Das Geheimnis des Mandelplaneten - Françoise d'Eaubonne - E-Book

Das Geheimnis des Mandelplaneten E-Book

Françoise d'Eaubonne

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Beschreibung

Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Die Menschheit hat eine entscheidende Mutation durchlebt; die Männer sind von der Oberfläche der Erde verschwunden. Eine Expedition kühner Frauen bricht auf zum Mandelplaneten, einem unbekannten Himmelskörper voller Wunder. Fasziniert und erschreckt erkundet die Chronistin mit ihren Gefährtinnen rätselhafte Naturerscheinungen – zwei kristallene, gewölbte Seen, die des Nachts überdeckt sind; rosige Abgründe; umwaldete Erhebungen; einen Megalithen, der sich bisweilen pulsierend zu prächtiger Höhe aufrichtet, dann wieder im Dschungel versinkt …

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Seitenzahl: 192

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Françoise d’Eaubonne

Das Geheimnis des Mandelplaneten

Ein Science-Fiction-Roman

Aus dem Französischen von Uli Aumüller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Die Menschheit hat eine entscheidende Mutation durchlebt; die Männer sind von der Oberfläche der Erde verschwunden. Eine Expedition kühner Frauen bricht auf zum Mandelplaneten, einem unbekannten Himmelskörper voller Wunder. Fasziniert und erschreckt erkundet die Chronistin mit ihren Gefährtinnen rätselhafte Naturerscheinungen – zwei kristallene, gewölbte Seen, die des Nachts überdeckt sind; rosige Abgründe; umwaldete Erhebungen; einen Megalithen, der sich bisweilen pulsierend zu prächtiger Höhe aufrichtet, dann wieder im Dschungel versinkt …

Über Françoise d’Eaubonne

Françoise d’Eaubonne (1920–2005) war eine französische Autorin und Frauenrechtlerin.

Inhaltsübersicht

Für HofUnd ich erblicke ...1 Aufgang der Mandelsonne2 Schlund C. Zone III3 Zweiter Aufgang der Mandelsonne und Erinnerungen4 Die Wüste und die Erzählungen5 Der Hain des Megalithen: Zone IV6 Die Topographin erzählt7 Geschichtsstunde. Letzte Steilwand8 Der Wald und die Erzählung9 Schlund A10 Die seitlichen Zonen. Kommentare11 Die Schlünde und die Oper12 Blutfeste. Vertraulichkeiten13 Ende der Reise

Für Hof

Und ich erblicke euch, meine Töchter!

Meine Königinnen!

(Rimbaud)

 

Gegrüßt seist du, Krone der Körperteile

(Witold Gombrowicz)

1 Aufgang der Mandelsonne

Bei Aufgang der «Mandelgestirn» genannten Sonne haben wir auf dem sogenannten Planeten X, dem einzigen Satelliten dieses Systems, aufgesetzt, um hier unsere Mission zu erfüllen: nämlich ihn zu erkunden und ihm einen Namen zu geben.

Als Verantwortliche unter den fünf anderen von Eurem Rat ernannten Uranautinnen habe ich am Ende des Tages diesen Bericht für Eure Höchste Instanz verfaßt, um Auskunft zu geben über den Stand dieser unter der Aufsicht der Nestorin Concepcion organisierten Expedition, welche, Euren Anweisungen entsprechend, dieser Unternehmung – trotz der unheilvollen Erinnerung – die Erkenntnisse zur Verfügung stellt, die sie zehn Monate früher im Verlauf der verhängnisvollen Expedition der Semiramis im System der Mandel gewonnen hat.

Sie, als unsere Älteste in uranautischer Wissenschaft, gab daher (dem Beschluß Eures Rates gemäß) unserer Pilotin Solveig die Anweisungen zum Verlangsamen und Landen, damit die Nausikaa auf dem Plateau Klein-a der Zone I aufsetzen konnte; dieses stimmt, wie wir feststellen konnten, in jedem Punkt mit der von Concepcion erstellten und aufgezeichneten Topographie überein, so wie sie sie vor neun Monaten, an jenem 12. Juni des Jahres 100 des Ektogenetischen Zeitalters, der von Eurem Rat benannten Besatzung vor Augen geführt hat.

