Das Geheimnis des Schneemanns - Nicholas Blake - E-Book
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Das Geheimnis des Schneemanns E-Book

Nicholas Blake

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

»Mr. Strangeways, ich wüsste gern, ob Sie das Übernatürliche akzeptieren.« Im ehrwürdigen Easterham Manor gehen sonderbare Dinge vor sich. Zu Heiligabend haben sich Familie und Freunde versammelt, um zu ergründen, was es mit einer alten Spuklegende auf sich hat. Und tatsächlich scheint zumindest die Katze Gespenster zu sehen. Doch dann geschieht ein Mord, und nichts ist mehr, wie es war... Als Privatdetektiv Nigel Strangeways gemeinsam mit seiner Frau Georgia zu einer Tante nach Essex reist, glaubt er noch, er sei nur eingeladen worden, um das rätselhafte Verhalten einer Katze aufzuklären. Doch schnell wird klar, dass der Geist, der offenbar seit Heiligabend in Easterham Manor sein Unwesen treibt, es nicht auf Katzen abgesehen hat, sondern auf sehr reale Menschen. Als ein Mitglied der Familie Restorick in Easterham zu Tode kommt, erwacht der Spürsinn des Detektivs. Welche Geheimnisse birgt das alte Gemäuer, in dem es angeblich spukt? Und welche Absichten verbergen die Gäste der Restoricks?

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Seitenzahl: 339

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Cover for EPUB

Nicholas Blake

Das Geheimnis des Schneemanns

Eine weihnachtliche Kriminalgeschichte

Aus dem Englischen von Michael von Killisch-Horn

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Case of the Abominable Snowman« im Verlag Collins Crime Club, Glasgow

© 1941 by Literary Executor of the Estate of C. Day-Lewis

Für die deutsche Ausgabe

© 2021, 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration von © Dieter Braun, Hamburg

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98744-7

E-Book ISBN 978-3-608-11699-1

Kapitel 1

Wär ich ein Possenkönig doch aus Schnee.

WILLIAM SHAKESPEARE

Der große Frost von 1940 war vorüber. Das große Tauwetter hatte eingesetzt. Zwei Monate lang hatte das flache Land um Easterham Manor unter einer eintönigen Schneedecke gelegen, die wie ein Zauberer die vertrautesten Orientierungspunkte in seltsame und stumme Gestalten verwandelte. Durch die beschlagenen Fensterscheiben des Kinderzimmers starrend, konnten John und Priscilla Restorick Easterham Village sehen, das, eine Meile entfernt, allmählich aus seiner schneeweißen Trance erwachte. In dieser Landschaft aus flachen Feldern und kurvenreichen, heckenlosen Straßen gab es außer den Dörfern wenig, was das ständige Toben der Schneestürme aufhalten konnte. Easterham lag halb begraben unter Schneeverwehungen. Immer wenn Männer Korridore durch die einzige Straße oder die Hinterhöfe gegraben hatten, waren sie sofort wieder zugeschneit worden. Heute glich Easterham einer Reihe von halb beendeten Ausgrabungen in einer weißen Wüste; von den roten Dächern gleitend, unter den Schritten der Einwohner zu gelblichem Matsch schmelzend, von den Ulmen des Pfarrhauses prasselnd, nur noch eine löchrige Schneedecke auf den Parzellen bildend, ließ der Schnee allmählich die Umrisse des Dorfs erkennen, das die Kinder kannten.

Doch Johns und Priscillas Aufmerksamkeit galt nicht dem Dorf. Sie starrten mit der tiefen Versunkenheit ihres Alters auf den Schneemann direkt unter ihrem Fenster.

»Queen Victoria wird liquidiert«, murmelte John, der die Gabe hatte, abgedroschene Wörter der Älteren aufzugabeln und sie aufzumöbeln. Er benutzte dieses Wort sotto voce, weil er wusste, dass sein Vater das absolut nicht guthieß. Es war ohne jeden Zweifel – wie »Dirne« und »verdammt« – eines jener Wörter, die Shakespeare und die Erwachsenen ruhig benutzen durften, die aber für Kinder nicht geeignet waren. Will Dykes, der Freund ihrer Mutter, der bei ihnen wohnte, hatte es einmal beim Mittagessen gebraucht; und ihr Vater hatte auf tadelnde Weise, die John schmerzlich vertraut war, langsam die Augen geschlossen und einen schockierten Nicht-vor-den-Kindern-Gesichtsausdruck aufgesetzt.

»Queen Victoria wird liquidiert«, murmelte John erneut, wobei er das Wort genüsslich auf seiner Zunge zergehen ließ und beobachtete, wie ein weiterer Schneeklumpen von der sich auflösenden Witwe glitt.

»Queen Victoria wird dekontaminiert«, rief Priscilla, die ihm nicht nachstehen wollte. Sie rieb die beschlagene Stelle auf dem Fenster, auf die sie ihre Stupsnase gedrückt hatte.

»Du bist eine Närrin«, sagte John leutselig. »Dekontaminieren ist das, was man mit dir macht, wenn du mit Senfgas in Berührung gekommen bist. Sonst bekommst du verdammt große Blasen, die aufplatzen.«

»Du sollst dieses Wort doch nicht benutzen.«

»Ist mir doch egal. Tante Betty hat es auch immer benutzt.«

»Sie war erwachsen. Außerdem ist sie tot.«

»Was macht das für einen Unterschied? Sag mal, Maus, findest du nicht auch, dass das mit Tante Betty ziemlich seltsam war?«

»Seltsam? Was meinst du, Ratte?«

»Na ja, dass die ganze Zeit Polizisten da waren und die Erwachsenen wie verrückt herumwuselten.«

»Die wuselten nicht herum. Sie saßen alle da, als … als warteten sie auf einen Zug. Ja«, führte Priscilla aus, »es war, als würden wir in die Sommerferien fahren. Alle setzen sich hin, stehen wieder auf, stürmen davon und sind zu beschäftigt, um mit uns zu spielen, und du weißt nie, ob sie besonders nett zu dir sein werden oder dir den Kopf abreißen.«

»Aber es gibt keine Polizisten, die herumwuseln, wenn du in die Ferien fährst.«

»Ich mag Mr Strangeways. Er ist mein liebster Polizist.«

»Er ist kein Polizist, du Leopard. Er ist ein Privatimitator.«

»Was ist das?«

»Das ist … na ja, eben ein Privatimitator, wie Sherlock Holmes. Er klebt sich einen falschen Bart an und verfolgt den Verbrecher bis zu seinem Versteck, wenn die Polizei nicht mehr weiterweiß.«

»Warum kann er den Verbrecher nicht bis zu seinem Versteck verfolgen, ohne sich einen Bart anzukleben? Ich mag Bärte nicht. Es kitzelt, wenn Dr. Bogan mich küsst.«

