Mord auf der Kreuzfahrt - Nicholas Blake - E-Book

Mord auf der Kreuzfahrt E-Book

Nicholas Blake

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

»Haben Sie jemals versucht, eine erwachsene Frau über die Reling eines Schiffes zu werfen?« Die renommierte Bildhauerin Clare Massinger hat eine kreative Flaute. Um sie zu inspirieren, bucht ihr Partner, der Meisterdetektiv Nigel Strangeways, eine Kreuzfahrt in der Ägäis. Mit seinen griechischen Tempeln und Sandstränden soll dieser malerische Trip der perfekte Kurzurlaub werden. Doch schon, als sie auf die anderen Passagiere treffen, ahnen Nigel und Clare, dass diese Kreuzfahrt böse Überraschungen bereithalten wird… An Bord der Menelaos, einem Kreuzfahrtschiff in der Ägäis, scheint es, als wüsste jeder über die Angelegenheiten der anderen Bescheid: Eine Lehrerin, die sich von einem Nervenzusammenbruch erholt, wird von einer ehemaligen Schülerin zur Rede gestellt. Ein Intellektueller wird von eben dieser Lehrerin in Verlegenheit gebracht. Eine Verführerin bringt die männlichen Gäste – auch Nigel – ein ums andere Mal in Verlegenheit. Und zu allem Überfluss überwachen zwei Wichtigtuer jeden Passagier des Schiffes auf Schritt und Tritt. Als sich die Leben der Urlauber immer mehr verflechten, scheint Gefahr in der Luft zu liegen. Und dann geschieht tatsächlich ein Mord – und dann noch einer. Plötzlich ist jeder verdächtig. Nigels Urlaub währt also nicht allzu lange, und er muss die Wahrheit aufdecken, bevor ein weiterer Passagier aus dem Leben gerissen wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 282

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dies ist der Umschlag des Buches »Mord auf der Kreuzfahrt« von Nicholas Blake, Michael von Killisch-Horn

Nicholas Blake

Mord auf der Kreuzfahrt

Aus dem Englischen von Michael von Killisch-Horn

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Widow’s Cruise« im Verlag Collins Crime Club, Glasgow

© 1959 by Literary Executor of the Estate of C. Day Lewis

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München unter Verwendung einer Abbildung von Dieter Braun Illustration, Hamburg

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-98696-9

E-Book ISBN 978-3-608-12314-2

Inhalt

Prolog

Einschiffung

II 

III 

IV 

Verbrüderung

II 

III 

IV 

VI 

VII 

Vernichtung

II 

III 

IV 

VI 

Untersuchung

II 

III 

IV 

VI 

VII 

VIII 

IX 

XI 

XII 

Aufklärung

II 

»Zweifach stirbt der, der nah der Küst’ ertrinkt.«

Shakespeare

Für Peter und Louis

Prolog

Irgendetwas stimmte nicht mit den Schwänen an diesem Mainachmittag. Ein kühler, gereizter Wind fegte über den Serpentine Lake im Hyde Park, zerzauste ihr Gefieder und schien ihre Nerven zu erschüttern. Sie konnten nicht stillhalten. Ein Schwan richtete sich heraldisch auf und bespritzte das Wasser mit plumpen, halbflügeligen Schlägen. Dann ging er, ohne provoziert worden zu sein, auf einen Gefährten los, der düster sein Spiegelbild betrachtete, und jagte ihn jenseits der Brücke aus dem Blickfeld. Ein anderer Schwan hackte in wahnsinniger Verzweiflung immer wieder auf etwas unter seinem gehobenen Flügel ein, was dazu führte, dass er mit zerzausten Federn und dem Hals, der wie eine Schlange nach vorn schnellte, ins Taumeln geriet. Mehrere andere Schwäne begannen, wie von einer Massenhysterie ergriffen, sich ebenfalls wütend die Schnäbel in die Rippen zu bohren.

»Meinst du, sie haben Ameisen in ihren Flügelhöhlen?«, fragte Clare.

»Ich glaube, sie haben einen Nervenzusammenbruch«, erwiderte Nigel.

»Nun, wenn ja, dann übertreiben sie gewaltig.«

»Es könnte auch eine Form von Neuromimesis sein.«

»Was auch immer es ist, es ist extrem würdelos«, sagte Clare Massinger ernst.

»Man kann nicht einmal von einem Schwan erwarten, dass er würdevoll ist, wenn es ihn juckt. Ich glaube nicht, dass Zeus sehr würdevoll aussah, als er Leda angriff.«

»Das war etwas anderes.«

Ein Schwan stapfte aus dem See an Land und streckte seinen Hals nach einem Stück Brot aus, das ein Kindermädchen ihm hinhielt.

»Er sieht wie ein edwardischer Hut aus, der versucht zu laufen«, bemerkte Clare. Ihr langes, blauschwarzes Haar wirbelte wie Rauch in einer Windböe, und als sie sich abwandte, sah sie sich der Peter-Pan-Statue gegenüber, die sie eine Weile schweigend betrachtete.

»Weißt du«, sagte sie schließlich, »es mangelt ihr an Faszination für sich selbst.«

Als sie Arm in Arm in Richtung Lancaster Gate gingen, dachte Clare an das seltsame Schauspiel, dessen Zeugen sie gerade geworden waren.