Trotz der von der Ingenieurin Nefertiti vorgebrachten Bedenken hat die Nausikaa sich genauso tadellos verhalten, wie die Mechanikerin Friedegunde und ich es angesichts der Pläne des Uraniaschiffs vorhergesehen hatten, das nach dem Modell des Urexemplars – bekannt unter dem Namen «Objekt von Antikythera» – rekonstruiert wurde, welches in der Epoche der Finsternis, sechsundachtzig Mondjahre vor dem Ektogenetischen Zeitalter, genauer gesagt im tausendneunhundertsten Sonnenjahr des sogenannten christ-lichen Zeitalters, auf dem im Dodekanes gestrandeten griechischen Schiff gefunden wurde.

In Anbetracht der groben Unwissenheit jener dunklen Zeiten versteht es sich von selbst, daß die Erdbewohner jener versunkenen Welt diese Entdeckung nur als einmaligen «astrologischen Apparat» interpretieren konnten, der sich unter die antiken Bronze- und Marmorskulpturen jenes gestrandeten Schiffes verirrt hatte. Dies geht aus der Studie hervor, welche die Experten des erwähnten prähistorischen Zeitalters der Befruchter diesem Gegenstand gewidmet haben. Diese dokumentarischen Einzelheiten, für deren Wiederholung vor Eurer Höchsten Instanz ich mich entschuldige, sollen unterstreichen, wie wenig begründet die bereits zitierten Bedenken von Nefertiti und dem Ratsmitglied Staël waren.

Dank der präzisen Berechnungen der Technikerinnen des Expeditionskollegs konnte das Uraniaschiff seine Landung auf Klein-a bewerkstelligen, ohne – wie befürchtet – das Gleichgewicht der mit Zahnrädern ausgestatteten Tierkreismeßgeräte zu beeinträchtigen, die entworfen und ausgeführt wurden, um das Brontë-Zählwerk zu ersetzen; Concepcion hatte die Ratsmitglieder Pompadour und Isolde davon überzeugt, daß dessen Empfindlichkeit verantwortlich war für die Katastrophe der Semiramis, deren einzige Überlebende sie ist.

Die Mandelsonne, die auf unserem Erdplaneten morgens um 3 Uhr 15 Ortszeit über New-Isis (dem ehemaligen Kairo) aufgeht, ist ein halb so großer Stern wie unsere Sonne. Concepcion und Gene Dorothy haben ihr diesen Namen auf Grund ihrer länglichen Eiform gegeben, die durch eine Art doppelten Magnetstrom entsteht und entfernt an unsere «Sonnenflecken» erinnert – ein Phänomen, das wahrscheinlich durch eine dauernde Abfolge von Atomexplosionen ausgelöst wird, die aus einem unbekannten Grund diese spezifische Form angenommen haben. Während die Mandelsonne in der Minute, in der wir in Zone I aufsetzten, noch ein blasses Rosa zeigte, in dem sich der mandelförmige Umriß kaum abzeichnete, sollten wir später beobachten, daß sie am Ende ihrer Umlaufbahn einen ziemlich starken Rot-Ton annimmt, der mit dem unserer irdischen Sonne an Sommerabenden vergleichbar ist, und daß die Zeichnung, von der ich sprach, dann viel dunkler, beinahe schwarz erscheint, ähnlich wie eine Spindel, die von einer zweischaligen Lippenmuschel geformt ist.

