiß der beste Ort, einen Gegner aufzuhalten. In nur fünf Meilen Abstand bildeten der Grüne Kalykados und der Arkos, der nach Nordwesten strömte, zwei mächtige Barrieren, die es zu überwinden galt. Zwischen ihnen lag ein langgezogener Hügelkamm, den das kaiserliche Heer besetzt hielt. Das Land unmittelbar um den Hügel war eine Ödnis. Früher einmal hatte hier Duros Xenthos gestanden, doch von der legendären Alabasterstadt waren nur Ruinen geblieben. Zerbrochene Säulen hatten einen Großteil der Straßen unter sich begraben. Auf halbem Weg zum Fluß stand ein einsamer Triumphbogen. Das Ruinenfeld war das Herz einer zerklüfteten Steinlandschaft. Dort, wo sich einst Äcker erstreckten, hatte der Monsunregen den Mutterboden bis auf den blanken Fels ausgewaschen. Wie ein Wundmal lag Duros Xenthos inmitten des undurchdringlichen Dschungels. Das einzige, was an seine einstige Blüte gemahnte, war der Tempel der Fruchtbarkeitsgöttin Verda, der Herrin des Frühlings. Er lag auf einer steilen Felsklippe, der Kolibri-Insel, welche die Fluten des Grünen Kalykados teilte.

Noch immer quoll dichter, schwarzer Rauch aus dem Tempel. Am Morgen war die Insel von den Leomannen gestürmt worden. Beide Brücken südlich und nördlich der Insel waren in der Hand der Barbaren. Morgen schon würden sie versuchen, den Fluß zu überqueren. Ein selbstmörderisches Unterfangen! Mehr als dreihundert Speerschleudern standen in hintereinander gestaffelten Stellungen auf dem Hügel bereit. All ihr Mut würde den Anhängern Aionars nicht helfen, diese Verteidigungslinie zu durchbrechen. Und doch zweifelte niemand daran, daß sie angreifen würden, denn morgen war der Tag des Krönungsfestes. Der Tag, an dem einst Gratianus der Große, der Gründer des Imperiums, zum Imperator ausgerufen worden war. Die Erfahrung mit den Savannenkriegern hatte die Heerführer des Imperators längst gelehrt, daß die Wilden so bedeutende Tage niemals verstreichen ließen, ohne ihrerseits ein Zeichen zu setzen. Sollten sie wider Erwarten nicht angreifen, dann würde das kaiserliche Heer morgen den Grünen Kalykados überschreiten, denn Rigorius Gratianus verlangte es nach einem Siegeslorbeer zur Feier seines Ehrentages.

Dabei ging es um mehr als nur um Eitelkeit. Ihnen lief die Zeit davon. Nach sieben Wochen des Wartens war die Regenzeit nicht mehr fern. Niemand, nicht einmal der vergöttlichte Imperator, konnte dann noch Krieg im Dschungel führen. Deshalb mußte die Entscheidung bald fallen.

Welch eine Verschwendung von Menschenleben war der Feldzug bisher gewesen, dachte Lorenco ärgerlich. Die Savannenvölker verfügten über eine ausgezeichnete leichte Kavallerie, die hier im Dschungel freilich nicht viel nutzte. Denn noch todbringender als für die Menschen war der Dschungel für die Pferde.

Die Gelehrten waren sich einig darin, daß es die stickige, faulige Luft war, die die Tiere tötete. Lorenco hatte in den letzten Wochen neun der zwölf Pferde verloren, mit denen er hierhergekommen war. Die Hälfte der Adelsgarde war nicht mehr beritten. Andere Reitereinheiten hatte es noch schlimmer getroffen. Aber auch die Leomannen hatten den Großteil ihrer Pferde verloren. Sobald morgen ihr erster Angriff abgeschlagen wäre, würde das Heer des Imperators über den Fluß drängen und den überlebenden Kriegern des Götzen Aionar ein unrühmliches Ende bereiten. Dann konnte das Heer nach Süden vorstoßen und all die Länder zurückerobern, welche die Savannenvölker mit ihrem überraschenden Angriff zu Beginn des Jahres überrannt hatten.

Daran, daß die Kaiserlichen morgen siegen würden, konnte es keinen Zweifel geben. Und doch ... Lorenco war zornig über die Art, auf die der Imperator seinen Sieg vorbereitet hatte. Nicht die Kraft ihrer Waffen hatte dem Feind den entscheidenden Schlag versetzt. Es war der Dschungel gewesen. In den sieben Wochen, in denen sich die Gegner gegenübergestanden und ständig Nachschub nachgeführt hatten, waren Zehntausende Männer und Pferde am Fieber und den Ausdünstungen des Regenwalds zu Grunde gegangen. Kein Schlachtensieg wäre so blutig gewesen! Doch der Imperator wollte den Barbaren beweisen, daß er über sie triumphieren konnte, ohne daß auch nur einer seiner Soldaten das Schwert zog. Wie hoch der Preis war, den seine eigenen Männer dafür zu zahlen hatten, war ihm gleichgültig. Genau so gleichgültig wie der Umstand, daß ein Turnier am Vorabend einer Schlacht die blanke Unvernunft war.

Da der Großteil der Pferde der Barbaren verendet war, war ihnen die Flucht nun verwehrt – eine Taktik, mit der sie sich aussichtslosen Schlachten bisher stets entzogen hatten. Nach dem Lächeln Cassandras hatte Lorenco keinen Zweifel mehr daran, daß ihm die Ehre zuteil werden würde, die Angriffsspitze über die Brücke zu fuhren – falls er überhaupt die Nacht überlebte. Hätte er nur den Mund gehalten, dachte er bitter. Wie konnte er nur so einen Unsinn reden! Es war mir eine Ehre, meine Lanze in Eure Dienste zu stellen. Der Blick des Imperators hatte keinen Zweifel daran gelassen, wie er das verstanden hatte. Und dann hatte Cassandra auch noch ihren Mantel fallen lassen ... Schlimmer hätte es kaum kommen können.

