Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Lavaprinz Tuomas wird durch seine besonderen übernatürlichen Fähigkeiten in immer neue Abenteuer verwickelt. Nach und nach beginnt er, die ihm vom Lava-Volk vererbten Kräfte umsichtig und stets zum Wohle der Menschen einzusetzen. Zurück im Dorf Arvola wird er Zeuge eines Raubüberfalls auf den örtlichen Lebensmittelladen und ist nicht unbeteiligt an einem Spektakel in der alten Windmühle. Die baufällige alte Holzkirche des Dorfes erlebte sogar wahre Geister- und Räubergeschichten. Tuomas begeistert sich für die Umweltaktivitäten des mutigen Mädchens Saga aus Schweden. Er unterstützt Saga mit seinen besonderen Fähigkeiten und schreckt dabei auch nicht vor einem mächtigen Staatspräsidenten zurück.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Was in dieser Geschichte nicht erfunden ist, könnte wahr sein – oder auch nicht. In der finnischen Region Savo, in der sich die Abenteuer des Lavaprinzen größtenteils abspielen, liegt die Interpretation im Ermessen der Leserinnen und Leser.
Diese deutsche Ausgabe basiert auf dem finnischen Original Laavaprinssi ja ihmeskivi. Die Übersetzung ins Deutsche entstand in enger Zusammenarbeit mit meinem Mann Fritz.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Firmen oder Institutionen sind rein zufällig. Besonders die Figur der Gutsfrau Irma Arkko ist frei erfunden und bildet einen Gegenpol zur gutherzigen Magd Alma. Tatsächlich waren die Gutsfrauen bewundernswerte, fleißige und gütige Frauen.
Arvola ist ein kleines, ländliches Dorf im Süden Finnlands. Auf den ersten Blick erscheint es ganz gewöhnlich – ebenso wie der Halbwaise Tuomas, der auf dem Gut Arkko lebt. Doch seine unheimliche Vergangenheit lässt ihn nicht los und hindert ihn daran, ein normaler Schuljunge zu sein.
Die Autorin widmet diese Geschichte ihrem Heimatdorf, dem sie eine erfolgreichere und unabhängigere Zukunft gewünscht hätte.
Leena Pulfer
Schliesslich sprach der Herscher der Lava-Ströme:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44
45
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
55.
56.
57.
58.
59.
60.
61.
Nachwort
Orte
Personen
Kurz erklärt
Über die Autorin
Wähle mit Bedacht, junger Prinz: Willst du zu den Menschen gehören, zu jener niederen Gattung, die ein kurzes, bedeutungsloses Leben auf Erden verbringt, durch ihre eigene Dummheit alles um sich herum zerstört und nach ihrem Tod zu Staub zerfällt? Oder du schließt dich deinem eigenen Lava-Volk an, das seit Anbeginn der Zeit ettistiert und durch nichts zerstört werden kann. Wir können auf der Erde und in ihren Tiefen leben. Wir können jede Form annehmen, die wir wollen. Wir haben unendliche Kräfte. Wähle mit Bedacht,
Auf dem Rückflug nach Finnland schlief Tuomas die meiste Zeit. Die Beruhigungsmittel, die er in der Nacht zuvor im Krankenhaus erhalten hatte, wirkten noch nach.
Als das Flugzeug am Nachmittag in Helsinki landete, war glücklicherweise keine Presse vor Ort. Die Ereignisse im fernen Sizilien interessierten Finnland und den Rest der Welt kaum. Schließlich war die Entführung nicht einmal geglückt. Wären alle Passagiere beim Absturz des Flugzeugs ums Leben gekommen, wäre das eine Nachricht wert gewesen.
Olli hatte als Angestellter der Fluggesellschaft einen reservierten Parkplatz im Parkhaus. Sie verließen den Flughafen und fuhren ins Landesinnere, in Richtung des Dorfes Arvola.
«Alma weiß nichts von unserer Ankunft. Sie hat uns nichts zu essen gemacht. Wir sollten unterwegs etwas essen», sagte der Vater und bog von der Autobahn ab, als er das Schild eines Restaurants sah. Der große Parkplatz lag halb leer in der Nachmittagssonne. Für das Maiwetter war es fast zu heiß. Sportlich stieg Papa aus dem Auto, verriegelte die Türen, nachdem Tuomas ausgestiegen war, und ging mit großen Schritten auf den Eingang des Restaurants zu. Tuomas musste rennen, um mit seinem Vater mithalten zu können.
Plötzlich überkam ihn das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er blieb stehen, hielt den Atem an und versuchte zu erspüren, woher dieses diffuse Signal kam. Es war ... Schmerz. Angst. Dunkelheit. Panik. Erstickungsgefahr. Tuomas sah sich auf dem halb leeren Parkplatz um.
Keine Menschen, kaum Autos. Doch ein Fahrzeug ganz am Ende des Parkplatzes fiel ihm auf – nicht, weil es besonders auffällig war, sondern wegen seines ausländischen Nummernschildes. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit, je näher er dem Auto kam. Er spähte durch die Fenster, doch der Wagen war leer. Dann hörte er etwas. Seine Ohren, scharf wie die einer Eule, nahmen ein ungewöhnliches Geräusch wahr: ein leises Quietschen. Ein Stöhnen. Ein Kratzen! Es kam aus dem verriegelten Kofferraum. Tuomas zog an der Heckklappe – sie war verschlossen.
«Der Lava-Opa hat doch gesagt, dass ich Riesenkräfte habe. Warum soll ich mich dann nicht trauen, sie hier einzusetzen?», fragte sich Tuomas.
Er dachte an Pippi Langstrumpf, das stärkste Mädchen der Welt. Natürlich war sie nur eine erfundene Figur. Aber wenn er Pippi wäre, könnte er das ganze Auto anheben! Gesagt, getan. Er griff nach der Kofferraumklappe – und mit einem Ruck flog sie nicht nur auf, sondern auch meterweit über den Parkplatz.