»Sei kein Esel. Er klebt sich einen falschen Bart an … na ja, das gehört zu den Dingen, die du verstehen wirst, wenn du älter bist.«

»Ich habe Mr Strangeways nie mit einem falschen Bart gesehen. Und überhaupt, ich bin so alt wie du, Zwillingsratte.«

»Du bist zehn Minuten nach mir geboren worden.«

»Frauen sind für ihr Alter immer weiter als Männer, das weiß doch jeder.«

»So ein Blödsinn! Du bist keine Frau. Du bist ein Wickelkind.«

»Benimm dich nicht wie Miss Ainsley. Sie ist ein arroganter Vampir.«

»Ist sie nicht. Sie hat Onkel Andrew und uns geholfen, den Schneemann zu bauen.«

»Ist sie wohl. Sie hat blutige Fingernägel und spitze weiße Zähne.«

»Damit sie dich besser fressen kann. Tante Betty hat ihre Fingernägel rot lackiert. Und ihre Fußnägel. Ich habe sie gesehen, in der Nacht, als sie hereinkam.«

»In welcher Nacht?«, fragte Priscilla.

»In der Nacht, in der sie starb und in den Himmel kam. Sie kam herein und sah mich an, und dann ging sie wieder hinaus. Sie dachte, ich würde schlafen. Ihr Gesicht war totenbleich. Ich konnte sie im Mondlicht erkennen. Sie sah ganz gefroren aus, wie ein Schneemann.«

»Ich nehme an, es war ihr Geist.«

»Sei kein Esel«, sagte John eine Spur weniger selbstsicher. »Wie konnte sie ein Geist sein, wo sie noch gar nicht tot war?«

»Na ja, es wäre nicht das erste Mal, dass ein Geist in diesem schimmligen Haus herumspukt.«

»Was faselst du denn da?

»Das ist ein Geheimnis. Ich hörte Daddy und Mr Strangeways … Psst, da kommt jemand!«

Hereward Restorick betrat das Kinderzimmer. Der Vater der Zwillinge war ein ehemaliger Armeeoffizier und Gutsbesitzer durch und durch. Sein flachsfarbener, herabhängender Schnurrbart, den er länger trug, als es in der Kavallerie Mode war, erinnerte an seine sächsische Abstammung. Das Geschlecht der Restoricks of Easterham war älter als das Domesday Book.

Hereward blickte sich beunruhigt im Kinderzimmer um; er wirkte wie ein Offizier, der seine Männer inspiziert, den Kopf aber woanders hat.

»Was ist das denn?«, fragte er und deutete auf eine Anhäufung von Spielsachen auf dem Fußboden.

John schob seine Unterlippe vor, als wollte er sich gegen Ärger wappnen. Aber Priscilla war nicht im Geringsten beeindruckt. Mit einer siegesgewissen, eigensinnigen Geste, die sie von ihrer amerikanischen Mutter hatte, warf sie ihre dunklen Locken zurück und sagte:

»Wir misten den Spielzeugschrank aus, Daddy.«

»Ihr mistet aus? Hm. Nun ja, John kann das zu Ende bringen. Es ist Zeit für deinen Musikunterricht, kleiner Lockenkopf.«

Der hohe Schnee und die Quarantäne wegen Masern hatten die Kinder in diesem Halbjahr von der Schule ferngehalten, und ihre Eltern hatten ihnen gelegentlich Unterricht erteilt. Hereward Restorick besaß, eher überraschend für jene, die in ihm den Inbegriff eines Freiluftsportlers sahen, eine Begabung für das Klavier.

Priscilla lief zu ihm, nahm seine Hand und zog ihn aufgeregt zur Tür. Als sie hinausgingen, blickte er noch einmal zu seinem Sohn, der schon wieder aus dem Fenster starrte.

»Mach weiter, alter Mann«, sagte er – nicht unfreundlich, aber mit unterdrückter Ungeduld in seiner Stimme, was dafür sorgte, dass der Junge sich ein wenig versteifte. »Räum das auf. Du kannst nicht den ganzen Vormittag vertrödeln.«

»Wir haben beobachtet, wie der Schneemann schmilzt.«

»Das ist schon in Ordnung. Aber er wird auch noch da sein, wenn du aufgeräumt hast. Das Luftgewehr ist doch nicht etwa geladen, oder? Bist du sicher?«

»Onkel Andrew sagte, ich könnte aus dem Fenster auf Vögel schießen, als er es mir gab.«

»Ich fragte dich, ob es geladen ist, Sohn.«

»Es muss bereit sein, falls ich plötzlich einen Vogel sehe, und …«

»Hab ich dir nicht gesagt, dass ein Gewehr niemals geladen sein darf? Du bist zehn, und es wird Zeit, dass du lernst, wie gefährlich Feuerwaffen sind. Also bitte, ich will sehen, dass du die Kugel herausnimmst. Sofort, bevor du es vergisst.«

John tat, wie ihm geheißen. Er war kein ängstliches Kind, aber er wusste, dass es besser war, das jähzornige, furchterregende Temperament seines Vaters nicht durch Ungehorsam zu provozieren. Instinktiv erkannte er, dass sein Vater, der normalerweise ein geduldiger, freundlicher Mann war, gerade leicht reizbar war und beim geringsten Anlass explodieren konnte. Er hatte sich irgendwie verändert in letzter Zeit, daran bestand kein Zweifel. Das hatte damit zu tun, dass die Atmosphäre im Haus seit Tante Bettys Tod eine andere geworden war; all das war Teil eines verwirrenden Bildes, zu dem für John auch seine Abwesenheit von der Schule gehörte, das Kommen und Gehen der Polizisten, die geplatzten Rohrleitungen, der Schneemann und die gedämpften Unterhaltungen der Erwachsenen, die abrupt abbrachen, wenn er oder Priscilla den Raum betraten. Das gestörte Gleichgewicht eines Haushalts, der sonst so reibungslos lief wie ein Acht-Zylinder-Motor.

John stellte das Luftgewehr in eine Ecke und kehrte zum Fenster zurück. Er öffnete es und lehnte sich hinaus. Überall machte sich das Tauwetter bemerkbar: in dem Schnee, der von den Nadelbäumen hinter dem Tennisplatz blätterte, in der feuchten, milden Luft, die sein Gesicht sanft streichelte, und vor allem in der dahinplätschernden Musik in den Dachrinnen, deren Strom am Ende in einem Miniaturwasserfall in den Steingarten stürzte, und in der ganzen schmelzenden Landschaft dahinter.