Als erste stieg die Funkerin Marie-Claude aus, gefolgt von Margaret, die den Geigerzähler trug; da Concepcion die Zone I nur überflogen hatte, wußte sie nicht, ob dieser Teil des Satelliten durch seine mögliche Radioaktivität gefährlich war. Sobald Margaret uns seine Ungefährlichkeit gemeldet hatte, stiegen wir aus; Concepcion und ich an der Spitze, hinter uns Solveig und Natascha, die den elektronischen Wagen für Verpflegung und Zubehör ausluden. Nachdem wir vier Frieda geholfen hatten, den zerlegbaren Hubschrauber und die Nuklear-Waffen (eine schwere, vier leichte) auszuladen und die hermetische Schleusentür zu schließen, machten wir uns, sobald ich einen Blick in die Runde geworfen hatte, auf mein Signal hin auf den Weg.

Wie Concepcion es Eurer Höchsten Instanz beschrieben hat, ist der Boden in diesem rechteckigen Bereich der Zone I des Planet X genannten Satelliten von einer ziemlich intensiven rosa Fleischfarbe. Klein-a ist ein schön proportioniertes, leicht abfallendes Felsplateau, das im Osten und im Westen von einer überhängenden, abschüssigen Steilwand flankiert wird, wo das Gestein eine bläuliche Maserung aufweist, die von weitem wie flüssig anmutet, so als ob feine Rinnsale das Mineral mit einer auf das Auge angenehm wirkenden Regelmäßigkeit durchzögen. Unten an jeder dieser Steilwände rundet sich der Grat zweier Grotten, die genau symmetrisch sind – ein Phänomen, das uns nach Concepcions Beobachtung noch oft in dieser Landschaft begegnen soll. Der Eingang der Grotten wird von einer weitläufigen Volute aus hauchdünnem Gestein von dunklerem Rosa eingefaßt, die das Spiel der Mandelsonnenstrahlen manchmal in einen durchsichtigen Fächer von rosenroter Färbung verwandelt. In ihrer Mitte öffnet sich ein finsterer Schlund mit einem Durchmesser von ungefähr fünfhundert Metern, der von einigen dieser vereinzelten, rauhen und dunklen Gräser umsäumt ist, die man – wiederum nach Concepcions Beobachtung – nur in drei oder vier Zonen dieses wüstenartigen Satelliten antrifft. Sie verschoben ihre Erkundung auf später. Sie wurden fotografiert, und ich benannte sie Schlund A und Schlund B.

Gemäß der Topographie, die damals von der fliegenden Semiramis aus erstellt wurde, breitet sich im Norden von Klein-a der Einzige Wald aus. An seinem Saum hatte Solveig unsere Nausikaa mit einem äußerst geschickten Manöver aufgesetzt. Im Süden, wohin wir uns bewegten, erstrecken sich die beiden schmalen Wiesen, die den Kamm der Seensteilküsten bilden. Wir erreichten sie nach ungefähr einer Wegstunde, ohne der geringsten Spur von Fauna oder irgendeiner Besonderheit des Geländes begegnet zu sein, während die Mandelsonne zunehmend heißer brannte. Der Boden ist hier sandig und glatt, und die Hitze, die er ausstrahlt, wird sich im Sommer sicherlich noch verstärken.

Die beiden jeweils einen Kilometer langen Wiesen bestehen aus dem gleichen Gras, wie wir es bereits durch unser Fernglas an der Mündung der Schlünde A und B sehen konnten, nur ist es hier sehr viel üppiger. Es ist sehr dunkel und schimmert mitunter orangefarben. Es ist so hoch, daß es einer Frau bis an die Taille reicht. Diese Pflanzen wiesen keine Besonderheit auf, außer daß sie alle, wie unter einem ständigen Winddruck, in dieselbe Richtung geneigt zu sein scheinen und nicht struppig sind, wie die bereits beobachteten.