Ein widerlicher, beißender Gestank schlug ihm entgegen. Im Inneren des Wagens lag eine alte Decke über mehreren Taschen. Die Reißverschlüsse waren fast alle geschlossen – doch darunter regte sich etwas. Ein leises Rascheln. Tuomas öffnete die nächste Tasche – und erstarrte. Darin lagen winzige schwarz-weiße Welpen, kaum älter als ein paar Tage, die Augen noch geschlossen. Sie drängten sich aneinander, winselten leise und reckten ihre rosa Schnäuzchen in die frische Luft. Er öffnete weitere Säcke - überall das gleiche Bild. Plötzlich begriff er: Diese Welpen waren irgendwo im Ausland illegal gezüchtet und nach Finnland geschmuggelt worden, um sie teuer zu verkaufen. Zumindest diejenigen, die überlebten.
Mit klopfendem Herzen zückte Tuomas sein Handy, fotografierte die Taschen voller Welpen und das Nummernschild des Autos. Dann wählte er den Notruf. «Ich habe hier etwas gefunden ...» Er nannte den Namen und die Lage des Restaurants und schickte die Fotos an die Einsatzzentrale. Der Diensthabende versprach, sofort einen Streifenwagen der Autobahnpolizei zu schicken.
Dann sah Tuomas, wie sich die Tür des Restaurants öffnete. Drei dunkelhaarige Männer kamen heraus und schlenderten über den Parkplatz – direkt auf ihn zu. Zum Glück hatten sie noch ein paar Meter vor sich und bemerkten den Jungen, der hinter dem Auto kauerte, nicht. Tuomas hob die Taschen mit den Welpen aus dem Kofferraum, trug sie tiefer in den Schutz der dichten Hecke, die den Parkplatz säumte, und bedeckte sie hastig mit trockenem Laub. Dann legte er sich unter die Zweige und beobachtete die Männer.
Zuerst entdeckten sie die Kofferraumklappe, die weit über den Parkplatz geschleudert worden war. Sie zeigten darauf und lachten, als hätten sie noch nicht realisiert, dass es ihr eigenes Auto war. Doch als sie endlich bei ihrem Auto ankamen, verstummten sie schlagartig. Der leere Kofferraum sprach Bände. Flüche durchbrachen die Stille, scharf und fremd, in einer Sprache, die Tuomas nicht verstand. Dann – fast synchron – griffen alle drei in ihre Jackentaschen und zogen Pistolen. Sie wirbelten herum, auf der Suche nach einem unsichtbaren Feind. Doch als niemand zu sehen war, verschwanden die Waffen wieder in ihren Verstecken. Die Männer wechselten laute Worte, ihre Flüche klangen jetzt mehr nach hektischen Beratungen. Tuomas lag reglos unter dem Busch, hielt den Atem an und fotografierte eifrig mit seinem Handy. Plötzlich hielt einer der Männer inne. Sein Blick bohrte sich in den Busch. Hatte er etwas gehört? Ein Wimmern? Ein leises Rascheln? Oder hatten Tuomas' rote Haare ihn verraten?
Langsam zog der Mann wieder seine Waffe und ging auf das Gebüsch zu. Tuomas spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Was, wenn der Mann ihn mit dem Handy in der Hand entdeckte? Aber dann erinnerte er sich: «Ich war schon einmal unsichtbar – in Sizilien, als die Entführer mich holen wollten.» Also beschloss er: «Ich bin Luft.»
Nun stand der Schmuggler vor ihm. Vorsichtig hob er die zitternden Aste an – und starrte Tuomas ins Gesicht. Aber er sah ihn nicht. Tuomas war unsichtbar geworden.
Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, aber die Männer merkten nichts. Zum Glück waren die Welpen gut genug versteckt – er hätte sie in der Eile nicht auch noch unsichtbar machen können.
Tuomas wagte es, sich zu bewegen. Luft zu sein fühlte sich ... wie nichts an. Wie auch? Er war nur Luft.
Der Schmuggler brummte etwas und kehrte zu seinen Komplizen zurück. Einer von ihnen hob die Kofferraumklappe hoch und versuchte, sie wieder zu schließen, aber die Schlösser waren unter Tuomas' gewaltigem Kraftaufwand völlig verbogen. Schließlich gaben sie auf und legten die Heckklappe einfach in den Kofferraum. Anscheinend wollten sie verschwinden.
Tuomas ärgerte sich. «Sollten die wirklich einfach wegfahren?»
Dann – Sirenen. Blaulicht.
Ein Streifenwagen bog auf den Parkplatz ein.
Die Männer erstarrten.
Langsam fuhr das Polizeiauto an den parkenden Fahrzeugen vorbei, offensichtlich auf der Suche nach etwas. Direkt vor den Männern hielt es an. Drei Polizisten stiegen aus, ein vierter blieb am Steuer. Die Beamten näherten sich den Verdächtigen, eine Hand stets in Reichweite der Waffe.
Ein hitziges Wortgefecht begann. Die Männer gestikulierten wild und versuchten in gebrochenem Englisch zu erklären, dass Diebe in ihr Auto eingebrochen seien und ihre Sachen gestohlen hätten. Sie deuteten auf den demolierten Kofferraum.
Da hielt ihnen einer der Polizisten sein Handy mit einem Foto hin.
Das Bild zeigte die Taschen voller Hundewelpen – geschickt von Tuomas' Handy.
«Wo sind die Hunde jetzt?», fragte der Beamte mit scharfem Blick.
Die Schmuggler wurden blass. Sie flüsterten hektisch in ihrer Sprache. Als die Polizisten Handschellen zogen, flüchteten die Männer in alle Richtungen.
Aber die Polizei war vorbereitet.
Ein Warnschuss knallte durch die Luft.
Die Flüchtigen kamen nicht weit – die Polizisten überwältigten sie schnell und brachten sie zu ihrem Auto zurück. Doch als sie den Kofferraum erneut öffneten, staunten sie nicht schlecht.
