Tod im Wunderland - Nicholas Blake - E-Book
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Tod im Wunderland E-Book

Nicholas Blake

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

»Nehmt euch vor dem verrückten Hutmacher in Acht« In einer Ferienkolonie treibt ein mysteriöser Unruhestifter sein Unwesen und nennt sich selbst »Der verrückte Hutmacher«. Die sorgenfreie Stimmung in der Kolonie ist schon merklich angespannt, als endlich Privatdetektiv Nigel Strangeways anreist. Kann er dem gefährlichen Treiben ein Ende bereiten, bevor es zu spät ist? An der idyllischen englischen Küste liegt die beliebte Ferienkolonie »Wunderland«. Die anreisenden Urlaubsgäste suchen Ruhe und Entspannung. Doch damit ist es schnell vorbei, als klar wird, dass ein Unbekannter in der Kolonie sein Unwesen treibt, der sich selbst als »Verrückter Hutmacher« bezeichnet. Die Inhaber vermuten, dass ein Konkurrenzbetrieb sie zum Aufgeben zwingen will. Oder handelt es sich doch um einen der Angestellten? Als die Scherze des Hutmachers immer grausamer und gefährlicher werden, wächst die Anspannung unter der Feriengästen. Die Inhaber rufen schließlich den Privatdetektiv Nigel Strangeways zur Hilfe, der die wahre Identität des Hutmachers aufdecken und verhindern soll, dass es zum Äußersten kommt. 

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Seitenzahl: 370

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Cover for EPUB

Nicholas Blake

Tod im Wunderland

Aus dem Englischen von Elina Baumbach

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Malice in Wonderland« im Verlag Collins Crime Club, Glasgow

© 1940 by Literary Executor of the Estate of C. Day Lewis

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Abbildung von Dieter Braun Illustration, Hamburg

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

ISBN 978-3-608-98694-5

E-Book ISBN 978-3-608-12162-9

Inhalt

Teil

I

Mr Perry beobachtet

II 

III 

IV 

VI 

VII 

VIII 

Teil

II

Mr Thistlethwaite nimmt Maß

IX 

XI 

XII 

XIII 

XIV 

XV 

XVI 

Teil

III

Mr Strangeways trinkt Tee

XVII 

XVIII 

Teil I

Mr Perry beobachtet

I

Der junge Mr Perry fuhr in ein Camp, aber kein Ausbildungscamp oder Erlebniscamp. Nein, es handelte sich tatsächlich um etwas gänzlich anderes: eine Ansiedlung, bei dessen Anblick sich jeder Nomade ungläubig die Augen gerieben und wohl die Flucht ergriffen hätte. Ein Camp, das, wie Mr Perry hoffte, ihm reichlich Stoff für die Notizbücher bieten würde, die dem Koffer in der Ablage über ihm ein beträchtliches Gewicht verliehen.

Wohlwollend besah sich der junge Mr Perry die Fabriken, die am Fenster seines Zugabteils vorbeijagten. Fabriken waren statthaft, ja sogar erwünscht. Maschinentempel. Mr Perry, der noch nie an einer Werkbank gestanden oder am Fließband gearbeitet hatte, war der Existenz von Maschinen gegenüber durchaus wohlgesonnen. Natürlich konnte man nicht alle Fabriken über einen Kamm scheren. Die aus vergangenen Tagen war eigentlich nicht mehr zulässig: Marode und dem Verfall ausgeliefert, Rauch spuckend und hustend wie pensionierte Drachen, ragten sie unkrautüberwachsen als rostige Boiler und ausrangierte Gerätschaften in der Gegend, in der Mr Perry aufgewachsen war, hie und da aus der Landschaft. Diese schaurigen Überbleibsel von Laissez-faire und beispielloser Habgier hatten ausgedient. Der Fortschritt war unbemerkt an ihnen vorübergegangen, wie Mr Perry es ausdrückte. Ihrem Verfall wohnte möglicherweise ein gewisser romantischer Aspekt inne, doch bei allem Respekt für den jungen Auden, dessen Schwäche für rostendes Metall und aufsteigenden Dampf bezeichnend für ein irrlichterndes Genie war, blieb doch festzuhalten, dass derartige Romantik hier fehl am Platz war.

Mr Perry hielt seinerseits den Klassizismus in Ehren. Er mochte es, wenn alles in tadelloser Ordnung war. Jene Fabrik dort drüben, zum Beispiel, die ganz alleine inmitten grüner Felder stand, auf den ersten Blick weiß, hübsch und ihren Zweck erfüllend – bei diesem Anblick ging ihm das Herz auf, vor allem, als sich herausstellte, dass sie der letzte Außenposten der Zivilisation gewesen war. Der Zug durchquerte mittlerweile unberührte Landschaft, und für Mr Perry war alles Ländliche nicht nur beklagenswert, es existierte für ihn schlicht nicht. Es gab zweifellos Menschen, die hier lebten, aus abwegigen Gründen, die sich nur ihnen selbst erschlossen, aber es handelte sich dabei nicht um Menschen in dem Sinne, wie er diese Vokabel verstand: Es waren keine Menschenmengen, und Mr Perry fühlte sich nur in Menschenmengen wirklich wohl. Zudem waren Menschenmengen sozusagen sein Geschäft.

Er löste seinen Blick von dem jämmerlichen Anblick, Kühe, Scheunen und Obstplantagen, und wandte ihn seinen Mitreisenden zu, um sich mit dem zu befassen, was ihm am Herzen lag, dem Menschen im Allgemeinen und im Besonderen. In seinem Abteil saßen drei Exemplare, offensichtlich eine Familie. Eine ältere Frau starrte ruhig aus dem Fenster; eine Blondine, ihre Tochter, verschlang das Magazin Film Frolics, und dann gab es noch den Paterfamilias. Letzterer war zweifelsohne – wenigstens für Mr Perry – das Schaustück: Ein Mann von übernatürlicher Fettleibigkeit, dessen Bauch sogar die Times, die diesen nur leidlich verdeckte, zwergenhaft erscheinen ließ; sein Gesicht eine Ansammlung von Falten und Furchen, seine Kleidung wie durch ein Wunder faltenfrei. Er trug einen schwarzen Gehrock, schicklich gestreifte Hosen und einen altmodischen Krawattenschal. Sein Gesicht, riesig und ernst, erinnerte an einen Bluthund mit Schilddrüsenüberfunktion. Er sah aus wie die Karikatur eines Kapitalisten.

Der Mann fing Mr Perrys Blicke auf, legte äußerst bedächtig seine Ausgabe der Times zur Seite, deutete mit feierlicher Zurückhaltung auf den grünen bedruckten Anhänger an Mr Perrys Koffer und sagte: »Wie ich sehe, fahren Sie ebenfalls nach Wunderland, Sir.«

Der Zug reagierte unversehens auf dieses Stichwort und stürzte sich, gleich Alice, in einen Tunnel. Das rasselnde Getöse unterband jegliche Unterhaltung, sodass Mr Perry in Ruhe den Ton analysieren konnte, in dem dieser Riese ihn angesprochen hatte. Feierlich bombastisch war er gewesen. Doch es steckt noch mehr dahinter – nicht Unterwürfigkeit per se, eher der gut geölte professionelle Respekt eines höheren Dienstboten. Vielleicht ist er ein Butler, dachte Mr Perry, aber es ist doch eher überraschend, dass ein Butler nach Wunderland fahren sollte, und dann noch in dieser altmodisch förmlichen Kleidung. Außerdem bringt man Butler eigentlich nicht mit hübschen, blonden Töchtern in Verbindung. Wobei natürlich auch Butlern Nachwuchs gestattet ist.