Die beiden geradlinigen Vegetationsstreifen rahmen den Fuß der Erhebung ein, die von dieser Begrenzung des Plateaus an aufsteigt und die Zone II beherrscht. In dem Maße, wie wir uns ihr näherten, wuchs am Horizont von Klein-a dieses Relief an, das ihn so exakt wie eine Zäsur zwischen den zwei Halbversen einer Gedichtzeile der Ratsnestorin Penelope teilt. Als wir bei den zwei jeweils etwa dreihundert Meter breiten Wiesen angekommen waren, entpuppte sich dieses Relief als steil abfallender Hügel mit einem schmalen Grat, der – bei einer relativ geringen Höhe – ungefähr zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter breit und fünf Kilometer lang ist und damit etwa der Länge des Plateaus entspricht. Da mir bekannt war, daß die Erhebung den Zone II genannten Bereich überragt, in dem die beiden Seen mit ihren abschüssigen Steilküsten liegen, und da ich wußte, daß wir nur dort das für einen längeren Aufenthalt notwendige Süßwasser finden konnten, gab ich Anweisung, am äußersten Ende, einer schmalen, rechteckigen Terrasse, haltzumachen. Während ich das neue Panorama mit dem Fernglas untersuchte, überzeugte sich Margaret davon, daß keinerlei Radioaktivität festzustellen war, und Natascha überprüfte die Funktionstüchtigkeit des Wagens und des Hubschraubers.

Das Gehen auf diesem Boden ist leicht, und es wäre von Vorteil gewesen, etwas leichtere Bleisohlen unter unseren Stiefeln zu haben, da das spezifische Gewicht dieses Satelliten dem des Mars-Systems – an dem wir uns gewöhnlich orientieren – ähnlicher ist, als wir nach Concepcions Bericht angenommen hatten. Sie gab es zu, und ich antwortete ihr, daß dies die einzige Ungenauigkeit sei, die ich bisher in ihrer Ortsbeschreibung feststellen konnte.

«Ich muß mich in meinen Berechnungen wohl geirrt haben», sagte die alte Topographin zu mir, «denn ich bemerke in der Tat, daß dieser Satellit, wenn man die Proportionen auf der Erde zugrundelegt, gut und gern einen Umfang von annähernd zehntausend Kilometern haben muß und daß sein Gewicht folglich etwas schwerer ist, als ich beim Überfliegen aufs Geratewohl geschätzt hatte. Der Tod meiner Gefährtinnen und die Schwierigkeiten, an Bord des Mini-Rettungsschiffs zu überleben, sind keine ausreichende Entschuldigung für diesen Irrtum, für den ich vor den Ratsmitgliedern Selbstkritik üben werde.»

Um die Skrupel dieser ehrenwerten Berühmtheit zu besänftigen, beglückwünschte ich sie dazu, daß sie mit Friedegunde (und mir) die Programmierung der Nausikaa nach den wiederentdeckten Plänen des «Objektes von Antikythera» gegen die anderslautende Meinung der gleichwohl fachkundigen und berühmten Nefertiti durchgefochten hatte. Und ich lieh ihr mein Fernglas, damit sie aus der Entfernung sehen konnte, wie stolz und gelassen unser am Saum des Einzigen Waldes stehendes Uraniaschiff glänzte. Vor dem dunklen und buschigen Hintergrund der noch unbekannten Bäume zeichnete sich die glatte, gewölbte Bronzemuschel wie eines dieser Schilder ab, die man in den Museen im Saal der Frühen Befruchter, Abteilung Zeitalter der Finsternis, sieht; und die schlanke Stange der Achse, die das größte Zahnrad auf dem Lager an der Backbordseite der Düsen bewegt. Über den Klappen der Bullaugen funkelte der große, abgerundete Knopf der Schleusentür. Das kleine Ruder unter dem Bauch hatte eine zarte Furche in den Staub gezeichnet. Concepcion gab mir das Glas zurück und antwortete:

«Närrisch und vielfältig sind die trügerischen Fragen, die im Herz einer alten Frau herumspuken. Aber wenn das Kristall des Universums auch nirgends in Vollkommenheit erstrahlt, so wissen wir doch zumindest, daß es danach strebt und daß unser Menschenherz nur dieses Streben widerspiegelt.»