Er war nicht mehr leer.
Stattdessen waren die Taschen wieder voll mit schmutzigen, winselnden Welpen, die ihre kleinen Schnauzen herausstreckten.
«Wo kommen die denn jetzt her?», murmelte einer der Beamten.
In diesem Moment trat Tuomas – nun wieder sichtbar - aus dem Schatten und ging auf die Polizisten zu.
«Hast du das gemeldet?»
«Ja, ich habe es zufällig bemerkt. Es ist schrecklich, wie die Tiere behandelt werden. Ich musste es melden.»
Die gefesselten Männer starrten Tuomas an, als könnten sie nicht glauben, was so ein Rotzlöffel mit der ganzen Sache zu tun hatte. Doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, tauchte Tuomas' Vater auf. Er hatte im Restaurant auf seinen Sohn gewartet.
«Was ist denn los? Hat mein Sohn etwas angestellt?»
«Im Gegenteil», antwortete einer der Polizisten. «Er hat uns geholfen, eine lange gesuchte Schmugglerbande dingfest zu machen. Den Männern wird illegaler Welpenhandel und Tierquälerei vorgeworfen.»
Tuomas' Vater schaute ihn fassungslos an. Tuomas zuckte mit den Schultern. «Kann passieren.»
Ein Polizist notierte die Adresse von Tuomas und seinem Vater und erklärte, dass die Berichte später zur Unterschrift an die zuständige Polizeistation geschickt würden.
Inzwischen war die Tierambulanz eingetroffen. Der Fahrer schüttelte entsetzt den Kopf, als er die verängstigten Welpen sah. Der Blick, den er den Schmugglern zuwarf, hätte sie töten können. Ohne ein weiteres Wort holte er Käfige aus dem Wagen und begann, die kleinen Hunde behutsam hineinzusetzen. Ihr schwarz-weißes, flauschiges Fell war voller Kot und Schmutz. Einige Welpen richteten sich wackelig auf, andere sanken erschöpft in sich zusammen, wieder andere rührten sich gar nicht mehr.
«Zwanzig ...», zählte der Tierpfleger leise. «Spaniel-Welpen. Die lassen sich in Finnland gut verkaufen ... aber ich fürchte, viele von ihnen werden das nicht überleben. Sie sind viel zu jung und in einem furchtbaren Zustand. Die armen Dinger.» Er warf den Schmugglern einen finsteren Blick zu. «Diese Leute sollten ...» Er verstummte, als sein Blick auf Tuomas fiel.
Nachdem die Tierrettung und die Polizei mit den Verbrechern abgezogen waren, blieb das verlassene Auto der Schmuggler zurück. Es sollte später abgeschleppt werden.
«Jetzt gehen wir essen – und feiern, dass du ein Held bist», sagte Tuomas' Vater und klopfte ihm auf die Schulter.
Doch in diesem Moment spürte Tuomas eine Bewegung im scheinbar leeren Kofferraum.
Die alte, braun gestreifte Decke, mit der die Welpensäcke zugedeckt gewesen waren, lag noch zusammengeknüllt in einer Ecke. Zögernd hob Tuomas den schmutzigen Rand an – und blickte in zwei glänzende, schwarze Knopfaugen. Ein kleiner Welpe.
Anders als die anderen. Nicht schwarz-weiß, sondern braun wie die Decke. Er musste in dem Durcheinander aus einem der Säcke gefallen sein und hatte sich instinktiv versteckt.
Vorsichtig hob Tuomas ihn hoch. Der Welpe zitterte, drückte sich schutzsuchend an ihn und vergrub seine feuchte Nase an Tuomas' Hals.
«Was machen wir jetzt mit ihm?», fragte sein Vater.
«Können wir ihn nicht behalten? Er wurde doch nicht gezählt ...»
«Aber er gehört uns nicht. Und wer soll sich um ihn kümmern? Er könnte krank sein, vielleicht überlebt er gar nicht.»
Doch der kleine Hund sah alles andere als sterbenskrank aus. Seine dunklen Augen funkelten neugierig, er wirkte kräftig und lebendig. Es war schwer zu sagen, welcher Rasse er angehörte – kein Spaniel, kein Mops, kein Dackel. Aber eines war klar: Er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte.
Der Welpe legte seinen Kopf auf Tuomas' Arm und sah ihn unverwandt an.
«Deine Oma kriegt einen Herzinfarkt, wenn du mit einem Hund nach Hause kommst.»
«Bitte, Papa! Ich kümmere mich um ihn. Und ich bin sicher, Alma hat nichts dagegen. Dann hätte ich endlich einen Freund – es ist so einsam auf dem Hof.»
Sein Vater schwieg eine Weile nachdenklich.
Dann seufzte er. «Also gut. Bring den Welpen zu unserem Auto. Ich kaufe ein paar Hamburger und Cola zum Mitnehmen. Wir essen unterwegs. Und an der Raststätte gibt es bestimmt Hundefutter. Der Kleine hat bestimmt auch Durst.»
Tuomas grinste.
Er hielt den Welpen fester und flüsterte: «Du kommst mit nach Hause.»
Oma Irma Arkko bekam zwar keinen Herzinfarkt, aber sie wurde wütend, als Tuomas den Welpen ins Haus trug.
«So ein Miststück ... bringt nur Dreck ins Haus und wird die ganze Zeit kläffen! Der kommt mir hier nicht rein. Schaff ihn in die Knechtkammer!»
«Ich behalte ihn in meinem Zimmer», erwiderte Tuomas trotzig. Der Gedanke, sich von dem Welpen zu trennen, war schlicht unmöglich.
Sein Vater seufzte und sagte mit entschlossenem Brustton: «Tuomas hat eine verdammt harte Reise hinter sich. Er braucht den Welpen jetzt. Man könnte fast sagen, es ist eine ärztliche Anordnung.» Dabei fixierte er seine Mutter mit festem Blick.
Oma Irma schnaubte. «Ihr Männer ... immer haltet ihr zusammen!»