Der Zug schnellte wieder hinaus in den grellen Sonnenschein.

»Sie werden dort ebenfalls einige Zeit verbringen, Sir?«, erkundigte sich der Mann.

»Zwei Wochen wahrscheinlich. Es hängt davon ab …« Mr Perry unterbrach sich, da er nicht preisgeben wollte, dass es davon abhing, wie lange seine Arbeit dauern würde. Man fuhr normalerweise nicht nach Wunderland, um dort zu arbeiten.

»Wenn das so ist, gestatten Sie mir die Freiheit …«

Mr Perry betrachtete die Visitenkarte, die der Mann ihm gereicht hatte. »Mr James Thistlethwaite, 29 St. Petrock’s Street, Oxford« stand dort einfach.

»Und das ist Mrs Thistlethwaite«, fuhr er fort, mit einer Stimme wie ein Kirchendiener, der die Figuren in einem Buntglasfenster aus dem 12. Jahrhundert beschrieb. »Und meine Tochter Sally.«

Sally Thistlethwaite blickte kurz von einer Fotografie Robert Taylors auf, nickte abweisend und versank sogleich wieder in ihren Film Frolics. Normalerweise bekam Mr Perry diese Art von Blick von Blondinen in Tabakläden zugeworfen: Eine große Packung Players, und das war’s, signalisierte er unmissverständlich. Doch heute, aus unerfindlichen Gründen, ärgerte es ihn, mit einem flüchtigen Blick abgewiesen zu werden. Er antwortete ein klein wenig aggressiver, als es sonst seine Art war: »Mein Kurzlebenslauf lautet wie folgt: Name, Paul Perry. Alter, fünfundzwanzig. Ledig. Ausbildung, St. Bees, und Peterhouse, Cambridge.«

Sally sah wieder zu ihm auf, leicht verblüfft. Ihren Vater jedoch brachte Pauls Schroffheit scheinbar nicht aus der Fassung. Er nickte freundlich.

»Ein Akademiker. Recht so. Das merkt man sofort. Und sogar Cambridge. Und Ihre Profession, Sir? Nein«, keuchte er und hob eine seiner dicken Hände, »sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten.« Er musterte Paul mit einem ernsten und merkwürdig wachsamen Blick.

»Mr Thistlethwaite ist ein sehr guter Menschenkenner«, meinte seine Frau leichthin. »Lassen Sie ihn nur machen.«

»Graue Flanellhosen, Stoff von guter Qualität, wenn auch nicht aus der Bügelpresse, fürchte ich. Hemd ohne abnehmbaren Kragen. Sportsakko von der Stange«, murmelte der dicke Mann, wie zu sich selbst. Paul Perry errötete, nahm verhaltene Belustigung in Sallys Blick wahr und errötete weiter mit wachsender Verärgerung.

»Die übliche Arbeitskleidung eines Lehrers«, fuhr Mr Thistlethwaite fort. »Doch wie ich sehe, sind die Ärmelschoner nicht übermäßig abgenutzt, das Jackett lässt hingegen bereits Verschleiß erkennen. Keine Arbeit am Schreibtisch, also können wir folgern: kein Lehrer. Journalist, vielleicht. Bleistifte in der Brusttasche. Ausbeulung in der rechten Hosentasche. Könnte das Notizbuch eines Reporters sein. Ich …«

»Du bringst den Herrn in Verlegenheit, Daddy. Nicht wahr, mein Bester?«, rief Sally.

»Nicht im geringsten«, gab Paul steif zurück. »Tatsächlich bin ich Wissenschaftler. Eine Art Wissenschaftler zumindest.«

»Was für eine Art? Schneiden Sie Meerschweinchen auf, mein Bester?«

»Sally, du solltest fremde Herren in einem Zugabteil wirklich nicht mit ›mein Bester‹ ansprechen«, protestierte Mrs Thistlethwaite wenig überzeugend. »Bitte sehen Sie es ihr nach, Sir. Ähm … Sie ist so impulsiv.«

»Keine Ursache«, erwiderte Mr Perry. »Ich bin Feldforscher, um genau zu sein.«

Sally riss die Augen auf. Es waren bemerkenswert schöne Augen. »Ein Feldforscher«, meinte sie. »Oha. Kunstdünger, vermute ich. Nun ja, jeder nach seiner Fasson.«

»Sally, das reicht jetzt«, meldete sich Mr Thistlethwaite. »Wissenschaftler sind Wohltäter für die Menschheit. Einige Herrschaften unter meinen Kunden haben sich, ihren Neigungen folgend, für die Wissenschaft entschieden. Und Kunstdünger ist von unschätzbarem Wert für den Landwirt, denn das Land heutzutage ist …«

»Aber ich habe mit Kunstdünger nichts zu schaffen«, rief Paul beinahe verzweifelt. »Weshalb glauben Sie …« Sein Stimme wurde leiser, er bemerkte wie Mr Thistlethwaite tadelnd seinen Hals begutachtete.

»Was ist los?«, fragte er. »Habe ich mir etwa heute Morgen den Hals nicht gewaschen?«

Erschrocken hob Mr Thistlethwaite die Hände. »Bitte, Sir. Ich bitte Sie. Nein, ich habe Ihr Revers betrachtet. Ein klein wenig zu breit, meinen Sie nicht, Sir? Etwas unkonventionell? Wo, wenn ich fragen darf, haben Sie dieses Kleidungsstück erworben?«

»In Cambridge. Wieso?«

»Ah, das dachte ich mir. Nun ja, der Jugend können wohl gewisse Ausschweifungen erlaubt werden, ein klein wenig Angeberei, wenn ich das so sagen darf. Das Jackett ist nicht unvorteilhaft, Sir. Obwohl, wie ich meiner Kundschaft immer zu sagen pflege, ein Gentleman sollte einen Anzug tragen, wenn er unter seinesgleichen distinguiert wirken möchte.«

»Sie stehen mit der Universität in Verbindung?«, fragte Paul, der mittlerweile zu dem Schluss gekommen war, dass sein Gegenüber Bediensteter einer Bildungseinrichtung sein musste.

»Diese Ehre wird uns zuteil, Sir. Seit einhundertfünfzig Jahren wird uns diese Ehre zuteil.«

»Tatsächlich? Einhundertfünfzig Jahre? Sie werden sich dann wohl bald zur Ruhe setzen, nehme ich an?«, antwortete Paul, etwas verwirrt vom Gebrauch des Pluralis Majestatis.

»Ich spreche von meiner Firma«, gab Mr Thistlethwaite würdevoll zurück.

Sally sah auf und kicherte vergnügt. »Nun mach aber halblang, Daddy. Mr Perry brennt schon darauf zu erfahren, worum es sich handelt. Daddy hat nämlich einen Laden«, stieß sie hervor.

