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Dieses Buch erzählt die Geschichte von Tuomas, einem finnischen Schuljungen mit sizilianischen Wurzeln. Er lebt zwischen zwei Welten: Als Erbprinz eines ewigen Lava-Volkes und zugleich als Nachkomme der menschlichen Rasse, gefangen in der Unentschlossenheit, welcher Seite er sich zuwenden soll. Mit seinen übernatürlichen Kräften könnte Tuomas viel Gutes bewirken, wenn die Menschheit es verdient hätte. Seit dem tragischen Unfalltod seiner Mutter lebt er bei seiner Großmutter in einem Herrenhaus im finnischen Dorf Arvola. Immer wieder wird Tuomas von seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten überrascht. Stück für Stück entdeckt er seine Verbindung zu einem geheimnisvollen Lava-Volk, das tief im Vulkan Ätna auf Sizilien lebt.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Was in dieser Geschichte nicht erfunden ist, könnte wahr sein – oder auch nicht. In der finnischen Region Savo, in der sich die Abenteuer des Lavaprinzen größtenteils abspielen, liegt die Interpretation im Ermessen der Leser und Zuhörer.
Diese deutsche Ausgabe basiert auf dem finnischen Original «Laavaprinssin salaisuus». Die Übersetzung ins Deutsche entstand in enger Zusammenarbeit mit meinem Mann Fritz.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Firmen oder Institutionen sind rein zufällig. Besonders die Figur der Gutsfrau Irma Arkko ist frei erfunden und bildet einen Gegenpol zur gutherzigen Magd Alma. Tatsächlich waren die Gutsfrauen bewundernswerte, fleißige und gütige Frauen.
Arvola ist ein kleines ländliches Dorf im Süden Finnlands. Auf den ersten Blick erscheint es ganz gewöhnlich, ebenso wie der Halbwaise Tuomas, der auf dem Gut Arkko lebt. Doch seine unheimliche Vergangenheit lässt ihn nicht los und hindert ihn daran, ein normaler Schuljunge zu sein.
Die Autorin widmet diese Geschichte ihrem Heimatdorf, dem sie eine erfolgreichere und unabhängigere Zukunft gewünscht hätte.
Leena Pulfer
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Band 2: Der Lava-Prinz und der Wunderstein
Über die Autorin
Schliesslich sprach der Herscher der Lava-Ströme:
Wähle mit Bedacht, junger Prinz: Willst du zu den Menschen gehören, zu jener niederen Gattung, die ein kurzes, bedeutungsloses Leben auf Erden verbringt, durch ihre eigene Dummheit alles um sich herum zerstört und nach ihrem Tod zu Staub zerfällt?
Oder du schließt dich deinem eigenen Lava- Volk an, das seit Anbeginn der Zeit existiert und durch nichts zerstört werden kann.
Wir können auf der Erde und in ihren Tiefen leben. Wir können jede Form annehmen, die wir wollen. Wir haben unendliche Kräfte. Wähle mit Bedacht.
Zu Beginn der Naturwissensschafts-Stunde fragte die Lehrerin Paula Puntanen ihre Klasse: «Wer von euch hat gestern die Fernsehnachrichten über den Vulkanausbruch in Indonesien gesehen?». Viele Schüler streckten ihre Hand in die Höhe.
«Wer erinnert sich noch an den Namen des Vulkans?» fuhr Paula fort. Die Schüler schauten sich um und schüttelten den Kopf.
«Kein Wunder, dass ihr euch nicht erinnert. Es war der Anak Krakatau. Vulkane haben oft seltsame Namen, die ihnen die Einheimischen gegeben haben. Anak Krakatau bedeutet ‹Kind des Krakataus›. Krakatau ist der Name der Vulkaninsel. Aber auch in Europa gibt es Vulkane mit einfacheren Namen. Wer weiß welche?»
Viele Hände schnellten nach oben.
«Tuomas?»
«Ätna», antwortete Tuomas. «Der liegt in Sizilien», fügte er hinzu.
«Das wollte ich auch gerade fragen, danke Tuomas.»
Tuomas war verärgert. Schon wieder hatte er den Mund nicht halten können und die Frage der Lehrerin beantwortet, bevor sie überhaupt gestellt worden war. Aber was konnte er dafür, dass man die Gedanken anderer Menschen mit ein bisschen Konzentration so leicht lesen konnte? Das war doch ganz normal. Oder etwa nicht?
Zum Glück lachte niemand, denn Paula erzählte sofort von ihrer Schwester, die gerade an einer Gruppenreise nach Sizilien teilgenommen hatte. Als die Gruppe den Ätna besteigen wollte, brach der Vulkan plötzlich aus, und alle mussten mit dem Bus zurück ins Hotel fahren. Sogar der Flughafen wurde geschlossen, und die Rückreise verzögerte sich.
