Der Lava-Prinz und der Wunderstein - Leena Pulfer - E-Book

Der Lava-Prinz und der Wunderstein E-Book

Leena Pulfer

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Beschreibung

Tuomas wird durch seine besonderen übernatürlichen Fähigkeiten in immer neue Abenteuer verwickelt. Nach und nach beginnt er, die ihm vom Lavavolk vererbten Kräfte umsichtig und stets zum Wohle der Menschen einzusetzen. Gleich nach seiner Rückkehr rettet er Hundewelpen aus den Fängen illegaler Hundehändler. Zurück im Dorf Arvola wird er Zeuge eines Raubüberfalls auf den örtlichen Lebensmittelladen und ist nicht unbeteiligt an einem Spektakel in der alten Windmühle. Die baufällige alte Holzkirche des Dorfes erlebte sogar wahre Geister- und Räubergeschichten - mittendrin natürlich Tuomas und seine Kräfte, die er schließlich für den Erhalt der alten Kirche einsetzte. Als Nachfahre der Lavamenschen hat Tuomas ein besonderes Verhältnis zum Feuer und wird sogar Mitglied der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr. Tuomas wird aber auch mit den Problemen von Migranten konfrontiert und begeistert sich schließlich für die Umweltschutzaktivitäten eines mutigen schwedischen Mädchens. Auch auf dem Gutshof in Arvola gibt es große Veränderungen. Vater Olli heiratet seine Jugendliebe und Tuomas bekommt eine Halbschwester. Und immer wieder geht Tuomas durch den Kopf, was ihm der Lavakönig gesagt hat: «Triff die richtige Wahl, junger Prinz...».

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Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Meiner Familie und meinem Heimatdorf gewidmet

Was in dieser Geschichte nicht erfunden ist, kann wahr sein. Vielleicht ist es aber auch nicht so. In der finnischen Region Savo, in der sich die Abenteuer des Lava-Prinzen grösstenteils abspielen, liegt die Verantwortung für die Interpretation bei den Zuhörern und Lesern.

Diese deutsche Ausgabe lehnt sich an das finnische Original «Laavaprinssi ja ihmeskivi» an. Die deutsche Übersetaung entstand in Gemeinschaftsarbeit mit meinem Mann Fritz

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Unternehmen oder Institutionen sind rein zufällig. Insbesondere die Figur der Gutsfrau, Irma Arkko, ist frei erfunden, als Gegenstück zur gutherzigen Gehilfin Alma. In Wirklichkeit waren Gutsfrauen bewundernswerte fleissige, gütige Frauen.

Arvola ist eine ländliche Ortschaft in Südfinnland. Das Dorf ist eigentlich ganz gewöhnlich, und der Halbwaise Tuomas im Gutshaus Arkko wäre gerne ein ganz gewöhnlicher Schuljunge, wenn nur seine unheimliche Herkunft ihn nicht immer wieder einholen würde.

Die Autorin widmet ihre Geschichte ihrem Heimatdorf, dem sie eine erfolgreichere und selbständigere Zukunft gewünscht hätte.

Leena Pulfer

Inhaltsverzeichnis

1.

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3.

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5.

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7.

8.

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10.

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57.

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59.

60.

61.

Nachwort

Orte

Personen

Kurz erklärt

Über die Autorin

Schliesslich sprach der Herscher der Lava-Ströme:

Wähle mit Bedacht, junger Prinz: Willst du zu den Menschen gehören, zu jener niederen Spezies, die ein kurzes, unbedeutendes Leben auf Erden verbringt, durch ihre eigene Dummheit alles um sich herum zerstört und zu Staub zerfällt, wenn sie stirbt? Oder du schließt dich deinem eigenen Lava-Volk an, das seit Anbeginn der Zeit existiert und durch nichts zerstört werden kann. Wir können auf der Erde und in ihren Tiefen leben. Wir können jede Form annehmen, die wir wollen. Wir haben unendliche Kräfte. Wähle mit Bedacht.

1.

Auf der Rückreise nach Finnland schlief Tuomas die meiste Zeit. Er hatte in der Nacht zuvor im Krankenhaus so viele Beruhigungsmittel bekommen, dass sie noch wirkten.

Als das Flugzeug am Nachmittag in Helsinki landete, war glücklicherweise keine Presse anwesend. Die Ereignisse im fernen Sizilien waren für Finnland und den Rest der Welt von geringem Interesse. Schließlich war die Entführung nicht einmal gelungen. Wären alle Passagiere beim Absturz des Flugzeugs ums Leben gekommen, wäre das eine Nachricht wert gewesen.

Olli hatte als Angestellter der Fluggesellschaft einen reservierten Parkplatz im Parkhaus. Sie verließen den Flughafen und fuhren ins Landesinnere in Richtung des Dorfes Arvola.

«Alma weiß nichts von unserer Ankunft. Sie hat kein Essen für uns vorbereitet. Wir sollten unterwegs etwas essen», sagte der Vater und lenkte den Wagen von der Autobahn ab, als er das Schild eines Restaurants sah. Der große Parkplatz lag halb leer in der Nachmittagssonne. Es war fast zu heiß für das Maiwetter. Sportlich stieg Papa aus dem Auto, verriegelte die Türen, nachdem Tuomas ausgestiegen war, und machte sich auf seinen langen Beinen auf den Weg zum Eingang des Restaurants. Tuomas musste rennen, um mit seinem Vater Schritt zu halten.

Plötelich hatte er das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er blieb stehen, hielt den Atem an und versuchte zu spüren, woher dieses seltsame Signal kam. Es war ...

Schmerz, Angst, Dunkelheit, Angst zu ersticken. Tuomas blickte sich auf dem halb leeren Parkplatz um. Keine Menschen, keine Autos. Aber ein Auto, das ganz am Ende des Parkplatzes stand, fiel ihm auf, obwohl es außer den ausländischen Nummernschildern nichts Besonderes an sich hatte. Je näher er dem Wagen kam, desto unruhiger wurde er. Er spähte durch die Fenster, aber der Wagen war leer. Aber hörten seine Ohren, scharf wie die einer Eule, ein ungewöhnliches Geräusch? Ein leises Quietschen, ein Stöhnen, ein Kratzen! Es kam aus dem verschlossenen Kofferraum. Tuomas versuchte, die Heckklappe zu öffnen, aber sie war verschlossen.

