Das Geheimnis der Wächter - E. M. Schumacher - E-Book

Das Geheimnis der Wächter E-Book

E. M. Schumacher

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Beschreibung

Island: Nach einem Flugzeugabsturz retten sich einige Überlebende in ein einsames Haus am See. Dort stoßen sie auf ein ungewöhnliches Raumschiff, dessen tote Insassen wie Engel aus der Bibel aussehen. Sie geraten zwischen die Fronten einer uralten italienischen Bruderschaft und einer ominösen Kölner Gruppierung evangelikaler Hardcore-Fanatiker, die das Wissen um diese Engel unterschiedlich bewerten und verteidigen. Die Ereignisse spitzen sich zu, als weitere Aliens in Erscheinung treten und ein fanatisierter Killer in Island einen Showdown der besonderen Art plant. Die Engelsjünger-Saga präsentiert in einzigartiger Weise Science Fiction, die nahezu ausschließlich auf der Erde stattfindet. Ein Epos, das eine neuartige E.T.-Story für Erwachsene entrollt mit Aliens, die nach Hause wollen und vor ihren Verfolgern auf der Hut sein müssen. Jeder Band der Engelsjünger-Saga ist in sich abgeschlossen und nahezu unabhängig von den anderen Bänden lesbar. Unter dem Pseudonym E.M.Schumacher veröffentlicht das aus Vater und Tochter bestehende Autorenduo Eva Vanessa Nagel und Manfred Schumacher. Eva Vanessa Nagel lebt mit Mann und Hund in Siegburg und studierte Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Versicherung. Sie ist bei einem internationalen Versicherer am Standort Köln als Spezialistin im Bereich Rückversicherung tätig. Manfred Schumacher lebt in Rheinhessen, studierte Anglistik/Amerikanistik, Politik und Philosophie und promovierte über ein literaturwissenschaftliches Thema. Später leitete er eine PR-Agentur. Er ist zudem Autor des historischen Romans Der Hurenwagen, der ebenfalls im vss-Verlag erschien.

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Seitenzahl: 341

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E. M. Schumacher

Das Geheimnis der Wächter

Die Engelsjünger-Saga Band 1

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Engelsjünger-Saga

 

Band 1

Das Geheimnis der Wächter

 

E. M. Schumacher

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Peter Altvater

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

Gedruckt in Deutschland

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Vorwort

 

 

 

„Der Böse aber wird in der Macht des Satans auftreten mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern und mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben, dass sie gerettet würden. Darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, sodass sie der Lüge glauben …“

(2. Thessalonicher 2, 9-11)

 

 

 

 

"Der größte Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein."

(Stephen Hawking, britischer Astrophysiker)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PROLOG

Gilgal nahe Jericho, heutiges Westjordanland – 13. Jh. v. Chr.

 

Über dem ausgetrockneten Flussbett lag die Hitze wie sen­gendes Feuer. Nur noch kleine Rinnsale in zerfurchten Mulden in Ufernähe ließen die lebens­spendende Kraft des Wassers er­ah­nen, das sonst die breite Jordansenke vor Gilgal ausfüllte.

„Töhöööh!“ Es folgte eine jähe Stille, die ebenso jäh von ei­nem neuerlichen „Töhöööh“ zerrissen wurde – und noch einem. Gleich darauf stießen die langen Hörner, die von den Mün­dern sieben weiß gekleideter Männer hoch in den Nach­mit­tags­himmel ragten, erneute „Töhöööhs“ aus. Und noch mal, und noch mal. Unter den ruckenden und zuckenden Be­we­gungen der Bläser glänzten die Hörner mal alabasterweiß, mal elfenbein­far­ben im gleißenden Sonnenlicht. Hellgelb fing sich das Licht in den Goldbeschlägen einer fast mannslangen und knapp zwei El­len hohen Kiste aus dunklem Akazienholz. Auf zwei langen kräf­tigen Stangen schleppten sie mehrere Männer auf ihren Schul­tern durch Staub und Sand.

Hinter den Bläsern und Stangenträgern hatte sich anschei­nend ein ganzes Volk versammelt - Krieger, alte Männer, Frauen und Kinder. Eine unendlich wirkende Prozession von hundert­tausend und mehr Füßen. Seit Stunden zogen sie schweigend einen Kreis um die gewaltige Mauer einer dahinter versteckten Stadt. Die schiere Masse der Füße wirbelte Staub vom trock­enen Boden auf, den der Wind in Richtung Stadt trieb. Man hörte nur die schrillen Töne der Hornbläser und die dumpfen Schritte der Menschen­karawane. Auf der oberen Plattform der Mauer hatten sich viele Bewohner der Stadt versammelt. Arg­wöhnisch und verblüfft verfolgten sie den Zug dieser seltsamen Prozession. Eine wei­tere Stunde später drehte der menschliche Lindwurm in Richtung Gilgal ab. Die Hörner verstummten. Der Staub vor der Stadt legte sich und die Grüppchen der auf der Stadtmauer noch immer ratlos gestikulierenden Zuschauer lös­ten sich auf.

Später senkte sich der Abend über das Jordantal und über zwei riesige Zeltlager vor Gilgal. Das Mondlicht lag silbern auf den Zeltdächern. Stimmengewirr, das Klappern von Geschirr und das Blöken des Viehs übertönten das Grillenzirpen in den na­hen Palmenhainen. Der Rauch von Kochstellen und La­ger­feuern kräuselte sich in den orangevioletten Himmel, durch den sich dunkle Wolkenbänder webten. Nördlich der Stadt er­strahl­ten ausgedehnte Bergkämme fast fleischfarben unter der von der Abendsonne gefärbten Wolkendecke, die sie überwölbte. An ih­rem äußeren Ende verschwamm die Silhouette der Ostmauer und vermengte sich mit dem Bergmassiv. Einzig der Schein zahl­reicher Fackeln hinter der Brustwehr der Mauer verriet, dass die unheimlichen Neuankömmlinge, die seit Tagen die Stadt um­lagerten, miss­trauisch beobachtet wurden.

Aus dem vorderen der beiden Lager trug ein leich­ter Wind die Geräusche von Pferden und aufein­andertreffendem Metall in Richtung der Stadt. Männer hantierten über Schmiedefeuern, schliffen Schwerter, Messer, Äxte und Lanzenspitzen oder saßen um Feuer und tranken ausgiebig vom Tributwein einer kürzlich auf dem Vorbeimarsch verschonten Stadt. Helles Lachen durchmischte die Reihen der die Feuer Umlagernden. Mal dafür empfänglich, mal energisch die derben Umarmungen der angeheiterten Soldaten abwehrend, lauschten Frauen den Erzählungen, deftigen Witzen und sporadischen Gesängen. Zuweilen verschwand ein Pärchen in einem der nahen Zelte, um beieinanderzuliegen, von schlüpfrigen Ermutigungen der anderen begleitet.