Horror verzerrte das riesige Gesicht ihres Vaters in Anbetracht dieser Meiose. »Ein Laden! Meine Liebe! Bitte! Eine Institution!«

»Ich hab’s«, sagte Paul. »Sie sind Schneider.«

»Schneidermeister«, ergänzte Mr Thistlethwaite, um Fassung ringend. »Sehr scharfsinnig von Ihnen, Sir. Man sieht sofort, dass Sie Wissenschaftler sind. Observation und Analyse. Ich selbst beschäftige mich – auf amateurhafte Weise – mit der Wissenschaft. Kriminologie um genau zu sein.« Er holte ein grell eingebundenes Buch zum Vorschein. Es trug den Titel Die Leiche im Stubenwagen. »Eine interessante kleine Herausforderung. Einer meiner kürzlich verstorbenen Gentlemen hat es mir empfohlen – niemand Geringeres als Lord Hugh Willoughby.«

»Du liebe Güte, so etwas lesen Sie? Warum?«

Mr Thistlethwaite bedachte Paul mit einem betont getragenen Blick. »Ich lese es, Sir, weil es mir Genuss bereitet. Intellektuellen Genuss, Sir.«

»Mr Perry ist ein Intellektueller, nehme ich an«, warf Sally übermütig ein. »Verbringt seine ganze Zeit mit der Lektüre über Phosphate.«

»Mein Liebe«, entgegnete Paul, »ein Intellektueller, jemand von hohem geistigen Niveau, ist bloß eine Person mit einem erhöhten Bewusstsein für das Leben. Der Säugling, wenn er zum ersten Mal seine Finger benutzt, um nach einer Orange zu greifen und sie sich in den Mund zu stecken, ist ein Intellektueller. Der …«

»Zahlen wir am Eingang, Professor, oder lassen Sie später den Hut herumgehen?«

Paul musterte sie. Das Ergebnis war niederschmetternd. Die junge Frau war unmöglich. Vorlaut, halbgebildet, mit niedrigem Intelligenzquotienten. Ein Durchschnittstyp, im Großen und Ganzen spannend als Forschungsobjekt, die einzelnen Wesenszüge jedoch absolut uninteressant. Mr Perry klassifizierte sie im Geist und legte sie ad acta, wobei er sich nicht bewusst war, dass – wie ihr Vater – Sally durchaus kein Durchschnittstyp war, sondern ein echtes Original. Zugegebenermaßen hielt Mr Perry nicht sehr viel von Originalen – sie hatten die Angewohnheit, sowohl die eigene Gelassenheit als auch die Statistik aus dem Lot zu bringen.

»Das ist Ihr erster Besuch in Wunderland?«, erkundigte sich Mr Thistlethwaite.

»Ja.«

»Ich hoffe, es wird Ihren Erwartungen gerecht werden. Mrs Thistlethwaite und ich haben dort letztes Jahr zwei äußerst angenehme Wochen verbracht. Ich selbst«, fügte er geziert hinzu, »konnte erfreulicherweise beim Beetle Drive triumphieren.«

»Tatsache? Sie überraschen mich.«

»In Sachen Freizeitgestaltung ist für jeden Geschmack etwas geboten. Und Sie, Sir? Spielen Sie vielleicht Cricket?«

»Nein. Nein, das nicht.«

»Was soll’s«, unterbrach Sally finster. »Vielleicht gibt es ja ein Wettrennen für X-Beinige.«

Paul wandte seine Aufmerksamkeit nachdrücklich wieder dem New Statesman zu. Eine Weile schlängelte sich der Zug auf und ab durch eine Landschaft aus kleinen grünen Hügeln, Weiden und wilden Hecken. An einem Bahnknotenpunkt stiegen sie aus und in einen anderen, kleineren Zug um, der fröhlich in Richtung Wunderland zuckelte. Paul dachte an die vor ihm liegende Aufgabe. Falls er erfolgreich war, fand der Chef vielleicht eine feste Stelle für ihn. Doch es war fast ausschließlich unbezahlte Arbeit, und der Nachlass seiner Tante würde nicht mehr allzu lange vorhalten. Er begann, die Strategie für seine Vorgehensweise zu überdenken. Letzten Endes hing das natürlich von den Bedingungen vor Ort ab, jedoch konnte es nicht schaden, einen vagen Plan für das Prozedere zu haben.

Der Zug kam an einem kleinen Bahnhof in einer tiefen Senke unerwartet zum Stillstand, und alle stiegen aus. Mr Thistlethwaite nahm Paul am Arm, führte ihn etwas abseits und flüsterte schüchtern: »Wenn Sie so freundlich wären, Sir – bitte erwähnen Sie meine Profession nicht, wenn wir ankommen. Ich mache sozusagen inkognito Urlaub. In Wunderland gibt es natürlich keine Klassenunterschiede, aber ich möchte doch etwaige peinliche Situationen, die sich mit anderen Urlaubern ergeben könnten, von vornherein vermeiden und sie bezüglich meines – wie soll ich sagen? – glücklicheren sozialen Status im Dunkeln lassen. Lassen sie uns diese wahre Demokratie aus Feriengästen als Ebenbürtige betreten.«

Der außergewöhnliche Mann verbeugte sich ernst, wischte ein Staubkorn von Pauls Kragen und watschelte von dannen, hin zu dem Bahnhofsvorplatz, wo ein hellgrüner Bus mit der Aufschrift Wunderland auf sie wartete. Ein Bediensteter in hellgrüner Tracht türmte Gepäck auf das Dach des Busses. Paul, der draußen geblieben war, um seine Mitreisenden eingehender in Augenschein zu nehmen, stieg schließlich ein und sicherte sich den letzten verfügbaren Sitzplatz. Just in diesem Augenblick kam Sally Thistlethwaite den Gang hinunter und blieb neben ihm stehen.

»Gerade viel los«, meinte sie.

Paul bedeutete ihr mit eher widerwilliger Höflichkeit, dass sie seinen Platz haben könne.

»Um nichts in der Welt würde ich Sie stören«, erwiderte sie. Dann, mit einem verschmitzten Lächeln: »Ich setz mich einfach auf Ihren Schoß, mein Bester.«

»Ich ziehe es vor zu stehen«, gab der junge Mr Perry kühl zurück.

»Na gut, ganz wie Sie möchten. Aber ich wette, dass Sie nicht alle Tage von einem hübschen Mädchen gefragt werden, ob sie auf Ihrem Schoß sitzen darf.«

Paul ging nach vorne und stellte sich so hin, dass er nach vorne hinaussehen konnte. Sie preschten schmale Straßen entlang, vorbei an Bauernhöfen im Schutz von Hügeln, und erklommen eine langgezogene Steigung, bis sie eine Kuppe erreicht hatten und sich vor ihnen ein großartiges Panorama aus Klippen und Meer bot. Der weite Bogen der Küstenlinie schien golden in der Abendsonne. Das Meer in Ufernähe leuchtete in traubigem Violett. Doch galt der aufgeregte Blick des jungen Mr Perry, in dem zugleich große Genugtuung lag, weder Meer noch Küste. Er wurde angezogen von dem riesigen weißen Banner, Willkommen in Wunderland, das einen Torbogen für den Bus bildete, und dem Anblick von Wunderland selbst, das sich zwischen Felskuppen, Hügeln und Meer erstreckte.

II

Herzstück und Hauptattraktion von Wunderland war ein modern gestaltetes großes, weißes Gebäude mit Flachdach. Die Fenster erstreckten sich so weit über die Front, dass die Wände wie aus Glas gemacht zu sein schienen, was den strengen Linien des Baus einen recht hübschen Anschein von Leichtigkeit verlieh, ganz so als ob er jeden Moment gewaltige weiße Flügel ausbreiten und in das Sommerblau davonfliegen würde. Die dem Meer zugewandte Seite beschrieb einen Halbkreis, was einen großartigen Ausblick nach Süden, Westen und Osten gewährleistete. Im obersten Stockwerk ragte ein Balkon heraus, der ähnlich der Brücke eines Passagierschiffes geschwungen war; tatsächlich wurde er von den Stammgästen Wunderlands die ›Kommandobrücke‹ genannt.