Nur der Schneemann schien dieser allgemeinen Auflösung zu widerstehen. Seine Oberfläche hatte zwar ein pockennarbiges, gekörntes Aussehen angenommen, doch seine plumpe Gestalt bewahrte noch immer etwas von der Form, die seine Erbauer ihm gegeben hatten; der Schnee ringsum, festgetreten von vielen Füßen, erinnerte John an seine Verfertigung und an seinen Traum. Er dachte an den Nachmittag vor ein paar Wochen, als Onkel Andrew, Mr Strangeways, Priscilla und er ihn gebaut hatten. Miss Ainsley war auch dabei gewesen, sie trug scharlachrote Wollhandschuhe und pelzbesetzte Schneestiefel und machte eine Menge verrückter, komischer Bemerkungen, die er nicht verstand. Sie war diese Art Frau, die herumsaß und alles kommentierte. Sie hatte sogar einen Küchenstuhl, um sich hinsetzen zu können, aber Onkel Andrew kippte sie sehr bald herunter und ließ sie in den Schnee kullern. Miss Ainsley lachte herzlich und nahm die Sache sportlich; John glaubte allerdings, dass sie das nicht annähernd so amüsant fand, wie sie behauptete. Dann nahm Onkel Andrew den Stuhl, um darauf den Schneemann zu platzieren. Er sagte, der Stuhl sei ein Thron und der Schneemann Queen Victoria; und Miss Ainsley sagte irgendetwas Vulgäres über die gute Queen, die Hämorrhoiden bekäme, wenn sie draußen im Schnee säße. Die Kinder rollten große Kugeln aus dem feuchten, klebrigen Schnee, die Onkel Andrew in die richtige Position hob und daran schabte und drückte, bis er eine Gestalt geformt hatte, die tatsächlich so aussah wie die Queen in Johns Geschichtsbuch. Dann drückten sie Halfpennymünzen als Augen ins Gesicht, und Miss Ainsley fand eine alte Witwenhaube im Kostümschrank, die sie dem Schneemann auf den Kopf setzten. Doch aus irgendeinem Grund missfiel Daddy das, als er nach draußen kam, um das Ergebnis zu begutachten, und sie mussten die Haube wieder entfernen.

Als er jetzt auf den Schneemann hinunterschaute, empfand John ein eigenartiges Hochgefühl. Es war, als wäre er Gott, der vom Himmel herabblickt und dem Schneemann befiehlt zu schmelzen. Eine der Halfpennymünzen fiel geräuschlos aus der Augenhöhle. »Das ist des Herrn Wille und wundervoll in unseren Augen«, murmelte John träumerisch. Er wollte, dass ein Riss im Kopf des Schneemanns erschien, und siehe da, der Riss erschien tatsächlich. »Schau mal, Maus, Queen Victoria hat einen Riss!«, rief er, ganz vergessend, dass seine Schwester ja gar nicht mehr im Zimmer war.

Erneut erinnerte er sich an seinen Traum. Er war über eine Woche her, aber in ihm noch immer ungewöhnlich lebendig. Er hatte geträumt, dass er mitten in der Nacht aufwachte und zum Fenster ging. Es war eine mondlose, aber sternenhelle Nacht. Ein paar Meilen entfernt waren die Suchscheinwerfer der Outer Defences senkrecht in den Himmel gerichtet, wie eine Palisade aus Licht. Auf dem Rasen unten konnte er nur die schimmernde, gedrungene Gestalt des Schneemanns erkennen. Aber in seinem Traum verschwand sie und tauchte wieder auf, immerzu, als ginge jemand vor ihr auf und ab (wie er am nächsten Morgen dachte). Es war fast so, als baute jemand einen zweiten Schneemann, doch am nächsten Morgen stand Queen Victoria noch immer allein da, ohne Gefährte: ein bisschen dicker und weniger verlottert vielleicht, weil in der Nacht Neuschnee gefallen war, aber immer noch in ihrer ganzen majestätischen Pracht.

Er hatte seinen Traum niemandem erzählt, außer Priscilla, und in seiner Aufgeregtheit wegen des Luftgewehrs, das er von Onkel Andrew bekommen hatte, hatte er ihn vorübergehend vergessen. Doch als es an diesem Morgen keine pummeligen Vögel mit zerzausten Federn auf dem Rasen gab, auf die er zielen konnte, weil das Tauwetter sie auf ihre normalen Winterwege zurückgeschickt hatte, schien es John, als erlebte er seinen Traum noch einmal.

Es war seltsam, dachte er vage, dass dieser Traum ihn überhaupt nicht erschreckt, sondern nur interessiert und – nur leicht – beunruhigt hatte, als wäre ein Teil von ihm unten auf dem Rasen, während der andere Teil vom Fenster aus zuschaute.

Priscillas Klavierspiel im Gesellschaftszimmer unten hörte auf. Überall herrschte Stille, mit Ausnahme des leisen Plätscherns des tauenden Schnees. Johns Pony in der Koppel schlug plötzlich aus und galoppierte zur Hecke, wobei es den Schnee aufspritzen ließ. Priscilla rannte die Treppe herauf. Unten erschien Mummy, in Gummistiefeln, und sprach mit dem Gärtner. John erinnerte sich, dass er Priscilla etwas fragen wollte.

»Sag mal«, rief er, als sie ins Kinderzimmer kam, »was war das vorhin für ein Unsinn über einen Geist?«

»Selber Unsinn. Ich hörte, wie sie darüber sprachen. Scribbles hat den Geist auf jeden Fall gesehen, sagte Mummy.«

»Katzen sehen keine Geister.«

»Scribbles ist eine sehr kluge Katze.«

»Scribbles ist ein ungezogener alter Stinkstiefel. Wo soll sie ihn denn gesehen haben?«

»Im Bischofszimmer. Das ist alles, was ich gehört habe. Sie brachen das Gespräch ab, als sie sahen, dass ich lauschte. Ach ja, und einer sagte, dass Scribbles merkwürdig aufgedreht war.«

»Aufgedreht? Das ist hirnrissiges Gewäsch. Komm mal her, Maus, und schau dir Queen Victoria an. Sie ist auch rissig.«

Die Kinder lehnten sich Seite an Seite aus dem Fenster. Als sie hinunterblickten, hatte sich der Riss auf dem Kopf des Schneemanns vergrößert. Ein Brocken Schnee glitt sanft wie ein Kameraverschluss über sein Gesicht. Das Gesicht hätte nun eigentlich verschwunden sein müssen. Aber es war immer noch da. Der gedrungene, unförmige Schneemann hatte noch immer ein Gesicht – ein Gesicht, das fast so weiß war wie der Schnee, der es bedeckt hatte, das tote menschliche Gesicht von jemandem, der dort absolut nicht hätte sein dürfen.

John und Priscilla tauschten einen starren, entsetzten Blick aus. Dann rannten sie zur Tür und stürmten die Treppe hinunter.

»Daddy! Daddy!«, schrie John. »Komm schnell! Da ist jemand im Schneemann! Es ist …«

Kapitel 2

Erfindungs-Fantasie, nie mehr gefordert,als wenn der Schönheit aufzuwarten sie bestellt ist.