Etwas abseits von diesem ausgelassenen Treiben betrat ein bärtiger Mann mittleren Alters, in einen Lederpanzer gegürtet und mit Schwert an der Hüfte, ein Zelt. Darin befanden sich zwei weitere Männer, beide älter als er und ebenfalls in soldatischer Rüstung. Auf einem grob gezimmerten Tisch lag ein Helm, der im trüben Licht einer Öllampe kupfern schim­merte.

„Gehen wir!“, sagte einer der Älteren. „Es ist Zeit.“

Die beiden anderen nickten und schweigsam verließen sie das Zelt. Sie schauten sich verstohlen nach links und rechts um. Gleich darauf verschwanden sie möglichst rasch und ge­räusch­los, um hinunter zur abschüssigen Senke und damit aus dem Blick­feld des Lagers zu gelangen.

Vorsichtig eilten sie entlang einer Palmenreihe um Dornensträucher herum in die leichte Niederung des trockenen Flussbetts. Von Gilgal drang das entfernte Stimmengewirr ihrer Leute herüber. Gelächter, die gezupften Töne von Lauten, die Gerüche von frisch gebackenem Brot und gebratenem Hammel. Im Mondlicht durchquerten sie das Flussbett. Sie bogen nach rechts, stolperten über verwitterte Pinienstümpfe und ritzten sich die Haut an bodennahen Dornen, was ihnen leise Flüche auf die Lippen trieb.

„Wir treffen sie wirklich in der Eremitenklamm, Jafet?“, fragte der Schlussmann der hintereinander eilenden Drei­er­gruppe.

„Ja, Kaleb, in der Klamm“, erwiderte der als Jafet Ange­spro­chene, der voranging. Sein Blick ging zum Mond, der hoch über dem dunklen Rücken des Moab-Gebirges stand. Die Fremden sollten jetzt dort sein, dachte und hoffte er. Wie Rahab es vermittelt hatte.

Rahab! Er hatte bei ihr gelegen. In zwei Nächten der sechs Tage, die sie nunmehr die Stadt belagerten, sie täglich um­kreis­ten, die Bundeslade vor den Augen der Städter zur Schau stell­ten und in die Hörner bliesen, wie es der Herr ihnen geheißen hatte, hatte er bei ihr gelegen. Allein der Gedanke an sie ließ ihr Bild vor seinem inneren Auge entstehen. Ihre verführerischen Bewegungen, die ihre weibliche Taille angenehm betonten. Ihre sich unter dem engen Leinenkleid hebenden Brüste, die ihre Weiblichkeit hervorkehrten. Ihre tiefgründigen Mandelaugen und ihre samtige Pfirsichhaut. Er würde wieder zu ihr gehen, obwohl es ihm ein schlechtes Gewissen bereitete und er sich schuldig gegenüber Esther fühlte, die nichts ahnte. Oder ahnte sie doch etwas? Ihre komische Frage vom Morgen, warum Josua des Nachts Kriegsrat hielt, wenn man am nächsten Tag doch nur wieder Mann und Maus unter dem furchtbaren Geplärre der Hörner um die Stadt trieb, kam ihm in den Sinn. Er schüttelte die Gedanken ab und versuchte, sich auf das Nahe­liegende, das Treffen mit den Fremdlingen, zu konzentrieren.

Gestern hatte er einen von ihnen bei Rahab, der Dirne, bei der viele ein- und ausgingen, getroffen. Es hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen – dieses Wesen, der Fremde, der anders als alle war, die er bisher getroffen hatte. Trotzdem würde er versuchen, die Fremden als Verbündete zu gewinnen. Sofern sie wirklich über eine Wunderwaffe verfügten, von der ihm Rahab berichtet hatte.

Sie waren am Ende, da machte Jafet sich nichts vor. Auch wenn sie mit letzter Kraft jeden Tag um die Stadt herum­marschierten und die Priester wie Besessene die Hörner bliesen, waren sie am Ende. Sie waren ausgezehrt, nach den langen Jahren, die sie Ägypten bereits verlassen hatten, müde und verzagt. Sie mussten endlich sesshaft werden. Zu viele hatten sie auf der langen Wanderschaft in den endlosen Wüsten begraben. Zu wenige waren nachgekommen, weil die Frauen, von der Last des ruhelosen Nomadenlebens ausgemergelt, für weniger Nachkommen sorgten. Es war allerhöchste Zeit für den wegweisenden Erfolg, der hermusste. Mit welchen Mitteln auch immer. Er würde mit ihnen verhandeln, das stand fest. Er würde auch wieder zu Rahab gehen, um bei ihr zu liegen, auch das stand fest. Sie übte einen magischen Zauber auf Männer aus, die mit ihr in Berührung kamen. Auch er konnte sich diesem Zauber nicht entziehen.

„Da vorn!“ Er deutete auf eine schwarze Einbuchtung in der Felsformation vor ihnen. Die beiden anderen blickten in die Richtung, in die sein Finger zeigte, und sahen sie auch. Sie hasteten über ein staubiges Plateau ihrem Ziel zu. Rahab hatte ihm erzählt, dass dort früher Eremiten gehaust hatten. Die Städter hatten sie mit Nahrung versorgt, jedenfalls mit so viel, dass es sie lange genug gab, um diesem Felsloch den Namen zu geben – Eremitenklamm. Früher einmal war es wohl auch eine tatsächliche Klamm gewesen, mit einer Quelle im oberen Verlauf, deren Wasser sich zu manchen Jahreszeiten durch die schmale Schlucht gepresst hatte. Auch das wusste er von Rahab. Sein Blick glitt kurz nach links zur Senke und dahinter hinauf zur Stadt, aus der viele kleine Lichter durch die Nacht her­überschienen. Dort saßen jetzt viele um die Feuer, die Angst hatten, dessen war er sich sicher. Sie wussten, dass ihnen Unheil drohte. Natürlich wussten sie es. Allerdings wussten sie nicht, in welcher Form es sie ereilen würde. Und er, Jafet, und mit ihm Kaleb und Adlai waren im Begriff, den Grundstein zu diesem ihnen zugedachten Unheil zu legen.

Im Flussbett nahe der Stadt standen, gleichmäßig neben­ein­an­der gereiht, die Schatten der mächtigen Steine, die Josua gleich am ersten Tag dort hatte aufrichten lassen. Jafet hatte das für einen guten Anfang gehalten. Sie hatten sich so schon mal mit einem wirkmächtigen Zeichen in dieses Land eingegraben, dass sie für sich beanspruchten. Für die Steine und das Land, in das sie sie eingerammt hatten, waren sie bereit, alles zu geben. Es lief auf die Entscheidung hinaus und er hatte es in der Hand, welche Wendung sie nehmen würde.