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, stapfte in die Bibliothek und schlug die Tür krachend hinter sich zu. Die Geschichte von Tuomas' und Ollis Reise interessierte sie nicht im Geringsten – aber damit hatten sie auch nicht gerechnet.
«So ein Findelkind muss geimpft, entwurmt und gechippt werden», sagte der Vater. «Das weiß ich sogar über Hunde.»
Glücklicherweise hatte einer von Vaters alten Schulfreunden eine Tierarztpraxis in der Stadt und nahm die drei gleich am nächsten Morgen dran. Der Vater hatte sich extra noch einen Tag freigenommen.
Der Tierarzt betrachtete den Welpen neugierig. «Ich kenne eigentlich alle finnischen Hunderassen. Ich selbst habe einen Labrador. Aber dieser hier ...» Er runzelte die Stirn. «Ich werde nicht schlau daraus. Welche Rasse ist das?»
«Das wissen wir nicht. Wir haben ihn ... eher zufällig bekommen.»
«Er sieht reinrassig aus, aber mehr kann ich momentan nicht sagen. Ein Rüde ist es jedenfalls.»
«Wird er überleben?»
«Er macht einen starken Eindruck. Aber ich gebe euch spezielles Futter und Vitamine – quasi wie für ein Baby. Mit der richtigen Pflege wird er ein guter Freund für deinen Sohn.»
Am Nachmittag fuhr der Vater nach Helsinki – aber nicht, ohne vorher noch ein ernstes Wort mit Oma Irma zu wechseln. Der Welpe – der immer noch keinen Namen hatte – blieb im Gutshaus. Oma sagte nichts mehr, wenn sie ihn sah, sondern murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin.
In der ersten Nacht versuchte Tuomas, ihn in einem Wäschekorb schlafen zu lassen. Alma hatte ihn neben sein Bett gestellt und mit einer alten Decke ausgepolstert. In einer Ecke des Zimmers stand ein improvisierter Sandkasten, in den Tuomas den Neuankömmling immer wieder setzte, bis er endlich das erste Mal pinkelte.
Aber im Wäschekorb wollte er nicht bleiben. Er wimmerte, kratzte an den Seiten und versuchte herauszuklettern.
Nach vielen vergeblichen Versuchen seufzte Tuomas, hob den Welpen aus dem Korb und legte ihn neben sich aufs Bett.
Der Kleine schnupperte zufrieden an Tuomas' Achselhöhle, kuschelte sich eng an ihn – und schlief fast augenblicklich ein.
Tuomas spürte die Wärme des winzigen Körpers an seiner Seite, schloss die Augen – und kurz darauf schlief auch er ein.
Nach der Abreise seines Vaters blieb Tuomas den ganzen Tag zu Hause, obwohl er eigentlich schon längst wieder zur Schule hätte gehen sollen. Die Sommerferien hatten noch nicht begonnen.
Stattdessen versuchte er, den Welpen an sein neues Zuhause zu gewöhnen. «Hier ist dein Pinkelplatz, hier dein Fressnapf und hier dein Wassernapf», erklärte er geduldig. Doch der Kleine verstand nur eines: Er musste Tuomas auf Schritt und Tritt folgen.
Alma lehnte lachend in der Tür zur Küche und beobachtete die beiden. Es tat gut, Tuomas einmal glücklich zu sehen.
«Wie willst du das arme Ding nennen? Er kann doch nicht einfach nur >der Welpe< bleiben.»
«Wie wäre es mit Ressu? Armer Junge – weil er so ein ... armes Ding ist.»
Am nächsten Tag musste Ressu zum ersten Mal allein bleiben, als Tuomas zur Schule ging. Er winselte lange, setzte sich schließlich auf die Matte hinter der Tür und wartete.
Als Tuomas nach Hause kam, wedelte Ressu ihm freudig entgegen – doch die Freude währte nicht lange. Der Welpe hatte sich nicht an den Sandkasten gehalten, sondern stattdessen überall im Flur kleine Pfützen und wässrige Häufchen hinterlassen.
Tuomas seufzte. Schimpfen brachte nichts – Ressu verstand nicht einmal, dass er etwas falsch gemacht hatte. Aber es half nichts: Er hatte Alma versprochen, sich um seinen Hund zu kümmern. Also holte er einen Eimer Wasser und einen Lappen aus dem Putzschrank und machte sich an die Arbeit. Anfangs war es ziemlich eklig, aber nach einer Weile gewöhnte er sich daran.
In der Nacht wurde Tuomas plötzlich wach. Ressu lag neben ihm und versuchte zu knurren – allerdings klang es eher wie ein leises Gurgeln.
Tuomas blinzelte verschlafen und sah Jaska im Schaukelstuhl sitzen. Der Hausgeist wirkte missmutig.
«Tuomas hat einen neuen Freund. Jaska taugt wohl nichts mehr», brummte er.
«Ach, Quatsch, Jaska», sagte Tuomas und setzte sich auf. «Ressu wird unser beider Freund sein. Er kann dich sehen, auch wenn du kein Mensch bist. Und wenn ich in der Schule bin, könnt ihr euch gegenseitig Gesellschaft leisten. Dann muss ich mir keine Sorgen machen, wie es Ressu hier allein geht. Und später könnt ihr zusammen auf das Haus aufpassen. Räuber haben Angst vor Hunden - weil sie sie sehen und hören können. Du kannst zwar alle möglichen Tricks anwenden, aber für die meisten Menschen bleibst du unsichtbar. Oma und Alma sind schon alt, sie können nicht mehr auf alles aufpassen.»
Jaska grummelte noch einen Moment, ließ sich dann aber versöhnen. Eigentlich schien ihm die Vorstellung, Babysitter zu spielen, sogar ein bisschen zu gefallen.