Paula zeigte Videos, die ihre Schwester aufgenommen hatte. Tagsüber stiegen riesige Aschewolken aus dem Vulkan in den strahlend blauen Himmel. Nachts konnte man auf den Aufnahmen aus dem Hotelzimmer Feuerstrahlen sehen, die aus dem Krater schossen.
«Früher glaubten die Einheimischen, dass Götter im Vulkan leben, die einen Ausbruch verursachen, wenn sie wütend sind. Aber heute wissen wir, wie Vulkanausbrüche entstehen. Jetzt werden wir in Gruppen zu diesem Thema arbeiten.
Dann erzählt die Lehrerin von der bewegten Geschichte Siziliens: Dass es dort bereits vor 5000 Jahren Kultur gab, und dass viele Völker die Insel erobert haben, darunter die Griechen, Römer, Vandalen und Spanier.
«Was wisst ihr noch über Sizilien? Miranda?»
Das blonde, blauäugige Mädchen in der ersten Reihe hob die Hand.
«Da gibt es die Mafia und die Blutrache.»
Mirko, der neben Miranda an seinem Pult saß, sprang blitzschnell auf, noch bevor Paula Luft holen und «Stopp» rufen konnte! Er nahm die geduckte Haltung eines Maschinengewehrschützen ein, begann, sich auf der Stelle zu drehen und feuerte mit einem Lineal auf die Klasse: «Pa-pa-pa-pa-pa-pa…»
Mirko war ein Problemschüler, schwer zu beruhigen und schwer zu verstehen, da er wegen seiner Hasenscharte eine feuchte Aussprache hatte. Selbst jetzt spritzte er noch Speichel auf die Umsitzenden.
«So haben sie alle ihre Feinde vernichtet! Das habe ich im Fernsehen gesehen», beendete Mirko stolz seinen Vortrag und richtete sich auf.
«Mirko! Setz dich jetzt hin! Auf Menschen zu schießen ist kein Spiel», ermahnte die Lehrerin.
«Ich habe noch niemanden erschossen. Aber die Mafiabosse schießen wirklich. Die haben nicht einmal Angst vor der Polizei.»
«Zum Glück herrscht hier in Finnland eine andere Ordnung. Und jetzt beruhigt euch alle und macht euch an die Arbeit.»
Die Lehrerin teilte die Klasse in Gruppen von vier bis fünf Kindern ein. Die Schüler schoben ihre Pulte und Stühle zusammen. Jede Gruppe hatte die Aufgabe, mehr über die Entstehung und Funktionsweise von Vulkanen herauszufinden. Auf ihren Tablets suchten sie nach Informationen. Tuomas war in einer Gruppe mit Miranda, Väinö und Mirko. Sie entschieden sich, sich auf den Ätna zu konzentrieren, da Paula gerade darüber gesprochen hatte.
Die Diskussionen in der Klasse waren lebhaft. Das Thema fesselte alle, auch wenn niemand je einen Vulkan gesehen hatte, da es in Finnland keine gibt.
«Der Ätna ist der größte aktive Vulkan Europas. Er liegt auf der italienischen Insel Sizilien in Südeuropa...» tippte Miranda die Sätze der Jungen in ihren Laptop. Aufgrund ihrer Blindheit konnte sie die Informationen nicht selbst suchen, doch sie benutzte geschickt die Braille-Tasten, die den Text gleichzeitig in normaler Schrift darstellten..«Wie sieht es aus, wenn ein Vulkan ausbricht?», fragte Miranda.
«Hier sind Bilder... Oh, du kannst sie nicht sehen», sagte Väinö zu Miranda.
«Aus der Mitte des Berges steigen Aschewolken und Rauch in den Himmel», erklärte Mirko.
«Was ist das für Rauch? Ich kenne nur den Geruch, wenn man die Sauna anheizt.»
«Der Rauch ... er ist weich ... wie Watte», versuchte Tuomas zu erklären. Es war für ihn schwer zu begreifen, wie Miranda ihre Umgebung wahrnahm, wenn sie nichts sehen konnte. Keine Farben, keine Formen, keine Entfernungen – nicht einmal ihr eigenes Spiegelbild. Miranda wusste nicht einmal, dass sie schön war. Für sie bedeuteten die Worte «schön» oder «hässlich» nichts.
«Es wäre ziemlich aufregend, an so einem Ort zu wohnen. Wie neben einem Atomkraftwerk – man weiß nie, wann es explodiert. Ziemlich aufregend», sagt Mirko verträumt.
«Aber sicher kein Spaß für die Leute, wenn sie ihr Leben oder Zuhause verlieren,» entgegnete Väinö. Väinö war das genaue Gegenteil seines Freundes Mirko: ruhig, etwas langsam, mit der Statur eines Sumoringers wie sein Vater, nur einen halben Meter kleiner.
Mirko las vor:
«Die Lava ist hellrot, wenn sie den Boden erreicht, und über tausend Grad heiß. Sie fließt schnell wie ein Sprinter. Beim Abkühlen wird sie dunkelrot und hart und verlangsamt sich. Der Lavastrom verbrennt alles Brennbare wie Bäume und Holzgebäude. Nur Steinmauern und Steinkirchen können inmitten der Lava stehen bleiben. Die erstarrten Lava- und Gesteinsbrocken, die der Lavastrom mit sich führt, zermalmen alles auf ihrem Weg».