„Noch was -.“ Jafet verlangsamte den Schritt und blieb stehen. Die beiden anderen stoppten ebenfalls und sahen ihn neugierig an. „Sie sind - seltsam, diese Fremden. Ihr werdet euch wahrscheinlich vor ihnen erschrecken. Also seid auf alles ge­fasst.“

„Wir haben schon viel gesehen, also mach dir mal keine Sorgen“, machte sich Adlai sofort bemerkbar. Es schien ihn zu belustigen, denn seine weißen Zähne glänzten schwach im Mondlicht. Auch Kaleb schien ein Grinsen auf dem Gesicht zu haben, weil auch seine Zähne kurz aufblitzten. In Jafet schoss der Ärger über sich selbst hoch, dass er sie hatte vorwarnen wol­len und dadurch zur ungewollten Zielscheibe für ihren milden Spott geworden war. Sollten sie es doch selbst erleben! Er zu­min­dest wäre über eine solche Vorwarnung dankbar ge­wesen – nachdem er in Rahabs Quartier bereits seine unver­mit­telte Begegnung mit einem der Fremden hatte. Fast bepinkelt hatte er sich, als er ihm dort gegenüberstand. Dabei war er als schlacht­erprobter Hauptmann sicher alles andere als ein Feig­ling. Aber es war gewiss auch kein Amoriter oder Midianiter gewesen, der sich dort über ihm aufgetürmt hatte.

„Flapp, flapp“, drang es dumpf aus der Höhle.

„Was war das?“, fragte Kaleb besorgt und Jafet registrierte zufrieden, dass sein Grinsen wie weggewischt war. Er hatte mehr als eine leise Ahnung, behielt sie aber lieber für sich.

„Vielleicht sind da Adler drin“, mutmaßte Adlai.

Sie hatten den kaum mannsbreiten Eingang zur Klamm erreicht, der aus der Entfernung nur als Riss im Fels aus­zu­machen war.

„Zünden wir die Fackeln an“, meinte Kaleb. Er ließ ein Bün­del zu Boden gleiten, dass er bisher über dem Rücken ge­tra­gen hatte. Adlai bearbeitete bereits Feuersteine und Zun­der­schwamm und im Nu glühte eine kleine Flamme, an die er eine der von Kaleb mitgeführten Pechfackeln hielt. Bald brann­ten drei Fackeln in ihren Händen. Sie drängten sich hinter­ein­ander in die schmale Schlucht. Nach etlichen Schritten über Stein­kan­ten und Geröll weitete sich die Felsspalte und führte sie in eine knapp zwei Dutzend Fuß breite Auswölbung. Sie ver­brei­ter­te sich trichterartig nach oben und eröffnete ihnen einen weiten Blick in den Nachthimmel. Die Fackeln warfen ein fla­ckerndes Licht auf das Gestein und fingen sich in drei Gestalten, die sie bereits erwarteten. Es waren riesenhafte Gestalten, deren Umrisse der Fackelschein an den hohen Felskanten noch einmal magisch vergrößerte. Die Fremden verbargen ihr Aussehen un­ter breiten Umhängen. Die Gesichter steckten unter tief in die Stirn gezogenen Kapuzen. Aber trotz der fleckigen und schumm­rigen Beleuchtung reichte den Neuankömmlingen das, was sie sahen, um sie in Bann zu schlagen. Mit offenen Mün­dern und Augen, die schiere Verwunderung und grenzenloses Erstaunen ausdrückten, blieben Kaleb und Adlai wie an­ge­wurzelt stehen. Mit in den Nacken gelegten Köpfen beäugten sie die Fremden, die sie fast um drei Fuß in der Höhe überragten. Auch Jafet konnte sich, obwohl er einem von ihnen bereits von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte, der erneuten Faszination, die die Begegnung ausübte, nicht entziehen.

„Was - was ist - das?“, stotterte Adlai ungläubig. Die Köpfe der Fremden schienen unwirklich weiß unter den Kapuzen her­vor. Ihre Augen verströmten im Licht der Fackeln einen silb­rigen Glanz. Finger, lang wie Spinnenfinger, umklammerten silbrige Stäbe mit seltsamen Ausbuchtungen, die sich nach oben verjüngten und mit Griffen und Knöpfen versehen waren. Doch das Seltsamste und Außergewöhnlichste an ihnen waren diese – Dinger auf ihren Rücken, mächtig und furchterregend, aber zu­gleich auch anmutig und von einer fast himmlischen Schönheit.

„Es freut mich, dass ihr gekommen seid“, begrüßte Jafet sie, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte. Kaleb und Adlai schienen wie angewurzelt und rührten sich nicht. Nur ihre Fackeln warfen ein zittriges Licht auf den Felsen.

„Ihr wolltet uns eure Wunderwaffe zeigen“, begann Jafet erneut. Er sagte es mit festerer Stimme, als ihm zumute war. Zur Bekräftigung blickte er auf die Stäbe in ihren Händen, in denen er die versprochenen Waffen vermutete.

„Wir bekommen die ausgemachte Belohnung?“, fragte ei­ner der Fremden im Gegenzug. Seine Worte drangen stockend und merkwürdig abgehackt unter der Kapuze hervor. Er sprach ihre Sprache, aber anders, als ein Moabiter oder Ägypter sie sprach.

„Ja“, antwortete Jafet. „Ihr bekommt die Belohnung.“ Ihr Wortführer, von dem Jafet nicht wusste, ob er derjenige war, dem er bei Rahab begegnet war, nickte zufrieden.

„Schaut hoch!“, forderte er Jafet und seine Begleiter auf. Sein Spinnenfinger zeigte in den dunklen Sternenhimmel und dort auf einen gut fünfhundert Fuß entfernten mächtigen Fels­vorsprung. Er gab einem seiner Kumpane ein Zeichen. Der hob den Silberstab und zielte damit in Richtung des Felsens. Eine rasend schnelle Lichtschlange, grell und von einem hohen Sum­men begleitet, fraß sich auf die Felskanzel zu. Sie ergriff das Ge­stein und tauchte es für einen kurzen Augenblick in ein un­wirk­liches Licht, das die Klamm wie in Tageslicht erstrahlen ließ. Jafet musste die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, war die Felskanzel wie von Zauberhand verschwunden.

Er atmete tief durch. „Bei allen Stämmen!“, presste er hervor. „Eure Waffen sind gut!“ Wieder machte er eine kurze Pause. „Wir erwarten euch morgen bei Sonnenaufgang. Seid bei den Steinen unten am Fluss. Ihr wisst, wo das ist?“

Der Wortführer der Fremden nickte. „Denkt an die Belohnung!“, mahnte er.