«Der Lava-Opa hat doch gesagt, dass ich Riesenkräfte habe. Warum sollte ich mich dann nicht trauen, sie hier einzusetzen?», fragte sich Tuomas.

«Pippi Langstrumpf war das stärkste Mädchen der Welt, obwohl sie natürlich nur erfunden war. Aber wenn ich Pippi wäre, könnte ich das ganze Auto in die Luft heben!»

Gesagt, getan: Als Tuomas an der Kofferraumklappe zog, flog sie auf. Und nicht nur auf, sie flog weit über den Parkplate hinaus.

Ein heißer, ekelerregender Gestank drang aus dem Inneren des Wagens. Eine alte Decke lag über einem halben Dutzend Taschen, deren Reißverschlüsse fast geschlossen waren. Schwache Bewegungen in den Taschen, ein leises Rascheln. Tuomas öffnete die nächste Tasche und war entsetzt. Sie war voll mit schwarz-weißen Welpen, deren Augen kaum geöffnet waren! Die Welpen drängten sich aneinander und streckten ihre rosa Schnauzen in die frische Luft. Der gleiche schockierende Inhalt fand sich auch in den anderen Tüten, die Tuomas öffnete. Er begriff: Die Welpen waren irgendwo im Ausland illegal gezüchtet und nach Finnland geschmuggelt worden, wo sie teuer verkauft werden sollten ‒ zumindest diejenigen, die überlebten. Tuomas zückte sein Handy und fotografierte die Taschen mit den Welpen und das Nummernschild des Autos. Dann wählte er die Notrufnummer. Er gab den Namen und die Lage des Restaurants an und schickte die Fotos, die er gemacht hatte, an die Nummer. Der Diensthabende in der Notrufzentrale versprach, einen Streifenwagen der Autobahnpolizei zu schicken.

Dann sah Tuomas, wie sich die Tür des Restaurants öffnete. Drei dunkelhaarige Männer kamen heraus und gingen gemächlich über den Platz in Tuomas’ Richtung. Zum Glück hatten sie noch einen weiten Weg vor sich und bemerkten den Jungen, der hinter dem Auto kauerte, nicht. Tuomas hob die Taschen mit den Welpen aus dem Kofferraum, trug sie weiter in den Schutz der dichten Hecke, die den Parkplatz säumte, und warf eine Schicht trockenes Laub darüber. Dann legte er sich unter die Zweige und beobachtete die Männer.

Zuerst entdeckten die Männer die Kofferraumklappe, die auf den Parkplatz geflogen war. Sie zeigten darauf und lachten amüsiert, da sie diese noch nicht als ihr Eigentum erkannten. Erst als sie zu ihrem Auto kamen, verstummten sie wegen des leeren Kofferraums. Dann begannen die Männer laut zu fluchen, in einer Sprache, die Tuomas nicht verstand. Alle vier zogen Pistolen aus ihren Jackentaschen und wirbelten damit ziellos herum. Doch als niemand in Sicht war, verschwanden die Waffen wieder in ihren Verstecken. Die Flüche wurden lauter und schienen schließlich in eine Beratung über das weitere Vorgehen überzugehen. Tuomas lag unter einem Busch, hielt den Atem an und fotografierte eifrig mit seinem Handy.

Plötzlich richtete einer der Männer seinen Blick auf den Busch. Hatte er etwas gehört? Hatten die Welpen gewinselt? Oder hatten sich die roten Haare von Tuomas von den braunen Blättern abgehoben? Wieder zog der Mann seine Waffe und ging auf das Gebüsch zu, das Tuomas schützte. Was würde passieren, wenn er ihn mit dem Handy filmen sehen würde? Aber der Mann brauchte ihn nicht zu sehen! Schließlich war Tuomas schon einmal im Hotelbett auf Sizilien aus Angst unsichtbar geworden, als die Entführer ihn holen wollten. Also entschied er: Ich bin nur Luft!

Der Hundeschmuggler stand schon an der Hecke. Er hob die schützenden Zweige an und starrte ihm dann missmutig ins Gesicht ‒ ohne ihn zu bemerken! Tuomas war tatsächlich unsichtbar geworden. Zum Glück waren die Taschen mit den Welpen weit genug versteckt. Tuomas hätte sie in der Eile nicht unsichtbar machen können.

Tuomas tastete sich vor: Luft zu sein, fühlte sich nach nichts an. Wie auch? Es war einfach Luft.

Der Schmuggler brummte etwas und ging zu den anderen zurück. Einer von ihnen nahm die Kofferraumklappe und versuchte, sie wieder anzubringen, aber die Schlösser waren durch Tuomas’ Kraftanstrengung so verbogen, dass der Versuch scheiterte. Die Heckklappe wurde in den Kofferraum gelegt. Die Männer wollten offenbar wegfahren. Tuomas ärgerte sich, dass die Männer entkommen würden. Da fuhr ein Polizeiauto mit Blaulicht auf den Parkplatz. Die Männer erstarrten neben dem Auto. Das Polizeiauto fuhr langsam an den geparkten Autos vorbei, offensichtlich auf der Suche nach etwas. Bei den Männern angekommen, hielt der Wagen an. Drei Polizisten stiegen aus, der vierte blieb hinter dem Steuer und wartete. Die Polizisten näherten sich den Männern, eine Hand an der Seite, um gegebenenfalls die Waffe zu ziehen.