»Meinst du nicht, dass wir etwas unternehmen sollten, Liebling?«

»Wegen der Schwäne? Was denn?«

»Ruf jemanden an und sag ihm, dass die Vögel verseucht sind oder verrückt oder was auch immer. Wer ist für sie verantwortlich?«

»Oh, das Bauamt, könnte ich mir denken, oder das L. C. C. Ich habe keine Ahnung, aber das erinnert mich an etwas. Ich habe heute Morgen bei Swan’s angerufen. All ihre Griechenland-Kreuzfahrten sind für dieses Jahr bereits ausgebucht. Ich habe unsere Namen angegeben, für den Fall, dass Passagiere absagen. Aber ich denke, wir sollten es mit einer der neuen Kreuzfahrten versuchen, von denen Michael gesprochen hat. Das würde bedeuten, dass wir von Athen statt von Venedig aus starten, aber wir könnten vorher ein paar Tage in Athen verbringen, nur wir zwei.«

Clare Massinger war vor Kurzem an dem Punkt angelangt, den fast jeder Künstler zwei- oder dreimal im Laufe seines Arbeitslebens erreicht. Den Punkt, an dem alle Reserven aufgebraucht zu sein scheinen und eine radikale Änderung des Stils oder des Inhalts erforderlich ist, wenn das Werk nicht zu einer bedeutungslosen Wiederholung vergangener Leistungen werden soll. In Griechenland, das fühlte sie, würde sie ihre Vision als Bildhauerin auffrischen und ihre Batterien wieder aufladen können. Da weder sie noch Nigel die Sprache beherrschten, wäre eine organisierte Reise der beste Weg, um in der begrenzten Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, zu bekommen, was sie brauchte.

Und so stimmte sie zu, sich nach den Kreuzfahrten, die neu von der Prytanis-Linie angeboten wurden, zu erkundigen. Nigel Strangeways ging am nächsten Morgen zum griechischen Fremdenverkehrsamt. Man sagte ihm, es gebe noch freie Plätze auf der T. S. S. Menelaos, die am 1. September in Athen in See stechen würde. Das Schiff würde Delos und dann eine Reihe von Inseln im Dodekanes anfahren und über Kreta zum Festland zurückkehren, mit Ausflügen nach Epidauros, Mykene und Delphi. Die Passagiere wären hauptsächlich Briten und Amerikaner, aber auch eine kleine Gruppe von Franzosen und ein paar Deutsche und Italiener seien dabei. An Bord würden griechische Reiseführer und mehrere Dozenten von europäischem Ruf sein, darunter ein angesehener Gelehrter, der Bischof von Solway und der berühmte Hellenophile und Verbreiter der klassischen griechischen Literatur Jeremy Street.

Nigel zögerte nicht lange und buchte zwei Plätze. Die Reiseroute der Menelaos, die zu so vielen Inseln führte, deren Namen wie Legenden klangen, hörte sich großartig an. Clares dunkle Augen leuchteten auf, als er ihr sagte, wohin sie fahren würden. Nigel ahnte nicht, dass diese Reise ihn in ein Labyrinth menschlicher Motive führen würde, das dunkler und komplexer war als das des Minotaurus.

Einschiffung

I

Sechzehn Wochen später lehnte Nigel an der Reling des Promenadendecks und betrachtete den Schiffsverkehr im Hafen von Piräus. Am Morgen hatten er und Clare ein letztes Mal das Theater des Dionysos und die Akropolis besichtigt. Die Hitze – es herrschten 38 Grad im Schatten – und die vollkommene Majestät des Parthenon hatten sie verstummen lassen. Sogar Clares übermäßiger Appetit auf Besichtigungen war vorübergehend gestillt. Und so nahmen sie nach einem geruhsamen Mittagessen ein Taxi nach Piräus, um an Bord zu gehen, bevor die Masse der Passagiere eintraf.

Die Menelaos lag seit sechsunddreißig Stunden am Kai, und in den Kabinen war es brütend heiß. Das Öffnen des Bullauges von Clares Kabine, die an seine eigene auf dem Hauptdeck grenzte, reichte aus, um Nigel Schweißausbrüche zu verursachen. Clare kündigte an, dass sie sich waschen und dann »alles auf Vordermann bringen« würde – eine Prozedur, die, Nigel war sicher, das Auspacken und Verstreuen ihrer Kleidung über ihre eigene Koje und die ihrer Mitbewohnerin, einer Miss E. Jamieson, B. A., bedeutete, die zum Glück noch nicht aufgetaucht war. Nigel überließ sie ihren Beschäftigungen, kämpfte sich durch die Hitze, um das Bullauge seiner eigenen Kabine zu öffnen, die er laut Passagierliste mit Dr. Stephen Plunket, M. D., M.Sc., teilen würde, räumte seine Sachen ordentlich ein und begab sich, nach Luft schnappend, an Deck. Nachdem er die wichtigsten Merkmale des Schiffs erkundet hatte – die beiden Salons vorn und achtern, die (noch geschlossenen) Bars, den kleinen (noch leeren) Swimmingpool auf dem Vorschiff unter der Brücke –, stellte er sich an die Backbordreling des Promenadendecks.

Unter ihm versorgte ein flacher Tanker die Menelaos durch eine Nabelschnur aus Rohrleitungen mit Öl. Dahinter flatterten die blauweißen Flaggen dreier griechischer Korvetten, die miteinander vertäut waren, in einer gerade aufgekommenen leichten Brise. An den gegenüberlegenden Kais lagen drei Passagierschiffe, deren weißer Anstrich im Athener Sonnenlicht glänzte; eines davon war die T. S. S. Adriatiki, das von Swans gecharterte Schiff, auf dem Nigel vergeblich versucht hatte, Plätze für Clare und sich zu bekommen. Ein großes Kreuzfahrtschiff von P & O mit einem einzigen dampfenden Schornstein, der wie eine riesige gelbe Pfefferschote aussah. Einige wettergegerbte Trampdampfer, eine Schar verschiedener kleinerer Boote, Lagerhäuser, Schiffskräne und der dunstige blauweiße Himmel vervollständigten die Szene. In der Luft hing ein durchdringender Geruch – der Rauch des Tankers vermischte sich mit den Gerüchen von griechischer Küche oder verfaulendem Gemüse, oder beidem? Vielleicht war es ganz gut, dachte Nigel, dass er sich eine Kabine mit dem Schiffsarzt teilte.