WILLIAM COWPER

Nigel Strangeways Verstrickung in die makabren und tragischen Ereignisse, die er später den »Fall des abscheulichen Schneemanns« nennen sollte, erfolgte ein paar Wochen, bevor der Schneemann sein Geheimnis preisgab – durch einen Brief an seine Frau Georgia. Mit einem amüsierten Schmunzeln reichte sie ihm den Brief über den Frühstückstisch in ihrem Cottage in Devonshire. Er war auf dickem, cremefarbenem Papier mit dem Briefkopf »The Dower House, Easterham, Essex« geschrieben, in einer Handschrift von besonderer Eigenart und Zartheit. Nigel begann ihn vorzulesen:

»Liebe Cousine Georgia,

es würde einer alten Frau große Freude bereiten, wenn Du und Dein Mann ihr die Ehre erweisen würdet, sie zu besuchen. Ich lebe, wie Du weißt, sehr zurückgezogen von der Welt, und es wäre überaus angenehm für mich, eure Gesellschaft für eine Woche genießen zu dürfen, falls ihr euch entschließen könntet, in diesen unersprießlichen Zeiten die Reise auf euch zu nehmen. Ich bin mir der Unannehmlichkeiten bewusst, die meine Bitte euch bereiten muss; aber abgesehen von der Freude, die euer Besuch mir machen würde, habe ich ein kleines Problem, das, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, die Neugier Deines Mannes, dessen Ruf bis in meine ländliche Abgeschiedenheit gedrungen ist, wecken könnte. Das Problem betrifft, um es kurz zu machen, eine Katze …«

»Oh, also wirklich«, protestierte Nigel, »ich kann doch nicht kurz mal nach Essex fahren, nur um eine vermisste Katze zu suchen.«

»Lies weiter. Es geht um mehr als nur um eine verschwundene Katze.«

»… eine Katze«, fuhr Nigel fort, »die Hereward Restorick von Easterham Manor gehört. Ich bin, hoffe ich, keine Fantastin, wenn ich erkläre, dass hinter dem Benehmen dieser Katze mehr steckt, als auf den ersten Blick erkennbar ist – um eine abgedroschene Phrase zu benutzen. So unvorhersehbar die Gepflogenheiten dieser Sippschaft auch sein mögen, haben wir doch Anlass, uns zu wundern, wenn solch ein Geschöpf allgemeinen Alarm auslöst, indem es sich in einen wahnsinnigen Derwisch verwandelt. Auch wenn ich mich im Herbst meines Lebens befinde, gehe ich davon aus, dass ich noch genügend Verstand besitze, um nicht dem Übernatürlichen zuzuschreiben, was sicherlich mit Vernunft gelöst werden kann. Sollte der scharfsinnige Mr Strangeways meine armseligen Beobachtungen durch seine Fingerzeige ergänzen, würde er, daran hege ich keinen Zweifel, Licht ins Dunkel bringen und damit die Neugier – nein, die schlimmsten Befürchtungen befrieden.

Deine ergebene Cousine

Clarissa Cavendish«

Als Nigel nach dem Vorlesen dieses außergewöhnlichen Briefs wieder zu Atem gekommen war, sagte er zu Georgia:

»Also sag mal, du hast ja ganz schön exzentrische Verwandte. Wer ist denn diese Fantastin aus dem achtzehnten Jahrhundert?«

»Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Nicht seit sie nach Easterham gezogen ist. Ein Großonkel von mir hinterließ ihr ein hübsches Sümmchen Geld, und sie kaufte das Dower House, und deswegen versuchten sie, sie in die Klapse zu stecken.«

»Georgia, Liebling, sprich bitte am frühen Morgen nicht in Rätseln. Warum sollten sie sie in die Klapse stecken, weil sie ein Dower House gekauft hat? Und wer sind ›sie‹?«

»Die Cousins, die dachten, dass ihr das Erbe nicht zusteht, natürlich. Und der Grund war nicht, dass sie das Haus gekauft hat, sondern dass sie sich so seltsam benahm, nachdem sie es gekauft hatte.«

»Zum Beispiel?«

»Oh, das wirst du alles sehen, wenn wir dort sind.«

»Jetzt, Georgia, jetzt. Der scharfsinnige Mr Strangeways wird nicht den ganzen Weg nach Essex auf sich nehmen, noch dazu in Kriegszeiten, nur um bei einer alten Geistesgestörten zu wohnen und den Fall einer Katze zu untersuchen, die sich in einen wahnsinnigen Derwisch verwandelt hat.«

»Er wird. Und sie ist keine Geistesgestörte: Soweit ich mich an sie erinnere, war sie bemerkenswert vernünftig. Und obendrein reizend. Wenn sie lieber in der Regierungszeit von George III. als in der von Queen Victoria lebt, wie die meisten alten Damen, so heißt das noch lange nicht, dass sie weich in der Birne ist.«

Und so war es beschlossen. Ein paar Tage später trafen sie in Chelmsford ein, wo, wie ihnen Miss Cavendish in einem hoheitsvollen Telegramm mitgeteilt hatte, ein Beförderungsmittel gemietet werden konnte, das sie zum Ziel ihrer Reise bringen würde. Sie hatten allerdings nicht mit der Unwirtlichkeit des Wetters in diesem Teil des Landes gerechnet, obwohl es schon in Devonshire ungemütlich genug gewesen war. Ein eisiger Ostwind peitschte sie, als sie aus dem Bahnhof kamen; Schneehaufen überall; unter dem zinnfarbenen Himmel schien alles Leben stillzustehen.

»Brr«, brummte Nigel. »Wir werden lebendig erfrieren, bevor die Wildkatzenjagd überhaupt angefangen hat. Lass uns wieder nach Hause fahren.«

Sogar Georgia, deren Erfahrung als Forschungsreisende sie eigentlich an solche Unbilden gewöhnt haben sollte, trauerte ein wenig ihrem warmen, strohgedeckten Cottage im Südwesten nach. Doch sie fanden einen Taxifahrer, der gewillt war, den Gefahren der Straße nach Easterham zu trotzen, und sie machten sich auf den Weg. Für die zehn Meilen brauchten sie eine Stunde, mehrmals mussten sie das Auto aus Schneeverwehungen freikämpfen, und einmal wären sie in einer rechtwinkligen Kurve beinahe in einen Fluss gerutscht. Als sie Easterham dann endlich erreichten, dämmerte es bereits.

Das Dower House überragte das, was der Dorfanger sein musste, auch wenn der allgegenwärtige Schnee alles, was darauf hindeutete, unter sich begraben hatte. Er konnte jedoch nicht ganz den Charme von Miss Cavendishs Heim auslöschen, ein Haus aus rotem Backstein, das seine Symmetrie von Fenster und Schornstein, Schrägdach und behaglichen Gauben, Portikus, Oberlichtern und schmiedeeisernem Tor auch in Schnee eingemummelt nicht ganz verbergen konnte, so wie bei einer eleganten Frau auch schwere Pelzmäntel nicht ihre Schönheit verdecken können.