Die letzten Wochen vor den Sommerferien waren für Tuomas anstrengend. Er musste all das nachholen, was seine Klasse während seiner Auslandsreise gelernt hatte. Weder Zeit noch Muße blieben ihm, um über die seltsamen Dinge nachzudenken, die er auf dieser Reise erlebt hatte. Zu Hause nahm Ressu seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Nicht einmal Albträume plagten ihn - solange der Welpe an seiner Seite war.
«Ich denke später darüber nach. Oder ich vergesse es einfach. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet.»
Eine Woche nach seiner Rückkehr fiel Tuomas ein, dass er seine Turnschuhe noch immer nicht ausgepackt hatte. Der Rucksack lag ungeöffnet im Schrank, genau dort, wo er ihn hingeworfen hatte. Als er ihn endlich durchsuchte, fand er nicht nur die verdreckten Sportschuhe, sondern auch seine schmutzige Reisekleidung.
Beim Frühstück bat er Alma, die Sachen zu waschen. Doch als er von der Schule nach Hause kam, empfing sie ihn mit verschränkten Armen und hochgezogenen Brauen.
«Was du alles in deinem Rucksack hast! Hätte ich deine Kleidung nicht gründlich untersucht, wäre ein Stein in der Waschmaschine gelandet. In einer Socke versteckt! Erst wollte ich ihn wegwerfen, aber dann dachte ich, vielleicht ist es ein Andenken.»
Ein Stein? Tuomas' Herz setzte für einen Moment aus. Plötzlich erinnerte er sich wieder: Der alte Mann mit dem Krempelhut, der selbst ernannte Lava-König, hatte ihm in jener Nacht im Krankenhaus tatsächlich einen Stein geschenkt. Und Tuomas hatte ihn in einer Socke versteckt. Fast hätte er es vergessen!
«... damit du deine Abstammung nicht vergisst... »
Alles war wirklich geschehen! Der Stein, den Alma nun auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, war der Beweis dafür.
Tuomas nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn genauer. Der faustgroße Brocken war von einer glatten, grünen Oberfläche überzogen, doch ein Riss offenbarte ein leuchtendes Rot. Rot wie geschmolzene Lava. Eine passendere Erinnerung an seine Verwandten im Vulkan konnte es nicht geben.
Neugierig öffnete er seinen Laptop und begann zu recherchieren. Ein roter Stein – was könnte es sein? Er scrollte durch Bilder: Jaspis ... Achat ... Karneol ... Doch nichts davon passte. Dann stieß er auf etwas Unerwartetes: Rubin. Ein extrem seltener, wertvoller Edelstein.
Je mehr er las, desto sicherer war er: Das Geschenk des alten Mannes war ein riesiger, ungeschliffener Rubin. So etwas konnte es doch gar nicht geben! Der größte Rubin, der jemals in Finnland gefunden wurde, war nur so groß wie ein Fingernagel – und trotzdem mehrere tausend Euro wert. Der teuerste Rubin der Welt, ein burmesischer Stein, wurde für 27 Millionen Euro versteigert.
Und Alma hätte Tuomas' Rubin beinahe weggeschmissen!
Er las weiter: «Der Preis eines Rubins hängt von Farbe, Reinheit, Schliff, Karatgewicht ...» Kompliziert.
Aber es spielte sowieso keine Rolle. Er konnte den Stein nicht einfach begutachten lassen. Wie sollte er erklären, woher er ihn hatte? Auch seinem Vater konnte er nichts erzählen – der wusste nichts über das Lava-Volk.
Tuomas drehte den Stein nachdenklich zwischen den Fingern, wickelte ihn schließlich in einige Papiertaschentücher und wollte ihn in die unterste Schublade seines Schreibtisches legen.
Da ertönte eine raue Stimme in seinem Kopf.
«Non dimenticare il tuo popolo eterno. Ti aspettiamo.»
Vergiss dein ewiges Volk nicht. Wir warten auf dich.
Der Lava-König. Ressu hörte es ebenfalls. Der Welpe sprang auf, knurrte – oder versuchte es zumindest. Es klang mehr wie ein gurgelndes Fiepen.
Tuomas schloss die Augen. Erinnerungen an seine Begegnung mit dem alten Lava-Mann im Krankenhaus durchströmten ihn. Der Mann hatte gesagt, dass Tuomas als Mensch leben dürfe – wenn er den Rubin dazu nutzte, die von den Lava-Menschen gestohlene Elementarkraft zurückzubringen.
Diese Kraft war über Generationen von den Abtrünnigen des Lava-Volkes an ihre Nachkommen weitergegeben worden.
Es war eine unmögliche Aufgabe.
Ein Schuljunge, fast am Nordpol, in einem kleinen Dorf, in dem es vermutlich nur einen einzigen rothaarigen Erben des Lava-Volkes gab – ihn selbst.
Und selbst wenn er zufällig einen seiner Artgenossen traf ... wie sollte er ihm die verirrte Wunderkraft entreißen?
Hatte der Lava-König seine Gedanken gelesen? Wieder erklang die heisere Stimme:
«Im Laufe der Jahrmilliarden haben wir gesehen, wie das Leben auf der Erde immer wieder geboren wurde und starb. Nur die anpassungsfähigen Arten haben überlebt. Der Mensch aber zwingt die Natur, nach seinem Willen zu existieren. Das wird nicht funktionieren. Sein Untergang ist unausweichlich. Habe also kein Mitleid. Zögere nicht.»
Es war keine normale Stimme. Die Worte flossen direkt in Tuomas' Kopf, so wie es auch mit Jaska geschah – ein Strom aus Bildern, Empfindungen, Gedanken, die sich zu einer Botschaft formten.
«Sterben die Menschen, wenn sie ihre besondere Kraft verlieren? Was passiert mit mir, wenn ich versage?»
«Diese Menschen werden gewöhnlich. Das ist Strafe genug. Und du wirst nicht versagen. Du hast Zeit.»
Tuomas wurde kalt. Zum ersten Mal begriff er wirklich, was es bedeutete, einer von ihnen zu sein – einer der ewigen Lava-Leute. Für sie hatte die Menschheit keinen Wert. Sie existierten außerhalb der Zeit, beobachteten, wie Zivilisationen aufstiegen und fielen, ohne sich einzumischen.