«Das ist ja schrecklich», hauchte Miranda.
«Zum Glück haben wir hier in Finnland nichts mit Vulkanen zu tun», sagte Tuomas. Er ahnte noch nicht, dass seine eigenen Wurzeln bis nach Sizilien reichten, genauer gesagt in die feurigen Höhlen des Ätna.
Die Geschichte von Tuomas' Großeltern beginnt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts..
Tuomas hatte geglaubt, dass seine Großeltern ihr ganzes Leben lang auf dem Landsitz der Familie Costa auf dem italienischen Festland verbracht hatten. Nonna hatte nie erwähnt, dass ihre Wurzeln auf der Insel Sizilien lagen. Sie hatte gute Gründe, dieses Geheimnis für sich zu behalten.
Die Menschen in der Umgebung des Ätna waren an kleine Erdbeben und Lavaströme gewöhnt. Sie führten ihr normales Leben weiter, stellten heruntergefallenen Nippes zurück in die Regale, sprühten die graue Ascheschicht von den Blättern im Garten und wischten die Asche vom Terrassentisch.
Niemand rechnete mit einem großen Ausbruch, obwohl die Erde seit Wochen ungewöhnlich stark bebte und immer mehr Rauch aus dem Krater in den klaren blauen Himmel aufstieg. Die Menschen bekreuzigten sich zum Schutz, wann immer ein stärkeres Beben durch ihre Fußsohlen ging und in der Küche Töpfe und Pfannen klirrten. Sogar zur Messe um sechs Uhr morgens kamen viele, die Pater Antonius seit Jahren nicht mehr in der Kirche gesehen hatte.
Doch wirklich beunruhigt war niemand. Schließlich war der Berg schon mehrmals in ihrem Leben ausgebrochen und die Aufzeichnungen zeigten, dass er das auch schon Hunderte von Jahren zuvor getan hatte. Selbst bei den schlimmsten Ausbrüchen hatte das Tal nur unter der Asche gelitten, die den Himmel wochenlang verdunkelte, bevor sie sich auf die Dächer der weiß getünchten Häuser, die gepflasterten Straßen, gewundene Wege, Autos und Gärten legte. Das Atmen fiel schwer, da die Asche winzige Glassplitter enthielt, die aus dem geschmolzenen Gestein des Kraters stammten.
Die Bewohner fegten die Asche von den Straßen und transportierten sie mit Karren aus dem Dorf oder häuften sie an den Gartenrändern auf. Die Männer reinigten die Autodächer und Motorhauben von der Ascheschicht, die Frauen wischten immer wieder die kleinen verglasten Fenster. An solchen Tagen konnte die Wäsche nicht draußen auf den Leinen zwischen den Häusern zum Trocknen aufgehängt werden.
Doch der nächste starke Regen wusch die Asche von den Straßen. Die Blätter der Bäume und das Unterholz wurden wieder grün. Gras und Blumen sprossen aus der Asche, und das Vieh, das zuvor mit Trockenfutter gefüttert worden war, konnte wieder draußen weiden.
Zerbrochenen Dachziegel wurden ersetzt, Kreuze und Madonnenbilder, die von den Zimmerwänden gefallen waren, wieder angebracht. Das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Diesmal brach der Vulkan jedoch spät in der Nacht aus. Ein gewaltiger Knall und ein starkes Erdbeben weckten alle. Die Bewohner strömten auf die Straßen, wo es sicherer war, als in den einsturzgefährdeten Häusern zu bleiben. Trotz des Schreckens konnten sie das spektakuläre Feuerwerk des Vulkans bewundern: Feuerfontänen schossen aus dem Krater in den Nachthimmel und erleuchteten die mächtigen Aschewolken.
Die Erde unter ihren nackten Füßen bebte und ächzte. Jugendliche und Kinder, die noch nie einen so gewaltigen Ausbruch erlebt hatten, schrien vor Begeisterung, wenn eine weitere Explosion die Talhänge hinunterhallte und die Feuerbögen kilometerweit flogen. Nur die Jüngsten suchten weinend Schutz bei ihren Müttern und Großmüttern.
Der alte Ettore, ein Wilderer, der am Stadtrand im Haus seines Bruders lebte, war auf die Straße gekommen, um das nächtliche Spiel zu beobachten. Er hatte sein Fernglas mitgenommen, das er sonst bei der illegalen Jagd auf Kaninchen und Vögel an den Hängen des Vulkans benutzte. Neben Ettore stand der aufgeregte, knurrende Jagdhund Bono, ein schlanker, langbeiniger alter Windhund aus Sizilien. Die Landschaft war Ettore bei Tag und Nacht vertraut, und nun richtete er das Fernglas auf den vom Feuer erleuchteten Berghang. Plötzlich erschrak er.