»Hab ich’s dir nicht gesagt?«, flüsterte Georgia. »Niemand kann in einem so perfekten Haus leben und geisteskrank sein.«

Nigel bezweifelte die Logik dieser Bemerkung. Doch in seinem Gehirn, betäubt von der Kälte, war nur Platz für einen Gedanken – wie konnte ein so großes Haus eine so kleine Frau beherbergen. Denn Clarissa Cavendish, die sie in der Eingangshalle empfing, war eine Zwergin, die zarte Miniaturausgabe einer Frau, filigran wie eine Schneeflocke. Ihr weißes Haar war zu einer Hochfrisur aufgetürmt und ihr Teint ein Triumph – der Kunst oder der Natur, da war Nigel sich nicht sicher.

»Der Schnee ist wirklich grauenhaft«, bemerkte sie mit kristallklarer Stimme, die gut zu ihrer Erscheinung passte. »Ihr müsst erschöpft von der Reise sein. Ich werde euch euer Zimmer zeigen. Und dann trinken wir eine Schale Tee, Georgia. Mr Strangeways zieht sicher einen Clairet vor.«

Nigel warf ein, dass er nachmittags um halb fünf keinen Clairet trinke.

»Dann heben wir uns die Flasche für das Abendessen auf«, sagte Miss Cavendish – eine Erwiderung, deren Bedeutung Nigel bald klar werden sollte.

Nach dem Tee bot ihre Gastgeberin an, ihnen das Haus zu zeigen. Nigel akzeptierte bereitwillig, da er bereits von den zahlreichen schönen Stücken fasziniert war, die sie im Gesellschaftszimmer umgaben – Hepplewhite-Stühle, ein Bartolozzi-Stich, ein Satz Miniaturen von Cosway, ein Serviertisch mit mehreren großartigen Beispielen von Battersea-Email, eine Vitrine voller Fächer, Spielzeug, Schnupftabakdosen und Nippes, der von auserlesener Kunstfertigkeit zeugte, Wandbehänge aus Seide und ein Adam-Kamin.

Es war in der Tat ein großes Haus, größer sogar, als er es sich vorgestellt hatte. Miss Cavendish, dieses winzige stocksteife Persönchen, ging voraus und führte sie von Raum zu Raum. Jeder Raum hatte die angenehmen, zur Erbauungszeit üblichen Proportionen. Sogar das elektrische Licht, durch das Miss Cavendish die Kristalllüster glitzern ließ wie gefrorene Wasserfälle, wobei sie nonchalant über die Verdunkelungsvorschrift hinwegging, zerstörte nicht die Illusion einer anderen Epoche: Die Türen waren aus Mahagoni, und die Wände waren in zarten Grün-, Gelb-, Blau- und Taubengrautönen gestrichen.

»Reizend«, wiederholte Nigel mechanisch, »ein perfekter Raum.« Er zwickte sich immer wieder, um sicher zu sein, dass er nicht träumte. Er traute sich nicht, zu Georgia zu blicken. Denn jeder einzelne Raum, den sie betraten, war, mit Ausnahme des Gesellschaftszimmers, einem kleinen Frühstückszimmer, Miss Cavendishs und ihrem Schlafzimmer, vollkommen leer. Nicht ein einziges Möbelstück, kein Vorhang, kein Teppich schmückten ihre exquisite Symmetrie. Als sie ins Gesellschaftszimmer zurückgekehrt waren, suchte Nigel vergeblich nach einer Bemerkung, die der Situation gerecht würde und Miss Cavendishs Zartgefühl nicht verletzte. Georgia jedoch kam mit ihrer üblichen Direktheit sofort zur Sache.

»Warum sind all diese Räume denn leer, Cousine Clarissa?«, fragte sie.

»Weil ich es mir nicht leisten kann, sie in dem Stil einzurichten, den sie verlangen, meine Liebe«, lautete die vernünftige Antwort. »Ich lebe lieber in einem Teil eines schönen Hauses als in einem ganzen, das hässlich ist. Du wirst sicher einer alten Frau das Recht auf ihre Launen zugestehen.«

»Ich finde das sehr passend«, sagte Nigel. »Sie haben ein elastisches Haus. Sie können sich darin ausdehnen oder einschränken, je nach den Schwankungen Ihres Einkommens.«

»Mr Strangeways«, verkündetet Miss Cavendish, »ich sehe, dass wir uns verstehen werden.«

»Du könntest einen Flügel in jeden dieser Räume stellen, und an jedem sitzt ein Pianist, und sie spielen alle zusammen. Der Klang müsste hervorragend sein bei diesen hohen Decken«, sagte Georgia träumerisch.

»Ich verabscheue das Klavier. Das ist ein Instrument, das für die Töchter von Handwerkern geeignet ist. Das Spinett ist sehr schön. Auch das Cembalo gefällt mir. Aber das Klavier produziert einen vulgären, protzigen Lärm. Ich bin überrascht, dass Restorick es spielt.«

»Restorick?«

»Hereward Restorick, der Besitzer von Easterham Manor. Es befindet sich seit geraumer Zeit in Familienbesitz. Sie waren es auch, die das Dower House erbauen ließen.«

»Ach ja«, sagte Nigel. »Das ist der Bursche, dessen Katze uns zusammengebracht hat, nicht wahr? Wollen Sie uns von der Katze erzählen, Miss Cavendish?«

»Nach dem Dinner, Mr Strangeways. Das ist eine Geschichte, die eine gute Verdauung verlangt. Ich bin eine alte Frau, die man nicht hetzen darf.«

Als sie sich zwei Stunden später in ihrem Schlafzimmer für das Abendessen umzogen, sagte Georgia zu Nigel: »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich dich hierhergeschleppt habe.«

»Liebling, ich würde das auf gar keinen Fall missen wollen. Aber wodurch ist sie so geworden?«

»Jetzt fällt mir alles wieder ein. Clarissa war eine der ersten Blue Stockings – eine Dozentin in Girton, meine ich. Sie machte sich einen Namen als Historikerin, ihre Epoche war das achtzehnte Jahrhundert, darin ging sie richtig auf. Dann hatte sie einen schweren Nervenzusammenbruch – Überarbeitung, und ich glaube, es gab da auch noch eine unglückliche Liebesaffäre. Nachdem sie sich erholt hatte, war ein Teil von ihr ganz in der Georgianischen Ära versunken. Natürlich musste sie ihre Stelle aufgeben, das war eine harte Zeit für sie. Sie arbeitete als Hauslehrerin, bis sie dann geerbt hat.«

Ein schwaches, zartes Gebimmel, wie die Töne einer Spieluhr, drang zu ihnen herauf, und Georgia und Nigel gingen zum Abendessen hinunter. Das weiß getäfelte Frühstückszimmer betonte die Anmut und den glänzenden Teint ihrer Gastgeberin zusätzlich; ihre Augen strahlten in ruhiger Freude. Nigel war gerührt, weil er in dieser alten Frau die intelligente, fröhliche Unabhängigkeit des Mädchens sah, das sie einmal gewesen war. Der Gedanke, dass sie als Hauslehrerin der Gnade schroffer, herablassender Arbeitgeber ausgesetzt gewesen war, war ihm unerträglich.