«Wie wir in der Schule lernen, bedeutet die Abänderung des Begriffs Astronautin in Uranautin, daß der Himmel immer größer sein wird als die Gestirne», sagte ich respektvoll zu unserer Nestorin.

Solveig und Marie-Claude, deren fast symmetrische Silhouetten am Rande der Steilwand im Gegenlicht von einem Strahlenkranz der Mandelsonne umgeben waren, die durch ihre Haare leuchtete, riefen uns mit lauten Schreien und lebhaften Gesten; sie hatten gerade die Zwei Seen erblickt. Während Margaret ihre Känguruh-Kamera richtete und aus verschiedenen Blickwinkeln Aufnahmen schoß, versammelten sich die anderen an der Kante der Steilwand, wobei sie mit ihren Bleisohlen festen Halt suchten, um nicht vom Wind umgeblasen zu werden, der an jedem rechten Schenkel die leichte Nuklearwaffe hin- und herbewegte.

Ich kann bestätigen, daß diese beiden Wasserflächen genau der Skizze entsprechen, wiewohl die Pilotin und Obertopographin Concepcion sie mit einer von Wunden geschwächten Hand ausführte. Jeder der beiden klarumrissenen, ovalen Seen hat eine Ausdehnung von zweitausendachthundert Metern in der Länge und einem Kilometer in der Breite. Jeder wird an seinem unteren Teil von einer Reihe kleiner Bäumchen eingefaßt, die von anderer Art sind als die im Einzigen Wald, nämlich sehr dunkel, und von dem ständig über die Zone II wehenden Wind nach hinten umgebogen sind. Aus dieser Höhe erschien ihr Wasser äußerst klar, aber auf Grund eines eigenartigen Phänomens war es in der Mitte dunkler, so als ob ein unreiner Schatten es trübte. Sie lagen etwas zurückversetzt unter unserem Felsvorsprung, jeder am Fuß der nicht sehr hohen Steilküste, auf deren Kuppe sich jeweils eine der beiden Wiesen erstreckte. Daher schickte ich Solveig und Natascha hinüber auf die östliche und Marie-Claude und Margaret auf die westliche Wiese, um von dort mit dem Fallschirm abzuspringen, während Concepcion, Frieda und ich den flugs zusammengebauten Hubschrauber benutzten. Wir verabredeten, uns alle sechs am Fuß der höchsten Steilwand wiederzutreffen, der dritten, die von der rechteckigen Terrasse bekrönt wird, nachdem jede Gruppe beide Seen ganz umrundet haben würde.

«Führerin Ariane», fragte mich Margaret, «sollen wir dieses Wasser probieren?»

«Das werde ich in meiner Eigenschaft als Expeditionsleiterin selbst übernehmen», antwortete ich ihr. «Vergewissere du dich schon einmal, daß jenseits der Erhebung keine Radioaktivität vorkommt, und schieß eine Kurzstrecken-Alarmrakete ab, wenn dir irgend etwas verdächtig vorkommt.»

«Führerin Ariane», fragte Natascha, «werden wir bald den Schlund C im Süden der Erhebung untersuchen?»

«Alles zu seiner Zeit», antwortete ich diesem von Neugier gepeinigten Nesthäkchen, «ich habe ihn sehr wohl gesehen, aber die vornehmste Regel der Patrouillen ist es, keine Handbreit Gelände unkontrolliert zu lassen, bevor man das Weitere erkundet.»

Bald sanken vier Schneeflocken, gleich jenen Löwenzahnstaubgefäßen, welche die kleinen Mädchen auf den Lexika pusten, langsam von den grasbewachsenen Kanten der beiden Zwillingswände an das Ufer der Binnengewässer hinab. Gleichzeitig hob vom höchsten Punkt des Vorsprungs der Hubschrauber ab und landete kurz darauf mit Frieda, der alten Topographin und mir zwischen dem Fuß der dritten Steilwand und dem Schlund C, aus dem wir von weitem dichten Brodem aufsteigen sehen konnten.