Es kam zu einem heftigen Wortwechsel zwischen den Männern und den Polizisten. Die Männer schienen in schlechtem Englisch zu behaupten, dass Diebe in ihr Auto eingebrochen seien und ihre Sachen gestohlen hätten. Sie wiesen auf die lose Kofferraumklappe und den leeren Kofferraum hin. Daraufhin zeigte einer der Polizisten auf seinem Handy ein Foto, das Tuomas von seinem Mobiltelefon geschickt hatte und auf dem die Taschen voller Hundewelpen zu sehen waren. Er fragte die Männer, wo sie die Welpen versteckt hätten.

Die Unbekannten wurden nervös und begannen in ihrer Sprache zu diskutieren. Als die Polizisten Handschellen zogen, flüchteten die Männer in alle Richtungen. Alle vier Polizisten nahmen die Verfolgung auf. Niemand sah, wie Tuomas die Welpen aus dem Gebüsch zum Auto trug. Die Verfolgungsjagd endete mit einem Warnschuss. Die widerspenstigen Männer wurden von den Polizisten zu ihrem Auto gebracht. Die Überraschung war groß, als der Kofferraum nicht mehr leer war, sondern vollgestopft mit Taschen, aus denen elend schmutzige und winselnde Welpen herausguckten.

«Wo kommen die denn jetzt her?», schienen sich alle zu fragen. Tuomas ‒ jetzt wieder sichtbar ‒ ging auf die Polizisten zu.

«Hast du das gemeldet?»

«Ja, ich habe es zufällig bemerkt. Es ist schrecklich, dass Tiere so behandelt werden. Ich musste es melden.»

Die gefesselten Männer starrten Tuomas an, ohne zu verstehen, was so ein Rotzlöffel damit zu tun hatte. Dann tauchte Tuomas’ Vater auf. Er hatte im Restaurant auf seinen Sohn gewartet.

«Was ist hier los? Hat mein Sohn etwas angestellt?»

«Ganz im Gegenteil. Er hat uns geholfen, die lange gesuchten Hundezüchter zu fassen. Sie werden des Schmuggels und der Tierquälerei beschuldigt.»

Erstaunt sah der Vater Tuomas an. Der zuckte mit den Schultern: «Kann passieren.» Einer der Polizisten notierte die Adresse von Tuomas und seinem Vater und sagte, er würde die Berichte zur Unterschrift an die zuständige Polizeistation schicken. Inzwischen war auch die Tierambulanz eingetroffen. Der Fahrer schüttelte den Kopf, als er die Welpen sah. Der Blick, den er den Welpenschmugglern zuwarf, hätte sie töten können. Dann holte er Käfige aus dem Auto. Behutsam hob er die Welpen auf, deren schwarz-weißes, flauschiges Fell mit Kotflecken übersät war. Einige Welpen richteten sich im Käfig auf, andere sackten zusammen und legten sich hin, wieder andere rührten sich gar nicht.

«Zwanzig ...», zählte der Tierpfleger. «Spaniel-Welpen ... sie verkaufen sich gut in Finnland, aber ich glaube nicht, dass sie überleben, sie sind so jung und in einem schlechten Zustand, die armen Dinger. Solche Schurken sollte man auffhängen ... soll ich sagen wo ...». Er schaute Tuomas an und sprach den Safz nicht zu Ende.

Nachdem der Tierretter und die Polizisten mit den Kriminellen weggefahren waren, blieb das Auto der Schmuggler zurück. Es sollte später abgeschleppt werden.

«Wir gehen jetzt essen und feiern, weil du so ein Held bist», sagte der Vater und klopfte Tuomas auf die Schulter.

Dann sah - oder vielmehr spürte - Tuomas eine Bewegung im scheinbar leeren Kofferraum. Die alte, braun gestreifte Decke, mit der die Welpensäcke zugedeckt waren, lag noch zusammengeknüllt in der Ecke. Tuomas hob den schmutzigen Rand der Decke an. Darunter starrten ihn zwei schwarze Knopfaugen an. Ein andersrassiger Welpe, nicht schwarz-weiß, sondern braun wie die Decke, war bei dem ganzen Tohuwabohu aus dem Sack gefallen und hatte sich instinktiv versteckt. Tuomas nahm den Welpen auf den Arm. Er drückte sich schutzsuchend an ihn.

«Was machen wir jetzt mit ihm?», fragte der Vater.

«Können wir ihn nicht behalten? Er wurde nicht gezählt.»

«Aber er gehört uns doch nicht, und wer soll sich um ihn kümmern? Er könnte sehr krank sein, vielleicht sogar sterben.»

Aber der Welpe sah nicht so aus, als würde er sterben. Er war lebhaft und kräftig. Die Rasse war unklar, aber es war kein Spaniel, Mops oder Dackel. Der Welpe legte seinen Kopf auf Tuomas’ Arm und starrte seinen Retter unverwandt an.

«Deine Oma kriegt einen Schlaganfall, wenn wir einen Welpen ins Haus holen.»

«Vater, bitte. Ich werde mich um ihn kümmern, und ich bin sicher, dass Alma damit einverstanden ist. Dann habe ich auch einen Freund, denn es ist so einsam auf dem Hof.»

Der Vater schwieg eine Weile und dachte nach.

«Bring den Welpen zu unserem Auto. Ich kaufe ein paar Hamburger und Cola zum Mitnehmen. Wir essen unterwegs. Ich frage mich, was so ein Tier frisst. Vielleicht gibt es in dem Laden an der Raststätte Hundefutter. Und Durst hat er bestimmt auch.»

2.

Oma Irma Arkko bekam zwar keinen Herzinfarkt, aber sie wurde wütend, als Tuomas den Welpen ins Haus trug.

«So ein Miststück ... bringt nur Dreck und kläfft. Den bringst du nicht hierher. Schaff ihn in die Knechtkammer!»

«Ich behalte ihn in meinem Zimmer», sagte Tuomas trotzig. Es schien unmöglich, sich von dem Welpen zu trennen.

«Tuomas hat eine so schwere Reise hinter sich, dass er den Welpen jetzt braucht. Man könnte fast sagen, es ist eine ärztliche Anordnung», sagte der Vater mit entschlossenem Brustton und fixierte seine Mutter mit seinem Blick.