Eine Frau aus dem Dorf, die in ihrer Spitzenhaube und ihrer kurzen Schürze aus Nesselstoff eigenartig verkleidet wirkte, bediente sie. Das Essen war ausgezeichnet, auch wenn die Portionen auf Miss Cavendishs Statur zugeschnitten waren – ein Stückchen Seezunge, ein Scheibchen Tournedos, hauchdünnes frittiertes Gemüse.

»Wir müssen eure erste Nacht hier feiern«, sagte ihre Gastgeberin. »Annie, die Flasche Clairet.«

Es war ganz offensichtlich die einzige Flasche Clairet in ihrem Weinkeller. Er erwies sich jedoch als ein exzellenter Château Beychevelle, und Nigel lobte ihn gebührend.

»Das ist ein Wein, den Harry ganz besonders geliebt hat«, sagte Clarissa Cavendish; der Hauch eines Gefühls, das Nigel nicht benennen konnte, huschte über ihr geschminktes Gesicht. »Sie werden mir verzeihen«, fuhr sie fort, »dass ich Champagner trinke. Ich vertrage keinen Wein, nur Champagner.«

Annie füllte ihr Glas zur Hälfte aus einer Flasche, die schon vor diesem Abend geöffnet worden war. Der Champagner war schal wie abgestandenes Wasser. Clarissa Cavendish spritzte etwas Sodawasser hinein, hob feierlich das Glas und sagte zu Nigel:

»Ich trinke auf Ihr Wohl, Mr Strangeways.«

Der Schneesturm heulte draußen vor den Fensterläden. Das alte Haus stand felsenfest. Es war eine Nacht – trostlos draußen, warm und beruhigend drinnen – wie gemacht für Gespenstergeschichten, und als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Clarissa Cavendish, während sie sie in das Gesellschaftszimmer führte, in dem bestimmten Ton einer Professorin, die die Kenntnisse ihres Schülers prüft:

»Mr Strangeways, ich wüsste gern, ob Sie an das Übernatürliche glauben.«

Kapitel 3

Eine Katze, ein harmlos nützlich Tier.

WILLIAM SHAKESPEARE

»Ich glaube, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …«

»Ich bitte Sie, Sir«, unterbrach Miss Cavendish ihn und trommelte mit ihren juwelengeschmückten Fingern energisch auf ihr Beistelltischchen, »verschanzen Sie sich nicht hinter irgendwelchen Zitaten.«

Nigel versuchte es erneut. »Gut, also dann, ich glaube, dass wir die Gesetze der Natur noch nicht vollständig verstanden haben, dass sogar die Natur sich nicht immer an ihre eigenen Gesetze hält, dass wir aber die Pflicht haben, nach rationalen Erklärungen für alle Phänomene zu suchen.«

»Das ist schon besser. Ich schließe daraus, dass Sie, wenn Sie eine Katze sehen, die versucht, sich den Kopf an einer Wand einzuschlagen, nicht sofort annehmen, dass sie vom Teufel besessen ist oder eine Geistererscheinung angreift, die nur für ihre Augen sichtbar ist; Sie würden vielmehr vermuten, dass eine innere Störung sie wahnsinnig gemacht hat.«

»Katzentollwut«, warf Georgia ein.

»Ja«, sagte Nigel. »Das Tier hat wahrscheinlich Anfälle. Oder es hatte unerträgliche Schmerzen.«

»Scribbles hat nie Anfälle«, sagte Miss Cavendish streng. »Und ein paar Minuten nach ihrem sonderbaren Benehmen schlief sie sofort ein.«

»Ich denke, Sie sollten besser von Anfang an erzählen«, sagte Nigel.

Die alte Dame nahm eine noch aufrechtere Haltung ein und legte die Hände in den Schoß. Hin und wieder machte sie kleine Handbewegungen, als spielte sie mit einem Fächer. Davon abgesehen bewegten sich während ihrer merkwürdigen Erzählung nur ihr Mund und ihre dunkelbraunen, funkelnden Augen.

»Meine Geschichte beginnt am vierten Tag vor Weihnachten. Ich trank Tee mit Charlotte Restorick, Herewards Frau. Sie ist eine … Amerikanerin.« Nigel war überzeugt, dass Miss Cavendish sich gerade noch verkniffen hatte, »eine Kolonistin« zu sagen. »Aber ich finde sie recht zivilisiert, und sie gilt allgemein als attraktive Frau. Gott allein weiß, warum sie Restorick geheiratet hat. Er ist ein armer Kerl – nichts als Schnurrbart und Anständigkeit. Die Restoricks sind natürlich ein trauriger Fall von Inzucht. Nachdem die Gäste sich versammelt hatten, kam das Gespräch schnell auf das Thema Gespenster. Es gibt ein Zimmer in dem Manor, das Bischofszimmer genannt wird und in dem es spuken soll, und Elizabeth Restorick schlug vor, wir sollten nachts einmal dort zusammenkommen und – wie sie sich ausdrückte – dem Malheur die Hucke vollhauen.«

»Elizabeth Restorick?«, fragte Nigel. »Wer ist sie?«

»Sie ist ein Flittchen«, erwiderte Miss Cavedish lebhaft. »Herewards Schwester, aber ein ganzes Stück jünger als er und von schockierender Dreistigkeit. Wenn Hereward das Vermögen der Restoricks geerbt hat, dann hat Elizabeth ihre Lasterhaftigkeit geerbt. Sie wurde allerdings in Amerika erzogen, wir dürfen also nicht zu streng über sie urteilen. Sie müssen wissen, dass Harold Restorick, Herewards Vater, ein paar Jahre in der Botschaft in Washington arbeitete, daher musste er notgedrungen seine Familie nach Amerika mitnehmen, weswegen die Kinder lediglich die rudimentäre Ausbildung erhielten, die das Land zu bieten vermag. Ein Jammer. Denn Elizabeth und Andrew waren beide begabt.«

»Andrew? Das ist der Bruder, nicht wahr?«

»Ja. Er war Harrys Lieblingssohn, obwohl Hereward natürlich der Erbe war. Doch Andrew enttäuschte seinen Vater leider. Er erwies sich als unsteter Bursche, mit einem Hang zu schlechtem Umgang. Dabei ist er ein ziemlich gutaussehender Bursche, und eigentlich nicht wirklich lasterhaft, es sei denn, es ist ein Laster, die Moralpredigten seines Bruders nicht zu ertragen. Er und Elizabeth waren immer sehr eng miteinander.«