Der junge Mr Perry betrachtete das Gebäude eingehend und befand es für gut. Und zwar nicht nur wegen der neutralen Linienführung, sondern für das, was es repräsentierte. Es stand für organisierte Freizeitbeschäftigung, mit der Betonung auf ›organisiert‹, und Paul Perry gab allem, was effizient organisiert war, seine Zustimmung. Innerhalb dieser gigantischen Spaßfabrik befanden sich (wie ihn eine von der Wunderland Feriencamp GmbH publizierte Broschüre informierte) weitläufige Speisesäle, in welchen heißhungrige Besucher sich an lukullischen Speisen laben konnten, die von Londoner Köchen in hygienisch einwandfreien Küchen zubereitet und auf blütenreiner Tischwäsche von fröhlichen Kellnerinnen zur Begleitung einer Streichergruppe kredenzt wurden. Ebenfalls gab es einen Ballsaal, dessen gefederter Ahornboden zweifellos dazu anspornte, das Tanzbein zu schwingen; ganz zu schweigen von den Bars, einer Schwimmhalle samt Luftfilter und farbigem Springbrunnen, einem Konzertsaal, einer Sporthalle und unzähligen Räumlichkeiten zum Zeitvertreib.

Wenn man in Wunderland keinen Spaß hatte, war man unwiederbringlich verloren, lautete der Tenor jener Broschüre. Und Wunderland war nachweislich entschlossen, Spaß zu bieten, selbst wenn man währenddessen an einem Übermaß an Freizeitbeschäftigung zugrunde gehen sollte. Als der Bus vor dem Hauptgebäude zum Stehen kam, liefen mehrere Männer und Frauen darauf zu, allesamt mit einem freundlichen, wenn auch professionellem Lächeln. Die Männer trugen grüne Pullover mit einem weißen W darauf sowie weiße Flanellhosen, die Frauen grüne Strickjacken und kurze, weiße Röcke. Augenblicklich wurde jedem einzelnen der neuen Besucher eine nummerierte grüne Plakette angesteckt, und man geleitete sie in Gruppen zu Chalets, ihren Unterkünften.

Die Familie Thistlethwaite war offenbar in Pauls nächster Nachbarschaft untergebracht. Er lief ein Stück hinter ihnen und hörte Sally mit – für sie – ungewöhnlich gedämpfter Stimme zu ihrer Mutter sagen, »Hast du Rip Van Winkle da oben gesehen?«

»Rip Van …? Nein, Liebes.«

»In dem Wäldchen neben der Straße, kurz bevor der Bus auf das Gelände gefahren ist. Er hat mir mit der Faust gedroht und sah wirklich recht übel aus. Nur sein Kopf hat hinter einem Busch hervorgeschaut. Er hatte einen langen grauen Bart, ich dachte zuerst, er gehörte zum Busch.«

»Du brauchst jetzt erstmal ein schönes heißes Getränk, meine Liebe. Aber du zitterst ja. Du hast dich doch nicht etwa erkältet, oder?«

»Aber Mummy, ich habe ihn wirklich gesehen. Es sah aus, als würde er mich direkt anschauen, als wir vorbeigefahren sind. Und er hat mir mit der Faust gedroht.«

»Wir sollten deinem Vater davon erzählen«, meinte Mrs Thistlethwaite. »Er wird dafür sorgen, dass das nicht noch einmal vorkommt. Es war bestimmt nur ein Landstreicher.«

Paul Perry betrachtete interessiert die Reihe der Chalets, grün gestrichen und geschickt zwischen eine Baumgruppe gebaut, und hörte der Unterhaltung nur mit halbem Ohr zu. Er sollte jedoch bald wieder daran erinnert werden und leider auf keine angenehme Weise.

Gegenwärtig beschäftigte ihn das Gefühl – teils Verunsicherung, teils Schüchternheit –, das jeden mit Ausnahme von sehr robusten Seelen überkommt, der kurz davor steht, einer Gruppe fremder Menschen zu begegnen, welchen man selbst ebenfalls unbekannt ist. Genau wie am ersten Schultag, dachte Paul. Die sportliche Kleidung der professionellen Animateure und Animateurinnen und die Gruppen junger Leute, die überall herumschlenderten, miteinander scherzten und offensichtlich mit den Spielregeln vertraut waren, verstärkten diesen Eindruck. Hier konnten fünfhundert Personen untergebracht werden, denn Wunderland war das größte, hellste, ambitionierteste unter den Feriencamps, die in den letzten ein bis zwei Jahren in ganz England wie Pilze aus dem Boden geschossen waren.

Paul schloss die Tür seines Chalets und packte resigniert seine Sachen aus, verloren wie der Neue am Anfang eines Schuljahres, der seine wenigen Besitztümer im Schließfach verstaut. Weder die luxuriöse Sleepeesi-Matratze, die müde Abenteurer in das Reich Morpheus’ lockte, noch fließendes Wasser, elektrisches Licht oder der Kleiderschrank und die zu hundert Prozent wasserdichten Wände – alles in der Wunderland-GmbH-Broschüre besungen – vermochten es, Pauls Trübsal wegzublasen. Er befürwortete Luxus zwar aus Prinzip (vorausgesetzt er war zugänglich für die Massen), doch er fühlte sich auch immer etwas verstört davon. Nicht umsonst war er der Sohn eines evangelischen Pfarrers, aufgewachsen in einer rauen, von Armut geplagten Stadt im ländlichen Norden.

»Mr Perry? Sehr schön. Sie kommen zurecht?«

Der junge Mann, der an die Tür geklopft hatte, war groß, breit und in einem prachtvollen Mahagoniton gebräunt – wie aus einer Werbeanzeige im Esquire.

»Ich bin der Spielleiter«, fügte er hinzu. »Wise ist der Name. Mein Stiefbruder ist der hier ansässige Direktor.«

»Edward Wise? Der Rugby-Spieler?«

»Ja. Früher habe ich ein bisschen gespielt«, antwortete der prachtvolle, junge Mann mit einer Bescheidenheit, die in Pauls Ohren so unaufrichtig klang, dass es fast beleidigend war.

»Dann waren Sie kurz vor mir in Cambridge. Und Ihr Bruder ist der Direktor? Scheint eine große, glückliche Familie zu sein hier.«

»Unser Ziel ist es, den Leuten ein Zuhause fernab von zu Hause zu bieten. Im Grünen und zugleich nah an den Meereswellen. Schauen Sie in unserer Broschüre nach.«

»Wirklich hübsch hier.«

»Nicht schlecht. Aber ich nehme an, Sie müssen noch an der Rezeption einstempeln gehen. Punkt acht. Aber hallo«, sagte Mr Wise mit Blick auf Pauls Notizbücher, die auf der Kommode gestapelt waren. »Sind Sie etwa Schriftsteller? Bin beeindruckt. Hab noch nie einen echten Schriftsteller getroffen. Geht es Ihnen ums Lokalkolorit?«

»Etwas in die Richtung«, log Paul. Der offenkundige Respekt, mit dem der Athlet ihn angesprochen hatte, war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Doch seine Freude war von kurzer Dauer. Edward Wise, bereits wieder an der Tür, rief gerade: »Hallo, hallo, hallo! Wenn das nicht unsere Sal ist! Wieder unter die unermüdlichen Vergnügungssüchtigen gegangen, Sally?«

»Wie geht es dir, Teddy?«

»Immer am Ball, Schätzchen, immer am Ball. Ich würd sagen, du bist in bester Gesellschaft. Gefeierter Schriftsteller in unserer Mitte. Perry, sein Name. Du wirst dich vorsehen müssen, Schätzchen.«