«Ihr Männer ... immer verteidigt ihr euch!»

Die Oma stöhnte, drehte sich auf dem Absatz um und ging in die Bibliothek, wobei sie die Tür mit einem lauten, protestierenden Knall hinter sich zuschlug. Die Geschichte von Tuomas und Ollis Reise interessierte sie nicht im Geringsten. Das hatten die beiden auch nicht erwartet.

«So ein Findelkind muss geimpft, entwurmt und gechipt werden», sagte der Vater. »Das weiß ich auch über Hunde.»

Unter Vaters alten Schulfreunden war ein Tierarzt in der Stadt, der Vater, Tuomas und den Welpen gleich am nächsten Morgen aufnahm. Der Vater hatte sich aus familiären Gründen noch einen Tag frei genommen. Der Arzt untersuchte den Welpen interessiert.

«Ich kenne eigentlich alle finnischen Hunderassen, ich habe selbst einen Labrador. Aber aus diesem werde ich nicht schlau ... Welche Rasse ist das?»

«Das wissen wir nicht. Wir haben den Welpen ... eher zufällig bekommen.»

«Er sieht reinrassig aus, aber mehr kann ich im Moment nicht sagen. Aber es ist auf jeden Fall ein Rüde.»

«Wird er überleben?»

«Er sieht stark aus. Aber ich werde ihm spezielles Futter und Vitamine geben, wie einem Baby. Mit der richtigen Pflege wird er ein guter Freund für deinen Sohn.»

Der Vater fuhr am Nachmittag nach Helsinki, hatte aber vorher noch ein ernstes Gespräch mit der Mutter. Der Welpe, der noch keinen Namen hatte, blieb im Gutshaus, und Oma sagte nichts mehr, wenn sie ihn sah, sondern murmelte vor sich hin.

In der ersten Nacht versuchte Tuomas, den Welpen in einem Wäschekorb schlafen zu lassen, den Alma neben sein Bett gestellt und mit einer alten Decke ausgepolstert hatte. In der Ecke stand ein eilig zusammengebauter Sandkasten, aber Tuomas musste den Neuankömmling immer wieder dorthin tragen, bis er zum ersten Mal pinkeln konnte. Auch im Wäschekorb wollte er nicht schlafen. Er wimmerte und kletterte an den Seiten des Korbes hoch. Nach vielen vergeblichen Versuchen hob Tuomas den Welpen aus dem Korb und legte ihn neben sich aufs Bett. Der Welpe schnupperte zufrieden an Tuomas’ Achselhöhle und drückte sich dann fest an den Jungen. Wie durch ein Wunder schliefen beide schnell ein.

3.

Nach der Abreise seines Vaters blieb Tuomas den ganzen Tag zu Hause, obwohl er so bald wie möglich zur Schule hätte gehen sollen. Die Sommerferien hatten noch nicht begonnen.

Tuomas versuchte, den Welpen an sein neues Zuhause zu gewöhnen: Hier ist der Pinkelplatz, hier der Futternapf und hier der Wassernapf. Doch der Kleine verstand nur, dass er Tuomas auf Schritt und Tritt folgen musste. Alma lachte, als sie ihn und den Welpen von der Küchentür aus beobachtete. Sie freute sich, Tuomas einmal glücklich zu sehen.

«Wie willst du das arme Ding nennen? Es kann doch nicht nur der Welpe sein.»

«Wie wäre es dann mit Ressu (armer Junge)? Weil er so ein ... armes Ding ist.»

Am nächsten Tag musste Ressu allein bleiben, nachdem Tuomas zur Schule gegangen war. Er winselte lange und setzte sich schließlich auf die Matte hinter der Tür zum Flur, um zu warten. Als Tuomas zurückkam, wedelte Ressu fröhlich mit seinem Schwänzchen. Leider hatte er nicht in den Sandkasten gekackt, sondern überall im Flur kleine Pfützen und wässrige Häufchen hinterlassen. Ressu verstand nichts von Schimpfen, nicht einmal ein Zeichen von schlechtem Gewissen. Tuomas konnte den Dreck nicht Alma überlassen, denn er hatte versprochen, sich selbst um seinen Hund zu kümmern. Er holte einen Eimer Wasser und einen Lappen aus dem Putzschrank und fing an, den Boden zu putzen, auch wenn es anfangs etwas eklig war.

In der nächsten Nacht wachte Tuomas auf, weil Ressu neben ihm versuchte zu knurren, was sich nicht sehr glaubwürdig anhörte. Tuomas öffnete die Augen und sah Jaska im Schaukelstuhl sitzen. Jaska schien schlecht gelaunt zu sein.

«Tuomas hat einen neuen Freund. Jaska taugt nichts mehr.»

«Quatsch, Jaska. Ressu wird unser beider Freund sein. Er kann dich sehen, auch wenn du kein Mensch bist. Wenn ich in der Schule bin, werdet ihr euch gegenseitig Gesellschaft leisten. Und ich muss mir keine Sorgen machen, wie es Ressu zu Hause geht, solange er noch ein dummer Welpe ist. Und ihr beide könnt später besser auf das Haus aufpassen. Die Räuber haben Angst vor dem Hund, weil sie ihn sehen und hören. Du kannst alle möglichen Tricks anwenden, aber für die Menschen bleibst du unsichtbar. Oma und Alma sind schon sehr alt und können nicht mehr auf alles aufpassen.»

Jaska ließ sich versöhnen. Es schien ihm sogar Spaß zu machen, den Babysitter zu spielen..

4.

Die nächsten Wochen in der Schule vor den Sommerferien waren für Tuomas anstrengend, denn er musste alles nachholen, was die Klasse während der Auslandsreise gelernt hatte. Er hatte weder die Zeit noch den Mut, über all die seltsamen Dinge nachzudenken, die er auf der Reise erlebt hatte. Ressu nahm zu Hause seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Nicht einmal Alpträume quälten ihn, wenn er Ressu an seiner Seite hatte.