„Ihr bekommt eure Belohnung. Wir halten unser Wort. Ihr bekommt sie - danach.“

Der Fremde verbeugte sich kurz. Seine Begleiter taten es ihm nach. Für einen kurzen Moment verdeckten ihre aus­la­den­den Gestalten das Sternenlicht über der Klamm. Es folgte ein dröhnendes Flapp-flapp. Und noch mal. Dann wieder und wie­der. Der kräftige Windzug, der durch die Kammer im Fels wisch­te, verschwand nach einigen Herzschlägen. Das Flapp-flapp entfernte sich, bis es schließlich verstummte. Kaleb und Adlai lösten sich von der Wand und traten zu Jafet.

„Bei allen Stämmen!“, entfuhr es auch Adlai. Der Schreck steckte beiden noch sichtbar in den Gliedern.

„Das haben wir doch nicht geträumt?“, fragte Kaleb verwirrt. Er reckte die Fackel wie zur Untermalung seiner Frage in den Himmel, als wenn es da oben noch was zu sehen gäbe. Als Jafet zu einer Antwort ansetzte, hörten sie aus einer der Ecken ein Geräusch. Es war ein kurzes Rascheln und Schaben. Jetzt war es wieder still.

„Wohl ein Tier“, meinte Adlai. „Leuchte mal da hin!“, wies er Kaleb an, der der Stelle am nächsten war. Im Schein der Fackel tauchte der Kopf eines Jungen auf. Er war um die zehn Jahre und blickte ihnen ängstlich entgegen. Kaleb eilte zu ihm hin. Er packte ihn an der Schulter und zog ihn hinter einem Steinblock hervor, hinter dem er sich verborgen hatte.

„Was machst du hier?“, fuhr ihn Jafet barsch an.

Der Junge begann zu schluchzen.

„Bist du schon lange hier?“

Der Junge nickte. Tränen rollten ihm über die Wangen.

„Wie lange?“, fragte Jafet.

„Seit heut´ Morgen. Dagan und ich spielten vor der Mauer. Dann kamen die vielen Leute.“ Er schniefte und wischte sich über die Augen. Gleich darauf fuhr er fort: „Wir hatten Angst und versteckten uns. Dagan lief in die Stadt zurück. Ich lief über den Fluss hierher. Dann bin ich eingeschlafen.“ Er schaute im­mer wieder hoch, während er zaghaft berichtete. „Als ich auf­wachte, waren die Riesen da. Dann kamt ihr“, endete er. Wieder schielte er Jafet ängstlich an. Er schien die Wahrheit zu sagen, denn er sprach den Dialekt der Städter.

„Kann ich gehen, kann ich jetzt heim?“, flehte der Junge Jafet mit wässrigen Augen und zittriger Stimme an. Jafet machte eine ungehaltene Kopfbewegung und verzog das Gesicht zu einer ärgerlichen Geste. Dann zog er stumm das Schwert.

Kaleb sprang abwehrend zwischen ihn und den Jungen. „Du kannst ihn doch nicht -. Er ist noch ein Kind!“

Jafet biss die Zähne zusammen und stieß Kaleb mit dem Stiel seiner Fackel weg. Im nächsten Moment schnitt sein Schwert durch die Luft und trennte dem Jungen den Kopf vom Rumpf. Der Körper klappte leblos zusammen und färbte sich rasch rot vom Hals abwärts. Die Augen in dem abgeschlagenen Kinderkopf, der an einer verwitterten Felsplatte zum Liegen kam, behielten den Ausdruck ungläubigen Entsetzens. Kaleb und Adlai sahen Jafet entgeistert an. Der fühlte ihre Blicke auf sich, als er sich bückte und die blutige Schneide des Schwerts am Hemd des toten Jungen abwischte.

„Wir wollen nicht nur die Stadt und das Land. Wir brauchen ein Wunder für alle Zeiten, vergesst das nicht!“ Er sagte es, während seine Augen auf dem leblosen Torso ruhten. „Wunder vertragen keine Zeugen, die sie entkräften!“ Er erhob sich, beförderte das Schwert zurück an den Platz an seinem Gürtel und wandte sich dem Ausgang zu. „Gehen wir!“, forderte er die beiden jetzt im Befehlston des Hauptmanns auf, der keinen Widerspruch duldete.

 

Kapitel 1

Florenz - 26. März

 

Fausto Bianchi bewegte sich mit raschen Schritten entlang der ockergrauen Fassaden des Corso Italia. Er hatte Tonio, seinen Freund Tonio Rensi, um ein Treffen gebeten, und er hatte es eilig, zu ihm zu kommen. Seine stramme Gangart passte nicht recht zu seinem eher behäbigen Aussehen. Ein fleischiger Mann mit untersetzter Statur, dessen untere Gesichtshälfte ein weißer krauser Bart bedeckte. Darüber folgten eine knollige Nase und buschige Augenbrauen. Seine kräftigen Lippen bewegten sich im Takt einer kaum hör­baren Melodie, die er im Rhythmus seiner Schritte durch die Zähne pfiff. Er trug einen Stockschirm mit eleganter Holzkrücke bei sich, den seine kräftige Hand melodisch dirigierte. Auch wenn es nicht nach Regen aussah, hatte er sich wie so oft für den Schirm entschieden. Lieber vor­her auf Nummer sicher ge­hen, als später nass zu werden, pflegte er in solchen Situationen zu sagen.

Obendrein trug er bei schönstem Frühlingswetter einen dunklen Wintermantel. Das war heute ein bisschen zu viel des Guten. Kurz vor der Piazza Vittorio Veneto blieb er stehen und wischte sich den Schweiß von der Schläfe. Automatisch strich er sich mit der Hand über den Nasenrücken und verteilte die Feuchtigkeit in das Gestrüpp über seiner Oberlippe. Vielleicht tischte Beatrice wieder den leckeren Pandoro auf. Dazu reichlich Puderzucker, wie es sich gehörte. Wenn er schwitzte, bekam Fausto regelmäßig Hunger. Als müsste sein Körper die älteste Strategie der Welt herbeibemühen, um verlorene Energie unverzüglich zu ersetzen. Die Ponte Della Vittoria lag schläfrig in der Nachmittagssonne, die das behäbig dahinfließende Wasser des Arno so strahlend türkis wie auf einer Urlaubspostkarte einfärbte. Der Wind trieb die rosa Blütenblätter der Mandelbäume vom nahen Park herüber und klebte sie an die Reifen der vorbeirauschenden Automobile. Es roch überall nach Benzin, altem Stein und, wenn man an einer Pasticceria vorbeikam, nach den Cannoli genannten Cremeröllchen und nach Zitronenkuchen. Es war sein Geruch, der Geruch seines Lebens. Nur Fußgänger kannten ihre Heimat, die Gerüche der Piazzas und der Hinterhöfe, der Tageszeiten, die Launen und das Wechselspiel der Natur.