Lorenco lenkte sein Pferd die südliche Hügelflanke hinab in Richtung des Lagers der Adelsgarde. Sie mußten ihre Zelte stets eine Meile entfernt vom Dormon aufschlagen, dem wandernden Palast. Seit die Adelsgarde zu Zeiten von Fulvius Gratianus in eine Palastrevolte verwickelt gewesen war, hatte man sie aus der unmittelbaren Umgebung des Imperators verbannt. Ihn bewachten nun die ›Tausend Gefährten‹, eine Garde aus Leomannen aus den Steppen im Süden, die sich als Söldner verdingten. Ihre Treue galt allein dem Gold. Und da niemand mehr Gold besaß als der Imperator, war ihre Treue unverbrüchlich. Nicht so wie hei der Adelsgarde, in der die Söhne von Königen und Fürsten dienten, die im Lauf der Jahrhunderte Teil des Imperiums geworden waren. Obgleich niemand sie offen so nannte, war sich Lorenco dessen bewußt, daß sie dem Kaiser auch als Geiseln dienten. Plante einer der vielen unterworfenen Herrscher Verrat, so durfte er nicht damit rechnen, seine Söhne aus der Adelsgarde jemals lebend wiederzusehen.

Man überschüttete sie mit Pomp und Ehren. Sie trugen die prächtigsten Rüstungen des Imperiums und waren doch nur eine Gruppe verweichlichter Höflinge gewesen, bevor Lorenco zu ihrem Ersten Ritter aufgestiegen war. Er hatte die Unfähigen in die Schreibstuben verbannt und dafür gesorgt, daß Turniere nicht mehr durch Bestechung, sondern wirklich auf dem Felde entschieden wurden. Unter seiner Führung war die Adelsgarde wieder zu dem geworden, was sie einst in den glorreichen Tagen des Imperators Gratianus des Großen einmal gewesen war: die Elite der Ritterschaft. Die beste Reitertruppe des Imperiums. Und langsam wog der Stolz auf gemeinsame Siege schwerer als die verletzten Eitelkeiten längst begrabener Ahnen. Im Heer hatte man wieder Respekt vor ihnen.

Lorencos Blick wanderte über das riesige Heerlager, das sich entlang der Nordseite des Hügels bis hin zu den Ufern des Arkos erstreckte. Hunderttausend Mann standen allein unter den Sternenstandarten. Sie waren das Feldheer des Imperiums, das sich auf den Ruf des Kaisers hin vor drei Monden in Pentarosae versammelt hatte. Gedrillte Fußsoldaten, abgehärtet in zahllosen Gefechten, die leichte Leinenpanzer und fast mannshohe Schilde trugen. Wenn sie marschierten, dann waren sie wie eine Mauer. Verstärkt wurden sie durch mindestens weitere hunderttausend Krieger, die aus allen Königreichen und Fürstentümern des Imperiums stammten. Da waren wilde Dschungelkrieger aus dem südlichen Gatan, Armbrustschützen aus Mediogenien und Schleuderer von den Hochebenen Gondallos sowie die Plänkler aus dem fernen Gardiamara, die mit ihren heulenden Pfeilen die letzten Pferde der Savannenvölker scheu machen würden. Manche der hier versammelten Einheiten waren mehr als 2000 Meilen marschiert, um auf dem Schlachtfeld von Duros Xenthos ihrem Kaiser zu dienen.

Stolz erfüllte Lorenco, als er die langen, himmelblauen Zelte dicht unter dem Hügelkamm betrachtete. Darin verborgen lagen leichte Flußgaleeren. Baumeister und Zimmerleute aus dem fernen Maganta würden morgen an zwei Stellen Schiffsbrücken über den Grünen Kalykados schlagen, während die Hauptschlacht um die große Steinbrücke zur Kolibri-Insel tobte.

»Heil, Lorenco Lanzenbrecher«, grölte eine Schar bärtiger Krieger in meergrünen Tuniken und hob ihm zum Gruße die tönernen Trinkbecher. Die Nachricht seines Sieges mußte ihm vorausgeeilt sein. Jeder im Heer kannte ihn, und Lorenco genoß es, wie die Männer ihm zuriefen und vor ihm salutierten.

Allein die Adelsgarde trug noch Maskenhelme. Sie waren aus bestem gondallischem Stahl geschmiedet; die kunstvoll gestalteten Gesichter aber waren vergoldet. Wie ein zweiter, festerer Schädelknochen umschlossen sie den Kopf. Manche Ritter hefteten das Haar ihrer Geliebten auf die Helme, so wie sein Freund Laikos, der blonde Locken auf seinem Helm trug, obwohl er selbst langsam ergraute. Lorencos ›Haar‹ hingegen war aus kunstvoll getriebenem, brüniertem Stahl. Darauf ruhte ein eiserner Lorbeerkranz, das Zeichen des Ersten Ritters. Jedes Kind im Imperium wußte, wer vor ihm stand, wenn es diesen Helm sah.

Sein Weg führte ihn vorbei am Heerlager der Hilfsvölker aus Kurjameos. Sie hatten die leichten Lanzenreiter des Sultans geschickt und dreihundert gepanzerte Kriegselefanten. Der Ritter konnte die Unruhe seiner Stute spüren, als sie sich den grauen Kolossen näherten. Sie hatte sich immer noch nicht an die Elefanten gewöhnt und scheute, wenn sie in ihre Nähe kam. Pferde, die noch nie einen Elefanten gesehen hatten, warfen ihre Reiter ab und gingen durch, wenn sie in einer Schlacht auf die grauen Riesen trafen.