»Perry?«, konnte Paul sie fragen hören. »Aber das ist doch der Mann, der mit uns im Zug hergekommen ist. Behauptete, er sei Wissenschaftler.«

»Aha. Hat dich veräppelt. Geheimnisvoller Typ.«

»Na ja, ich weiß nicht. Er ist jedenfalls ein Intellektueller …«

»Etwas leiser, Sally. Der Herr ist gleich nebenan.«

»Hör mal, Teddy, wo wir schon von geheimnisvollen Typen sprechen: Hast du einen alten Typen mit kilometerlangem Bart oben im Wald gesehen?«

»Bart? Ach, das muss der alte Ishmael sein. Vom Schlag Einsiedler. Ziemlich harmlos, aber er mag uns nicht besonders. War nicht hier, als du das letzte Mal da warst, glaube ich. Er …«

Paul bekam den Rest dieser äußerst interessanten Unterhaltung nicht mehr mit, denn die beiden waren mittlerweile außer Hörweite. Das Mädchen hatte eine ziemlich angenehme Stimme, überlegte er: tief, weich, mit leicht ländlichem Akzent. Schade, dass sie nichts im Kopf hatte. Edward Wise tat er als herzlichen Durchschnittstypen ab – ein gewöhnlicher Sterblicher, zweifellos ein potenzieller Feind, doch mit ein wenig Diplomatie würde er ihm schon bald aus der Hand fressen. Er fragte sich, was Wise wohl in den Wintermonaten machte, wenn das Camp geschlossen war, und er trug in sein Büchlein eine mit dem Buchstaben F (für Fragen) versehene Notiz ein.

Paul zog seine Krawatte aus, klappte den Hemdkragen nach unten über seinen Mantel (›Camouflage‹ nannte er dieses Vorgehen für sich) und ging vor dem Abendessen noch einmal an die frische Luft. Eine riesige Gestalt näherte sich ihm, prunkvoll angetan mit einem weißen Drillichanzug, Panamahut und etwas, das aussah wie die offizielle Krawatte des Marylebone Cricket Club.

»Was für eine gesunde Luft, Sir«, dröhnte Mr Thistlethwaite. »Da kommt sofort Farbe in die Wangen. Würden Sie uns die Ehre erweisen, mit an unserem Tisch zu sitzen, Sir? Sie werden sehen, eine sehr sympathische Runde, wenn ich das so sagen darf. Auch interessantes Material, für einen Gentleman der Feder. Ah, ja«, fuhr er fort und brachte Pauls Protest mit einem schalkhaft erhobenen Finger zum Schweigen. »Meine Tochter hat es mir erzählt. Keine Bange, Sir. Sie ziehen es wie ich vor, inkognito zu bleiben. Äußerst verständlich. Äußerst angebracht. Ein junger Mann unter uns, der sich Notizen macht.«

Paul hatte kein spezielles Interesse daran, Mr Thistlethwaite als ständigen Begleiter zu gewinnen, solange er in Wunderland war; doch die Aussicht darauf, mit vollkommenen Fremden an einem Tisch zu sitzen – wenn auch von Berufs wegen adäquat –, schüchterte ihn weitaus mehr ein, als er zugeben mochte. Paul Perry war immer noch relativ neu in seinem Beruf, und so nahm er Mr Thistlethwaites Angebot an, und gemeinsam spazierten sie zu dem großen weißen Bau, aus dem der tiefe Klang eines Gongs widerhallte.

»Der lärmende Überbringer von Viktualien«, zitierte Mr Thistlethwaite. »Sie werden sehen, Sir, das Essen ist einfach, aber nicht ungenießbar. Es gibt einen durchaus passablen Weinkeller hier. Ich denke, wir sollten ein Fläschchen entkorken, um auf unsere … äh … Vergnügungsfahrt anzustoßen …«

»Ich verstehe nicht, wie man das alles hier für 3 Pfund 10 Schilling pro Woche auf den Tisch bringen kann«, sagte Paul zwanzig Minuten später zu dem Tischnachbarn zu seiner Linken, einem kleinen rundlichen Mann mit Dauerlächeln und einem in Gold eingefassten Zwicker. Sie hatten bereits zwei exzellente Gänge hinter sich, und es sollten noch Crème brulée, Käse und Kaffee folgen.

»Wunderbar, nicht wahr?«, erwiderte der Mann. »Alles eine Sache von Organisation. Allerdings wird das richtig gute Zeug am Samstagabend aufgetischt, weil die Neuankömmlinge normalerweise heute anreisen. Aber der ganze Spaß für 3£ 10s alles inklusive, das kann sich sehen lassen.« Er zwinkerte mehrmals sehr schnell und flüsterte Paul aus dem Mundwinkel mit geradezu lächerlicher Selbstgefälligkeit zu, »Würd mich nicht überraschen, wenn sie dabei Verluste machen. Ich hab gehört, dass sie es darauf anlegen Beale Bay auszuschalten – das Feriencamp weiter unten an der Küste. Bestimmt ein harter Konkurrenzkampf. Bekämen wir die Bilanz zu Gesicht, würden wir feststellen, dass die Leute von Wunderland kaum noch Gewinne machen.«

»Na ja, das ist ihre Sache, oder? Für uns arme Urlauber bedeutet es weniger Kosten für den ganzen Luxus, sodass wir uns nicht beschweren.«

»Was? Ja, natürlich, ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete der kleine Mann. Er wirkte beim Zuhören angespannt, bemerkte Paul. Sein Kopf war leicht zur Seite gelegt, die Augen starrten angestrengt durch den Kneifer, als ob es bei dem, was man sagte, für ihn um Leben und Tod ging.

»Natürlich«, fuhr er mit leiser Stimme fort, »der geringe Preis hier … Na ja, es bedeutet, dass man eher ein gemischtes Publikum vorfindet. In Bognor dagegen …«

»Sir«, unterbrach ihn Mr Thistlethwaite, der diese Äußerung mitgehört hatte, »wollen Sie damit andeuten, dass die Annehmlichkeiten der Zivilisation nicht ausnahmslos allen zugänglich sein sollten? Von den höchsten Gesellschaftsschichten bis hin zu den niedrigsten?«

»Aber nein, absolut nicht. Ich …«

»Sie als Wissenschaftler« – hier zwinkerte Mr Thistlethwaite Paul vielsagend zu – »werden sicher mit mir übereinstimmen, dass die Wissenschaft allen gleichermaßen zugutekommen sollte.«

»Es wäre schön, wenn es so wäre.«

»Ganz richtig. Ihre Ansichten, Mr Morley, kann man bestenfalls als illiberal bezeichnen.«

»Also Daddy, du darfst Albert nicht so schikanieren«, schaltete sich Sally ein. »Albert, mein Bester, hör gar nicht auf ihn. Er schwingt bloß Reden, um sich auf seine Zeit als Stadtrat vorzubereiten.«

Albert Morley warf Sally einen Blick zu, der beinahe schon an einen dankbaren Hund erinnerte. Sie lächelte ihm freundlich zu. Paul bemerkte zum ersten Mal ihre dunklen Augenbrauen und dunklen Wimpern. Beides verlieh ansonsten Durchschnittsblondinen eine gewisse Lebhaftigkeit, musste er zugeben. Sie fing seinen Blick auf und sagte kühl, »Als Wissenschaftler, Mr Perry, müssen Sie uns für einen sehr niveaulosen, langweiligen Haufen halten. Seltsam, dass ausgerechnet Sie an einem Ort wie diesem Urlaub machen.«

»Ein Wissenschaftler hält immer Ausschau nach Objekten für seine Untersuchungen«, antwortete Paul und erwiderte ihren stolzen Blick interessiert. Wenn sie entschlossen war, grundlos Krieg gegen ihn zu führen, sollte sie Krieg haben.