«Lava! Da kommt Lava aus dem Hang!»
«Red keinen Unsinn, du Waldräuber», meinte der Mann neben ihm, nahm das Fernglas und richtete es auf den Berg.
«Porca miseria! Der Kerl hat recht! Dort fließt tatsächlich Lava ins Tal!»
Das Fernglas ging von Hand zu Hand und die Rufe wurden lauter, verbreiteten sich in der Menge:
«Die Lava kommt!»
Und tatsächlich, die Lava kam! Ein kilometerbreiter Riss klaffte in der Flanke des Vulkans, und glühende Lava ergoss sich durch die Öffnung ins Tal, direkt auf das kleine Städtchen Mascali zu. Früher war die Lava stets aus dem Hauptkrater ausgebrochen und hatte ihren Weg an der Rückseite des Vulkans entlang gesucht, wo sie schließlich ins Meer floss und sich am Ufer zu einer meterhohen schwarzen Zone verfestigte.
Die Menschen standen wie erstarrt, als wären sie in einem Theater und warteten auf die Fortsetzung der Vorstellung. Der Krater spie unaufhörlich Feuerfontänen in den Himmel und schleuderte große Felsbrocken weit in den dunklen Hang, wo sie weiterrollten, bis sie zum Stillstand kamen und auf die Ankunft der Lava warteten, um ihre Reise fortzusetzen. In der Nacht schien der glühende, feurige Strom immer breiter zu werden.
Wie lange würde die Lava noch fließen? Wie schnell würde sie den Hang hinabgleiten? Würde sie diesmal die kleinen Dörfer am Hang erreichen, die einzelnen Häuser und schließlich das Tal und die Stadt?
«Lauf Aldo, sag dem Küster Filippo, er soll die Alarmglocken läuten», rief Ettore seinem Neffen zu, der mit weit aufgerissenem Mund auf der Straße stand. «Das könnte gefährlich werden!»
«Oh Nonna, werden wir alle sterben?» Die kleine Livia, die Ettores Worte gehört hatte, begann auf dem Schoß ihrer Großmutter zu wimmern.
"Hab keine Angst, Bambina. Der Herr des Vulkans ist nur zornig, aber er wird sich beruhigen, wenn wir von ganzem Herzen beten.
Das hastige Läuten der Glocken mitten in der Nacht füllte die Kirche mit Gläubigen. Pater Antonius versuchte im Namen aller Heiligen und der Jungfrau Maria den Menschen Vertrauen in das Heil in dieser Welt und nach dem Tod zu schenken. Obwohl Pater Antonius selbst nicht sehr vertrauenserweckend wirkt, da er im Dunkeln und in Eile mit einer Schlafmütze und dem seidenen Morgenmantel seiner Haushälterin zur Kirche geeilt war, wollte ihn niemand auslachen.
Auch der Polizeichef des Dorfes, der Commissario di Polizia, sowie der Feuerwehrkommandant waren in der Kirche. Nach der Messe berieten sie sich mit Pater Antonius und beschlossen, bis zum Morgengrauen zu warten, um sich ein klareres Bild von der Lage machen zu können. Vielleicht würde der Lavastrom von selbst stoppen oder einen anderen Weg um die Stadt nehmen. Schließlich hatten alle Einwohner inbrünstig gebetet.
Kerzen brannten vor den Altären und ungewöhnlich viele hatten eine Münze in die Kirchenkasse geworfen, bevor sie ihre Kerzen vor dem Bild der Jungfrau Maria anzündeten. Vielleicht war diese plötzliche Ehrlichkeit auf die Anwesenheit des Polizeichefs zurückzuführen. Jedenfalls hatte man versucht, den Vulkan zu besänftigen, und Gott Vater und nun lag es in den Händen Gottes und der Heiligen, etwas zu unternehmen. Der Polizeichef entschied, dass es keinen Sinn mache, die Menschen in Panik zu versetzen und eine Evakuierung anzuordnen.
Selbst wenn der Ausbruch andauern sollte, würde es Tage dauern, bis die Lava die Stadt erreichen könnte. Die Entscheidung der Behörden, zunächst abzuwarten, war daher durchaus nachvollziehbar.
In dieser Nacht fanden nur kleine Kinder und kranke Alte in der Stadt Schlaf. Die langsame Bewegung der Lava wurde mit Ferngläsern und bald auch mit bloßem Auge beobachtet. Jubelrufe ertönten, wenn der Lavastrom scheinbar hinter einem hohen Felsblock zum Stillstand gekommen war – bis der rotglühende Lavakopf auf beiden Seiten des Hindernisses wieder auftauchte, gefolgt von einem doppelten Strom aus zwei roten Lichtlinien. Schließlich vereinigten sich die Linien, und die Lava setzte ihren Weg unaufhaltsam fort.