Fausto war immer nur Fußgänger gewesen. Und er war der Typ Florentiner Stubenhocker, der kaum richtig aus Florenz herausgekommen war. Das tos­kanische Umland, Castelfiorintino, Pogibonsi, ja sogar Siena oder Arrezo kannte er natürlich. Aber so richtig rausgekommen, über Umbrien oder die Emilia-Romagna hinaus, war er eigentlich nie. Sicher, von Berufs wegen war er auch wiederholt im Ausland gewesen. Später als die Arbeiten als Restaurator, Gutachter und Kunstschätzer dazugekommen waren, hatte er mit Auktionshäusern im In- und Ausland zu tun gehabt. Da gehörten auch Reisen dazu, wenn auch nie mit dem Auto. Dabei liebte er den Benzingeruch, von dem es in Florenz mehr als sonst wo gab. Als Fußgänger lag einem die Welt zu Füßen, aber man brauchte gute Schuhe. Unwillkürlich schaute er auf seine schwarzen Oxfords, die er bei einer Maßschuhmacherin in Florenz fertigen ließ. Wahrscheinlich der einzigen in ganz Italien. Die davor hatte sie auch schon gefertigt und sie würde auch die danach machen, wenn es welche geben sollte. Sie waren schön, bequem, und sie hielten. Immerhin war er unter den Fußgängern ein Leistungssportler. Wie ein solcher bog er kurz vor dem Theater in eine kleine Seitengasse. Über Kopfsteinpflaster ging es an einem Spalier von Mofas, Mopeds und Rollern vorbei. In der engen Straßenflucht war es wegen der plötzlich ausgesperrten Sonne angenehm kühl. Seine Schrit­te hallten vertraut, während der Belag ihn wie durch Polster angenehm massierte. Gerade jetzt entlang der schattigen Fassaden spürte er die hitzige Aufregung, die ihn trieb. Es gab ja auch einen Grund dafür, und was für einen.

Er malte sich die Reaktion, die seine Nachricht in wenigen Minuten hervorrufen würde, in Gedanken aus. Ja, es war schön und beruhigend, Teil von etwas Größerem zu sein. Und er war wichtig. Es war wichtig. Wichtiger als alles, was er in seinem Berufsleben gemacht hatte. Jetzt, wo es vorbei war, war es, war die Bruderschaft noch wichtiger. Sie war Lebenselixier pur und das traf es genau. Es war noch mehr als das, viel mehr, weil es mehr als sein Leben betraf. Es betraf die Wahrheit des Kosmos, das ewige, unveränderliche Sein der Dinge. Es strahlte zurück aus der unendlichen Ferne in sein kleines Florenz, Staubkorn auf einem unwesentlich größeren Staubkorn in unermesslicher Weite. Und er war Zeuge, Bewahrer, Mitwisser unter Wenigen. Er trug einen Staffelstab, den andere vor ihm seit Jahrhunderten weiterreichten. Wenn das kein Grund war, die Füße morgens weiter aus dem Bett zu strecken. Auch ein Restaurator im Ruhestand ließ wie ein alter Kater das Mausen nicht. Restaurieren hieß eben auch respektieren, bewahren und erhalten und das harmonierte über jeden Ruhestand hinaus mit ihren gemeinsamen Bestrebungen, und das mehr denn je.

Fast wäre er an der getäfelten Tür vorbeigelaufen, deren verwaschener Grünanstrich seit langem blätterte. Er betätigte die Klingel und wartete. Die sanft modulierte Stimme von Bea­trice klang durch die Sprechanlage. Fausto meldete sich. Gleich darauf knackte es kurz und die Tür öffnete sich mit einem Summen. Er quälte sich die alte Treppe in den fünften Stock hoch und klingelte an einer ramponierten Wohnungstür. Er schnaufte von der Anstrengung, während er wartete. Die Tür ging auf und Beatrice flog ihm entgegen, die Arme weit ausgestreckt.

„Tonio telefoniert noch. Komm rein!“, sagte sie fast schon beiläufig. Er trat ein und behielt den Schirm in der Hand, obwohl sie darum bat. Er verwies auf seine Vergesslichkeit. Sie lächelte, sagte aber nichts. Drinnen sah es geräumiger und eleganter aus, als man von draußen vermutet hätte. Der Unterschied fiel ihm nach wie vor auf. Er wurde wahrscheinlich durch eine Replik des David von Donatello begünstigt, die anderthalb Meter hoch mit aufgestütztem Schwert und in neckischer Pose an der Stirnseite des langen Flurs stand. Die Figur hatte mehr Symbolkraft, als Tonio sich eingestehen wollte. Sie war das in Bronze gegossenes Ebenbild seines spitzbübischen Alter Egos. Da war Fausto sich sicher.

„Geh ruhig hoch! Er erwartet dich“, riss Beatrice ihn aus seinen Gedanken. Fausto schnaufte kurz und zwängte sich die enge Wendeltreppe zu Tonios Arbeitszimmer hoch. Oben trat er zur halb geöffneten Tür, klopfte und trat, als er keine Antwort hörte, einfach ein. Tonio telefonierte. Als er Fausto bemerkte, wedelte er ihm mit der Hand zu, deutete stumm auf einen Stuhl und sprach weiter ins Telefon. Fausto steuerte möglichst geräuschlos auf das Sitzmöbel zu. Er setzte sich und lehnte sich vorsichtig zurück. Tonio räkelte sich an seinem Schreibtisch und redete wie ein Wasserfall auf jemanden ein. Hinter ihm eine Unmenge Bücher, dicht nebeneinander in Bücherregale gepresst. Auch auf dem Schreibtisch türmten sie sich gefährlich. Zwi­schendrin ein unordentlicher Stapel Zeitschriften, hand­schrift­liche Notizen und gefährlich am Rand ein Notebook, das halb in der Luft hing.

Tonio legte auf, als Fausto es gerade schaffte, den Schirm wie eine Visitenkarte am Rand der Tischplatte zu platzieren. Die Schirmspitze zeigte auf die anmutige historische Diamanten­waage, in deren Miniaturschalen sich Samenkörner vom Jo­hannis­brotbaum befanden. Man hatte sie früher als Gewichts­einheit für Edelsteine verwendet. Das wusste er von Tonio. Von ihm wusste er auch, dass es ein Erbstück war, das von seinem Vater stammte, der Diamantenhändler gewesen war.

„Ciao, Fausto“, sagte Tonio. Er sah neugierig zu ihm herüber, schob Block und Stift zur Seite. Unten machte sich die Espressomaschine bemerkbar.

„Was gibt es so Dringendes, Fausto?“

„Unser Artefakt war wieder aktiv. Heute Morgen“, raunte Fausto. „Mehrere Stunden.“ Gespannt musterte er Tonios Gesicht.