»Der König der Konter«, meinte Sally nur und drehte ihm den Rücken zu.

Paul sah sich die anderen Tische an und das, was Mr Morley als gemischtes Publikum bezeichnet hatte. Junge Leute, hauptsächlich. Einkommensgruppen von 150£ bis 300£, schätzte er; das konnte später noch bei einer Querschnittanalyse festgestellt werden. Trotzdem noch eine relativ große Anzahl an älteren Erwachsenen, die offensichtlich ihre Kinder dabeihatten. Für die Kinder gab es um 6 Uhr ein eigenes Abendessen. Viele Mädchen trugen Abendkleider in Erwartung der Tanzveranstaltung, bei den Männern dominierten Flanellanzüge. Gesichter und Anzüge wirkten gleichermaßen gepflegt, wollten gesehen werden, passten perfekt zum Anlass. Die Besucher hatten ihren Spaß, daran bestand kein Zweifel – es war wesentlich mehr Animation geboten, als man es in einer Pension mit Meerblick erwarten könnte, dachte Paul und erschauerte bei der Erinnerung an die Urlaube seiner Jugendzeit in garstigen Pensionen in Scarborough und Skegness.

Zwei Seiten des Restaurants wurden fast vollständig von bodentiefen Fenstern eingenommen; die anderen Wände sahen nach unbehandelter Eiche aus, waren aber wohl Kiefernimitat. Die Stühle waren dem spanischem Stil nachempfunden und relativ gut gepolstert. Blumen und kleine elektrische Stehlampen zierten die Tische, die in Größe variierten und je nachdem Platz für zwei bis zwölf Personen boten. Paul stellte fest, dass einige der Besucher von dem ungewohnten Luxus ihrer Umgebung etwas eingeschüchtert wirkten; zweifelsohne handelte es sich um Neuankömmlinge, die noch nie zuvor in einem vergleichbaren Camp gewesen waren. Im Großen und Ganzen fühlten sie sich jedoch in dem, was Mr Thistlethwaite die Annehmlichkeiten der Zivilisation genannt hatte, sofort wie zu Hause. Er hätte gerne jemanden gefragt, ob diese kurze jährliche Berührung mit diesen Annehmlichkeiten zur Folge hatte, dass die Leute umso mehr Missfallen an der Trostlosigkeit ihrer Wohnstatt fanden, doch er fürchtete, dass Mr Thistlethwaite ihm für diese Frage gehörig den Kopf waschen würde, da dieser unter dem Einfluss von gutem Wein und Urlaubsstimmung von Minute zu Minute demokratischer zu werden schien.

Ja, der Wunderland-Thistlethwaite unterschied sich merklich von dem Mitreisenden von vor ein paar Stunden, wie wohl auch der Mitreisende sich gewiss merklich von dem Schneider in Oxford unterschied. Wie viele Männer seines Alters hatte er eine Schwäche für Verallgemeinerungen mit wissenschaftlichem Beigeschmack.

Nach dem Abendessen schlug Mr Thistlethwaite einen Spaziergang zur Kommandobrücke vor, bevor es Zeit würde, sich für die Empfangszeremonie in die Konzerthalle zu begeben. Albert Morley trottete hinter ihnen die Treppen hinauf und wies Paul auf die in der Tat grandiose Aussicht hin: vor ihnen das Meer, und nach Osten und Westen hin die Küste. Mit einer Art besitzergreifendem, doch leicht nervösem Stolz, wie bei einem Vater, der seine Kinder einem reichen, kapriziösen Verwandten vorstellt, lenkte Mr Morley Pauls Aufmerksamkeit auf den Sonnenuntergang, einen vorbeiziehenden Frachter, eine alte Schmugglerbucht und auf den Teil der Klippen, die den Kriegshafen von Applestock, der nächsten Stadt, verdeckten.

»Als ich noch ein kleiner Knirps war, wollte ich zur Marine. Aber meine Augen …«, sagte Mr Morley und sah Paul an. »Ich weiß noch, wie mein Vater mich auf einem Dampfer auf der Themse mitgenommen hat. Es war ein langes Wochenende im August 1913 – oder war es 1912? –, ich kann mich nicht mehr erinnern. Wir fuhren an den Lagerhäusern vorbei in Richtung Limehouse-Becken, und er erzählte mir – mein Vater war im Küstenhandel tätig, wissen Sie? –, dass man früher die Gewürze in den Lagerhallen über den ganzen Fluss riechen konnte. Sie wurden aus dem Osten hierher verschifft. Ich stellte mir vor, dass ich sie immer noch riechen konnte. Natürlich hatte ich schon lange vorher Matrose werden wollen, aber mit einem Mal war ich sicher. Ich ging zu einem Heuerbüro. Etwas Besseres wäre mir auch nicht eingefallen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Mr Morley brach ab und errötete leicht. Oh verdammt, dachte Paul. Wird mir dieser dröge kleine Mann jetzt für den Rest des Aufenthalts nicht mehr von der Seite weichen? Ihm war diese Offenbarung des Wunschtraums von Albert Morley peinlich, und er schämte sich dafür, dass ihm das peinlich war.

»Was ist das?«, fragte er und zeigte auf einen Teil des Balkons, der mit einer Glaswand vom Rest abgetrennt war.

»Das ist auf der Brücke der Privatbereich von Captain Wise. Captain Mortimer Wise. Er leitet die Ferienanlage. Sie sehen ihn gleich beim Gästeempfang in der Konzerthalle. Ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Er kann wunderbar organisieren.«

Der Leiter. Er könnte mir eine beträchtliche Menge der Informationen geben, auf die ich aus bin, dachte Paul; wenn er nicht zu beschäftigt ist. Sollte ich mich ihm sofort anvertrauen? Vielleicht ist es besser, abzuwarten und zu sehen, wie er so ist.

»Zeit hinunterzugehen«, sagte Mr Thistlethwaite, der in einiger Entfernung von ihnen mit gequälter Atmung auf der Brücke gestanden und mit seinen Armen merkwürdige Gesten vollführt hatte, als gäbe er unkontrolliert Signale. »Die Ozonschicht hier ist unvergleichlich, Sir«, verkündete er. »Mens sana in corpore sano, wie der römische Dichter es hält.«

Die Konzerthalle war beinahe voll. Obwohl es eigentlich ein Empfang für die Neuankömmlinge sein sollte, würden alle – wie Edward Wise es ausgedrückt hatte – einstempeln gehen. Die Wunderländler waren offenbar ein geselliger Haufen. Das erfreute Paul, der aus Prinzip Massenbewegungen befürwortete und einzelne Kapitel und Abschnitte von Gegenwartsautoren zitieren konnte, die den Einzelgänger, den Vogelkundler, die verhohlene Lasterhaftigkeit romantischer Isolation verurteilten.

»In diese Hall passen fünfhundert Leute«, flüsterte Albert Morley mit verlegenem Stolz. »Warten Sie nur, bis der Spaß beginnt. Der junge Mr Wise ist ein ziemlicher Witzbold.«

Paul schwante Übles. Warten Sie, bis der Spaß beginnt. Das klang unheilverkündend nach dem Initiationsritus eines Barbarenstammes. Nicht, dass er kein Interesse an Anthropologie gehabt hätte.