Dort erwartete uns übrigens eine Überraschung, die Concepcion nicht hatte voraussehen können und die zu den Einzelheiten gehört, welche bei einem so gefahrvollen und flüchtigen Überfliegen unmöglich auszumachen sind. Die letztere, bei weitem höchste Wand wurde von zwei Grotten durchbrochen, aus deren von Gestrüpp versperrtem Eingang – zwei riesigen ovalen Mündungen – ein lauer, nach Moschus, Pfeffer und Morast riechender Wind wehte. Wie vor jedem unbekannten Eingang legten wir sogleich die Hand um die leichte Nuklearwaffe. Mir fiel die flache, innen an das linke Handgelenk gebundene Klinge ein, und ich prüfte meine Standfestigkeit, während der Zeigefinger bereit war, auf den Knopf zu drücken, der die Sohlen abstößt, so daß man auf einem Planeten mit geringer Dichte zwei- bis dreimal so hoch springen kann, wie eine Frau groß ist. Aber diese Vorsichtsmaßnahmen waren automatisch, denn nach meiner innersten Überzeugung hatte ich Vertrauen zu diesem Satelliten, den ich trotz des Dramas der Semiramis für harmlos hielt. Tatsächlich machte sich kein Tier, kein Eingeborener, keine gefährliche Naturerscheinung an dem doppelten Portikus dieser von einer hohen und starren Säule zweigeteilten Grotte bemerkbar. Ihr rötlicher Fels fühlte sich körnig an, war aber sauber und glatt umrissen und wie von einem heute versiegelten, unterirdischen Rieseln leicht befeuchtet.

Ich teilte Concepcion meine Absicht mit, diese neuentdeckten Vertiefungen später zu erforschen. Sie stimmte mir zu und machte mich auf eine Art dumpfes, aus dem Inneren dieser Öffnungen heraufdringendes Grollen aufmerksam, deren Ausdünstungen heiß genug waren, um vielleicht auf einen verschütteten Vulkan hinzuweisen.

Am Ufer des westlichen Sees trafen wir Marie-Claude und Margaret wieder. Sie standen gegen die Stämme der Bäumchen gelehnt, die kaum größer waren als sie selbst und anscheinend von einem sorgsamen Gärtner in einer ebenmäßigen, leicht geschweiften, dem Seeufer folgenden Reihe angepflanzt worden waren. Ich behielt diese Überlegung für mich und behielt mir vor, sie unserer Nestorin mitzuteilen.

«Keine Radioaktivität, kein Tier in Sicht», sagte Margaret.

«Abnehmender atmosphärischer Druck, leicht zurückgehende Temperatur», sagte Marie-Claude.

Ich warf einen Kieselstein ins Wasser, das leicht auf das Ufer spritzte. Dann trank ich davon aus der hohlen Hand.

«Es ist salzig», sagte ich.

Das war eine bedeutsame Feststellung, die Concepcion sogleich auf das tragbare Minimagnetophon sprach. Sie schöpfte ein wenig von diesem Wasser in eines der Fläschchen aus dem Kofferlabor. Ich ordnete an, den Hubschrauber an den Rand der leicht abfallenden Böschung zu bringen, und übernahm allein die Bedienungshebel. Ich flog die Maschine zum Mittelpunkt der Wasserfläche, bis hin zu der Stelle, wo sich dieser dunkle Fleck zeigte, der mich neugierig machte. Ich entrollte die Sonde; sie sank achthundert Meter tief. Anschließend fuhr ich eine Analyse-Antenne mit doppeltem Register aus und sammelte die folgenden, sofort an Concepcion übermittelten Daten, die mit dem Empfangsgerät am Uferrand stand: leicht salziges, nicht-kalkhaltiges Wasser ohne jegliche Verschmutzung, das genau an dieser Stelle-der Seemitte – von einer strudelnden Strömung erfaßt wird. Diese scheint auf eine Vertiefung des Grundes hinzudeuten und bewirkt jene große, rundliche Lache, die viel dunkler ist als das übrige Wasser.