Tonio blieb einen Moment regungslos. „Wie vor zwei Wochen?“, fragte er nachdenklich.

„Genau so! Es scheint sich was zu tun.“

Die beiden Männer schauten sich stumm an. Die Spannung lag fast sichtbar im Raum.

Tonio trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Als das vor zwei Wochen passierte, habe ich nachgeforscht.“ Er sah Fausto bedeutungsvoll an. „Ich habe meine Kontakte spielen las­sen, du verstehst.“

Es pochte an der Tür und Beatrice schob sich in den Raum. Mit geübter Handbewegung wischte sie einige der Bücher zur Seite und schaffte so Platz für ein Tablett. Nachdem sie mühsam einen anderen Platz für den Schirm gefunden hatte, stand zwei Sekunden später eine dampfende Tasse vor Fausto.

„Ihr bedient euch“, sagte sie mit einem Fingerzeig auf das Tablett, als sie schon beinahe aus dem Zimmer war. Tonio nickte ihr dankend zu und Fausto beeilte sich, seinem Beispiel zu folgen. Apfel-Birnenkuchen mit Mandeln, auch sehr lecker, dachte Fausto, als die ersten Fruchtstückchen in seinem Mund den bekannten Geschmack verbreiteten. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tonio erneut ansetzte. Fast schon ein wenig unwillig schob er die köstliche Ablenkung beiseite.

„Also, wir haben jetzt einen Namen. Jemand, der uns vielleicht weiterhelfen kann.“

Fausto runzelte die Stirn. „Wer soll das sein?“, fragte er, während er vorsichtig an seiner dampfenden Tasse nippte.

„Ein Deutscher, der in Island lehrt - in Reykjavík. Er leitet dort ein internationales Forschungsprojekt. Es geht dabei um Exosoziologie und Linguistik.“

„Exosoziologie und Linguistik?“ Fausto wiederholte es als Frage. „Und du glaubst, dass uns das weiterbringt?“ Er schaute skeptisch. Dann beeilte er sich, die Tasse zurückzustellen, weil ihm die Finger heiß wurden.

Tonio zuckte mit den Achseln und zog eine Grimasse. „Besser als nichts. Besser als hier untätig herumzusitzen. Wir hatten noch nie diese Aktivität. In all den Jahrhunderten nicht. Jetzt zweimal innerhalb von vierzehn Tagen. Wenn das nichts zu bedeuten hat!“

Fausto nickte nachdenklich. „Matteo hat da was herausgefunden“, sagte er plötzlich in die Pause, die entstand.

„Herausgefunden? Was?“

Fausto sah Tonios perplexes Gesicht. „Es geht um die Symbole, die auf dem Artefakt pausenlos über das Display huschen. Er sagt, es gibt da ein Muster, das mit Primzahlen zu tun hat.“

„Mit Primzahlen?“, fragte Tonio entgeistert.

„Ja, mit Primzahlen. Warte, ich habe es mir aufgeschrieben.“ Fausto holte einen Zettel hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch. Umständlich brachte er eine Lesebrille zum Vorschein, die ebenso umständlich auf seinen Nasenrücken wanderte. „So, also -.“ Er studierte den Zettel. „Es geht um die durch­laufenden Zeichenketten auf dem Display. Er sagt, dass sich die Zeichen, die sonst willkürlich auftreten, an den Primzahlpositionen 3, 5, 7 oder 11, 13 und so weiter in einem ganz bestimmten Muster wiederholen. Er sagt auch, dass es sich dabei, also bei den Zahlen 3, 5, 7, 11 und so weiter, um Primzahlzwillinge handelt. Er glaubt, dass das Gesamtmuster der Symbole auf dem Display irgendwie mit irgend so einer Polignac-Vermutung zusammenhängt.“ Fausto legte den Zettel zurück und schaute Tonio gespannt an.

Dessen Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Das hat Matteo herausgefunden?“

Fausto nickte.

„Hm“, machte Tonio und Fausto nickte erneut.

„Wenn überhaupt, dann sollten wir Matteo schicken“, meinte Fausto nach einer kurzen Pause. „Wir sollten ihn mit dem Artefakt zu diesem Professor schicken. Matteo kann ihm vielleicht auf die Sprünge helfen. Außerdem hat er noch Ferien.“

„Auf keinen Fall Matteo!“, widersprach Tonio erregt. Er schüttelte energisch den Kopf. „Du weißt doch selbst. Sarahs Ermordung damals. Das war ein Anschlag auf Matteo, sonst nichts! Irgendjemand hatte ihn im Visier.“

„Sicher! Wurde leider nie aufgeklärt.“ Tiefer Zorn schwang in Faustos Stimme mit.

„Pah!“, machte Tonio abfällig. „Bekommt so ein Kerl mit falschem Ausweis und Passbild auch noch anstandslos einen Mietwagen!“ Die Verachtung für die damalige Nachlässigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Der Süden eben“, meinte Fausto mit einem Schulterzucken, was Tonio eine unwirsche Reaktion entlockte.

„Wie auch immer. Wir müssen vorsichtig sein, sehr vorsichtig“, begann Tonio erneut. „Deshalb muss Matteo tunlichst aus der Schusslinie bleiben. Wir schicken besser jemand anderen. Sicherheitshalber.“

„Aber Matteo ist prädestiniert dafür. Wenn wir das Artefakt schon um die halbe Welt schicken, um mehr darüber herauszubekommen. Er kann dem Professor bestimmt dabei helfen.“ Fausto schaute Tonio intensiv an. „Außerdem kann er es aktivieren.“

„Das alles passt mir überhaupt nicht.“ Tonio hatte die Stirn in Falten gelegt. „Aber es stimmt“, gab er nach kurzem Nachdenken zu. „Wir haben bessere Chancen, wenn wir ihn schicken.“

Fausto nickte zufrieden. „Ich war mit ihm in der Curia“, schob er hinterher. „Er hat einen Haufen Fotos von diesen Symbolen gemacht und jede Menge Notizen. Er bekommt von mir noch eine Kopie der Tonaufnahme.“

„Also dann Matteo“, gab sich Tonio geschlagen. „Aber nicht allein. Ich frage Luca, ob er ihn begleiten kann.“ Man sah ihm an, dass er nicht glücklich war mit dem, was er sagte.

„Es wird schon alles gut gehen“, beruhigte Fausto ihn.

Tonio nickte mechanisch. „Nächste Woche, nach Ostern, passt es Professor Wolf.“

Fausto sah ihn fragend an.