Er versuchte, sich diesen Ort im 5. Jahrhundert vorzustellen, mit den einlaufenden Trieren und den langen Mauern, die sich bis nach Athen erstreckten, aber die Hitze hatte seiner Fantasie jegliche Antriebskraft genommen. Plötzlicher Lärm, der von der anderen Seite der Menelaos kam, unterbrach seine Gedanken. Als er zur Steuerbordseite hinüberging und auf den Kai hinunterblickte, an dem das Schiff vertäut war, sah Nigel einen Lastwagen, der mit rechteckigen Eisbrocken beladen war. Ein Matrose stand auf einer behelfsmäßigen Bühne, die vom Deck herabhing, und schob sie einen nach dem anderen durch eine Luke in das Schiff. Ein heftiger Streit war zwischen dem Vorarbeiter des Trupps an Land entbrannt, der sich um das Eis kümmerte, und einem Schiffsoffizier, der sich, zwanzig Fuß von Nigel entfernt, über die Reling beugte. Ob das Eis zu spät gekommen war, die falsche Form hatte oder ob die beiden Streitenden einfach nur das Gesicht des jeweils anderen nicht leiden konnten, vermochte Nigel nicht festzustellen. Aber die Szene hätte nicht dramatischer sein können, wenn sie der Vorbote einer uralten Blutfehde gewesen wäre. Irgendwann riss sich der Schiffsoffizier in seiner Verzweiflung tatsächlich die Haare aus – eine Geste, die Nigel seit dem Besuch einer Aufführung des Ödipus durch die Oxford University Dramatic Society vor dreißig Jahren nicht mehr erlebt hatte. Was ihn jedoch am meisten beeindruckte, war der Rhythmus des Wortwechsels. Der Offizier schrie in der stakkatoartigen, durchdringenden Sprache seines Volks und begleitete seine Rede mit einer Fülle von mörderischen Gesten, während der Vorarbeiter dastand und zuhörte. Dann schrie der Vorarbeiter zurück und tanzte hysterisch, als wollte er sich jeden Augenblick in die Luft erheben und den Offizier erwürgen, während dieser ihm zuhörte und auf seinem Schnurrbart kaute. Strophe und Antistrophe, dachte Nigel: die athenische Tradition des Argumentierens, in der man sich die Argumente des Gegners anhörte und seine eigenen vortrug. Genau das, so wurde Nigel klar, ließ jedermanns Herz für die Griechen höher schlagen – man liebte sie, leidenschaftlich, unterschiedslos und für immer.

»Wird Blut fließen?«, ertönte Clares helle, hohe Stimme neben ihm.

»Oh, du bist hier. Nein, sie haben nur eine kleine Meinungsverschiedenheit über Eis.«

Die Kontrahenten schrien sich noch ein paar Minuten abwechselnd an. Dann endete der Sturm so abrupt, wie er begonnen hatte. Der Vorarbeiter spuckte auf die jungfräuliche weiße Seite des Schiffs, der Offizier machte eine Geste, die die ganze Tragödie von König Lear hätte ausdrücken können, und wandte sich ab. Die Ehre war befriedigt, das Gefühl erschöpft.

Unten am Kai stiegen neue Passagiere aus Bussen und Taxis. Sie mussten sich einer Horde von Händlern stellen, die alles verkauften, von griechischen Vasen (20. Jahrhundert) bis hin zu Coca-Cola, von rosa Melonenstücken bis hin zu Evzone-Puppen. Nigel und Clare spielten das altehrwürdige Spiel der Reisenden und spekulierten über Charaktere, Berufe und Herkunft der noch unbekannten Mitreisenden. Sie hatten gerade einen königlichen Akademiker (der sich später als Bischof von Solway herausstellte) und ein Trio klassischer Lehrer entdeckt (die sich als ein analytischer Chemiker, ein Anwalt und ein Beamter herausstellten), als zwei Frauen ihre Aufmerksamkeit erregten, die langsam zur Gangway schlenderten. Oder, besser gesagt, eine von ihnen. Mittelgroß und von einer Gedrungenheit, die durch eine graziöse Haltung überspielt wurde, mit hohen Wangenknochen mit reizvollen Vertiefungen darunter und einem zarten Teint, der sich, als sie näher kam, als ein Triumph kosmetischer Kunst entpuppte. Diese Frau hatte jenen Hauch von sexueller Bewusstheit, die ihre eigene Geschichte erzählt. Sie trug einen zitronenfarbenen Leinenanzug und einen breiten weißen Strohhut.

»Oh, sieh mal!«, sagte Clare. »Hier kommt die femme fatale des Schiffs.«

Die Begleiterin der Frau war zwar gleich groß, wirkte aber im Vergleich zur ihr unförmig. Sie trug einen purpurfarbenen Pullover, der die Unreinheit ihrer Haut betonte, einen zerknitterten Tweedrock und zweckmäßige Schuhe. Ungepflegtes Haar, ein watschelnder Gang und unruhige, krampfhafte Gesten verstärkten den Gesamteindruck eines schlecht gepackten Pakets. Als sie zum Schiff hinaufschaute, zuckte ihr Mund unkontrolliert, und sie hob eine Hand, als wollte sie ihn festhalten. In diesem Augenblick hörte Nigel, wie ein Mädchen, das neben ihm an der Reling stand, rief:

»Oh Gott! Peter, sieh mal! Da ist die Bross. Was um alles in der Welt macht die denn hier?«

»Die Bross?«

»Miss Ambrose. Du weißt schon.«

In der Stimme des Mädchens schwang so viel Bestürzung mit, dass Nigel neugierig aufblickte. Das Mädchen war blass geworden; ihr dünner Körper war gekrümmt, als erwartete sie einen Schlag, und ihre Hände umklammerten die Reling. Sie war sechzehn oder siebzehn, schätzte Nigel, und der Junge, den sie »Peter« genannt hatte, war offensichtlich ihr Bruder – ein Zwillingsbruder sehr wahrscheinlich.