Im gleichen Moment, in dem ich wieder auf dem Boden aufsetzte, tauchten Natascha und Solveig auf; sie waren vom Laufen ganz außer Atem; lachend und sich haschend waren sie mit aufeinanderfolgenden Sprüngen um den Kamm der Erhebung geschnellt. «Habt ihr die Grotten gesehen?» fragten sie, während sie ihre Bleisohlen wieder zurechtrückten.

Nicht an der vereinbarten Stelle auf uns gewartet zu haben, war ein Akt des Ungehorsams. Ohne Strenge hielt ich es ihnen vor. Die Pilotin Solveig hatte auf Grund ihrer beruflichen Qualifikation und ihres hohen theoretischen Wissensstandes das Privileg erhalten, ihre Tochter mit auf diese Expedition zu nehmen. Da Natascha nach dem Modell ihrer Mutter programmiert war (mit der gleichen strengen Genauigkeit wie jedwede im Ektogenetischen Zeitalter) und offensichtlich die gleichen Qualitäten versprach, hatte ich darüber vergessen – und klage mich dessen vor Eurem Rat an –, daß der Altersunterschied freilich ein abweichendes Verhalten mit sich bringt. Ein vierzehnjähriges Mädchen ist eben nur eine Miniaturausgabe seiner Mutter und nicht deren Zwillingsschwester. Daher hatte ich als Kommandoführende die Konsequenzen zu tragen und nicht meine Expeditionsgefährtinnen.

Wir kehrten zum Eingang der Grotten zurück, wo der elektronische Wagen bereitstand; wir beluden ihn mit einigen unwesentlichen Funden wie Büscheln von Gestrüpp, Gräsern und Steinchen. Die Mandelsonne stand schon hoch am Himmel, und ich beschloß, zu unserer Erholung am Rande von Schlund C, der die Zone II im Süden begrenzt, Rast zu machen. Concepcion sagte zu mir:

«Der Unfall und das Fieber haben meinen Geist vielleicht verwirrt, als ich während des Überfliegens meine Aufzeichnungen machte. Aber vielleicht zeigt sich das Phänomen, das ich damals beobachtet habe, auch nicht zum jetzigen Zeitpunkt, der siebenten Morgenstunde in New-Isis.»

«Die Wolke über den Zwei Seen?» fragte ich. «Sie haben es vor dem Rat zu knapp dargestellt, als daß ich mich im einzelnen daran erinnern könnte.»

«Eine Wolke oder ich weiß nicht was sonst», sagte sie, «die sich vom oberen Gestade über beide auszudehnen scheint, wobei sie die übrige Landschaft ausspart, die Wasserfläche aber vollständig verdunkelt.»

«Könnte es nicht eher der kegelförmige Schatten des Strudels in der Mitte sein, der an Umfang zunimmt, bis er die Ufer berührt?»

«Ich weiß es nicht. Führerin Ariane, ich möchte Sie bitten, vom Beginn bis zum Ende des Satellitenumlaufs um die Mandelsonne, das heißt sechs Stunden, an dieser Stelle eine Wache aufzustellen; so werden wir erfahren, ob ein derartiger Effekt irgend etwas für die Kenntnis vom Planeten X bedeutet, falls er sich nur zu bestimmten Zeiten einstellt.»

«Sehr gut. Ich bin ebenfalls dieser Meinung.»

Ich stellte Natascha als Posten auf; das war eine leichte Bestrafung für den Fehler, den sie eben begangen hatte. Es ist immer harmloser, die Mutter von der Tochter als ein Paar zu trennen.