Aber Tuomas war nicht wie sie.
Er liebte seinen Vater. Alma. Sogar seine Großmutter. Und natürlich Ressu. Ihm war es nicht egal, was mit ihnen - oder dem Rest der Welt – geschah.
Aber was konnte ein einfacher Schuljunge tun, um die Menschheit zu retten?
Diese Nacht wälzte er sich so unruhig in seinem Bett, dass selbst Ressu nicht schlafen konnte. Der Welpe gab ein missmutiges Knurren von sich, sprang schließlich genervt aus dem Bett und verkroch sich in seinem Korb.
Die Sommerferien hatten begonnen. Tuomas konnte morgens so lange schlafen, wie er wollte – oder wie Ressu es für nötig hielt. Doch trotz der freien Tage fühlte sich Tuomas einsam, weil er seine Schulfreunde nicht mehr sah. Kein Wunderstein und keine seiner besonderen Kräfte konnten daran etwas ändern. Was nützte es, die Gedanken anderer Menschen lesen zu können, wenn niemand da war – außer Alma, deren Gedanken man auch ohne übernatürliche Gabe erraten konnte? Oder wenn man wie ein Vogel flattern konnte, während alle Freunde am Boden liefen?
War im Volk der Lava-Menschen jeder mit jedem befreundet, sodass dort niemand allein war? Oder gab es dort auch so etwas wie Einsamkeit? So viele Fragen hätte er Nonna stellen können, die schließlich eine Zeit lang unter den Lava-Menschen gelebt hatte. Doch nun war es zu spät.
Im Laufe des Juni verdüsterte sich Tuomas' Stimmung immer mehr. Die alten Apfelbäume vor seinem Fenster verwandelten sich in ein duftendes Blütenmeer, auf der anderen Seite der Bucht riefen zwei Kuckucke um die Wette, während Schwalben zwitschernd über das Stallgebäude flatterten und Mücken jagten. Doch Tuomas nahm die Schönheit des Sommers kaum wahr. Er hatte nicht einmal Lust, mit Ressu spazieren zu gehen.
Jaska, der in seinem schwarzen Lederanzug saß, wieder einmal an seinem Nasenring zupfte und sich im Schaukelstuhl räkelte, versuchte, ihm Gesellschaft zu leisten. Doch auch das half nicht.
«Du musst verstehen, Jaska, dass du kein richtiger Kumpel bist», erklärte Tuomas ihm. «Mit dir kann man nicht Fußball spielen oder angeln gehen. Du darfst ja nicht einmal den Hof verlassen.»
Warum Jaskas Bewegungsradius so eingeschränkt war, wusste nicht einmal er selbst. Es war einfach immer so gewesen: Jeder Elf musste sein Revier bewachen und durfte es nicht verlassen – genauso wie es früher bei den Sauna-Elfen, Kuhstall-Elfen und Räucherscheunen-Elfen gewesen war.
Selbst Alma, sonst immer voller Ideen, war ratlos. Auch Tuomas' Vater konnte nicht helfen, denn während der besten Reisezeit hatte er kaum Zeit für seinen Sohn. Wenn Alma Tuomas zum Essen rief – sie aßen oft allein in der Küche, wenn Vater Olli nicht zu Besuch war -, fand sie ihn häufig im Bett liegend, das Kissen seiner verstorbenen Mutter fest an die Brust gedrückt. Ihr Foto stand immer in Sichtweite auf dem Nachttisch.
Alma versuchte, mit Großmutter Irma über Tuomas' schwierige Situation zu sprechen. Schließlich war sie nach seinem Vater die einzige nahe Verwandte und eigentlich verpflichtet, sich um ihren Enkel zu kümmern. Doch Irma reagierte schroff:
«Ich habe den Jungen nicht hierhergebeten und werde ihn auch nicht verhätscheln. Außerdem sollen sich die Dienstboten nicht in Familienangelegenheiten einmischen.»
Zum Glück stand das fröhliche Mittsommerfest Juhannus bevor, bei dem das ganze Dorf zusammenkam.
Der Sommer hatte ungewöhnlich warm und trocken begonnen. Seit April war kein Tropfen Regen gefallen. Doch nun, da das Mittsommerfest vor der Tür stand, wuchsen die Sorgen der Organisatoren: Ohne kräftigen, langanhaltenden Regen würden die Behörden das traditionelle Feuer wegen Waldbrandgefahr im ganzen Land verbieten. Und ein Johannisfest ohne Feuer war wie Weihnachten ohne Weihnachtsmann.
Besorgt beobachteten die Dorfbewohner jeden Morgen und Abend den klaren Himmel, verfolgten die Wetterströmungen über Europa, fragten Wetterpropheten – und sogar Ameisen – um Rat. Zwei Tage vor dem Fest kam die endgültige Nachricht: Alle Feierlichkeiten in Arvola und im restlichen Land wurden abgesagt.
Obwohl es am Morgen zuvor grau gewesen war und sogar leicht genieselt hatte, änderte das nichts mehr an der Entscheidung.
Tuomas war enttäuscht. Er hatte sich darauf gefreut, seine Schulfreunde beim Fest zu treffen – doch nun fiel alles ins Wasser. Aber Alma hatte eine Idee:
«Wir kaufen Würstchen und machen unser eigenes Fest in der Laavu. Draußen Feuer zu machen ist zwar verboten, aber in der Laavu – dem Holzunterstand – ist es sicher. Und da sie zur Familie Arkko gehört, können wir dort tun, was wir wollen.»
«Darf ich meine Klassenkameraden einladen? Für sie fällt das Mittsommerfeuer ja auch aus.»
«Natürlich! Ruf sie an und frag, wer kommen kann. Dann wissen wir, wie viele Würstchen und Getränke wir brauchen.»