»Mach dir keine Sorgen, Faith«, sagte er und nahm ihren Arm. »Sie begleitet jemanden, nehme ich an.«

»Es würde alles verderben, wenn …«

»Sei nicht albern. Sie wird dich schon nicht fressen.«

»Sieh mal, sie kommt die Gangway herauf.« Das Mädchen zog den Kopf ein – eine seltsame, unwillkürliche Bewegung – und eilte dann das Deck hinunter. Ihr Bruder folgte ihr mit einem grimmigen Gesichtsausdruck, an den Nigel sich erinnern sollte.

Das seltsame Paar ging nun die Gangway hinauf. Als sie ihre Bordkarte abgab, schenkte die Schönheit dem Zahlmeister ein strahlendes, leicht schiefes Lächeln, das ihrem exquisit geschminkten Gesicht Charakter verlieh. Ihre Begleiterin schlurfte vorbei, und die beiden gingen in Richtung ihrer Kabine, gefolgt von Stewards, die ihr Gepäck trugen.

»Was hältst du von ihnen? Eine reiche geschiedene Frau, die mit ihrer Sekretarin reist?«

»Sie sind Schwestern«, sagte Clare mit fester Stimme.

»Schwestern? Unsinn!«

»Doch. Identische Knochenstruktur. Die eine ist eine erfolgreiche Frau von Welt, die andere eine Neurotikerin. Das ist es, was dich abschreckt. Ich sehe mir den Schädel unter der Haut an.«

»Du wirst es wissen. Eine von ihnen ist jedenfalls Miss Ambrose; wahrscheinlich eine Lehrerin, wenn man nach der Bestürzung der jungen Frau vorhin urteilt. Das wäre die blasse, zuckende. Lass uns einen Blick in die Passagierliste werfen.«

Aus diesem Dokument, das man ihnen ausgehändigt hatte, als sie an Bord gegangen waren, ging hervor, dass die Kabine 3 auf dem A-Deck von Mrs Melissa Blaydon und Miss Ianthe Ambrose bewohnt werden sollte.

»Nun, sie können Schwestern sein«, sagte Nigel. »Diese eleganten, klassischen Vornamen lassen auf gemeinsame Eltern schließen. Aber ich finde es trotzdem absurd, dass die luxuriöse Melissa mit einer Schnorrerin wie Ianthe Urlaub macht.«

»Absurdität bringt seltsame Bettgenossen.«

»Ambrose. Ambrose. Ich frage mich, ob es E. K. Ambrose sein könnte.«

»Wer ist das?«

»Er war ein sehr angesehener Gräzist. Er hat die maßgeblichen Ausgaben von Euripides herausgegeben. Ich habe sie in Oxford studiert.«

II

In den Stunden bis zum Abendessen begannen die Passagiere, sich zu sortieren. Nationale Charaktereigenschaften waren bald zu erkennen. Die blonden Personen, die, mit Kameras, Rucksäcken und Reiseführern bewaffnet, zielstrebig auf dem Schiffsdeck auf und ab marschierten, konnten nur Deutsche sein. Das französische Kontingent, das ihren eigenen Reiseführer mitgebracht hatte, fand sich an einem Ende des vorderen Salons zusammen, wo sie unaufhörlich plauderten und ihre Mitreisenden ignorierten. Ein paar italienische Männer in auffälligen Lounge-Anzügen schlenderten in Begleitung ihrer Frauen über das Schiff und betrachteten mit strahlender Bewunderung jede gutaussehende Frau, die an ihnen vorbeikam. Die Amerikaner warteten darauf, dass die Bars geöffnet wurden, während die Briten versuchten, einander aus dem Weg zu gehen, und jedem, den sie verdächtigten, ihr endloses Postkartenschreiben zu unterbrechen, einen verstohlenen und verärgerten Blick zuwarfen.

Natürlich gab es auch Ausnahmen. Ein pausbäckiger Mann kam mit Nigel und Clare ins Gespräch und stellte sich als Ivor Bentinck-Jones vor. Ihm sei diese Gegend alles andere als fremd, sagte er ihnen, und wenn sie Informationen benötigten, dann sei er ihr Mann. Mit seinen funkelnden Augen, seiner fröhlichen Stimme und seiner offensichtlichen Dickfelligkeit war Mr Bentinck-Jones wie geschaffen dafür, der Mittelpunkt des Schiffs zu sein. Sein Eifer, Freundschaften zu schließen, war zwar ein wenig erbärmlich, aber nicht unsympathisch. Er schien die Art von Mann zu sein, dachte Nigel, die Vertraulichkeiten anzieht wie ein Bettler Almosen.

»Sind Sie mit Ihrer Kabine zufrieden?«, fragte der Mann sofort. »Wenn nicht, würde Nikki Ihnen bestimmt eine andere geben, da bin ich mir sicher. Er ist der Kreuzfahrtmanager, wissen Sie.«

»Unsere Kabinen sind recht komfortabel, danke«, erwiderte Clare.

»Ich verstehe. Gut. Tut mir leid, ich dachte, Sie würden zusammen reisen.«

»Das tun wir.«

Eine leichte Enttäuschung war im Blick des Mannes zu erkennen. Clare hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn um das angenehme Vergnügen gebracht hatte, das ihm die Begegnung mit einem in Sünde lebenden Paar an Bord bereitet hätte. »Wir sind nur gute Freunde«, fügte sie spöttisch hinzu.