Meine Maßnahme, die im Fall von Margaret und Marie-Claude zu leidenschaftlichen Ausbrüchen geführt hätte, bewirkte bei Solveig, die sich schweigend abwandte, lediglich ein Stirnrunzeln und ein gedemütigtes Verziehen des Mundes. Natascha dagegen verlangte völlig unbekümmert ihre Ration an gekeimtem Korn und Farinzucker, setzte sich ans Ufer des westlichen Sees, stopfte ihre Fallschirm-Handschuhe in die Bauchtasche und legte ihren Sender, ihr Minimagnetophon und ihren Raketenwerfer neben sich. Sie machte sich an ihre erste Mahlzeit auf dem Satelliten, und wir entfernten uns.

(O immerwährendes Trachten und Suchen nach «der unerreichbaren Welt von Kristall, in der die Vollkommenheit ihre Schläfe zur Ruhe betten würde». Möge Eure Höchste Instanz mir vergeben.)

2 Schlund C. Zone III

In der Schule lernen wir, daß die Krisen, Siege und Kämpfe der Anfänge des Ektogenetischen Zeitalters um den zentralen Konflikt zwischen denen kreisten, die die prähistorischen Erinnerungen bewahren wollten, und jenen, die diese ablehnten. Es ging dabei nicht nur um die Erinnerungen an die christ-liche Ära, sondern um die an die ganze Epoche der Finsternis, das heißt das gesamte Zeitalter der Befruchter. ‹Delendus est animus›, lautet die Inschrift, die in goldenen Lettern am Türgiebel des Smaragd-Kollegs leuchtet; dieser Ausruf der großen Valerie erinnert uns an die Epoche der Kontroversen und inneren Kämpfe um die präzisen, wesentlichen Fragen der Ausrottung der letzten Reservate und Männerharems; als genealogische Zeugen der Vergangenheit waren diese für die letzten Schwächen unserer ältesten Kämpferinnen, in deren Adern noch männliches Blut floß, erhalten worden. Ich habe nicht vergessen, daß eine der letzten von ihnen die Mutter von Concepcion war, die im Alter von hundert Jahren starb, und daß Concepcion selbst in unserer Zeit zweifellos die einzige Erdbewohnerin ist, die dem verschwundenen Animus aus der Zeit vor unserer Weltrevolution einige Züge verdankt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie es selbst als Makel empfindet und daß sie deshalb mit dieser außergewöhnlichen Demut reagiert hat und die Ratsherinnen-Raute – trotz ihres an Bord der Semiramis gezeigten Heldenmutes und der mehr als bewunderswerten Genauigkeit einer unter solchen Bedingungen erstellten Planetenbeschreibung – abgelehnt hat.

Unterwegs betrachtete ich die fein verästelte Lederhaut am Hals und im Gesicht unter dem schlohweißen Haarschopf, die gerade Haltung der Schultern unter dem Asbest des Koppels. Sie stand vorn im Wagen, dessen Meßgeräte unentwegt knatterten und Druck, Position, Höhe, Temperatur und geologische Veränderungen anzeigten. Sie war es auch, die mich nach einem Blick durch ihr Präzisionsfernglas auf die seltsame Form des Weges hinwies, der wie ein großes V von der Doppelmündung der Grotten zu den Dämpfen von Schlund C führte. Im Osten und im Westen dehnten sich, so weit das Auge reichte, Sandebenen aus; eine wüstenartige Gegend, in der ein Wind ohne große Überzeugung durch flache Dünen wirbelte. Die Mandelsonne hatte ihre Umlaufbahn halb durchzogen und schien senkrecht auf unsere Köpfe.

«Ich weiß, weshalb Nefertiti und Staël den Plänen für die Nausikaa nicht trauten», sagte sie zu mir, als ob das gut durchdachte Training der Intuition, das an unserem Kolleg gelehrt wird, sie befähige, in meinen Gedankengang einzudringen. «Da ihr Vorbild das ‹Objekt von Antikythera› war, bedeutete ihre Verwirklichung eine Gefahr, und zwar die Gefahr eines Rückfalls in die finstere Vergangenheit.»