Die grün-weiß gekleideten Angestellten des Camps marschierten nun unter Applaus in Reih und Glied auf die Bühne und setzten sich auf im Halbkreis aufgestellte Stühle. Wie die Belegschaft bei einer Preisverleihung unterhielten sie sich untereinander und gaben sich alle Mühe, das Publikum im Saal zu ignorieren. Und das war der Einsatz für den Auftritt des Direktors. Tosender Applaus. Captain Wise kam mit einem Stapel Papiere an der vorderen Bühnenrand. Bedeutend älter als sein Stiefbruder. Kleiner. Derselbe quadratische Kopf. Das professionelle Auftreten – anteilnehmend, doch ungeheuer kompetent – des Machers. Einer, der anpackt und weiß, was er will.

»Ich will Sie nicht allzu lange aufhalten«, begann er. »Wir begrüßen Sie in Wunderland und hoffen, dass Sie alle eine schöne Zeit hier verbringen werden. Meine Assistenten und ich sind hier, um das zu gewährleisten. Am Schwarzen Brett in der Eingangshalle hängt ein Wochenplan mit den Aktivitäten. Ich bin mir sicher, dass Sie dort alle etwas nach Ihrem Geschmack finden. Aber bitte denken Sie nicht, dass Sie an irgendeinem der Wettbewerbe oder sonst irgendetwas teilnehmen müssen, wenn Sie nicht möchten. In Wunderland ist die Teilnahme an Spielen nicht Pflicht.« (Leichter Applaus. Die Anspielung auf Privatschulen ist wohl etwas zu hoch für die Masse, dachte Paul.)

»Wir versuchen, hier mit so wenig Vorschriften wie möglich auszukommen. Wir verlassen uns auf Ihre Kooperation, und bis dato wurden wir noch nie enttäuscht. Oberste Regel: Kein Lärm im Camp nach 1 Uhr morgens. Die Damen benötigen Ihren Schönheitsschlaf.« (Gelächter und Protest.) »Und, selbstverständlich, kein rüpelhaftes Benehmen. Unsere Truppe von erfahrenen Rausschmeißern …« (Captain Wise deutete auf die Reihe der Angestellten hinter ihm. Jubel und Gelächter. Ein guter Psychologe, dachte Paul, weiß, wie er seine Zuhörer zum Lachen bringen kann, ohne falsch zu klingen.) »Falls Sie Beschwerden haben, große oder kleine, oder Verbesserungsvorschläge für unser Camp, kommen Sie damit zu mir oder zum Personal. Wir haben immer ein offenes Ohr. Und vergessen Sie nicht, schon jetzt für nächstes Jahr zu buchen – wir mussten über zweihundert Anfragen für diesen Sommer ablehnen. Also gut, ich werde Sie jetzt unserem Spielleiter überlassen. Wenn du so freundlich wärst, Teddy. Auf Wiedersehen zusammen.«

Edward Wise ergriff das Wort. Ein merkliches Raunen ging durch den weiblichen Teil des Publikums.

»Hallihallo, Jungen und Mädchen«, rief er.

»Hallihallo Teddy«, schallte es zurück.

»Bevor wir zusammen ein bisschen singen, wollen wir uns mit dem guten, alten Schlachtruf etwas aufwärmen. Wun-der-land, ha-ja-ja. Erstmal sachte. Ganz sachte. Und los.«

Der Schlachtruf wurde zwanzig Mal wiederholt, jede Silbe deutlich betont, erst war es ein Flüstern, dann ein Brüllen der Massen, lauter und immer schneller und am Ende fast hysterisch.

Paul Perry war sowohl fasziniert als auch erschrocken. Seine zarte Seele war äußerst peinlich berührt von dem Geschehen. Der künstliche amerikanische Akzent, gleich dem des Leiters einer Tanzkapelle, der Edward Wises übliche Sprachmelodie ersetzt hatte, sowie die routinierten, selbstbewussten Gesten, mithilfe derer er den Schlachtruf dirigierte, wirkten abstoßend auf Paul. Doch als objektiven Beobachter interessierte ihn das Spektakel natürlich, und da er jeglicher Massenproduktion prinzipiell wohlgesonnen war, musste er dieser merkwürdig maschinenartigen Produktion von Massenlauten ebenfalls wohlgesonnen sein. Und es waren nicht nur Massenlaute. Man erzeugte Massengefühle, die Wunderlandbesucher wurden zu einer Gemeinschaft verschmolzen – einer großen Vergnügungseinheit mit einer einzigen Stimme. Neben ihm grölte rhythmisch Mr Thistlethwaite, und er machte nicht länger einen lächerlichen Eindruck; und schon bald skandierte Paul ebenfalls mit Hocheifer. Als der Schlachtruf schließlich wie mit einem Donnerschlag geendet hatte, drehten sie sich alle einander zu, lachend und glücklich, oder, wie Paul es formuliert hätte, es waren alle Schranken gefallen.

Paul war tatsächlich so hingerissen, dass er, als Teddy Wise um Freiwillige aus dem Publikum bat, um als Sportorganisatoren dem Wunderlandpersonal zur Hand zu gehen, sich selbst überraschte, indem er sich als einer der Ersten freiwillig meldete. Sally Thistlethwaites skeptischer Blick bestätigte ihn bloß in seiner Entscheidung.

Nach einer halben Stunde gemeinschaftlichen Singens begaben sich die meisten Gäste in den Tanzsaal. Sobald die Kapelle spielte, ging Paul zu Sally und ihrer Mutter und bat Mrs Thistlethwaite um den ersten Tanz. Das wird ihr zeigen, wie der Hase läuft, dachte Paul und musterte Sally kühl, bevor er ihre Mutter auf die Tanzfläche führte. Er wusste, dass er ein guter Tänzer war.

Die Tanzveranstaltung war seit etwa einer Stunde im Gange, als die Scheinwerfer eine neue Nummer ankündigten. In stillschweigender Übereinkunft nahmen nur die besten Tänzer daran teil. Paul war so mutig gewesen, eine der Bediensteten zu bitten, seine Tanzpartnerin zu sein – eine verführerische Brünette, die sich als Miss Jones, die Sekretärin des Direktors, entpuppte. Es waren nicht mehr als ein Dutzend Paare auf der Tanzfläche, die sich zu einem langsamen Foxtrott bewegten und nacheinander vom Scheinwerferlicht herausgepickt wurden, während sie geschmeidig umherglitten, gleich Fischen in einer Unterwassergrotte. Paul hoffte, dass Sally Thistlethwaite zusah. Er zog Miss Jones näher zu sich heran, als der Scheinwerfer auf sie herabschien. Es schien, als wären sie vollkommen allein, abgetrennt von Zuschauern und Tänzern durch eine Wand aus Licht. Ihm wurde bewusst, das nur noch vereinzelte Paare tanzten. In dem Moment spürte er, wie ihm jemand auf die Schulter tippte.

»Hier steigen wir aus«, meinte Miss Jones. »Gut gemacht, Partner.«

»Aber ich … Wieso sollten wir?«

Miss Jones erklärte es ihm. Der Leiter der Kapelle hatte ein Paar nach dem anderen eliminiert, bis nur noch die beiden besten Tänzer übrig waren. Paul hörte ihrer Erklärung kaum zu. Er sah dem letzten Paar zu – Sally Thistlethwaite bewegte sich fließend wie Seide, wie Wasser, in Edward Wises Armen, während der Scheinwerfer sie in einen Strahl wechselnder Farben tauchte. Zur Hölle mit ihr, dachte Paul mit einer Boshaftigkeit, die ihn selbst erschreckte. Zur Hölle mit den beiden!