Rüstmeister waren dabei, die Kräne aufzustellen, mit deren Hilfe man morgen die aus zähem Bullenleder gefertigten Kampftürme auf die Rücken der Elefanten hieven würde. In langen Reihen lagen die Bronzerüstungen bereit, mit denen die Elefanten gewappnet werden würden. Lamellenpanzer würden dem Schutz der Rüssel, der Sehnen an den Beinen und der empfindlichen Kehle dienen. Dazu trugen sie große, mit Schlachtszenen geschmückte Stirnplatten. Die Besatzungen der Elefanten wetteiferten darum, die Tiere möglichst prächtig auszustaffieren. So waren viele Kampftürme mit farbenprächtigen Blumen oder verschlungenen geometrischen Mustern bemalt worden. Einige Krieger hatten auch Federschmuck für die Rüstungen der Tiere entworfen oder die Kampftürme mit Bannern geschmückt, auf denen auf goldenem Grund die Gesichter ihrer Fürsten prangten.

Schnell brach die Abenddämmerung herein. Überall entlang der Hügelflanke glühten Feuer auf. Als Lorenco den Lagerplatz der Adelsgarde erreichte, empfing ihn sein Pferdemeister mit vorwurfsvollem Blick. Rufus war ein bulliger Mann, in dessen Bart sich breite graue Strähnen zeigten. Er stammte aus einem Fischerdorf in Cornia und kümmerte sich um Lorencos Pferde, seit der Ritter ein Knabe gewesen war.

»Das war nicht klug, Herr«, brummte der Pferdemeister. »Ihr hättet die Stute am Zügel führen sollen. Ich hatte Euch doch gewarnt. Sie ist schwach,«

»Sie hat sich im Turnier bewährt«, verteidigte sich Lorenco.

»Zu Schanden geritten habt Ihr sie! Morgen in der Schlacht könnt Ihr der Stute nicht mehr vertrauen. Ich werde Euch den Grauen geben müssen. Wie kann man nur am Vorabend einer Schlacht ein Turnier abhalten!« Rufus spuckte verächtlich aus und griff nach den Zügeln. »Der Imperator mag ein großer Feldherr sein, aber von Pferden hat er keine Ahnung. Auf die Kraft seiner Reiterei sollte er morgen lieber nicht bauen!«

Lorenco verzichtete darauf, den Diener zu tadeln. Was hätte er auch sagen sollen? Rufus hatte recht. Er sollte nur vorsichtiger sein, wenn er über Seine Illuminiszenz sprach. Das Lager hatte tausend Ohren, und man konnte schon für viel weniger als ein paar freche Worte gepfählt werden.

Lorenco trat in sein Zelt. Es war stickig und schwül. Er wünschte sich, er wäre noch einmal wie in Kindertagen am Meer. Auf den roten Klippen von Porta Oldio, wo mit dem Abend stets eine kühle Brise aufkam.

Müde öffnete er die Lederlaschen an seinem Maskenhelm und setzte ihn ab.

»Steht dir der Sinn nach einem Henkersmahl?« erklang eine Stimme. Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen, und ein sonnenverbranntes Gesicht erschien: Laikos, sein Schildbruder, der Krieger, der in der Schlacht stets zu seiner Rechten ritt. Er war ein Adliger aus Cita, der die vierzig bald erreicht hatte. Das Haar an seinen Schläfen war ergraut. Niemand in der Adelsgarde wagte so offen mit Lorenco zu sprechen wie sein Schildbruder.

Laikos stellte eine mit schwarzen Figuren bemalte Schüssel auf den kleinen Tisch im Zelt. »In Öl gesottene Kolibris.« Er nahm eines der Vögelchen, die kleiner als sein Daumen waren, und schob es sich in den Mund. Lorenco hörte die zarten Knochen zwischen den mahlenden Zähnen knacken.

»Man erzählt sich, die Priesterschaft der Verda habe sich an besonderen Festtagen Kolibris reichen lassen«, sagte Laikos mit vollem Mund und griff nach dem nächsten Vögelchen. »Heute steht ihr Tempel in Flammen. Was glaubst du, wie dich dein Ende ereilen wird?«

»Du weißt es also schon?«

»Schlechte Nachrichten haben Flügel! Alkmaion kam ins Lager geritten, als wäre Gorgonia hinter ihm her, und erzählt jetzt jedem, der es nicht wissen will, du habest die Favoritin des Imperators mit einem deiner bei den Hofdamen so geschätzten anzüglichen Komplimente bedacht. Alkmaion sieht sich schon als dein Nachfolger als Erster Ritter.« Knirschend wurde ein weiterer Vogel zermahlen. »Stimmt es, was er sagt?«

»Cassandra hat mich angelächelt und aufgefordert, etwas zu sagen ...«

»Und du hirnloser Pferdeschinder hast natürlich zurückgelächelt und dich begeistert um Kopf und Kragen geredet!«

Lorenco zuckte resignierend mit den Schultern. Wie sollte man das Unerklärliche in Worte fassen? »Ich weiß nicht, was mich geritten hat. Ich habe es wirklich nicht so gemeint ...«

Laikos wischte die fettigen Finger an seinem Umhang ab. »Natürlich hast du es so gemeint! Ich kenne dich! Sobald ein Weib im Spiel ist, übernimmt die Lanze zwischen deinen Schenkeln das Denken, Lorenco Lanzenbrecher, Krone der Ritterschaft des Imperiums. Wir müssen hier weg!«