Die Wände und sogar das Dach des bescheidenen Hauses der Familie Costa waren aus grauem Schiefer, der einst vom Vulkan stammte, errichtet. Aus der Ferne war das Haus kaum von der kargen Landschaft zu unterscheiden. Am anderen Ende des Gebäudes befand sich ein einfacher Stall, in dem ein paar Ziegen und Hühner Unterschlupf fanden. Hinter einer dünnen Trennwand hatten Vater Luigi und sein erwachsener Sohn Maurizio eine kleine Küche und eine bescheidene Schlafkammer eingerichtet.
Mutter Giulia lag seit drei Monaten im Krankenhaus der 20 Kilometer entfernten Stadt Catania. Die Hoffnung auf Heilung war längst verflogen. Der Krebs hatte sich bereits zu weit ausgebreitet, und eine Operation war nicht nur aussichtslos, sondern auch unerschwinglich. Die beiden Männer der Familie besuchten Giulia abwechselnd, bemühten sich liebevoll, sie zum Essen zu bewegen, und brachten ihr die reifen, nach Muskat duftenden Weintrauben, die an den Steinmauern ihres Hauses wuchsen.
In der Nacht vor dem Vulkanausbruch hatte Maurizio nach einem deprimierenden Krankenhausbesuch Zuflucht in einer Trattoria gesucht, um dort einige Gläser Vino Rosso zu trinken, bevor er mit seinem alten Fahrrad ins heimatliche Tal zurückfuhr. Zu Hause suchte Vater Luigi Trost im Hauswein, doch anstatt sich mit einem Glas zu begnügen, leerte er die ganze Flasche und schlief schließlich auf der warmen Steinbank neben der Hausmauer ein.
Bruno, der alte Schäferhund der Familie, war den ganzen Abend über unruhig gewesen und hatte unaufhörlich zu Füßen seines Herrn gelegen. Schließlich hatte Luigi genug davon und sperrte Bruno in den Stall zu den Ziegen und Hühnern. Doch Bruno war ein schlauer Hund und wusste, wie er die Stalltür öffnen konnte. Deshalb befestigte Luigi ihn zusätzlich mit einer Kette an der Wand.
Am Berghang, etwas weiter oben, lebte Luigis nächster Nachbar, der Schäfer Nino, der sein Haus mit einem Dutzend Schafen teilte. Nino spürte schon seit Tagen eine Unruhe im Hang unter seinen Füßen, doch das war schon oft vorgekommen. Nun jedoch hörte er die Detonationen in der Ferne, und als er den Blick hob, sah er die Feuerfontäne, die aus dem Krater in den Nachthimmel schoss, sowie die mächtigen Rauch- und Aschewolken. Obwohl die dichte Vegetation rund um seine Hütte die Lavaströme verbarg, hörte er in der Ferne das Knacken und Krachen der Felsbrocken, die den Hang hinunterrollten, und das Fallen der Bäume.
Nino sprang auf seinen kleinen Traktor, zögerte jedoch, die Schafe in den Anhänger zu verladen, um sie in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich waren die Tiere so verängstigt, dass es zu lange dauern würde, sie einzufangen. Doch der Lärm und das Rumpeln am Hang wurden immer bedrohlicher. Nino sprang von seinem Sitz, stürmte zu seiner Hütte, riss die Tür auf, und trieb die Schafe hastig hinaus, bevor er den Motor startete. Husso, sein verfilzter Mischlings Schäferhund, wusste nicht, ob er bei der Herde bleiben oder seinem Herrn folgen sollte, und rannte hin und her, bis er sich schließlich entschied, bei den Schafen zu bleiben.
Der Weg von Ninos Haus ins Tal schlängelte sich in Serpentinen den Hang hinunter und führte nach einigen Kilometern am Haus der Familie Costa vorbei. Nino hielt den Traktor vor dem Tor an.
«Luigi! Maurizio! Seid ihr noch zu Hause? Ihr müsst jetzt kommen!» Als Antwort ertönte Brunos dumpfes Bellen aus dem Stall. Nino sprang vom Traktor, rannte zur Haustür und klopfte heftig an.
«Luigi! Maurizio! Schlaft ihr in diesem Vorhof zur Hölle?»
«Nino, bist du das? Was machst du mitten in der Nacht?», rief Luigi, während er sich verschlafen von seinem harten Lager erhob.
Oben am Hang, zwischen den schwarzen Baumstämmen, leuchtete bereits der rote Schein der Lava. Selbst dem verkaterten Luigi wurde klar, dass er sofort handeln musste. Er kletterte hinter Nino auf den Traktor, und gemeinsam setzten sie ihre Flucht fort. Obwohl der Traktor alt und langsam war, tuckerte er zuverlässig voran und hätte seine Insassen wohl gerettet – wenn nicht ein Felsbrocken aus dem Krater geschleudert worden wäre, der den Traktor genau traf und ihn vom Weg abdrängte. Traktor und Anhänger stürzten den Hang hinunter und begruben die beiden Männer unter sich. Beide waren schwer verletzt und und verloren das Bewusstsein, was sich letztlich als ihr Glück erweisen sollte, als die brennende Lava in den Morgenstunden eintraf.