Seit Tuomas auf den Gutshof Arkko gezogen war, hatte sein Vater Olli ein Bankkonto eingerichtet, das nur Alma nutzen durfte. Seitdem musste sich die alte Haushälterin keine Sorgen mehr machen, ob das knappe Haushaltsgeld der Familie für den Einkauf reichte.
Tuomas rief zuerst Mirko an. Die beiden waren im Laufe des Winters gute Freunde geworden, weil Tuomas ihm bei den Englisch-Hausaufgaben geholfen hatte. Mirko freute sich über die Einladung und versprach, auch andere Freunde zu fragen – besonders diejenigen, deren Eltern kein eigenes Sommerhaus besaßen.
«Sollen wir auch Mädchen einladen?», fragte Mirko dann und beantwortete seine Frage gleich selbst: «Ich glaube, das wäre nichts für sie. In der Laavu gibt es Ruß, Rauch und Mücken.» So beschlossen sie, nur Jungs einzuladen.
Als sie am Nachmittag im Dorfladen einkauften, war es dort voller Menschen. In der seenreichen Region gab es Hunderte von Ferienhäusern, und besonders zu Mittsommer luden sich viele hüttenlose Verwandte und Bekannte selbst ein.
Die beiden Kassen liefen ununterbrochen. Tuomas und Alma standen bereits in der Schlange, die bis an die Rückwand des Ladens reichte. Alma, froh darüber, dass Tuomas' Kumpels kommen würden, hatte den Einkaufswagen mit Würstchen, Limonade und Knabberzeug gefüllt.
«Es kommen nur fünf Jungs. Von den Würstchen werden wir den ganzen Sommer leben», meinte Tuomas skeptisch.
«Der Sommer hat doch gerade erst begonnen. Bis zum Herbst ist alles aufgegessen», lachte Alma.
Als sie an der Kasse standen, bemerkte Tuomas drei Männer in Kapuzenjacken. Mitten im Sommer wunderten ihn ihre dicken Klamotten.
Einer der Männer deutete auf eine bestimmte Zigarettenmarke hinter der Kasse. Die Kassiererin, Frau Kemppainen, drehte sich um, um die Schachtel zu holen – doch als sie sich wieder umwandte, gefror ihr das Lächeln im Gesicht. Die Männer hatten Waffen aus ihren Jacken gezogen und richteten sie auf die Kassiererin und die Kunden.
Die Menschen schrien auf und rannten hinter die Regale. Alma versuchte, Tuomas mit sich zu ziehen, doch er blieb wie erstarrt stehen. Alma stolperte und kroch hinter die Kassentheke. Die Kassierer hoben erschrocken die Hände.
«Wie in einem Krimi», dachte Tuomas.
Die Männer schienen ihn nicht zu beachten. Der Anführer richtete die Waffe auf Frau Kemppainen und rief: «Gib mir das Geld – oder du stirbst. Und der Junge auch!»
Jetzt zeigte die Pistole direkt auf Tuomas.
Doch er blieb ruhig. Er hatte einen Plan.
Ladendiebe. Sie stehlen wie Ratten. Und Ratten gehören in eine Falle.
Nachdem die Männer das gesamte Bargeld in Plastiktüten gestopft hatten, zwangen sie die Kassierer, weitere Tüten mit Zigarettenschachteln zu füllen. Dann rannten sie mit gezückten Waffen zum Ausgang.
Die automatische Ladentür öffnete sich normalerweise, sobald jemand davorstand – doch diesmal blieb sie verschlossen. Die Räuber stampften auf den Boden, fuchtelten mit den Armen, doch nichts geschah. Vergeblich hämmerten sie auf den Türrahmen ein. Als die Männer merkten, dass ihnen der Weg versperrt war, machten sie kehrt und wollten durch den Laden und den Hinterhof fliehen. Doch nun war auch die Innentür zum Flur verschlossen.
Mit geballten Fäusten schlugen die Männer gegen das Panzerglas. Ihre eigenen Spiegelbilder starrten ihnen entgegen – und dazwischen das Gesicht dieses verdammten rothaarigen Jungen. Fluchend wollten sie das Glas einschlagen, doch plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Die Männer hielten inne und starrten auf den Boden. Mit einem Ruck hoben sie die Füße, als wollten sie prüfen, ob der Boden unter ihnen noch fest war.
Das Wasser stieg. Zuerst bis zu den Knöcheln. Dann zu den Knien. Dann zur Hüfte. Zumindest in ihren Augen.
Panik breitete sich aus. In einer Ecke des Flurs lagen schwere Säcke mit Gartenerde. Die Räuber hasteten hin, stapelten die Säcke übereinander und versuchten darauf zu balancieren. Doch das Wasser stieg weiter. Verzweifelt warfen sie die Säcke weg und kletterten übereinander, als könnten sie sich gegenseitig vor dem drohenden Ertrinken retten.
Ratten verlassen das sinkende Schiff, dachte Tuomas. Aber diesmal gibt es kein Entkommen.
Draußen heulte eine Polizeisirene. Sekunden später stürmten bewaffnete Polizisten zur Eingangstür. Die Räuber prügelten sich immer noch panisch um die höchsten Plätze auf ihrem eingebildeten Fluchtberg. In diesem Moment öffnete sich plötzlich die Außentür. Die Männer stolperten heraus – direkt in die Arme der Polizisten.
Es war ein Leichtes, sie festzunehmen. Und natürlich war keiner von ihnen auch nur ein bisschen nass.
Trotz ihrer Verhaftung wirkten die Räuber erleichtert, als wären sie dem sicheren Tod entronnen. Niemand konnte sich erklären, warum sie sich derart seltsam verhalten hatten. Die Polizei vermutete Drogen. Nur Tuomas wusste es besser. Er hatte sie hypnotisiert.
Als sich auch die Innentüren wieder öffneten, sammelte Tuomas die zurückgelassenen Tüten ein und brachte sie dem Filialleiter. Dann ging er zu Alma, die immer noch auf dem Boden kauerte. Nach und nach kamen auch die anderen Kunden wieder hinter den Regalen hervor.