»Hallo, da ist Jeremy Street.« Ivor Bentinck-Jones winkte einem Mann zu, der sich näherte – eine große, vornehme Gestalt mit einem jungen, alten Gesicht, schütterem, goldblondem Haar und dem bewusst unaufdringlichen Auftreten einer Berühmtheit, die ihren Marktwert kennt und ihn nicht zu behaupten braucht. Jeremy Street trug einen makellosen weißen Leinenanzug, ein königsblaues Hemd und ein seidenes Halstuch, was ihm das Aussehen eines dieser Möchtegern-Typen verlieh, die man in Kaufhauskatalogen findet.

»Ich habe ihn im Zug getroffen«, erzählte Bentinck-Jones. »Entzückender Kerl. Überhaupt nicht eingebildet … Ah, Street, darf ich Sie vorstellen? Mr Jeremy Street. Miss Clare Massinger. Mr Nigel Strangeways.«

Die drei murmelten Höflichkeiten.

»Es ist mir eine große Freude, Sie kennenzulernen«, sagte der Neuankömmling zu Clare. »Ich habe Ihre letzte Ausstellung gesehen. So viel Kraft und Zartheit. Besonders die ›Madonna‹. Das Irdische vom Göttlichen berührt – wie es sein soll.«

Jeremy Streets Stimme war fast zu melodisch, sein respektvoller und doch männlicher Tonfall fast zu perfekt. Ein leichter Anflug von Abneigung, den nur Nigel wahrnehmen konnte, huschte über Clares Gesicht.

»Hallo, hallo«, sang Ivor Bentinck-Jones. »Noch eine Berühmtheit an Bord. Sie sind Malerin, Miss Massinger?«

»Bildhauerin.«

»Nun, da sind Sie direkt an der Quelle der europäischen Kunst«, verkündete er.

»Das sagte man mir«, erwiderte Clare.

»Die Inseln Griechenlands, die Inseln Griechenlands, wo eine glühende Sappho liebte und sang«, fuhr Mr Bentinck-Jones fort, und sein pausbäckiges Gesicht krampfte sich vor Begeisterung zusammen. »Was für eine Inspiration. Aber es ist sicher nicht Ihr erster Besuch.«

»Doch, mein erster Besuch.«

»Sieh an, sieh an. Wer wäre als Führer besser geeignet als der berühmte Jeremy Street?«

Der berühmte Jeremy Street warf Clare einen entschuldigenden Blick zu, und ein Winkel seines beweglichen Mundes zuckte. Seine Fähigkeit, Lob zu ertragen, hatte möglicherweise Grenzen.

»Dürfen wir in näherer Zukunft eine weitere Übersetzung aus Ihrer Feder erwarten?«, erkundigte sich Mr Bentinck-Jones.

»Ich habe gerade den Hippolytos beendet.«

»Ah. Eines der edelsten Werke von Sophokles.«

»Euripides, genau genommen.«

»Euripides, natürlich. Was für ein absurder Versprecher.«

Nigel fragte: »Welchen Text haben Sie verwendet? E. K. Ambrose, nehme ich an.«

Die Frage hätte kaum unverfänglicher sein können, aber Nigel war sich sofort bewusst, dass sie Anstoß erregt hatte. Das faltige, junge, alte Gesicht nahm einen strengen Ausdruck an, der Blick wurde ärgerlich, abwehrend.

»Ambrosius war sehr solide«, sagte er, »aber es fehlte ihm etwas an fantasievollem Einfühlungsvermögen. Man fragt sich manchmal, ob diese klassischen Akademiker auch nur die leiseste Ahnung haben, was im Kopf eines Dichters vor sich geht.«

»Es ist eine Ianthe Ambrose an Bord«, sagte Nigel. »Ich frage mich, ob …«

»Was? I. A.?« Die Worte schienen aus Jeremy Street herauszusprudeln, bevor er sie überprüfen konnte.

»Kennen Sie sie?«

»Nicht persönlich«, erwiderte der Dozent mit selbstgefälligem Hochmut und verabschiedete sich mit einem kurzen au revoir.

Nigel waren zwei Dinge aufgefallen: dass die unglückliche Ianthe Ambrose die Gabe haben musste, sich Feinde zu machen, und dass Ivor Bentinck-Jones die Verwirrung von Jeremy Street über ihre Anwesenheit an Bord nicht nur gespürt, sondern sogar genossen hatte. Zweifellos zeigte sich bei ihm, wie bei den meisten Wichtigtuern, eine Spur von Bosheit.

»Ich habe den Verdacht, dass es sich bei beiden um Blender handelt«, murmelte Clare.

»Blender? Wer?«

»Unser Jeremy und unser Ivor. Jeremy ist eitel wie ein Pfau, aber wahrscheinlich harmlos. Ivor andererseits …«

»Ja? Was ist mit ihm?«

»Er dachte, Hippolytos sei von Sophokles geschrieben worden, und er hat uns ausgefragt. Hast du das bemerkt? Was sich hinter dieser fröhlichen Fassade verbirgt, würde uns sicher nicht gefallen. Und seine Augen sind zu klein.«

Was auch immer die Neigungen von Mr Bentinck-Jones sein mochten, Jeremy Street sollte bald in einem unerwarteten Licht erscheinen. Clare war nach unten gegangen, um ihren Zeichenblock zu holen, und Nigel schlenderte über das Promenadendeck. Als er an einem Fenster des Lesesaals vorbeikam, der sich achtern an den B-Salon anschloss, fiel sein Blick auf eine Gestalt darin. Es war Jeremy Street. Etwas misstrauisch Unbekümmertes in seiner Haltung erinnerte Nigel an einen Ladendieb, den er einmal auf frischer Tat ertappt hatte. Street wandte dem Fenster den Rücken zu; er griff nach einer beigefarbenen Zeitschrift, die vor ihm auf dem Tisch lag, und steckte sie in seinen Mantel. Das beigefarbene Titelblatt war Nigel nicht fremd. Warum, fragte er sich, als er weiterging, sollte ein angesehener Dozent für klassische Themen auf so schuldbewusste Weise das Journal of Classical Studies an sich nehmen? Es schien nur eine Antwort zu geben: Wenn der Mann nicht gerade ein Kleptomane war, hatte er das Journal aus dem Lesesaal mitgenommen, um zu verhindern, dass Mitreisende es lasen. Eine vermutlich unwirksame Vorsichtsmaßnahme, denn auf einer Kreuzfahrt wie dieser hatten einige Passagiere sicher ihre eigenen Exemplare mitgebracht. Nigel nahm sich vor, sich ein Exemplar der Vierteljahresschrift zu besorgen. Er hatte bereits eine Theorie, warum Jeremy Street sie entwendet haben könnte, aber er liebte es, seine Vermutungen zu überprüfen.