»Ich laufe vor niemandem davon!«

Laikos packte ihn bei den Armen. »Das Ritterspielen ist vorbei, Lorenco! Glaubst du, vor dem Zelt wird ein leomannischer Leibgardist erscheinen, um dich zum Zweikampf um die Ehre Cassandras zu fordern? Wach auf! Du bist ein Toter, der noch auf den Beinen steht. Du weißt doch, was geschieht, wenn der Kaiser eifersüchtig wird. Erinnerst du dich an diesen Adligen aus Kataraktis? Wer begeht schon Selbstmord, indem er sich in einem mit Nägeln gespickten Faß einen Hang hinabrollt? Oder dieser Schönling aus Pandrakur. An einer Fischgräte erstickt ... Daß ich nicht lache! Die Eifersucht des Imperators hat ihn erstickt! Ich kann mir auch schon vorstellen, was mit dir geschehen wird ... Gehst du heute abend auf das Fest des Imperators, dann wird man dir einen Becher mit vergiftetem Wein reichen, und hinterher wird es in heuchlerischer Trauer heißen, daß auch der Erste Ritter von einem Fieber dahingerafft worden sei. Gehst du als Sieger des Turniers nicht auf das Fest zu deinen Ehren, dann wird Seine Illuminiszenz dies als Beleidigung auffassen. Und du weißt, was geschieht, wenn du den Kaisergott beleidigst! Noch vor Morgengrauen wird dein Zelt von den Leomannen des Imperators umstellt sein. Keiner von deinen vermeintlichen Freunden in der Adelsgarde wird dir helfen.«

»Nicht einmal du?« fragte Lorenco.

Laikos wich seinem Blick aus. »Ein Schwert mehr oder weniger an deiner Seite würde keinen Unterschied machen.«

»Du bist mein Schild in mehr als einem Dutzend Schlachten gewesen. Wir haben lange aufgehört zu zählen, wie oft wir uns gegenseitig das Leben gerettet haben ...«

»Deshalb bin ich hier! Du mußt verschwinden, Lorenco!«

»Und wohin sollte ich fliehen vor einem Kaiser und Gott? Sie werden mich finden, Laikos, ganz gleich, wohin ich gehe. Ich habe nicht mehr die Wahl zwischen Leben und Tod. Wie nanntest du mich? Einen Toten, der noch auf den Beinen steht? Du hast recht. Die einzige Wahl, die ich habe, ist, ob ich auch noch meine Ehre verspiele, indem ich fliehe.«

Laikos ließ sich auf den Faltsessel neben dem kleinen Tischchen sinken und griff in die Schüssel mit den gesottenen Kolibris. »Wenigstens werden wir nicht verhungern, während wir auf die Leomannen warten.«

»Ich sollte zu Cassandra gehen und ihr vor versammeltem Hof meine Liebe gestehen.«

Laikos hustete. Einen Moment schien es, als würde er an dem Kolibri ersticken. »Du willst was? Bist du vollkommen ...«

»Ich werde wegen eines Lächelns sterben. Was habe ich noch zu fürchten? Wenn ich schon den höchsten Preis zu zahlen habe, warum sollte ich dann nicht ganz offen um Cassandras Gunst buhlen?«

»Du weißt, was das bedeuten würde, Lorenco! Das würde nicht nur dich, sondern auch deinen Bruder Valerianus, den dux von Mons und den Rest deiner Familie den Kopf kosten.«

Der Ritter winkte müde ab. »Ich weiß. Ich lasse nur meine Gedanken schweifen. Einmal in Cassandras Armen gelegen zu haben wäre diesen Preis wert. Aber ihr Lächeln ...« Lorenco griff nach seinem Helm und klemmte ihn unter den Arm. »Komm, Laikos! Ich war nie ein Mann für Hofintrigen und lange düstere Reden. Kühne Reiterattacken, unvernünftige Liebschaften, Duelle und schöne Pferde, das ist meine Welt. So habe ich gelebt, und wenn es sein soll, dann sterbe ich auch so. Unten am Fluß gibt es ein Hurenhaus, in dem die Frauen die Männer erwählen. Ganz gleich, wieviel Gold du ihnen hinlegst, sie schenken ihre Gunst nur denen, an denen sie Gefallen finden.« Lorenco lachte, kurz und abgehackt. Die Furcht hielt ihn fester im Griff, als er sich eingestehen mochte. »Alkmaion soll man dort gestern hinausgeworfen haben. Rufus hat es mir heute morgen erzählt. Mir scheint, dieses Hurenhaus ist der beste Ort, an dem ich meine letzte Nacht verbringen kann.«

Laikos erhob sich schwerfällig. »Wenn du in voller Rüstung dort hinmarschierst, dann kannst du den Meuchlern Seiner Illuminiszenz auch gleich eine Nachricht schicken, wo man dich findet.«

»Ein Nardes Odera verkriecht sich nicht!« Lorenco trat an den alten Ritter heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Komm besser nicht mit, mein Freund. Eine Nacht mit schönen Frauen und im Morgengrauen ein letztes Duell mit den Meuchlern des Vergöttlichten, das ist ein gutes Ende für ein trauriges Ritterlied. Ein richtiges Leben sollte nicht auf diese Weise enden.«

»Wer soll das Ritterlied singen, wenn nur die Meuchler und ein paar Huren Zeugen waren?‹,

Die beiden sahen einander lange an. Ich sollte ihn nicht mitnehmen, dachte Lorenco. Aber er wußte, daß Laikos nicht auf ihn hören würde. Und er war erleichtert, diesen Weg nicht allein gehen zu müssen.

Rufus brachte ihnen Pferde. Er machte keinen Hehl daraus, was er davon hielt, die kostbaren Tiere unnötigen Strapazen auszusetzen. Außerdem beharrte er darauf mitzukommen und behauptete, man werde die Pferde stehlen, wenn sie nicht bewacht würden, ganz gleich, wem sie gehörten.

Entlang der Flanke des Hügels brannten nun Tausende Lagerfeuer. Fast schien es, als wären all die Sterne, die vor mehr als zwanzig Jahren vom Nachthimmel verschwunden waren, auf die Erde gefallen, um ihnen zu leuchten.

Es war stickig heiß. Die Nacht hier im Dschungel brachte keine Kühle. Sie brachte Mosquitos, die sich in dichten Schwärmen von den Ufern der Flüsse erhoben. Es roch nach Fleisch und frisch gebackenem Brot. Am Nachmittag waren von den Quartiermeistern zusätzliche Rationen ausgegeben worden. Seitdem wußten alle, daß es morgen zur Schlacht kommen würde.