«Ich werde später über die Ereignisse nachdenken. Oder ich vergesse lieber alles. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet.»

Eine Woche nach seiner Rückkehr machte sich Tuomas auf die Suche nach den Turnschuhen, die er als Ersatzpaar mit auf die Reise genommen hatte. Ihm fiel ein, dass er den Rucksack ungeöffnet in den Schrank geworfen hatte. Unter den Turnschuhen lag auch die schmutzige Reisekleidung. Beim Frühstück bat Tuomas Alma, die Kleider aus dem Rucksack zu holen und zu waschen. Als Tuomas von der Schule nach Hause kam, schimpfte Alma mit ihm:

«Was du alles in deinem Rucksack hast! Hätte ich deine Kleider nicht gründlich untersucht, wäre ein Stein in der Waschmaschine gelandet. Den hast du noch in einer Socke versteckt! Ich wollte ihn schon wegwerfen, aber dann habe ich ihn doch aufgehoben, falls es doch ein schönes Reiseandenken ist.»

Ein Stein? Jetzt dämmerte es Tuomas. Der alte Mann mit dem Krempelhut, der selbsternannte Lava-König, hatte ihm in jener Nacht im Krankenhaus tatsächlich einen Stein geschenkt, und er hatte ihn in seiner Socke versteckt. Das hatte er ganz vergessen! Was hatte der Alte gesagt: »...damit du deine Abstammung nicht vergisst...»?

Alles war wirklich geschehen! Der Stein, den Alma jetzt auf den Schreibtisch gelegt hatte, war der Beweis dafür.

Tuomas drehte den Stein in der Hand. Der faustgroße Klumpen war größtenteils mit einer glatten, grünen Oberfläche bedeckt, doch aus einem Riss schimmerte ein helles Rot. Rot wie ... geschmolzene Lava. Für Tuomas eine passende Erinnerung an seine Verwandten im Vulkan!

Tuomas öffnete seinen Computer und begann, nach einem Namen für den Stein zu suchen. Ein roter Stein? Würde Google die Antwort haben? Er schaute sich die Bilder an: Jaspis ... Achat ... Karneol ... Alle waren rot, aber sie sahen nicht richtig aus. Und dann war da noch der «Rubin», ein sehr seltener und teurer Edelstein. Je mehr Tuomas las, desto überzeugter war er: Das Geschenk war ein riesiger, ungeschliffener Rubin. So einen großen Rubin gab es nicht. Das in Finnland gefundene Exemplar war nur so groß wie ein Fingernagel, aber selbst der kostete mehrere tausend Euro. Der teuerste war ein burmesischer Rubinring, der für 27 Millionen Euro versteigert wurde. Und was war der Mocken wert, den Alma fast weggeworfen hätte?

Tuomas las weiter: «Der Preis von Edelsteinen wird durch Farbe, Reinheit, Schliff, Karatgewicht und Reinheit bestimmt, es gibt einen Brechungsfaktor ...» kompliziert. Schade nur, dass er sich nicht traute, den Rubin begutachten zu lassen, denn wie sollte er erklären, wie der Stein in seinen Besitz gekommen war? Seinem Vater konnte er es auch nicht sagen, denn der wusste nichts über das Lavavolk. Tuomas drehte den Stein in seiner Hand um, wickelte ihn in mehrere Papiertaschentücher und wollte ihn in die unterste Schublade seines Schreibtisches legen, als eine heisere Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte:

«Non dimenticare il tuo popolo eterno. Ti aspettiamo .»

«Vergiss dein ewiges Volk nicht. Wir warten auf dich.»

Es war der Lava-König. Auch Ressu hatte die Stimme gehört. Er war aufgesprungen, ein warnendes Knurren drang aus seiner Kehle. Zumindest war es so gemeint.

Tuomas drehte den Rubinmocken in seiner Hand und erinnerte sich an die Begegnung mit dem alten Lava-Mann im Krankenhaus. Er hatte gesagt, dass Tuomas als Mensch leben dürfe, wenn er den Rubin benutze, um die von den Lavamenschen gestohlene Elementarkraft wiederzuerlangen. Diese war seit vielen Generationen von den Abtrünnigen des Lavavolkes an ihre Kinder und Enkel weitergegeben worden.

Eine unmögliche Aufgabe für einen Schuljungen, der fast am Nordpol lebt! In einem ländlichen Dorf, in dem garantiert nur ein einziger rothaariger Erbe des Lavavolkes lebte. Und selbst wenn Tuomas zufällig einem seiner Artgenossen begegnete, wie sollte er ihm die verirrten Wunderkräfte der Lavaleute austreiben?

Hatte der Lava-Opa Tuomas' Gedanken gelesen? Eine heisere Stimme ertönte in Tuomas’ Kopf:

«Im Laufe der Jahrmilliarden haben wir gesehen, wie das Leben auf der Erde immer wieder geboren wurde und starb. Nur die anpassungsfähigen Arten haben überlebt. Der Mensch hat nur kurze Zeit auf der Erde gelebt. Jetzt ist es Zeit für ihn zu gehen, denn er will sich nicht anpassen, sondern die Natur zwingen, nach seinem Willen zu existieren. Das wird nicht funktionieren. Der Untergang der Menschheit ist umkehrbar. Habe also kein Mitleid. Zögere nicht.»

Die Kommunikation mit dem Lava-Mann war wie ein Gespräch zwischen Tuomas und Jaska: ein Gedankenfluss, Inhalte ohne Sprache und Worte.

«Werden die menschlichen Erben des Lava-Volkes sterben, wenn sie ihre besondere Kraft verlieren? Was wird aus mir, wenn ich versage?»

«Diese Menschen werden zu gewöhnlichen Menschen. Das ist Strafe genug. Und du wirst nicht versagen. Du bekommst genug Zeit.»