III

Das Abendessen im Salon A war fast beendet. Nigel und Clare hatten einen Tisch zugewiesen bekommen, an dem auch der Bischof von Solway und seine Frau, Mrs Hale, saßen. Der weiße Vandyke-Bart des Bischofs, der sie irrtümlich veranlasst hatte, ihn für einen Rechtsanwalt zu halten, wackelte ebenso heftig über seinem Essen, wie der Mund seiner Frau, der bezüglich ihrer Mitreisenden nicht stillstand. Innerhalb weniger Stunden hatte sie bereits mehrere Dossiers zusammengetragen, und wo ihr tatsächliches Wissen fehlte, füllte ihre Vorstellungskraft die Lücken ohne Weiteres aus.

»Meine liebe Tilly«, hatte ihr Mann irgendwann protestiert, »Miss Massinger wird denken, dass du eine schreckliche Tratschtante bist.«

»Ich tratsche nie, Edwin. Mir wird Tratsch zugetragen. Ich bin eine Art Mutterersatz – alle schütten mir ihr Herz aus.«

»Sie kennen dein wahres Wesen kaum«, bemerkte der Bischof düster.

Auf den ersten Blick sah Mrs Hale tatsächlich wie ein lebhaftes Pummelchen aus, aber in ihren Augen lag ein schwelendes, sardonisches Glitzern, das jeden Unvorsichtigen hätte warnen müssen.

»Haben Sie die Schöne und das Biest schon kennengelernt?«, fragte sie und blickte zu dem Tisch hinüber, an dem Mrs Blaydon und Miss Ambrose saßen.

»Nein«, sagte Clare. »Sie sind Schwestern, nicht wahr?«

»Ja, Miss Ambrose unterrichtet klassische Sprachen. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, und ihre Schwester hat sie auf diese Kreuzfahrt mitgenommen, damit sie sich erholt. Ich glaube, es würde Mrs Blaydons Ruf ziemlich schaden, wenn sie die Frau ständig um sich hat.«

»Ihrem Ruf schaden?«, erkundigte sich Nigel.

»Melissa Blaydon ist die lustige Witwe de nos jours …«

»Sie ist tatsächlich Witwe?«

»Ja. Und für mich ist es offensichtlich, dass sie nur ein einziges Interesse im Leben hat: Männer. Sie haben bereits begonnen, sie zu umschwärmen. Aber Ianthe Ambrose knurrt sie regelrecht an und fletscht die Zähne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mrs Blaydon viel Romantik an Bord haben wird.«

»Meine liebe Tilly«, bemerkte der Bischof, »nur ein Schlangenmensch könnte sich in diesen Kisten, die man hier Kabinen nennt, daneben benehmen.«

»Mein Mann redet auf Diözesankonferenzen nicht so«, versicherte seine Frau.

Der Bischof von Solway brach in schallendes Gelächter aus, und seine blauen Augen funkelten. »Du hast keine Ahnung, wie ich auf Diözesankonferenzen rede.« Er strahlte seine Frau voller Zuneigung an.

»Woher wissen Sie das alles über Mrs Blaydon?«, fragte Clare.

»Sie saß vor dem Abendessen zufällig neben mir auf dem Schiffsdeck, und ein pummeliger kleiner Mann namens Bentinck-Jones kam mit ihr ins Gespräch.«

»Aha«, sagte Clare. »Hat sie ihm von ihrer Schwester erzählt? Er scheint eine unstillbare Neugier für das Leben anderer Leute zu haben. Sie sollten sich besser vorsehen.«

»Oh, mein Leben ist ein offenes Buch«, erklärte Mrs Hale.

»Ein offenes Buch«, sagte ihr Mann, »gefüllt mit unpassenden Bildern. Sie werden kaum glauben, welch blühende Fantasie meine Frau hat, Miss Massinger. Das kommt von dem eintönigen Leben, das sie mit mir im Palast führen muss.« Er tupfte sich mit der Serviette den bärtigen Mund ab und warf seiner Frau einen verschmitzten Blick zu.

»Ihr Vater und ich waren früher Stipendiaten desselben Colleges. Es gibt nichts, was ich Ihnen nicht über die Ambrose-Schwestern sagen könnte, als sie noch Kinder waren.«

»Also wirklich, Edwin. Warum hast du uns das so lange verschwiegen?«

Der Ausdruck des Bischofs veränderte sich. »Es ist eine ziemlich traurige Geschichte. Ich habe nicht die Absicht, sie aufzuwärmen, auch nicht für dich, Tilly.«

»Sie erinnern mich an ein Gedicht von Edwin Muir«, sagte Nigel nach einer Pause, in der er die Schwestern verstohlen gemustert hatte. »Es handelt von zwei Geschöpfen, eingefleischten Feinden, die sich immer und immer wieder bekämpfen müssen. Das eine ist ›das Schopftier in seinem Stolz, gekleidet in alle königlichen Farben‹. Das andere ist – wie heißt es noch gleich – ›ein weiches, rundes Tier, so braun wie Lehm‹ – ›ein ramponierter Sack mag es gewesen sein‹. Ich glaube, Muir träumte von ihnen, während er sich einer Psychoanalyse unterzog.«

»Und wer hat gewonnen?«, fragte die Frau des Bischofs.