Bruno hatte es inzwischen geschafft, sich von seiner Kette zu befreien, die Tür des Stalls zu öffnen und dem Traktor hinterherzulaufen. Er fand sein Herrchen, dessen Füße von einem Traktorrad zerquetscht worden waren. Aufgeregt rannte Bruno um den Traktor herum und kroch schließlich darunter. Dabei verfing sich die mitgeschleppte Kette zwischen Rad und Boden, wodurch er festgehalten wurde. Bruno versuchte verzweifelt, sich zu befreien, doch als er merkte, dass es aussichtslos war, gab er auf. Er legte sich neben sein bewusstloses Herrchen, leckte ihm das Gesicht und wartete treu an seiner Seite.
In der Ferne waren das Klappern und das klägliche Blöken der Schafe auf der vom Vulkan beleuchteten Straße zu hören. Husso, der entschieden hatte, seine Herde ins Tal zu führen, hörte das Bellen seines alten Freundes Bruno und entdeckte den umgestürzten Traktor sowie die Männer, die darunter eingeklemmt waren. Während die Schafherde weiterlief, sprang Husso von der Straße ab, um nachzusehen, was geschehen war. Er roch den Tod seines Herrn, der unter dem Traktor begraben lag, und stieß ein trauriges Heulen aus. Er erkannte auch die ausweglose Lage von Bruno, leckte seinem Kameraden kurz über die Schnauze und kehrte dann zur Straße zurück, um seiner Herde hinterherzulaufen.
Maurizio wachte frühmorgens auf einer Parkbank auf, geweckt von seinem eigenen Husten. Er versuchte, sich an den vergangenen Abend zu erinnern: Er hatte die Trattoria später verlassen als geplant und nach dem Wein mehr Grappa getrunken, als vernünftig gewesen wäre. Dennoch war er offenbar klug genug gewesen, nicht nach Hause zu gehen, sondern sich im Park niederzulassen, um im Schlaf auszunüchtern. Mit seiner Mutter, die im Sterben lag, wäre es undenkbar gewesen, einen Unfall zu haben oder gar verhaftet zu werden.
Aber warum hustete er? Überall in der Luft war Asche, die sich auch auf seinem Gesicht und auf dem Sattel des Fahrrads niedergelassen hatte, das neben der Bank stand. Maurizio band sich den Schal, den er immer trug, wenn er in die Stadt ging, über Mund und Nase und machte sich auf den Weg nach Hause.
Der Gegenverkehr war erstaunlich dicht. Inmitten von Rauch- und Aschewolken tauchten Lastwagen auf, auf denen Menschen auf Bergen von Habseligkeiten saßen. Voll beladene Autos fuhren vorbei, Traktoren mit Anhängern, die scheinbar den gesamten Hausstand transportierten. Pferde- und Eselskarren blockierten stellenweise die gesamte Straße. Männer schoben schwer beladene Karren, während ihre Familien nebenher liefen. An einer Kreuzung vor der Stadt Mascali wurde Maurizio von einem bewaffneten Polizisten angehalten. Zum Glück war es nur Enrico, ein alter Schulfreund.
«Halt! Kehrt um! Niemand darf in die Stadt!»
«Ich bin es, Maurizio.» Maurizio zog sich das Tuch vom Gesicht. Warum sollte er nicht in die Stadt dürfen?
«Wenn die Häuser leer sind, fangen einige an zu plündern.»
«Warum leer?»
«Bist du vom Mond gefallen? Der Vulkan bricht am Südhang aus und die Lava scheint bis in die Stadt zu fließen.»
«Ich muss nach Hause. Mein Vater und die Tiere müssen in Sicherheit gebracht werden.»
«Ich fürchte, das wird eine vergebliche Reise. Die Lava ist schon an eurem Haus vorbeigeflossen. Wahrscheinlich sind alle geflüchtet. Der Lärm war so laut, dass ihn niemand überhören konnte. Aber natürlich kannst du nach deinem Vater suchen, vielleicht ist er noch in der Stadt.»
Maurizio hielt nicht in der Stadt an, sondern fuhr die vertraute Straße den Talhang hinauf. Die Aschewolke wurde immer dichter, die Hitze immer unerträglicher – und hinter der nächsten Kurve konnte er bereits den Lavastrom sehen. Es war ein beängstigender, aber auch faszinierender Anblick: Der gesamte Berghang war von rauchender, glühender Masse bedeckt, deren Oberfläche brodelte und von Rissen durchzogen war. Mitten im roten Strom trieben große Felsbrocken und verkohlte Baumstämme. Langsam, fast unmerklich, kroch der Rand der Lava immer weiter hinab und bedeckte den Hang darunter. Maurizios Elternhaus lag weiter oben und war mit Sicherheit verloren. Resigniert wendete Maurizio sein Fahrrad und fuhr zurück in die Stadt. Sein Vater musste zu Tante Teodora gegangen sein und machte sich bestimmt Sorgen um ihn.