Tuomas glaubte es jetzt: Er war tatsächlich einer der ewigen Lava-Leute, die keinen Wert auf die Menschheit legten. Sie existierten weiter und beobachteten die Entwicklung der Erde, ohne sich einzumischen. Das Werden und Vergehen der Menschheit war nur eine vorübergehende Episode in einem Zeitraum von Jahrmillionen. Aber Tuomas liebte die Menschen um sich herum sehr ‒ seinen Vater, Alma, ein bisschen seine Oma und Ressu. Es war ihm nicht egal, was mit ihnen und dem Rest der Welt geschah. Aber was kann ein einfacher Schuljunge tun, um die Menschheit zu retten?

In dieser Nacht wälzte sich Tuomas so unruhig in seinem Bett, dass selbst Ressu nicht schlafen konnte. Er knurrte wütend und sprang aus dem Bett, um in seinem Korb zu schlafen.

5.

Die Sommerferien hatten begonnen. Tuomas konnte morgens so lange schlafen, wie er wollte ‒ oder wie Ressu es für nötig hielt. Tuomas fühlte sich sehr einsam, weil er seine Freunde aus der Schule nicht mehr traf. Da half kein Wunderstein, da halfen auch Tuomas’ Wunderkräfte nichts. Was nützte es, die Gedanken der Menschen lesen zu können, wenn niemand da war ‒ oder höchstens Alma, deren Gedanken man auch ohne besondere Gabe erraten konnte? Oder wenn man flattern konnte wie ein Vogel, aber alle Freunde am Boden latschten?

Waren alle im Lava-Volk miteinander befreundet, und niemand war je allein? Oder gab es so etwas wie Kumpel? Es gab so viele Fragen, die man Nonna hätte stellen können, die schließlich unter den Lava-Leuten gelebt hatte, aber jetzt war es zu spät.

Im Laufe des Juni wurde Tuomas Stimmung immer trüber. Die alten Apfelbäume vor seinem Fenster bildeten ein duftendes Blütenmeer, auf der anderen Seite der Bucht riefen zwei Kuckucke um die Wette, Schwalben flatterten und zwitscherten über dem alten Stallgebäude und jagten Mücken, aber Tuomas nahm die Schönheit des Sommers kaum wahr. Er hatte nicht einmal Lust, mit Ressu spazieren zu gehen. Jaska, der in seinem schwarzen Lederanzug wieder einmal an seinem Nasenring zupfte und sich im Schaukelstuhl räkelte, versuchte ihm seine Gesellschaft anzubieten, aber auch das half nichts.

«Du musst verstehen, Jaska, dass du kein richtiger Kumpel bist, mit dem man Fußball spielen oder angeln gehen kann. Du darfst nicht einmal den Hof verlassen.»

Warum sein Bewegungsradius so eingeschränkt war, wusste nicht einmal Jaska selbst. Es war schon immer so gewesen, dass jeder Elfe sein Revier zu bewachen hatte und es nicht verlassen durfte. So war es auch bei den Sauna-Elfen, Kuhstall-Elfen und Räucherscheunen-Elfen gewesen, als es sie noch auf den alten Bauernhöfen gab.

Selbst Alma, sonst immer erfinderisch, war ratlos. Auch Tuomas' Vater konnte nicht helfen, denn er hatte in der besten Reisezeit kaum Zeit für seinen Sohn. Wenn Alma Tuomas zum Essen einlud ‒ sie und Tuomas aßen zu zweit in der Küche, wenn Vater Olli nicht zu Besuch war ‒, fand sie den Jungen oft im Bett liegend, das Kissen der toten Mutter an die Brust gedrückt. Das Foto der Mutter stand immer in Sichtweite auf dem Nachttisch.

Alma versuchte, mit der Großmutter Irma über die schwierige Situation von Tuomas zu sprechen, schließlich war sie nach dem Vater die einzige nahe Verwandte und eigentlich verpflichtet, den Enkel entsprechend zu behandeln. Die Hausherrin schnauzte sie nur an:

«Ich habe den Jungen nicht hergebeten und werde ihn auch nicht verhätscheln. Und außerdem sollen sich die Dienstboten nicht in die Angelegenheiten der Familie einmischen».

Zum Glück konnte man sich auf das fröhliche Mittsommerfest «Juhannus» freuen, bei dem das ganze Dorf zusammenkam.

Der Sommer hatte ungewöhnlich warm und trocken begonnen. Seit April war kein Tropfen Regen mehr gefallen. Doch nun stand das Mittsommerfest vor der Tür und die Festorganisatoren in Arvola machten sich Sorgen: Wenn nicht ein heftiger, langanhaltender Regenschauer niedergeht, würden die Behörden das Abbrennen des Mittsommerfeuers wegen Waldbrandgefahr im ganzen Land verbieten. Und ein Johannisfest ohne Feuer ist wie Weihnachten ohne Weihnachtsmann. Mit Sorge blickte man morgens und abends in den klaren Himmel, studierte die Wetterströmungen im übrigen Europa, fragte Wetterpropheten und Ameisen um Rat. Zwei Tage vor dem Mittsommerfest mussten die Dorfbewohner von Arvola schließlich erfahren, dass alle Feierlichkeiten in Arvola und im übrigen Land abgesagt worden waren. Obwohl der Himmel am Morgen zuvor grau war und es zu nieseln begann, änderte das nichts an der Situation.

Tuomas war enttäuscht. Er wäre gerne zum Dorffest gegangen, weil er dort Freunde aus der Schule hatte. Und jetzt war alles abgesagt. Aber Alma hatte eine Idee:

«Wir kaufen Würstchen und machen unser eigenes Fest in Laavu. Zwar ist es verboten, draußen Feuer zu machen, aber in der Laavu (Holzunterstand) ist das Feuer fast drinnen und kann nicht auf den Wald übergreifen. Und da die Laavu der Familie Arkko gehört, kann man auf dem eigenen Grundstück machen, was man will.»

«Darf ich Klassenkameraden einladen? Für die gibt es dieses Jahr auch kein Mittsommerfeuer.»

«Klar kannst du das. Ruf sie an und frag, wer kommen kann. Dann wissen wir, wie viele Würstchen und Getränke wir kaufen müssen.»