»Das schöne Schopftier gewinnt immer, aber es kann seinen Feind nie töten.«

Eine merkwürdige Stille senkte sich über ihren Tisch. Nigel war sich bewusst, dass die Augen des Bischofs auf ihm ruhten.

»In einem Punkt haben Sie recht«, sagte dieser schließlich. Aber es wurde nicht klar, womit Nigel recht hatte, denn in diesem Augenblick brachte eine laute metallische Stimme alle Gespräche im Salon zum Schweigen.

Am anderen Ende sprach ein Mann in ein Mikrofon. »Mein Name ist Nikolaides. Ich bin Ihr Kreuzfahrtmanager. Willkommen, meine Damen und Herren, in Griechenland und auf der Menelaos. Ich hoffe, Sie werden alle eine wunderschöne Kreuzfahrt haben.«

Der Mann machte eine Pause, um den Gästen ein strahlendes Lächeln zu schenken, und Mrs Hale murmelte: »Der Billy Butlin der Ägäis. Er wird uns jeden Augenblick ›Jungs und Mädels‹ nennen.«

Mr Nikolaides fuhr fort, er sprach fließend mit amerikanischem Akzent. Er teilte ihnen mit, wo sich sein Büro befand, kündigte das Programm für den morgigen Ausflug nach Delos an, forderte sie auf, ihm etwaige Beschwerden persönlich vorzutragen, und bat sie alle, ihn Nikki zu nennen.

Er war ein breitschultriger, mittelgroßer Mann mit einem dunkelhäutigen, glatt rasierten Gesicht, blitzenden weißen Zähnen, schwarzem, geöltem Haar, das glänzte wie eine Asphaltstraße nach dem Regen, und einer Persönlichkeit, deren Anziehungskraft über die gesamte Länge des Salons zu spüren war.

»Und nun«, schloss er, »hat jemand Fragen?«

»Ja. Wann fährt dieses Schiff endlich los?« Die Fragestellerin war ausgerechnet Ianthe Ambrose. Ihre Stimme war undeutlich, tief und bestimmt, und obwohl die Frage an sich nicht beleidigend war, schaffte sie es, sie sehr unangenehm klingen zu lassen. Die Anspannung der Frau übertrug sich auf alle Gäste, die unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschten und den Blicken der anderen auswichen. Nur Nikki schien unbeeindruckt.

»In ein paar Stunden«, sagte er. »Wir haben Verspätung, weil der Öltanker zu spät kam. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir werden unseren Zeitplan einhalten.«

Er ging nun von Tisch zu Tisch und begrüßte die Passagiere einzeln. An dem Tisch, an dem Melissa und Ianthe saßen, blieb er länger. Er sprach beruhigend auf Ianthe ein, aber sein Blick wanderte dabei immer wieder zu ihrer Schwester. Man kann fast einen Funken in der Luft sehen, wo sich ihre Blicke treffen, dachte Nigel. Melissa Blaydons Profil, betont durch das indische Kopftuch, das sie trug, war hinreißend in seiner Reinheit der Linien. Das kleine Tableau wurde durch eine Bewegung von Ianthes Hand unterbrochen – eine abrupte, scheinbar unwillkürliche Bewegung, die ein Weinglas umwarf. Nikki schnippte mit den Fingern, ein Steward eilte an den Tisch, und Ianthes Gesicht verfinstere sich.

Als er zu ihrem Tisch kam, begrüßte Nikki den Bischof von Solway und seine Frau respektvoll und beugte sich dann über Clares Hand, wobei seine Augen in einer unverhohlenen Bewunderung leuchteten. Sein ganzes Gesicht drückte eine Unschuld, eine Art heidnischer joie de vivre aus, die einen entwaffneten; und obwohl sein Verhalten respektvoll war, fehlte jede Spur von Unterwürfigkeit.

»Was für schöne Augen er hat«, sagte Clare, als Nikki gegangen war. »Wie in Strom getränkte Pflaumen.«

Der Bischof lachte laut.

Mrs Hale sagte: »Ein Stier. Ein glänzender Stier. Er hat fast mit den Hufen gescharrt.«

»Na ja, solange er seine Hufe bei sich behält«, murmelte Clare. »Außergewöhnlich, wie die Griechen ihre alte Tradition der Unabhängigkeit bewahrt haben«, sagte der Bischof. »Arm, aber stolz. Sehen Sie sich die Stewards an. Sie wirken überhaupt nicht wie Kellner. Freie Männer. Es ist in ihre Haltung und ihre Gesichter eingeschrieben.«

»Hat das etwas mit der strengen Lebensweise zu tun, zu der sie gezwungen sind?«, gab Nigel zu Bedenken. »Das sorgt für Einfachheit, dafür, dass sie unverdorben bleiben. Nikki zum Beispiel: Er ist aus einfachem Holz geschnitzt, würde ich sagen, wie ein homerischer Held.«

»Ich mag ihren homerischen Kaffee nicht besonders«, sagte Mrs Hale und nippte angeekelt daran. »Woraus mag er nur bestehen?«

»Grummel, grummel, grummel«, bemerkte ihr Mann.

IV

Sie saßen auf dem Achterdeck, unter den Bogenlampen und den Sternen. Aus einem Café jenseits der Kais dröhnte aus einem Lautsprecher Tanzmusik, die das Gemurmel der Gespräche um sie herum übertönte. Passagiere schlenderten auf und ab oder lehnten sich über die Reling und warteten auf die Abfahrt des Schiffs.