An den Feuern war es stiller als in den vergangenen Nächten. Die meisten Männer saßen einfach nur dort und starrten in die Flammen. Oder sie sprachen leise miteinander.

Unten vom Fluß hörte man die Seesoldaten von Porta Oldio singen. Lorenco war das Lied aus Kindertagen wohl vertraut. Es handelte von einem Harpunier, der vor seiner Hochzeit noch ein letztes Mal ausfahren wollte, um die gewaltigen Norgas zu jagen, und von seiner Braut, die am Ufer stand und wartete, bis ihr Haar weiß wie die Gischt war.

Lorenco mußte schlucken. Verdammter, rührseliger Unsinn! Warum konnten diese Narren kein Schlachtlied oder ein freches Trinklied singen! Es gab keinen Zweifel, daß sie morgen einen triumphalen Sieg erringen würden. Doch was half das am Abend vor der Schlacht, wenn niemand wußte, ob er an der Siegesfeier teilnehmen oder kalt auf dem Schlachtfeld liegen würde?

Dunkel zeichneten sich die Umrisse von Schiffen gegen den Arkos ab. Hunderte von Flußgaleeren und schwerfälligen Lastkähnen hatten dort angelegt. Es gab schwimmende Bordelle und riesige Garküchen, die Speisen aus aller Könige Länder anboten. Am Ufer herrschte großes Gedränge. Ausrufer überboten einander darin, die Vorzüge ihrer Küche zu preisen oder Zuschauer für Hundekämpfe auf die Schiffe zu locken.

Manche Galeeren waren durch Ketten und breite Planken miteinander verbunden worden, um große, schwimmende Tanzböden zu bilden. Junge Mädchen hatten die Wickelröcke geschürzt und trugen zu viel Rot auf den Wangen. Trommler überboten einander in wilden Wirbeln. Tausend Gerüche lagen in der Luft, der Duft von gebackenen Pfirsichen, von Zimt und rotem Pfeffer, von frischem Fisch und Anis. Doch all dies vermochte den Geruch des Todes nicht zu verdrängen. Der felsige Boden erlaubte es nicht, Gräber auszuheben. Jedenfalls nicht so viele Gräber, wie man brauchte, um Tag für Tag die Toten aus dem Reich des Lebens zu entfernen. Deshalb hatte man die Leichen in den Fluß geworfen, ebenso wie Tausende von Pferden, die in den letzten Wochen verreckt waren. In der Hitzezeit floß der Arkos jedoch nur träge dahin, und es hieß, daß immer wieder Sklaventrupps ausrücken mußten, um die Kadaver zu zerhacken, wenn sie sich verknäulten und Dämme aus verrottendem Fleisch bildeten.

Auf den Rahen der Schiffe kauerten Geier dicht an dicht. Für sie hatte der Krieg eine Festtafel gedeckt, ebenso wie für die Krokodile, die Fraß im Überfluß fanden.

Lorenco wedelte ständig mit der Linken vor seinem Gesicht. Überall waren Fliegen und Mosquitos. Es war unvermeidlich, seinen Blutzoll zu entrichten, wenn man sich denn Fluß näherte. Der Ritter fürchtete jedoch, in den Augen der geheimnisvollen Hure keinen Gefallen zu finden, wenn sein Gesicht zerstochen wäre. Stumm betete er zu Phailos, dem Gott der kleinen Dienste, daß er ihn vor Stichen bewahren möge, und versprach, ihm und auch Verda eine große Amphore mit süßem Wein aus Cita zu stiften, wenn ihm das Liebesglück hold wäre und er die Nacht überlebte.

Ihr Weg führte sie zu einem Uferabschnitt, der von verfallenen, steinernen Kais gesäumt war. Hier standen dickbauchige Gefäße gleich einem tönernen Heer Schulter an Schulter. Fässer und Kisten türmten sich zu Bergen. Selbst nachts wurden noch Schiffe entladen, und lange Reihen von Lasteseln trugen all die tausend Kleinigkeiten hinauf zum Lager, die ein Heer brauchte, um auch nur einen einzigen Tag zu überleben: kurjamäischen Mais, Nägel, Zeltplanen, Stiefel, Wetzsteine und auch jene abgeschnürten Ziegendärme, die man an die Dirnen im Troß verteilte, um zu verhüten, daß sich das Heer auf ungewollte Weise vermehrte.

Wachen patrouillierten hier in Fünfergruppen und maßen sie mit drohendem Blick, bis sie den Maskenhelm bemerkten, den Lorenco vor sich auf den Sattel geschnallt hatte. Der Helm des Ersten Ritters verbot jede Frage.

»Hier! Das muß es sein!« Rufus deutete auf eine Ruine, die von geborstenen Säulen gesäumt wurde. Als sie aus den Sätteln stiegen, eilten Diener aus den Schatten herbei und griffen nach den Zügeln. Rufus aber machte ihnen lautstark klar, daß außer ihm niemand die Pferde anrühren dürfe. Dann verschwand er.

Eine Kette kleiner Öllämpchen, die in Abständen von weniger als einem Schritt auf dem Boden aufgestellt waren, wies gleich einer Schnur aus Lichtern den Weg tiefer in das Ruinenfeld. Einst mußte dies der Palast eines mächtigen Fürsten gewesen sein. Wo sich der Verputz der Mauern erhalten hatte, waren Fresken aus verblaßten Farben zu erkennen: Bilder von Bootsfahrten, schlanken Delphinen, Flußpferden und Krokodilen, die mit weit aufgerissenen Mäulern am Ufer lagen.