Obwohl schon viele Menschen geflohen waren, herrschte in der Stadt noch immer Chaos, verstärkt durch die Lautsprecher eines Polizeiwagens, der durch die engen Gassen fuhr: «Es gibt keinen Grund zur Panik... Der Ausbruch wird bald vorbei sein und die Stadt wird von der Lava verschont bleiben... Für den Fall einer Evakuierung stehen Armeelastwagen bereit... Packen Sie für ein paar Tage die wichtigsten Dinge ein und schließen Sie Ihre Häuser ab, um Plünderungen zu verhindern. Die Polizei wird die Stadt während ihrer Abwesenheit bewachen. Es gibt also keinen Grund zur Sorge.»
Zia Teodora, hast du Papa gesehen?», rief Maurizio, als er eilig zum Haus seiner Tante lief.
Tante Teodora hörte seine Frage gar nicht. Sie ging aufgeregt in ihrem Zimmer umher und überlegte, was sie mitnehmen sollte. «Was nehme ich mit? Was nehme ich mit? Ach, als Paolo noch lebte, konnte er mir immer sagen, was ich tun sollte», jammerte sie, während all ihre Schätze und zwei Koffer auf dem großen Doppelbett verteilt waren. Ziellos packte sie Dinge in die Koffer, nur um sie gleich wieder herauszunehmen und durch andere zu ersetzen: Schmuckkästchen, Tafelsilber, Kristallgläser (Hochzeitsgeschenk, 12 Stück), Fotos der Kinder und Enkelkinder aus der Kommode (ca. 40), Alben, der beste schwarze Anzug des Verstorbenen, Pantoffeln, Kupfertöpfe, Nachttöpfe, ein Marienbild und ein vergoldetes Kreuz, handbestickte Sofakissen, Porzellanfiguren – alles wanderte wild zwischen den Koffern und der Bettdecke hin und her.
«Arrivederci, Zia Teodora», rief Maurizio von der Schlafzimmertür. Seine Tante bemerkte gar nicht, dass er gegangen war.
Im Hof eines Nachbarhauses war ein heftiger Streit entbrannt. Ein Mann schrie, ein Kind weinte. Maurizio spähte über die niedrige Mauer: Ein kleines Mädchen hielt ein großes, buntes Kaninchen fest umklammert, während ein Mann mit einer blutbefleckten Axt in der Hand, offenbar der Vater des Mädchens, versuchte, das Tier an den Ohren zu sich zu ziehen.
«Balbina! Balbina! Mama hilf mir!» Das Kind schluchzte verzweifelt.
«Du kannst das Vieh nicht mitnehmen, wir können es auch nicht hier lassen. Wir brauchen Fleisch für unterwegs!»
Die Mutter des Mädchens schien von dem Streit unberührt. Sie war neben der Hauswand damit beschäftigt, große Blumenstöcke aus dem Boden zu ziehen. Zwei Eimer waren bereits voll. «Frau, bist du verrückt? Lass das Gestrüpp liegen, ich werde es nicht mitnehmen», brüllte der Mann. Das Kaninchen zuckte vor Schreck, und der Mann verlor den Griff an den langen Ohren. Das Tier riss sich los, sprang aus dem Garten auf die Straße und verschwand in den engen Gassen.
Schreie hallten durch die Strassen. Vor den Haustüren stapelten sich die Güter, die zum Abtransport bereitstanden – Koffer, Matratzen, Möbel, die man hastig auf Autodächern befestigte. Maurizio erkannte viele Bewohner und hielt immer wieder an, um zu fragen, ob jemand seinen Vater gesehen habe. Doch die Antwort war nur ein hastiges Kopfschütteln. Keine der älteren Frauen fragte wie sonst nach dem Befinden seiner Mutter Giulia im Krankenhaus. Vielleicht war sein Vater schon nach Catania gefahren und wartete dort neben dem Bett der Mutter auf ihn?
Plötzlich sprang ein Hund gegen das Fahrrad und brachte Maurizio fast zu Fall. War das nicht Dinos alter Husso? Hussos Schafherde hatte die Stadt erreicht, doch als die Menschen rannten und schrien, gerieten die Tiere in Panik und zerstreuten sich. Es war unmöglich für Husso, die ihm anvertrauten Schafe wieder zusammenzutreiben. Der arme Hund war verzweifelt, als er auf Maurizio traf. Maurizio streichelte den alten Husso, und in ihm keimte Hoffnung auf: Husso musste mit seinem Herrn in die Stadt gekommen sein, und damit wohl auch sein Vater und Bruno. Dino hätte seine Freunde nicht im Stich gelassen.