«Danke, Emmi, dass du die Türen geschlossen hast», lobte Filialleiter Seppänen seine Angestellte.
«Das war nicht ich. Ich dachte, du wärst es gewesen», entgegnete sie verwirrt.
Tuomas zog Alma am Ärmel. «Beeil dich und bezahle unsere Einkäufe. Lass uns nach Hause gehen. Hier ist es zu gefährlich.»
Auf dem Heimweg schimpfte Alma mit ihm. «Tuomas, du kannst doch nicht einfach ...» Sie brach ab, schüttelte den Kopf und seufzte. «Armer Junge. Natürlich stehst du unter Schock ...»
Am Nachmittag gingen Tuomas und Alma zur Laavu, um alles für das Fest vorzubereiten. Sie holten trockene Holzscheite aus dem Lager am Waldrand und legten sie in die Feuerstelle. Gegen Abend brachte Alma mit ihrem Auto die restlichen Vorräte – Würstchen, Getränke, Leckereien – sowie Tuomas und Ressu zum Festplatz.
Als Mirko, Matias, Väinö, Onni und Elmeri gegen 18 Uhr mit ihren Fahrrädern ankamen und die vorbereiteten Köstlichkeiten sahen, konnten sie es kaum erwarten.
«Warum zünden wir das Feuer nicht gleich an und grillen? Es ist ja kein offizielles Johannisfeuer, auf das man bis spät in die Nacht warten muss», schlug Mirko vor, der hungrigste der Gruppe. Die anderen stimmten zu. Doch als sie das Feuer entzünden wollten, fiel ihnen auf, dass niemand Streichhölzer oder ein Feuerzeug dabeihatte.
«Hey, die Indianer reiben Holz so lange, bis es heiß wird und anfängt zu brennen», erinnerte sich Mirko. «Wer ist der Schnellste?»
Die Jungs sprangen auf und suchten nach geeignetem Holz. Tuomas ärgerte sich. Zum ersten Mal hatte er seine Freunde eingeladen – und dann so etwas Wichtiges vergessen! Doch ... war er nicht selbst fast aus Feuer? Er nahm ein Stück Birkenrinde in die Hand, konzentrierte sich – und nach wenigen Augenblicken stieg Rauch auf. Tuomas schob die brennende Rinde unter das Holz, das bald loderte. Die anderen sahen den Rauch aufsteigen und rannten zurück zur Feuerstelle.
«Ich habe doch noch ein paar Streichhölzer gefunden», erklärte Tuomas.
Der Mittsommerabend verlief nun wie geplant. Das Feuer wärmte, die Würstchen brutzelten auf dem Rost, und der Duft lag verführerisch in der Luft. Auch die anderen Leckereien, die Alma vorbereitet hatte, schmeckten köstlich. Die lockere Atmosphäre und das gedämpfte Licht brachten die Jungs dazu, über Dinge zu sprechen, die sie auf dem Schulhof nie preisgegeben hätten.
Da war Mirko, der rastlose Draufgänger, der nach dem tragischen Unfall seines Vaters als einziger Mann in seiner Familie geblieben war. Mit sichtbarem Stolz erzählte er, wie er seiner kleinen Schwester Pinja jeden Abend Gutenachtgeschichten vorlas, wenn ihre Mutter Nachtschicht hatte. Väinö, der etwas pummelige Burger-Liebhaber, musste oft auf seine jüngeren Brüder aufpassen, weil beide Eltern im Familienrestaurant arbeiteten. Sein älterer Bruder verbrachte die Abende lieber mit Freunden. Matias, der Nachdenkliche, lebte allein mit seinem Vater, seit seine Mutter einen neuen Mann gefunden hatte.
Tuomas hielt sich mit seiner Geschichte zurück. Er wollte keinen Neid wecken, denn mittlerweile hatten die Jungs ihn als einen der ihren akzeptiert. «Meine Mutter starb bei einem Autounfall. Mein Vater konnte mich nicht allein in Helsinki lassen, also lebe ich jetzt bei meiner Oma», sagte er schließlich.
Als alle satt waren – selbst Ressu bettelte nicht mehr um Würstchen, sondern döste unter der Bank -, gingen sie auf den Vorplatz, um Fußball zu spielen. Zwei gegen zwei - kleine Mannschaften, aber der Spaß war groß. Der Abend war ein voller Erfolg.
Doch dann tauchte plötzlich ein verrosteter weißer Lieferwagen auf und brummte den Weg zur Laavu hinunter. Tuomas' Magen zog sich zusammen. Wollten sie das Feuer verbieten? Oder schlimmer noch – Arger machen?
Aus dem Wagen stiegen zwei fremde Männer mittleren Alters. Als sie sahen, dass nur ein paar Schuljungen anwesend waren, entspannten sie sich und grinsten. Einer von ihnen kickte lässig den Ball, als wolle er seine Sportlichkeit demonstrieren. Ohne ein Wort gingen sie zur Laavu. Dort lagen noch Kuchenreste und ein paar rohe Würstchen. Einer der Männer zückte ein Taschenmesser, schnitt sich ein Stück Wurst ab und schob es in den Mund. Sein Kumpel forderte lautstark seinen Anteil und griff nach weiteren Speisen.
Die Jungen folgten ihnen.
«Hey, das ist unser Essen!», rief Tuomas.
«Das war einmal. Jetzt gehört es uns», lachte einer der Männer. «Wo ist das Bier?»
«Wir trinken kein Bier. Dafür sind wir zu jung.»
«Niemand ist zu jung für Bier! Aber keine Sorge – wir haben was Besseres.»
Der Mann zog eine Schnapsflasche aus seiner Jacke, nahm einen großen Schluck und reichte sie seinem Kameraden. «Ich lasse euch auch einen Schluck übrig, als Dank für das Essen. Kein Grund, so neidisch zu sein.»
An ihrem lallenden Reden war klar: Sie hatten schon reichlich Alkohol getrunken.