Nachdem Tuomas auf den Gutshof Arkko gezogen war, hatte sein Vater Olli ein Bankkonto eröffnet, das nur Alma benutzen durfte. Seitdem brauchte sich die alte Haushälterin keine Sorgen mehr zu machen, ob das knappe Haushaltsgeld, das die Hausherrin für den Einkauf genehmigte, ausreichen würde oder ob Alma noch eigenes Geld für die Rechnung im Laden ausgeben musste.

Tuomas rief zuerst Mirko an. Die beiden waren im Laufe des Winters gute Freunde geworden, da Tuomas Mirko bei seinen Englisch-Hausaufgaben geholfen hatte. Mirko schien sich über die Einladung zu freuen und versprach, auch andere Freunde anzurufen, deren Eltern kein eigenes Sommerhaus besaßen. Die Hüttenbesitzer blieben in der Mittsommernacht hartnäckig an ihrem Strand, auch wenn es grüne Aliens regnete.

«Sollen wir auch Mädchen einladen?» fragte Mirko und antwortete gleich selbst: «Ich glaube nicht, dass ein Fest auf der Laavu für Mädchen geeignet ist, weil es dort Ruß und Rauch und Mücken gibt.» Es wurde beschlossen, keine Mädchen auf die Gästeliste zu setzen.

Das Kaufhaus im Dorf Arvola war am Nachmittag voller Kunden. In der seenreichen Region gab es hunderte von Ferienhäusern. Besonders um Mittsommer herum luden sich viele hüttenlose Verwandte und Bekannte selbst ein und mussten von den unfreiwilligen Gastgebern auch anständig bewirtet werden.

Die beiden Registrierkassen liefen ununterbrochen. Tuomas und Alma standen bereits in der Schlange, die bis an die Rückwand des Marktes reichte. Alma, die sich freute, dass Tuomas' Kumpels kommen werden, hatte ihren Einkaufswagen mit verschiedenen Bratwürsten, Getränken und Chips gefüllt.

«Es kommen nur fünf Jungs. Von den Würstchen werden wir den ganzen Sommer leben», versuchte Tuomas sie zu bremsen.

«Der Sommer fängt doch gerade erst an. Bis zum Herbst werden wir alles aufgegessen haben», lachte Alma.

Sie war schon dabei, ihre Einkäufe auf das Kassenband zu legen. Vor ihr standen drei Männer in Kapuzenjacken an. Tuomas wunderte sich über die Winterkleidung der Männer mitten im Sommer.

Der erste der Männer deutete der Kassiererin mit der Hand, dass er eine bestimmte Zigarettenmarke aus dem Regal hinter der Kasse haben wollte. Frau Kemppainen, die Kassiererin, drehte sich um und streckte die Hand aus, um die Zigarettenschachtel zu nehmen, aber als sie sich wieder dem Kunden zuwandte, verlor ihr Gesicht plötzlich sein fröhliches Standardlächeln. Die Männer hatten verborgene Waffen aus ihren Kapuzenpullovern gezogen und richteten sie auf die Kassiererin und die umstehenden Kunden. Die Leute schrien auf und ergriffen die Flucht hinter die Regale. Alma versuchte, Tuomas mit sich zu ziehen, aber er blieb wie angewurzelt stehen. Alma stolperte zu Boden und kroch von dort hinter die Kassentheke. Die Kassierer an den beiden Schaltern hoben kapitulierend die Hände.

«Wie in einem Krimi», dachte Tuomas. Die Männer achteten kaum auf den rothaarigen Schuljungen, der hinter ihnen stand und sie mit offenem Mund dumm anstarrte. Der Sprache nach waren die Räuber keine Finnen.

«Gib mir das ganze Geld oder du stirbst. Und der hier auch!» Jetzt drehte der Räuber die Pistole so, dass sie auf Tuomas gerichtet war. Inzwischen war einer der Männer mit der Waffe zur anderen Kasse gegangen, die in Stoßzeiten von Filialleiter Seppänen selbst bedient wurde. Dort war Seppänen bereits dabei, Geldscheine aus der geöffneten Kassenlade in eine Plastiktüte zu packen. «Tu, was er sagt», rief der Filialleiter seiner Angestellten über den Gang zu. «Lass dich nicht für Geld umbringen!»

Neugierig beobachtete Tuomas die Männer. Verängstigte Gesichter lugten hinter den Regalen hervor, aber Tuomas blieb ruhig. Er hatte einen Plan.

Ladendiebe. Die stehlen wie Ratten. Ratten gehören in eine Falle.

Nachdem die Männer alles Geld aus den Kassen in die Plastiktüten gestopft hatten, befahlen sie, weitere Tüten mit Zigarettenschachteln zu füllen. Dann rannten sie mit ihren Waffen drohend zum Ausgang.

Die Außentür des Ladens öffnete sich immer automatisch, wenn ein Kunde davor stand, aber jetzt blieb sie verschlossen. So sehr die Männer auch auf den Boden stampften und mit den Armen winkten, der Automat reagierte nicht. Als die Männer merkten, dass ihnen der Weg versperrt war, machten sie kehrt und wollten durch den Laden und den Hinterhof fliehen. Doch nun war auch die Innentür zum Flur verschlossen.

Vergeblich schlugen die Männer mit Fäusten und Füßen gegen das Panzerglas. Und durch das Glas glotzte wieder der dumme rothaarige Junge.

Die Männer fluchten und wollten das Glas zertrümmern, doch plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf den Boden gelenkt. Erstaunt hoben sie die Füße, denn der Boden des Korridors begann sich mit Wasser zu füllen ‒ zumindest in den Augen der Männer. Das Wasser stieg schnell. Im Nu stand es ihnen bis zu den Knien und Hüften.

In einer Ecke des Flurs lagen schwere Säcke mit Gartenerde. Die verängstigten Männer begannen, die Säcke übereinander zu stapeln und darauf zu balancieren. Als alle bis zur Brust im Wasser standen und der Wasserpegel immer noch stieg, warfen sie die Säcke weg und versuchten übereinander zu klettern. Das war so lustig, dass Tuomas fast lachen musste.