»War er auch unter den Gästen an Weihnachten?«

»Ja, war er. Die Gesellschaft bestand aus Elizabeths letzter Eroberung, einem Mr Dykes – eine nervtötende, flegelhafte Person, Verfasser von Liebesromanen –, und Miss Ainsley, eine unscheinbare, geschwätzige Person. Ach ja, ich vergaß Dr. Bogan. Dr. Bogan ist, fürchte ich, ein Quacksalber.«

»Da scheint sich ja eine bunt gemischte Gesellschaft unter einem so konventionellen Dach zusammengefunden zu haben«, kommentierte Georgia. »Ein Flittchen, ein angelsächsischer Landjunker, eine amerikanische Ehefrau, ein unsteter Bursche, eine Klatschtante und ein Quacksalber.«

Clarissa Cavendish neigte ihren Kopf. Ihre Finger zuckten und fanden dann wieder Ruhe in ihrem Schoß. »Harry hätte das nicht geduldet. Aber Hereward hat kein Rückgrat. Wenn Charlotte eine Person einladen will, dann ist das eben so. Sie ist ein Snob, das arme Mädchen, und glaubt, dass aus jedem hässlichen Entlein ein Schwan wird. Nun denn, wir vereinbarten also, uns in der Weihnachtsnacht im Bischofszimmer zu versammeln.«

»Was erwarteten Sie zu sehen?«, unterbrach Nigel sie.

»Das ist eine dumme Geschichte. Der Bischof von Eastchester hielt sich 1609 in diesem Manor auf. Eines Morgens wurde er in jenem Zimmer tot aufgefunden. Ein paar bösartige Personen behaupteten, er sei von seinem Gastgeber vergiftet worden, und die Sache löste einen Skandal aus. Aber die damaligen Restoricks erklärten, dass der Bischof, der bekanntermaßen ein Genießer war, am Abend zuvor dem Wildbret zu sehr zugesprochen hatte und daran gestorben war. Für mich steht außer Zweifel, dass das die Wahrheit ist. Doch wie auch immer, es hält sich der Aberglaube, dass nachts Stöhnen aus dem Bischofszimmer zu hören ist und der Bischof den Leichtgläubigen in einem Nachthemd aus Batist erscheint, sich den Bauch hält und schrecklich stöhnt.«

»Für mich klingt das eher nach einer albernen Gespenstergeschichte«, sagte Georgia.

»An Heiligabend begaben wir uns alle eine halbe Stunde vor Mitternacht ins Bischofszimmer. Das ist ein entsetzlich kalter Raum, der als kleine Bibliothek genutzt wird, und Charlotte Restorick hatte einen Punsch vorbereitet, um uns von innen zu wärmen. Beim Abendessen war bereits eine Menge Wein getrunken worden, und er und der Punsch sorgten dafür, dass Elizabeth und Miss Ainsley ziemlich angeheitert waren. Ich erinnere mich, dass Restorick mit Betty schimpfte, weil sie auf Mr Dykes Schoß saß, und sie erwiderte, der Bischof hätte seinerzeit noch weitaus Schlimmeres getan. Ihre schnippische Art führte zu einer sehr merkwürdigen, vulgären Szene. Sie ist manchmal sonderbar rabiat. Ein ausgesprochen zanksüchtiges Weib. Aber was für eine Schönheit! Und auf dem Höhepunkt des Streits – obwohl Elizabeth die Einzige war, die stritt, und Restorick nur versuchte, sie zu beruhigen – schlug es Mitternacht. Andrew Restorick sagte, ›Halt die Luft an, Betty, oder der Bischof wird nicht erscheinen.‹ Daraufhin war sie ruhig. Seine Worte schienen auch den Rest der Gesellschaft abzukühlen. Wir saßen auf Stühlen an der Wand, gegenüber dem Kamin. Plötzlich sagte jemand: ›Schaut euch Scribbles an.‹«

Clarissa Cavendish machte eine dramatische Pause. In der Stille konnten Georgia und Nigel hören, wie der Ostwind um das Haus heulte. Miss Cavendish erschauerte ein wenig, sodass ihre Halskette leise klirrte wie Eiszapfen; dann setzte sie ihre Geschichte fort.

»Die Katze hatte eine Untertasse mit Milch geschleckt, die für sie hereingebracht worden war. Jetzt schnurrte sie – ein ziemlich raues, unangenehmes Geräusch, als wäre das Tier ein rostiges Uhrwerk, das von jemandem aufgezogen wird. Dann ging sie in die Mitte des Zimmers, mit seltsam steifen Beinen, machte einen Buckel und schnurrte immer noch infernalisch. Wir waren sprachlos vor Verwunderung. Scribbles schlug uns alle in ihren Bann. Sie duckte sich wie ein Tiger, massierte den Teppich mit ihren Pfoten und starrte in eine Ecke des Zimmers. Plötzlich setzte sie zum Sprung in diese Ecke an. Ich wünschte, ich hätte es nicht gesehen. Sie sprang, schlug mit dem Kopf gegen die Wand und prallte wie ein Gummiball von ihr ab. Sie wiederholte dieses merkwürdige Verhalten drei- oder viermal, mit größter Wucht und Grausamkeit schleuderte sie sich gegen die nackten Wände oder Bücherregale, bis wir dachten, sie würde sich den Kopf an ihnen einschlagen. Die Versammlung war sichtlich aufgewühlt von dem Anblick. Eine der Frauen – Miss Ainsley, glaube ich – begann zu schluchzen und zu kreischen, sie schrie, die Katze würde irgendetwas Entsetzliches sehen, das für uns unsichtbar sei.«

»Und was dachten Sie?«, fragte Nigel scharf.

»Ich dachte, dass die Katze nicht verängstigt war, sondern ihre Jagd genoss.«

Aus irgendeinem Grund ließ dieser mit Miss Cavendishs heller, klarer Stimme geäußerte Kommentar Georgias Blut gefrieren.

»Nach einer Weile«, fuhr die alte Dame fort, »schienen diese eigenartigen Angriffe Scribbles zu ermüden. Sie lief zurück in die Mitte des Zimmers, begann ihren Schwanz zu jagen und drehte sich rasch im Kreis wie ein verrückter Derwisch oder wie ein Kreisel; dann rollte sie sich vor uns zusammen und schlief ein.«

Ein langes Schweigen trat ein. Nigel starrte an seiner Nase vorbei nach unten, weil er der alten Dame nicht in die Augen blicken wollte. Georgia spielte mit ihrer Zigarettenspitze, ausnahmsweise einmal um Worte verlegen.

»Warum haben Sie uns das erzählt?«, fragte Nigel endlich und hob den Kopf.