Leises Flötenspiel erklang in der Ferne. Lachen war zu hören. Immer weiter folgten Lorenco und Laikos dem Pfad des Lichtes. So gelangten sie in eine Säulengalerie. Bunte Bahnen aus hauchzartem Stoff hingen von der hohen Decke und verschleierten den Blick. Einmal glaubte Lorenco eine schlanke Frauengestalt hinter einem der Schleier zu erspähen. Dann war sie verschwunden, als wäre sie nur ein Trugbild, geboren aus dem Spiel von Licht und Schatten.

Glockenhelles Lachen erklang. Leichte Schritte eilten über den steinernen Boden. Lorenco verharrte und sah sich um.

»Vielleicht sollten wir wieder gehen?« Laikos hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, obwohl niemand ringsherum zu sehen war. »Das ist kein Hurenhaus. Dieser Ort ist nicht geheuer!«

Etwas streifte Lorenco am Arm. Er fuhr herum, und seine Hand griff nach dem Schwert. Eine kleine Frau stand neben ihm. Sie reichte ihm nicht einmal bis zu den Schultern.

»Ihr seid schreckhaft, mein Ritter.«

»Und Ihr allzu leichtfertig. Dies ist ein Feldlager, und es ist die Nacht vor einer Schlacht«, erwiderte Lorenco ärgerlich.

Die Frau lächelte. »Nein, Ritter, da irrt Ihr. Ein Feldlager ist dies gewiß nicht. Das liegt außerhalb der Mauern dieses Hauses.« Sie maß ihn mit einem Blick, wie ein Pferdehändler einen jungen Hengst betrachten mochte. »Vielleicht findet Ihr das Gefallen meiner Herrin Ianassa. Am Ende des Säulengangs liegt eine kleine Kammer. Wartet dort.« Sie wandte sich nun Laikos zu und zwinkerte kokett. »Ganz gewiß hingegen findet Ihr mein Gefallen, Held im Silberhaar. Folgt mir!«

Sein Gefährte wirkte unsicher.

»Geh nur mit ihr«, ermutigte ihn Lorenco, dann nahm er den Weg, den ihm die Fremde gezeigt hatte, ohne sich noch einmal zu seinem Gefährten umzudrehen. Laikos war Manns genug, sich selbst um seine Unterhaltung in einem Freudenhaus zu kümmern.

Schon nach wenigen Schritten gelangte Lorenco in eine kleine Kammer, in der drei Räucherpfannen standen; feiner, weißer Weihrauch schwelte darin. Das Flötenspiel war verstummt. Drei Türen führten aus dem Raum heraus. Sie waren mit schwerem grünem Stoff verhängt. Angespannt sah der Ritter sich um. Die Wände zeigten vollendet ausgeführte Fresken. Es waren Bilder von Flußdelphinen, die Boote begleiteten.

»Sie sind schön, nicht wahr? Mögt Ihr Delphine?«

Diesmal erschrak Lorenco nicht. In der Tür zu seiner Linken stand eine tief verschleierte Frau, ganz in Grün gekleidet. Sie war barfuß, deshalb hatte er sie nicht kommen hören.

»Ianassa?« fragte der Ritter unsicher.

»Ja, Lorenco Nardes Odera, so nennt man mich.« Ihre Stimme war sinnlich. Voller Verheißung und Geheimnis.

»Mein Name ...«

Sie deutete auf den Helm unter seinem Arm. »Man muß nicht hellsichtig sein, um dich zu erkennen. Was führt dich in mein Haus?«

»Der Tod. Ich suche Trost in den Armen einer Frau, bevor der ewige Schlaf nach mir greift.«

Ianassa fuhr sich in fahriger Geste über das Gesicht, als wollte sie den Schleier ablegen. Ihre Pupillen weiteten sich, so daß ihre Augen schwarz wie die Nacht wurden. »Du sprichst wahr, Lorenco. Mir scheint, der Tod wird wegen einer Frau zu dir kommen. Doch nicht in dieser Nacht.«

Sie nahm ihn bei der Hand, führte ihn durch die verhangene Tür und dann eine schmale, gewundene Treppe hinab in ein weites Gewölbe. Hier gab es ein großes Becken mit kristallklarem Wasser. Die Wände waren mit wundersamen Bildern bemalt, und in Nischen brannten Öllampen hinter grünem Glas.

Der Ritter hatte das Gefühl, als streife ihn ein kalter Luftzug. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Ianassa trat dicht an ihn heran und löste mit geschickten Fingern die Riemen seiner Rüstung.

»Vertraue mir. In dieser Nacht wirst du finden, was du suchst.«

»Ich bin ...«

Sie legte einen Finger auf seine Lippen. »Du mußt dich nicht erklären. Ich habe dich erwählt. Hättest du mir nicht gefallen, hättest du diesen Ort verlassen vorgefunden.«

Sein Panzer fiel zu Boden, und Lorenco wurde sich peinlich bewußt, daß seine Tunika schweißnaß am Körper klebte. Er bückte sich und streifte die Stiefel ab.

Als er wieder aufblickte, löste Ianassa die Fibel, die ihr Gewand hielt. Der zarte grüne Stoff glitt zu Boden. Sie war schlank, fast knabenhaft, und ihre Haut war von ungewöhnlicher Blässe. Ianassa hob den Schleier. Sie hatte hohe Wangenknochen und Augen wie Mandeln, von der Farbe des Meeres an einem Regentag. Gelocktes aschblondes Haar fiel ihr in üppigen Strähnen über die Brüste und den Rücken.

»Gefalle ich dir?«

Lorencos Mund war trocken. All die Komplimente, die ihm sonst so leicht von den Lippen gingen, waren wie Staub. Ianassa war von fremdartiger Schönheit. Sie entsprach keinesfalls seinem Ideal, und doch strahlte sie eine Sinnlichkeit aus, die ihn trunken machte und seiner Sprache beraubte. So nickte er nur.

Sie deutete auf das Becken. »Ich liebe das Wasser.«

Lorenco zögerte. Er dachte an den Fluß, an die Leichen.