«Wo ist Dino? Wo ist Bruno? Such Dino, Husso!», rief Maurizio. Der Hund bellte kurz, um zu zeigen, dass er den Befehl verstanden hatte. Dann legte er sich auf den Boden und senkte seinen zotteligen Kopf auf die Vorderpfoten. In seinen Augen spiegelten sich Trauer und Sorge wider. Maurizio verstand die Sprache des Hundes, denn er hatte sich sein ganzes Leben lang Tiere gepflegt. Er stieg wieder auf sein Fahrrad und verließ das Chaos der Stadt. Husso folgte ihm eine Weile, doch dann hielt er inne, heulte zum Abschied und kehrte zurück. Bald schloss er sich der Horde anderer verlassener Hunde an, die am Stadtrand umherirrten, während die Lava das Tal unaufhaltsam eroberte.
In den engen Gassen der Stadt begannen einige Bewohner, Dinos entlaufene Schafe einzufangen, indem sie die Tiere am Rücken packten. Sie hoben ihre Beute auf Traktoren oder schoben sie zu den Kindern auf den Rücksitzen der Autos. Ein Schafbraten würde in den kommenden schweren Zeiten sicher willkommen sein.
Als sich der Vulkan endlich beruhigt hatte und der dichte Rauch sich verzogen hatte, wurde die Luft klarer. Aus einem tief fliegenden Kleinflugzeug konnte man den gesamten Südhang des Vulkans und die kleine Stadt am Fuße des Hanges sehen, die von erstarrter Lava und Asche bedeckt waren. Nur ein einziges Gebäude hatte am Hang überlebt. Die alten Olivenbäume, die das Haus umgaben, streckten ihre Äste noch immer in den Himmel. Unter der Ascheschicht auf den Blättern schimmerte zartes Grün hervor, während überall nur noch verkohlte Stümpfe aus der Lava ragten.
Das Flugzeug kreiste kurz über dem grauen Steinhaus, aber da weder Menschen noch Tiere zu sehen waren, setzte die Rettungsmannschaft ihre Reise fort.
Nachdem die Lava erkaltet war, kehrte Maurizio mit vielen anderen Evakuierten zurück, um das Ausmaß der Zerstörung zu begutachten. In der Stadt stand noch eine Steinkirche, die teilweise von Lava gefüllt war. Bei niedrigeren Gebäuden waren nur noch die Dächer und Mauern unter der Lava nur erahnen. Auch der Weg, der einst von der Stadt zu Maurizios Haus führte, war unter der erstarrten Lava verschwunden. Maurizio stellte sein Fahrrad ab und setzte seinen Weg zu Fuß über das holprige Lavafeld fort. Obwohl alle Orientierungspunkte – vertraute Bäume, Felsformationen, kleine Steinställe – verschwunden waren fand er dennoch den Weg nach Hause.
Plötzlich tauchte in der Ferne, mitten in all der Zerstörung und Asche, ein grüner Fleck auf: der Garten seines Heims mit den großen Olivenbäumen! Maurizio rannte los. Es war keine Illusion, kein Trugbild, das aus verzweifeltem Wunschdenken entstand – sein Zuhause stand noch!
Rings um das Grundstück hatte die Lava eine hohe Mauer aus Felsbrocken und Lavasteinen errichtet. Diese neue Barriere umschloss den Garten auf drei Seiten. Nur vom Tal aus konnte man das Haus erreichen, ohne über die riesigen Felsformationen klettern zu müssen. Maurizio zögerte, den vertrauten Garten zu betreten und von dort zum Haus zu gehen.
Auf den Blättern der Olivenbäume und dem Gras lag noch Asche, aber ansonsten schien alles unverändert. Und doch war alles anders. Eine unheimliche Stille lag über dem Ort. Die Ziegen meckerten nicht, die Hühner gackerten nicht, und Bruno, der treue Hund, stürzte sich nicht bellend auf den Eintretenden. Niemand saß auf der Mauerbank, und die knarrende Haustür blieb geschlossen. Alle waren fort – Mutter, Vater, Bruno, die Tiere.
Maurizio setzte sich auf die Bank, auf der er und sein Vater abends oft gesessen hatten, um ins Tal zu schauen und Wein zu trinken. Die Einsamkeit war überwältigend. Zum Glück hatte seine Mutter den Verlust ihres Mannes und ihres geliebten Hauses nicht mehr erleben müssen. In der Nacht des Vulkanausbruchs war sie ins Koma gefallen und kurz darauf gestorben. Maurizio stützte den Kopf in die Hände und ließ seinen Tränen freien Lauf. Plötzlich hörte er die Tür knarren. Als er den Kopf drehte, sah er das alte Arbeitskleid seiner Mutter. Aber sie war doch tot! Maurizio spürte, wie sich seine Haare aufstellten. Im nächsten Moment spürte er, wie sich Arme um ihn schlangen.
«Ich dachte, alle wären tot. Aber du lebst!» Jemand weinte an seiner Brust.
«Wer ... wer bist du?», stammelte Maurizio.
«Es tut mir leid, dass ich ohne Erlaubnis hier bin. Ich hatte keine andere Bleibe. Ich bin ... Olivia.»
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