Clarissa Cavendishs funkelnde Augen blickten in seine. Es war eine Erregung in ihnen, die er nicht ergründen konnte; sie schienen auch etwas von ihm zu erwarten, als wäre sie eine Lehrerin, die sich nur mit Mühe zurückhalten kann, einen Schüler zur richtigen Antwort zu drängen. Sie sagte:

»Zunächst einmal, Mr Strangeways, was ist Ihre Meinung zu dem Vorfall?«

»Entweder hat die Katze ein Gespenst gesehen oder nicht. Wenn es ein Gespenst war, wäre sie erschrocken gewesen, hätte einen Buckel gemacht, gespien, aber sicher nicht mehrere Angriffe gestartet. Außerdem sind wir so lange bereit, nicht an das Übernatürliche zu glauben, bis wir sicher sind, dass keine rationale Erklärung gefunden werden kann. Die Gewalttätigkeit des Verhaltens des Tiers … ach ja, wie alt ist es eigentlich?«

»Drei«, sagte Clarissa.

»… hält uns davon ab, es einem katzenhaften Spieltrieb zuzuschreiben. Nehmen wir an, ihr wurde etwas verabreicht. Sie sagten, sie habe eine Untertasse mit Milch bekommen. Ich weiß nicht, welches Gift solche Symptome hervorruft, ohne schlimmere Nachwirkungen zu verursachen. Aber nehmen wir mal an, jemand hat der Milch etwas beigemischt oder ihr eine Injektion gegeben, bevor die Séance begann. Warum hätte er das tun sollen? Um die Anwesenden zu erschrecken, scheint die einzig mögliche Antwort zu sein. Ein Schabernack. Oder um einen der Anwesenden zu erschrecken, ernsthaft zu erschrecken.«

»Für einen einfachen Schabernack kommt mir das zu aufwändig und grausam vor«, sagte Georgia. »Wenn der Spaßvogel ein Nachthemd aus Batist getragen, sich den Bauch gehalten und gestöhnt hätte – aber der Gespensterbischof scheint ja ins Abseits gedrängt worden zu sein.«

Miss Cavendish nickte energisch und gab der Armlehne ihres Sessels einen zustimmenden Klaps.

»Wenn der Schabernack ernster gemeint war«, fuhr Nigel fort, »und gegen ein bestimmtes Mitglied der Versammlung gerichtet, dann bedeutet das, dass da irgendetwas in dem Verhalten der Katze war, das das Opfer verstanden und mehr erschreckt hat als die anderen. War jemand besonders verstört, abgesehen von Miss Ainsley?«

»Kennen Sie Hamlet, Mr Strangeways?«

Nigel bejahte.

»Dann erinnern Sie sich sicher an das Stück im Stück – wie der König die Schauspieler beobachtet und Hamlet den König beobachtet. An Heiligabend waren wir nicht alle von den Sperenzchen der Katze in Bann geschlagen. Ich riskierte einen Seitenblick und bemerkte, dass Andrew Restorick ein anderes Mitglied der Versammlung anstarrte.«

»Wen?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Die Stühle waren im Halbkreis aufgestellt. Andrew saß ganz links außen und starrte auf einen von denen am anderen Ende, es hätte seine Schwester Elizabeth sein können oder Dr. Bogan oder Mr Dykes.«

»Dann waren Sie selbst also auch nicht ganz und gar von dem Spiel gefesselt, Miss Cavendish?«

»Sir, Sie sind wirklich hartnäckig!«, rief sie mit einer Koketterie, die ein gewisses Unbehagen nicht verbergen konnte. »Ich habe immer noch meinen Verstand, hoffe ich. Ich werde wohl noch meine Augen benutzen dürfen.«

»Und war einer von den dreien besonders verstört?«

»Ich glaube nicht. Betty schaute stumpfsinnig vor sich hin, ich dachte, sie sei zu beschwipst, um zu erschrecken. Mr Dykes schien vor sich hin zu schimpfen. Dr. Bogan wirkte sehr reserviert. Ich sah allerdings, wie er und Betty hinterher ihre Köpfe zusammensteckten.«

»Hat es seitdem irgendwelche Konsequenzen gegeben?«

Miss Cavendish starrte ihn verständnislos an, als käme der Begriff in ihrem Wortschatz nicht vor.

»Sie schrieben in Ihrem Brief, Sie hätten gewisse Befürchtungen«, beharrte Nigel. »Fürchten Sie, es könnte mehr dahinterstecken als die Halluzinationen einer Katze? War das nur ein Anfang?«

Merkwürdigerweise schien die alte Dame nicht reden zu wollen. Ihr Blick war jetzt unkonzentriert, sie starrte unbestimmt und schmerzerfüllt vor sich hin. Sie wirkte verloren. Schließlich erhob sie sich aus ihrem Sessel, ging schwer, auf ihren mit Quasten geschmückten Elfenbeinstock gestützt, in die Ecke des Zimmers, fuhr mit ihrem Finger über einen Stich an der Wand und sagte, mit dem Rücken zu Nigel und Georgia:

»Ja, ich habe Angst. Irgendetwas stimmt nicht in dem Haus. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber ich weiß, dass es so ist. Ich habe«, ihre Stimme stockte ein wenig, »ich habe aus bestimmten Gründen ein besonderes Interesse an dieser Familie, insbesondere an Elizabeth und Andrew. Meine Gründe sind nicht von Bedeutung, und deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ich nichts weiter dazu sage. Eines kann ich Ihnen aber sagen: dass ich mich lieber dem Teufel und all seinen Engeln aussetzen würde als dem Einfluss, der in Easterham Manor zu spüren ist, was immer das auch sein mag.«

»Ich verstehe«, sagte Nigel freundlich. »Sie wollen, dass ich …«

Clarissa Cavendish drehte sich zu Nigel um und richtete ihren Elfenbeinstock wie einen Degen auf ihn. Ihre Stimme hatte jetzt eine solche Schärfe, dass er sich in seinem Sessel aufrichtete.

»Ich möchte, dass Sie herausfinden, was genau da nicht stimmt. Ich möchte, dass Sie herausfinden, was Dr. Bogan in dem Haus macht. Ich halte ihn für eine äußerst unangenehme Person. Und wovor Hereward Restorick Angst hat. Und was in jener Nacht in Andrew Restoricks Herz vorging, als er der Katze keine Beachtung schenkte, sondern eindringlich eine andere Person in dem Zimmer anstarrte. Und ich möchte«, fügte sie flüsternd hinzu, sodass Nigel es gerade noch hören konnte, »dass Sie Elizabeth vor der Verdammnis bewahren.«

Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück und blickte Nigel erwartungsvoll an.

»Sind sie alle noch da … die Gäste?«

»Sie kommen und gehen. Aber im Augenblick sind sie alle im Manor und werden vorerst auch dort bleiben. Im Winter sind die Straßen kein reines Vergnügen.«