»Das Wasser kommt aus einer Quelle tief im Fels«, beruhigte sie ihn und stieg in das Becken.

Erst jetzt wurde Lorenco klar, daß es in dem Gewölbe kein Lager gab. Nichts, worauf er Ianassa hätte betten können, um sich mit ihr dem Spiel der Liebe hinzugeben.

Entschlossen streifte er die Tunika ab und warf sich mit kühnem Sprung ins Wasser. Warm und doch erfrischend umfing ihn das Naß. Es erregte ihn.

Plötzlich wurde er von hinten umarmt. »Du hast viele Narben, mein Ritter.« Ianassas schlanke Hände tasteten über seine Brust. Ihre Berührung ließ ihn erschauern. Sie zog ihn unter Wasser, und sie rangen im Scherz wie spielende Kinder.

Lorenco wunderte sich, wie stark Ianassa war. Sie war ihm durchaus gewachsen, und sie zu halten war so schwer, wie mit bloßer Hand einen Fisch zu fangen.

Das Gewölbe hallte wider von ihrem ausgelassenen Lachen. Wellen schlugen über den Rand des großen Beckens. Wasser und Hände waren wie eins, um seinen Körper zu liebkosen.

Der schwere Duft des Weihrauchs machte ihn benommen. Ihr Spiel wurde langsamer, sinnlicher. Ianassa schlang die Beine um seine Hüften.

Sie beide schienen zu schweben. Die Lippen der Dirne raubten Lorenco den Atem. Er gab sich hin, ließ sich sinken und begehrte nicht auf, als sich das Wasser über ihnen schloß.

Feuer und Flamme für dieses Reich

Feldlager des Imperators, am Tag des Festes der Kronen, im 243. Jahr des Imperiums

Sarmantha, Sarmantha!

Heute war Sarmanthas Tag. Wer ihre schmale Gestalt mit eigenen Augen sah, mußte zwangsläufig zu dieser Ansicht gelangen. Sarmantha leuchtete! Die Entbehrungen der vergangenen Monde, der ständige Mangel an Schlaf, die Not und der Kummer waren ihr zwar noch immer anzusehen, doch sie hatten die Macht über sie verloren. Sie drückten sie nicht länger nieder. Selbst die leichte Traurigkeit, die stets Sarmanthas Begleiterin war, schien nicht mehr ganz so gegenwärtig zu sein wie sonst.

Manchmal wünschte sich Eleta, eine Dichterin zu sein, und sei es nur, um einen Augenblick wie den gegenwärtigen festzuhalten. Denn morgen, in einem Jahr und solange die Zukunft reichte, würde dieser Tag ansonsten nur noch eines sein, nämlich der, an dem das fleischgewordene Unrecht seine Macht verloren hatte und der Kaiser, der beanspruchte, ein Gott zu sein, gestürzt worden war.

Wie aber würde, wie sollte eine Dichterin diesen Augenblick schildern? Etwa so: Sarmantha, die das Wort unseres Gottes verkündet, schreitet über das Schlachtfeld, doch unter ihren Füßen wird es zu einer Wiese. Es ist kein Feld des Todes mehr, sondern eines, auf dem bald lange Halme wogen werden, deren Frucht Hoffnung heißt. Sarmanthas langes braunes Haar flattert im Wind. Wie stets umgibt sie die Schar ihrer Schüler und Gefährten: Kelomachos, Caetulus, Andrimedea, die kleine Ruta und die große, Glauca, Urbald, Wutbranth und all die anderen, ein gutes Dutzend. Lachend eilen sie neben und hinter ihr her, als wäre sie ihrer aller Mutter. Das ist sie auch in mancherlei Sinn. Sie ist die Löwenmutter!

Eleta schüttelte den Kopf. Dieser Vergleich war ungünstig. Auch wenn Sarmantha mit ihren knapp vierzig Jahren fast doppelt so alt war wie die meisten, mit denen sie sich umgab, so wurde sie nicht gern an den Altersunterschied erinnert. Eigentlich war sie von ihrer ganzen Erscheinung her alles andere als das, was man sich gemeinhin unter mütterlich vorstellte. Sarmantha war schmal, dünn, ein wenig knochig, weder breit in den Hüften noch üppig. Dichterische Freiheit, dichterische Lüge! Genaugenommen schritten Sarmantha und ihr Anhang auch längst nicht mehr über das Schlachtfeld, sondern durch das Feldlager der geschlagenen Kaiserlichen, zwischen langen Reihen kleiner und großer Zelte hindurch und vorbei an siegestrunkenen Leomannen und ungezählten Gefangenen.

Eleta seufzte. Sie war eben keine Dichterin. Noch nicht. Doch wenn sich das Reich Gottes erst einmal über alle Länder erstreckte, dann fände sie vielleicht einen Lehrer, der ihr beibrächte, die richtigen Worte zu finden und Reime zu schmieden. So lange mußte sie sich eben einprägen, was sie sah, hörte und empfand.

»Träumst du, Eleta?« fragte Sarmantha und streckte die Hand nach ihr aus.

»Ja«, gab Eleta lachend zu und drängte sich an Kelomachos und Caetulus vorbei, um an ihre Seite zu gelangen. Sarmantha legte ihr den Arm um die Schultern und wischte ihr mit der freien Hand eine Strähne aus dem Gesicht. »Freust du dich auf heute abend? Es wird ein großes Siegesfest geben.«

»Die Schlacht ist noch nicht zu Ende.«

»Aber fast, Eleta, fast. Wer sich nicht ergeben hat, der flieht. Unsere Krieger verfolgen die Kaiserlichen noch eine Weile, damit sie nicht so bald stehen bleiben. Da geschieht jedoch nicht mehr viel. Sie werden bald zurück sein. Nun aber erzähl, wovon du geträumt hast. Hast du ein Auge auf jemanden geworfen?«

Eleta schüttelte den Kopf.