„Marius Wolf, dieser Exosoziologe in Reykjavík“, half Tonio ihm auf die Sprünge. Er hob die Augenbrauen. „Er hörte sich übrigens sehr überrascht und interessiert an.“

Fausto nahm es mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis. „Das sollte auch für Matteo passen“, stellte er fest. „Er will über Ostern seine Schwiegereltern besuchen. Er sagt, die leben in der Nähe von Heidelberg.“ Plötzlich kam ihm eine Idee. „Luca und er können sich doch in Köln treffen und von dort einen Flieger nach Reykjavík nehmen.“

„Warum Köln?“ Tonio schaute ihn erstaunt an.

„Na, weil Luca Alessandro so eine kleine Bronzebüste vorbeibringen kann, die ich ihm besorgt habe.“

Tonio nickte. „Na, gut, warum nicht. Ich kläre das mit Luca ab.“ Er faltete die Hände auf dem Tisch und überlegte. „Wir lassen Luca auch eine Kopie der Vera Historia mitnehmen. Die braucht der Professor womöglich und Matteo kann sie ihm übersetzen.“ Tonio fuhr sich über die hohe Stirn und sah fast zufrieden aus, weil alles nun etwas mehr Sinn ergab.

„Wollen wir den Professor wirklich komplett einweihen?“ Fausto schaute skeptisch. „Wir haben Feinde, das sagst du ja selbst.“

Tonio seufzte gequält. „Was bleibt uns anderes übrig?“ Er zog ein schmerzliches Gesicht. „Wir hüten seit Jahrhunderten ein Geheimnis, hinter dem sich eine Geschichte verbirgt, von der wir fast nichts wissen. Seit knapp zweitausend Jahren treten wir auf der Stelle.“ Er sah Fausto lange schweigend an, ehe er sagte: „Jetzt bietet sich uns vielleicht die einmalige Chance, mehr zu erfahren.“ Sein Blick wurde schärfer. „Das sollte das Risiko wert sein, meinst du nicht auch?“

 

Kapitel 2

Südisland - 1. April

 

Die junge Frau blickte in einen dunklen Himmel, aus dem es wie Sirup tropfte. Von irgendwoher stach ihr Licht in die Augen. Sie rieb sie und merkte, dass sie sich entzündet anfühlten und schmerzten. Über ihr in der Luft, in die sie mit in den Nacken gelegtem Kopf stierte, drehte ein Greifvogel einsam seine Run­den. Sein dunkles Gefieder hob sich kaum von der düsteren Wol­kendecke ab, die wie aufge­mal­tes Blei über der Landschaft lag. Der Vogel stieß einen spitzen Schrei aus und drehte ab. Ei­nen Moment später hatten ihn die Wolken verschluckt. Der Blick der Frau blieb nach oben gerichtet. Wieso sehe ich über mir den Himmel, überlegte sie immer noch verwirrt. Einen Himmel, aus dem große, graue Flo­cken heruntertrudelten. Flocken, groß und leicht wie Schnee­flocken. Quälende Sekunden grübelte sie. Grü­bel­te darüber nach, warum das, was sie sah, keinen Sinn ergab. Es dauerte, bis die Erinnerung zurückkam, und als es passierte, kam sie zäh wie ein alter Kaugummi. Sie konnte sich keinen Reim darauf ma­chen, warum sie in den Himmel starrte, aus dem es schneite, und warum es gleichzeitig in die Kabine he­rein­regnete. Aber sie er­innerte sich, dass sie sich bereits vor­her in der Kabine befunden hatte.

Dann ganz plötzlich glaubte sie, das Wummern der Turbinen wieder zu hören. Auch das gleißend helle Licht und das Dröh­nen der Maschine im Sinkflug waren wieder da. Ebenso die wild herum­fliegenden Tassen und Tabletts und die verzweifelten Schreie der Menschen. Erneut sah sie die Gesichter der Ste­war­dessen vor sich, die hektisch Anweisungen durch die Kabine riefen. Sie glaubte, plötzlich wieder die Stimmen aus dem Bord­lautsprecher zu hören. Worte, die sie wie durch Watte und ohne jede Bedeutung im freien Fall zur Erde erreicht hatten. Sie wuss­te nicht, wie lange es gedauert hatte. Sie erinnerte sich aber an das Ende. Daran, dass sie kurz davor die Knie an den Ober­kör­per gezogen und die Arme vors Gesicht gepresst hatte. Als das Flugzeug hart und mit hässlichem Geräusch auf den Boden geklatscht war, war sie allein gewesen. Sie hatte andere Passa­gie­re, die wie sie in Todesangst gebrüllt hatten, und sich selbst durch eine ferne, dumpfe Wand gehört. Der Rumpf hatte sich geschüttelt wie ein nasses Tier und sie hatte noch das Kreischen berstenden Metalls mitbekommen. Dann waren in der Kabine die Lichter ausgegangen. Von dem, was danach passiert war, wusste sie nichts mehr. Sie war wohl bewusstlos ge­wesen, womöglich mehrere Minuten.

Mit den verstreichenden Sekunden realisierte sie die Fakten. Sie befand sich in einem Flugzeug, war abgestürzt, hatte ir­gendwie überlebt. Dumpf und wie durch einen Schleier nahm sie sich selbst in dem Rest von etwas wahr, das einmal ein Flugzeug gewesen war. Sie ließ den Blick schweifen. Um sich herum sah sie Menschen, die wie sie selbst gerade versuchten, sich zu orientieren. Sie fühlte den Schmerz an den Knöcheln, wo die Haut aufgeschrammt war. Sie befühlte ihre Knie. Auch die taten weh. Sie registrierte das stechende Ziehen in Nacken und Schultern, den dumpfen Schmerz in ihrem Kopf und die ekelhafte Übelkeit, die sie instinktiv würgen ließ. Aber sie hatte überlebt. Mit diesem Gefühl saß sie regungslos da. Sie roch die Landschaft um sich herum, auf die sie durch ein mehrere Meter breites Loch in der Kabinenwand starrte. Im selben Augenblick überfiel es sie. Sie atmete rascher und spürte ihr pochendes Herz. Atme in die Tüte, befahl sie sich. Sie zwang sich den ge­dank­lichen Mechanismus auf, den sie über viele Jahre eingeübt hatte. Sie schloss die Augen und atmete ein und aus, während ihre Hand unter dem Sitz nach dem Handgepäck suchte.

Was für ein Glück! Es war noch genau dort, wo sie es hin gepackt hatte. Sie zerrte am Reißverschluss. Dann hatte sie die Plastiktüte in der Hand. Atme in die Tüte! Sie schloss die Augen und atmete ein und aus, atmete langsamer ein und aus, ein und aus. Auch diesmal half es. Sie kam wieder herunter, wurde ru­hi­ger. Doch die Angst war immer noch da und schien ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Das Wrack kam ihr plötzlich wie eine eingedrückte Konservendose vor, in der sie zu ersticken drohte. Sie entschied, dass sie raus musste. Als sie den Gurt öff­nete, schmerzte die Stelle, an der der Verschluss ihren Bauch beim Aufprall gequetscht hatte. Sie rieb sie und stolperte auf rutschigem Boden an Mitpassagieren vorbei, die noch wie sie aufgewühlt, mit geweiteten Augen und voller Adrenalin zu be­grei­fen versuchten, was passiert war. Sie steuerte auf das Loch im Rumpf zu. Es war dort, wo sich vorher der vordere Teil des Fliegers befunden hatte. Irgendwie schaffte sie es, auf den Bo­den zu gelangen.