«Ratten verlassen das sinkende Schiff», dachte er. «Aber jetzt können sie nicht mehr.»

Ein Polizeiwagen raste mit heulender Sirene vor den Laden. Mehrere bewaffnete Polizisten stürmten auf die Ladentür zu, hinter der sich die verzweifelten Ladenräuber prügelten. Plötzlich öffnete sich die äußere Schiebetür und die Männer stürzten kopfüber vor die Füße der Polizisten. Es war ein Leichtes, sie einzeln abzufangen ‒ und natürlich waren alle völlig trocken.

Obwohl die Räuber geschnappt worden waren, wirkten sie erleichtert, als wären sie dem Tod entronnen. Keiner der Augenzeugen konnte sich die seltsame Kletteraktion der Räuber erklären. Man vermutete, dass sie unter Drogeneinfluss standen. Nur Tuomas wusste davon, denn natürlich hatte er die Männer hypnotisiert. Als sich auch die Innentüren öffneten, holte Tuomas die zurückgelassenen Taschen und brachte sie dem Filialleiter. Dann ging er zu Alma, die immer noch auf dem Boden kauerte. Auch die anderen Kundinnen und Kunden wagten sich wieder hinter den Regalen hervor.

«Danke Emmi, dass du die Türen geschlossen hast», lobte der Filialleiter seine Angestellte. «Das war nicht ich. Ich dachte, du warst es», antwortete Emmi.

«Beeil dich und bezahle unsere Einkäufe, Alma, damit wir nach Hause gehen können. Hier ist es zu gefährlich», sagte Tuomas.

Auf dem Heimweg schimpfte Alma mit Tuomas, weil er sich so mutig als Köder für die Räuber zur Verfügung gestellt hatte. «Armer Junge, natürlich hatte er einen Schock...»

6.

Am Nachmittag ging Tuomas mit Alma zur Laavu, um alles für das Fest vorzubereiten. Sie holten trockene Holzscheite aus dem Holzlager am Waldrand und legten sie bereits in die Feuerstelle. Gegen Abend brachte Alma mit ihrem Auto noch Würstchen, Getränke, viele Leckereien und Tuomas und Ressu zum Festplatz.

Als Mirko, Matias, Väinö, Onni und Elmeri gegen 18 Uhr mit ihren Fahrrädern ankamen und die vorbereiteten Leckereien sahen, wollten sie nicht länger warten.

«Warum zünden wir nicht gleich das Feuer an und grillen? Schließlich ist es ja kein offizielles Johannisfeuer, auf das man bis spät in die Nacht warten muss», schlug Mirko vor. Er war der hungrigste der Jungs. Die anderen stimmten zu. Doch als es ans Anzünden ging, hatte keiner Streichhölzer oder gar ein Feuerzeug dabei.

«Hei, die Indianer reiben das Holz so lange, bis es heiß wird und anfängt zu brennen», erinnerte sich Mirko. «Wer ist der Schnellste?»

Die Jungen sprangen auf und suchten nach geeignetem Holz. Tuomas war verärgert. Zum ersten Mal hatte er seine Freunde eingeladen und dann etwas so Wichtiges vergessen. Aber ... war er nicht selbst fast aus Feuer? Er nahm ein Stück Birkenrinde in die Hand und starrte es konzentriert an. Nach wenigen Augenblicken stieg eine Rauchwolke auf. Tuomas schob die brennende Rinde unter das gestapelte Holz, das schon bald Feuer fing. Die anderen Jungen sahen den Rauch von der Laavu aufsteigen und rannten hinüber.

«Ich habe doch noch ein paar Streichhölzer gefunden», erklärte Tuomas.

Der Mittsommerabend verlief nun wie geplant. Das Feuer wärmte, die Würste brutzelten auf dem Rost und dufteten köstlich. Auch die anderen Köstlichkeiten, die Alma zubereitet hatte, schmeckten. Das Dämmerlicht und die lockere Atmosphäre brachten die Jungs dazu, Dinge zu erzählen, die sie auf dem Schulhof nie preisgegeben hätten. Zu Hause gab es bei einigen Arbeitslosigkeit, Streit, Scheidung, Alkohol, Krankheit.

Der draufgängerische, rastlose Mirko war der einzige Mann in der Familie geblieben, nachdem sein Vater mit dem Motorschlitten im Eis ertrunken war. Stolz erzählte Mirko von seiner jüngeren Schwester Pinja, der er Gutenachtgeschichten vorlas, wenn die Mutter Nachtschicht hatte. Auch der mit Burgern und Pommes frites gemästete Väinö musste oft auf die beiden jüngeren Brüder aufpassen, wenn beide Eltern abends in ihrem kleinen Restaurant in der Stadt arbeiteten. Der ältere Bruder hing meistens irgendwo mit seinen Freunden herum. Der zurückhaltende und nachdenkliche Matias, Mirkos zweiter Adjutant, lebte allein mit seinem Vater, nachdem seine Mutter einen neuen Mann gefunden hatte.

Tuomas erzählte wenig über seine Vergangenheit. Er wollte nicht wieder den Neid der Jungs wecken, die ihn inzwischen als einen der ihren akzeptiert hatten. «Meine Mutter starb bei einem Autounfall, und mein Vater konnte mich nicht allein in Helsinki lassen. Deshalb lebe ich jetzt bei meiner Oma», sagte Tuomas.

Als alle satt waren ‒ selbst Ressu bettelte nicht mehr um Würstchen, sondern zog sich zum Schlafen unter die Laavu-Bank zurück ‒ gingen sie auf den offenen Vorplatz, um Fußball zu spielen. Da man zwei Torhüter brauchte, waren die Mannschaften auf dem Platz ziemlich klein ‒ zwei gegen zwei ‒ aber das tat dem Spaß keinen Abbruch. Der Abend war ein voller Erfolg.