»Ehrlich? Du verheimlichst mir nichts?« erwiderte Sarmantha und blickte sie forschend an. »Gewiß gibt es genügend hübsche Burschen, die dich gern umwerben würden.« Sie deutete auf eine Gruppe von Kriegern, die rund um ein eingestürztes Zelt herum einen Kreis gebildet hatten und sich singend in einem Stampftanz wiegten. »Schau sie dir an. Sind sie nicht prächtige Löwensöhne?«

»Ja«, antwortete Eleta leise. »Aber die meisten sind es ein wenig zu sehr.«

»Was meinst du damit?« entgegnete Sarmantha ebenfalls mit gesenkter Stimme.

»Sie riechen alle wie Kater.«

Sarmantha lachte laut. »Wir haben den Fluß erobert. Bestimmt wird sein Wasser den einen oder anderen auf den Gedanken bringen, daß man mehr damit machen könnte, als sein Pferd darin zu tränken oder mit einem Schiff darauf zu fahren.«

»Ich hoffe es. Und du, Sarmantha, freust du dich auf das Fest?«

»Sehr, aber ich werde ihm lieber fernbleiben und Schlaf nachholen. Darauf freue ich mich noch mehr.«

»Sarmantha will nicht mit uns feiern«, empörte sich Eleta. Sogleich begannen sich alle laut zu beschweren.

»Kommt nicht in Frage!« erklärte Kelomachos.

»Schändlicher Verrat!« beteuerte Caetulus.

»Sie mag uns nicht mehr«, jammerte Andrimedea.

Samantha hob hilflos die Hände. »Genug, genug! Ich füge mich, doch lange werde ich nicht bleiben.«

»Wohin geht ihr?« rief Vergilia und kam schnellen Schritts herbei. Sie war eine oft etwas zu laute junge Frau, die sich vor ein paar Wochen dem Troß des Gottesheeres angeschlossen hatte. Damals hatte sie sich auf der Flucht befunden. Sie stammte aus einem Dörfchen im Königreich Pentarosae und war die einzige Überlebende einer Gemeinschaft von Aionarsgläubigen, die an die dortige Obrigkeit verraten und gemäß dem vorgeschriebenen Verfahren abgeschlachtet worden war.

»Komm mit! Wir wollen zum Zeltwagen des Imperators«, lud Sarmantha sie ein. Im Nu verschwand aller Frohsinn aus Vergilias Augen. Sie sah aus, als wollte sie sich am liebsten verkriechen.

«Du mußt keine Angst haben«, versicherte ihr Eleta. »Rigorius und seine gesamte verderbte Sippschaft sind tot. Sie werden nie wieder befehlen können, daß jemand gehängt, gevierteilt, entbeint und ausgeweidet ...«

»Scht!« zischte Sarmantha und legte ihr den Finger auf die Lippen. »Laß uns heute nicht von Grausamkeit und Leid reden. Es ist ein Freudentag.«

Vergilia folgte ihnen trotz ihrer Furcht. Einen Grund, diesen Entschluß zu bedauern, erhielt sie kurz darauf, als Sarmanthas Schar an einer Gruppe Gefangener vorbeikam. Bewacht von bärtigen Kriegern, kauerten sie in der prallen Sonne. Das einzige Kleidungsstück, das man ihnen belassen hatte, waren die eisernen und goldenen Maskenhelme. Mit den metallenen Köpfen auf den nackten Schultern wirkten sie wie menschenfressende Ungeheuer. Vergilia schrie auf, als sie die Gefangenen erblickte. Kelomachos nahm sie schützend in den Arm.

»Die Adelsgarde«, murmelte er und spuckte nach den Gefangenen. »Nichtstuer und Schinder. Allesamt Sprößlinge von Fürsten und Königen.«

Eleta nickte unwillkürlich. Das wußte jeder: Der einzige Sinn der Adelsgarde war es, verwöhnte Prinzchen zu erbarmungslosen Herrschern und gefügigen Handlangern ihres Gottkaisers zu erziehen. Wiederholt hatte sie gehört, daß die Adelsgardisten den Reiterkampf mit unbewaffneten Gefangenen und überführten Aionarsgläubigen einübten. Eleta war froh, als sie ihr aus den Augen waren.

Überall wurde geplündert. Lachende Leomannen trugen aus den Zelten Amphoren oder Dinge, mit denen sie nicht viel anzufangen wußten. Sie alberten mit Chitons, Rückenkratzern, Badschabern und langzinkigen Schmuckkämmen herum. Plötzlich scherte Sarmantha aus und hielt auf eine Gruppe Gefangener zu, schmutzige, blutverkrustete Jammergestalten, deren Hälse durch ein Seil miteinander verbunden waren und die ziemlich grob von ihren Bewachern vorwärtsgetrieben wurden.

»Etwas mehr Nachsicht«, verlangte sie. »Die da sind nicht unsere Feinde.«

Einer der Bewacher wandte sich zu ihr um. »Was willst du, dürres Weib? Selbstverständlich sind sie das.«

Eleta wunderte sich über das Geräusch, das gleichzeitig hinter, links und rechts von ihr ertönte. Aha, dachte sie. So hörte es sich also an, wenn fünfzehn Menschen gleichzeitig die Luft ausstießen!

Eleta blickte von Sarmantha, die nun aussah, als hätte sie einen Speer verschluckt, zu ihrem Gegenüber, einem bulligen Kerl. Er war mehr als einen Kopf größer als sie und, wie bei den Leomannen üblich, nur mit Hüftrock und Schärpe bekleidet.

»Wie heißt du?« fragte ihn Sarmantha.

Der Krieger stemmte lässig eine Hand in die Hüfte und antwortete: »Man nennt mich Hrodleip den Langen. Aber nicht, weil ich so groß bin.« Er grinste anzüglich.