Nur einige Sekunden später erklang eine Stimme aus den Lautsprechern: ein verzerrtes, metallisches Kreischen, das dem ruhigen Rhythmus der Kapelle in die Quere kam.

»Hütet euch vor dem Verrückten Hutmacher, Jungen und Mädchen«, tönte sie.

Sally bemerkte ein leichtes Zögern in Teddys Schritt, eine vorübergehende Anspannung in seinen Fingern auf ihrem Handgelenk.

»Was soll das denn?«, fragte sie, während sie sich zu den letzten Takten der Musik bewegten. »Ein neuer Wettbewerb oder so?«

»Äh, ja. Ja genau«, erwiderte Teddy. »Ein ziemlich verrückter Wettbewerb.«

»Oh, davon musst du mir erzählen.«

Aber die Musik endete mit einem letzten Beckenschlag, die Lichter gingen an, und die Zuschauer applaudierten Teddy und Sally, die blinzelnd in dem grellen Schein standen und sich vage anlächelten, ganz so, als ob sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht wären.

III

Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach dem Frühstück mit einer beträchtlichen Anzahl von Wunderländlern ging Paul an den Strand hinunter, um im Meer zu baden. Der Pfad führte etwa einhundert Meter die Klippen entlang, bevor er sich im Zickzack die Felswand hinunterschlängelte, wo es Jahre zuvor einen schweren Erdrutsch gegeben hatte. Infolgedessen hatte sich ein Abhang mit einem Gewirr aus Büschen und Bäumen gebildet, durch die man stellenweise das Meer erspähen konnte. Die Badenden, die nacheinander den Pfad hinunterkletterten, wirkten in ihrer bunten Badekleidung überaus fröhlich und glichen – fand Paul – einer Prozession von Pilgern, die sich ihren Weg zu einem Meeresschrein bahnte. Er gab dem Wunderland-Unternehmen die volle Punktzahl dafür, dass es den Pfad nicht durch eine Treppe aus Beton ersetzt hatte, oder die Wildnis durch künstlich angelegte Terrassen. Die allgemeine Hochstimmung, man kicherte und neckte einander, dazu ein Gefühl von Abenteuer, zu dem der wilde Pfad animierte, ließ die Entscheidung, ihn in diesem natürlichen Zustand gelassen zu haben, gerechtfertigt erscheinen.

»Passen Sie auf, Sally«, rief er plötzlich dem Mädchen zu, das vor ihm unsicher auf dem Pfad ging.

»Was ist los?«

»Haben Sie ihn nicht gesehen? Gleich da drüben hinter dem Busch? Das war der alte Rip Van Winkle.«

»Oh!«, Sally zuckte zurück und klammerte sich an seinen Mantel. »Wo? Ich kann nichts sehen.«

»Ist schon in Ordnung. War nur ein Scherz.«

»Sie sind wirklich gemein! Das ist kein Witz, glauben Sie mir. Wenn Sie ihn gesehen hätten. Aber Augenblick mal. Wer hat Ihnen überhaupt von Rip Van erzählt?«

»Ich hab Sie gestern Abend mit Ihrer Mutter darüber reden hören. Und dann mit unserem Athletikdiktator.«

»Was für ein Diktator? Ach, Sie meinen Teddy. Man könnte fast meinen, Sie sind eifersüchtig. Donnerwetter! Na ja, ist ja nur menschlich.«

Sie gingen weiter, und Paul sprach zum Rücken des Mädchens, was seinen Bemerkungen etwas von ihrer Schärfe nahm.

»Haben Sie eigentlich immerzu nur Männer im Kopf?«, fragte er kühl.

»Nie. Ich bin bloß ein dummes, albernes Mädchen. Überhaupt nicht Ihr Typ, fürchte ich. Eigentlich schade. Dabei sehen Sie ohne Ihre komische Hornbrille gar nicht so schlecht aus.«

»Danke für das Kompliment. Sie sind auch recht attraktiv, wenn Sie nicht versuchen, jemanden aus einem Filmblättchen nachzuäffen.«

»Macht es Ihnen eigentlich Spaß, andere Leute zu belauschen?«

»Wie in aller Welt …?«

»Das wissen Sie nur zu gut. Ich und Teddy, unsere Unterhaltung über Rip Van Winkle.«

»Sie sollten nicht so kreischen, wenn Sie nicht wollen, dass die Leute Ihre vertraulichen Plaudereien mit jungen Männern mitbekommen.«

»Er ist nicht … Ich … Sie gehen mir wirklich auf die Nerven. Sie sind einfach nur ein gemeiner Schnüffler, Mr Paul Perry. Perry geschrieben P-r-y, wie Schnüffler, vermute ich. Jawohl, ich werde Sie ab jetzt Paul Schnüffler nennen, mein Bester.«

»Das lassen Sie mal schön bleiben. Was hat Ihnen Ihr junger Verehrer eigentlich über Rip Van Winkle erzählt?«

»Das geht Sie überhaupt nichts an. Sie sind viel zu jung. Und wenn Sie nochmal von meinem jungen Verehrer reden, sorge ich dafür, dass er Ihnen was auf die Nase gibt.«

»Kann ich mir vorstellen, dass Ihnen das gefallen würde. Das verführerische Püppchen, um das sich zwei gestandene Mannsbilder prügeln.«

»Gestandene Mannsbilder? Damit meinen Sie doch wohl nicht sich selbst, Paul Schnüffler. Selbst ich könnte Sie k. o. schlagen, glaube ich. Ich hab Boxen gelernt.«

»Das muss der Grund für Ihre muskulösen Arme sein. Richtige Muskelpakete.«

»Lassen Sie mich. Ich hasse Sie.«

Paul hatte eigentlich seine Freude an diesem verbalen Schlagabtausch, was an der Urlaubsstimmung lag und daran, dass man einfach mal einer Unterhaltung frönen konnte, die man unter anderen Umständen als vulgär, langweilig und unter Niveau abgetan hätte. Auch die Freude daran, dass man sich bei solchen Neckereien behaupten konnte, spielte eine Rolle. Aufgrund seiner Arbeit hatte Paul natürlich ständig Kontakt mit Leuten, die so sprachen; in der Theorie hatte er den Jargon verinnerlichert, doch dies war das erste Mal, dass er ihn in der Praxis angewendet hatte.

Das alles ging ihm durch den Kopf, während er die letzten fünfzig Meter des Klippenpfads bezwang. Es hätte ihn einigermaßen überrascht, hätte er gewusst, was Sally in diesem Moment durch den Kopf ging. Was für ein komischer, junger Mann, dachte sie, und wie wichtigtuerisch er daherredet. So sprechen wahrscheinlich schlaue Leute – eigentlich ziemlich attraktiv. Nein, stimmt nicht, er ist ein scheußlicher Kerl, er hat gesagt, dass meine Arme zu dick sind – ich hasse ihn. Es hätte Paul wohl noch mehr schockiert, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass der wahre Grund, warum er den Schlagabtausch mit Sally so genoss, nichts mit Wissenschaft zu tun hatte – er fand sie schlichtweg attraktiv. Er konnte sehr nüchtern und sehr ausführlich über Attraktion und Antagonismus zwischen den Geschlechtern referieren – aber er war außerstande, beides zu erkennen, wenn aus der Theorie Realität wurde.