Sofort spürte sie den Regen auf der Haut und die rechte Augenbraue brannte plötzlich wie Feuer. Sie berührte die Stelle. Als sie ihre Finger betrachtete, entdeckte sie Blut und den flo­ckigen Niederschlag, der mit dem Regen herunterkam. Gleich­zeitig spürte sie die Nässe in ihrem Gesicht. Wassertropfen ran­nen ihr über die Wangen und perlten über ihr Kinn. Sie fuhr mit der Zunge über die Oberlippe und schmeckte den leichten Salz­geschmack des Regens. Sie strich mit der Hand über ihre Wan­gen und wischte Feuchtigkeit weg. Das Haar klebte ihr nass in der Stirn und sie kämmte es mit den Fingern nach hinten. Ihre Augen brannten und sie blinzelte mehrmals. Sie führte es auf den Regen zurück. Vielleicht war auch das merkwürdige Licht, das ihr in die Augen strömte, schuld daran. Unmittelbar danach ent­deckte sie den wahren Grund. Zwischen den Hügelkuppen vor ihr waren die Wolken in einen seltsamen orangenen Schein ge­taucht und am Horizont spannte sich ein rötlicher Schimmer, soweit das Auge reichte.

Der Wind verfing sich pfeifend im Wrack und sie stellte ih­ren Jackenkragen hoch. Sie blinzelte erneut und bewegte sich auf schmerzenden Knien auf die Klippe zu. Dahinter hoben sich verschwommene Hügel. Vorn am Klippenrand erkannte sie die Konturen zweier Männer und einer Frau. Als sie die drei erreichte, schaute einer der Männer gerade neugierig hinunter in die Tiefe. Der andere Mann stand etwas abseits über die Frau gebeugt, die auf einem Felsstück saß und sich das Knie rieb. Sie hatte sich ein Taschentuch unter ihren Po geschoben.

„Ich bin der Mike“, sagte der Mann an der Klippe zu der jun­gen Frau, als sie zu ihm hintrat. Er war etwa Anfang fünfzig, mittelgroß und von stämmiger Statur.

„Ich bin Lucy“, erwiderte die junge Frau leise. Sie wandte sich von ihm ab und starrte in die Schlucht. Ihr Blick fiel auf ein verbeultes Wrackstück, das vorher Bug, Cock­pit und vordere Kabine ihres Fliegers gewesen war. Es endete vor den Trag­flächen. Dem hinteren Reststück war sie gerade eben ent­stie­gen.

„Die armen Schweine hatten richtig Pech.“ Mike deutete in die Schlucht hinunter. „Erst mit vollem Karacho über die Klippe gesaust.“ Er ahmte mit dem Finger die Flugkurve nach. „Dann im freien Fall runter, am Hang aufgeklatscht und als krönender Abschluss ´ne Schlittenfahrt.“

Die armen Schweine hatten nicht nur richtig Pech. Sie selbst hatten riesiges Glück gehabt, schoss es Lucy durch den Kopf, dass ihr Wrackstück nicht bis zur Klippe weitergeschlittert war, um der von Mike beschriebenen Flugkurve zu folgen. Andere Überlebende gesellten sich zu ihnen. Auch sie starrten ungläu­big nach unten.

„Eine absolute Meisterleistung des Piloten, das sag ich Ih­nen“, tönte Mike. „Schau´n ´se mal!“ Er schwenkte die Hand von links nach rechts und von oben nach unten, um das Ge­sche­hene besser zu illustrieren. „Da ist er rüber.“ Sein Finger wies auf den Kamm einer fernen Felsenkante und beschrieb sofort einen Bogen den Berg hinunter. „Dann die Nase runtergedrückt und das Ding da vorn aufgesetzt.“ Der Finger zeigte in die Rich­tung. „Alles ohne laufende Triebwerke. Wie ein Segelflieger. Nur, dass wir paar Tausend Zentner schwerer waren.“

Es stimmte, was er sagte. Eine breite Schleifspur zog sich gut dreihundert Meter durch das Tal bis zum abgebrochenen Wrack­teil und dann noch mal weiter bis zur Klippe. Der Rumpf hatte sich wie eine Baggerschaufel durch den Untergrund ge­pflügt. Er hatte Sträucher und Büsche wie Streichhölzer weg­geknickt und sich auf seiner Schlittenfahrt durch Schutt und Geröll gegraben. Das Fahrwerk war beim Aufprall wegge­bro­chen und lag in der Ferne zwischen Büschen und nacktem Fels. Rechts entlang der Rutschspur schienen kleine Trümmerteile zu liegen, die aber keine waren. Ein in den Talkessel hinein­ra­gen­der Felsvorsprung hatte den vorbeischlitternden Rumpf wie eine überdimensionale Sense rasiert. Die Passagiere auf den Fens­ter­plätzen hatten nicht den Hauch einer Chance gehabt.

„Hat dem Piloten sicher wenig genützt“, brachte sich der drahtige Mittvierziger ein, der sich immer noch über die Frau auf dem Taschentuch beugte. Er lugte verschmitzt zu Mike hoch. Der begriff sofort.

„Dat stimmt leider“, erwiderte er mit rheinischem Zungen­schlag. Ein mitleidiges Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Was ist nun mit meinem Bein“, machte sich die Frau auf dem Taschentuch bemerkbar.

„Gebrochen scheint nichts zu sein“, sagte der Mittvierziger. Er tastete an ihrem Schienbein herum.

„Aua!“, schrie sie auf, als er auf ihr Knie drückte.

Rasch zog er die Hand zurück. „Scheint eine Prellung zu sein.“ Er legte sein Gesicht in Falten, als er sie ansah.

Sie verdrehte die Augen. „Na, klar, Prellung. Sind Sie Arzt?“, fragte sie, während sie ihn forschend musterte. Sie schüt­telte ihr kastanienbraunes Haar und strich es zurück. Für ihre knapp fünfzig sah sie fast jugendlich aus. Sie starrte ihren Helfer aus großen Augen an. Wimperntusche rann über ihre Wan­gen und aus einer Schnittwunde über der linken Augen­braue perlte ein feines rotes Rinnsal auf ihr Oberlid.

„Nein, bin ich nicht“, antwortete er ihr bestimmt. „Aber ich kenne mich damit ein bisschen aus.“