Clare legte ihre Hand auf Nigels und sagte seufzend: »Ich bin froh, dass wir hier sind.«

»Ja.«

»Ich mag den Bischof und seine Mrs. Sie sind eine gute Werbung für die Ehe.«

»Wir haben Glück, dass wir sie als Tischnachbarn haben. Hast du deine Kabinengefährtin schon kennengelernt?«

»Ja. Ziemlich harmlos. Sie unterrichtet Griechisch an irgendeiner Universität. Sie hat eine ganze Bibliothek von Büchern und Zeitschriften mitgebracht. Lustig, dass sie nach Griechenland kommt, um zu lesen.«

»Nun, du könntest dir von ihr die aktuelle Ausgabe des Journal of Classical Studies ausleihen, falls sie die dabei hat. Aber nicht vergessen.«

»Warum?«

»Ich hätte Lust, sie morgen beim Frühstück zu lesen. Hallo, wer ist das denn?«

Ein kleines Mädchen – es mochte zehn Jahre alt sein – war an Deck gespült worden und ihnen gegenüber vor Anker gegangen. Ihr fetter, unförmiger Körper kam Nigel vor wie eine Miniaturausgabe von Ianthe Ambrose. Sie trug eine bestickte Bluse und einen Serge-Rock, über dem etwas hing, das wie ein Sporran, eine Kilttasche, aussah. Ein Notizbuch in der Hand, stand sie da und betrachtete die beiden ausdruckslos durch eine Brille mit dicken Gläsern.

»Na, wer bist du denn?«, fragte Nigel.

Das Kind näherte sich, bis es fast auf Nigels Füßen stand, bevor es in einem klaren, pedantischen Ton antwortete.

»Mein Name ist Primrose Chalmers. Wer sind Sie?«

»Ich bin Nigel Strangeways, und das ist Clare Massinger.«

Das Kind schwieg, um die Informationen in seinem Notizbuch festzuhalten.

»Sind Sie verheiratet?«, erkundigte sie sich dann.

»Nein.«

»Leben Sie zusammen?«

Nigel streckte die Hand aus und tat so, als würde er dem Kind die Nase mit dem ersten und zweiten Finger abschneiden.

»Das nennt man Kastrationssymbolik«, verkündete das Kind düster.

Nigel zog seine Hand zurück, als wäre er gestochen worden. Clare kicherte.

»Was in aller Welt weißt du über …«

»Mein Vater und meine Mutter sind Laienanalytiker«, sagte Primrose Chalmers.

»Na, ist das nicht schön?«, bemerkte Clare. »Reisen sie mit dir?«

»Ja. Ich habe selbst sieben Jahre eine Analyse gemacht.«

»Das überrascht mich nicht.« Clare brach den Satz ab. »Das ist eine lange Zeit. Da musst du ja mittlerweile wahnsinnig normal sein. Und jetzt bist du in Griechenland, an der Quelle des Ödipus-Komplexes.«

Primrose warf ihr einen finsteren Blick zu und schrieb etwas in ihr Notizbuch.

»Hey, hey, da ist ein Kind unter uns, das sich Notizen macht«, ertönte Mr Bentinck-Jones Stimme ganz in der Nähe.

»Was schreibst du in dein Buch?«, fragte Nigel.

»Ich sammle Daten über die Passagiere, um eine Abhandlung über Gruppenpsychologie zu verfassen«, erwiderte das unglaubliche Kind.

»Meine Güte, machst du denn nie Urlaub?«

Primrose überhörte die Frage geflissentlich. Sie wandte sich Ivor Bentinck-Jones zu und begann mit ihrem Fragebogen.

»Ich denke, wenn du eine Gallup-Umfrage mit mir machen willst, junge Lady«, sage er mit einem Augenzwinkern zu Nigel, »dann sollten wir das besser unter vier Augen tun.«

»Das ist keine Gallup-Umfrage«, korrigierte Primrose ihn streng. Aber sie steckte Notizbuch und Füllfederhalter in ihren Sporran und ging mit dem zuvorkommenden Bentinck-Jones davon.

»Und nun? Armes, unglückliches Kind.«

»Zwei Kinder«, sagte Clare und betrachtete die sich entfernenden Rücken von Ivor und Primrose. »Zwei neugierige Kinder. Sie werden sich prächtig verstehen.«

»Genau das beunruhigt mich. Ich bin gleich wieder da, Liebes.« Nigel erhob sich aus seinem Liegestuhl und schlenderte langsam hinter den Gestalten von Primrose Chalmers und Ivor Bentinck-Jones her. Nigels leidenschaftliche Neugier auf Menschen wurde von einem tiefen Misstrauen gegenüber denjenigen begleitet, die außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit die gleiche Neugier an den Tag legten. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass eine solche Neugier selten uneigennützig ist. Bentinck-Jones zum Beispiel: Er könnte einfach nur das überschwängliche, bedauernswert einsame Herz sein, das er zu sein schien; oder ein echter Kinderliebhaber, dessen Herz groß genug war, um sogar die abstoßende Primrose einzuschließen. Oder vielleicht auch nicht.

In respektvollem Abstand folgte Nigel den beiden auf der Backbordseite des Schiffsdecks. Sie kletterten eine Leiter hinauf auf das Brückendeck. Als Nigel dort ankam, waren sie bereits verschwunden. Zu seiner Linken befand sich eine Reihe von Deckshäusern, die Quartiere der Offiziere der Menelaos. Er ging zwischen ihnen und einem Beiboot hindurch zu einer offenen Deckfläche und weiter zur Steuerbordseite hinüber. Auch hier befand sich ein einzelnes Beiboot. Passagiere saßen hier oder schlenderten auf und ab, aber nicht die beiden, denen er gefolgt war. Vielleicht waren sie in den Funkraum gegangen, der sich hinter der Kapitänskabine befand. Nigel spähte hinein. Der Raum war leer. Sie müssen die Backbordleiter hinaufgestiegen sein, um dann die Steuerbordleiter hinunterzusteigen. Aber warum sollte Bentinck-Jones Primrose überhaupt hierher gebracht haben?