Ein glühend Messer - Nicholas Blake - E-Book

Ein glühend Messer E-Book

Nicholas Blake

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Beschreibung

Was als unbeschwerter Kurzurlaub am Meer mit der jungen Geliebten Laura gedacht war, endet für den verheirateten Schriftsteller Ned Stowe in einem Alptraum. Eines Abends nämlich begegnet er in einem abgelegenen englischen Hafen dem skrupellosen Lebemann Charles Hammer, der Neds Nöte durchschaut und eine perfekte Lösung vorschlägt: einen Pakt zur Beseitigung von Neds neurotischer Ehefrau und zum Mord an einem Onkel, der Hammers beruflicher Karriere im Wege steht. Der Plan für einen perfekten Doppelmord mit vertauschten Opfern scheint zunächst brilliant, doch die Dinge entwickeln sich weit dramatischer und ganz anders, als die beiden Männer das zunächst erwartet hatten. Nicholas Blake, ein Pseudonym des englischen Lyrikers Cecil Day-Lewis (1904-1972), zählt zu den klassischen Autoren des englischen Kriminalromans. 'Ein glühend Messer' liegt hier erstmals in deutscher Übersetzung vor.

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Seitenzahl: 312

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Nicholas Blake

Ein glühend Messer

Kriminalroman

INHALT

1. Kapitel: Im «Nelson Arms»

2. Kapitel: Prüfung auf See

3. Kapitel: Ein teuflischer Pakt

4. Kapitel: Falken im Käfig

5. Kapitel: Unternehmer mit Anstand

6. Kapitel: Die treulose Gattin

7. Kapitel: Ein Dichter trägt Trauer

8. Kapitel: Der treue Hund

9. Kapitel: Die zweite Frau

10. Kapitel: Der Gärtner als Mörder?

11. Kapitel: Die geheime Schublade

12. Kapitel: Begegnung im Aquarium

13. Kapitel: Das blutende Herz

14. Kapitel: Wieder auf See

Original und Übersetzung

Über den Autor

Über dieses Buch

Impressum

Ich hab’ ein glühend Messer,Ein Messer in meiner Brust.O weh! Das schneid’t so tiefIn jede Freud’ und jede Lust.Ach, was ist das für ein böser Gast!Nimmer hält er Ruh, nimmer hält er Rast,Nicht bei Tag, noch bei Nacht, wenn ich schlief.Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen

POSTSCRIPTUM

Erst nachdem das Manuskript für dieses Buch schon für den Druck vorbereitet war, stellte ich fest, daß die Grundidee der Geschichte Ähnlichkeiten mit der Konstellation in einem Roman von Patricia Highsmith aufweist. Ihr Roman Zwei Fremde im Zug ist 1950 bei Cresset Press erschienen und wurde später auch verfilmt. Ich hatte weder den Roman gelesen noch den Film gesehen, noch entsinne ich mich, jemals irgend etwas darüber gehört zu haben. Meine eigene Behandlung dieser grundlegenden Idee – einer Vertauschung der Mordopfer – unterscheidet sich sehr deutlich von jener bei Patricia Highsmith. Um so verblüffter war ich über den Umstand, daß zwei Hauptcharaktere in meinem Roman die gleichen Vornamen tragen wie zwei Figuren in ihrem Werk, und ich bin Frau Highsmith überaus dankbar dafür, daß sie ausgesprochen verständnisvoll auf die mißliche Lage reagiert hat, in die mich die Mächte des Zufalls hineinmanövriert haben.

Nicholas Blake

1. KAPITELIM «NELSON ARMS»

Charles Hammer hatte an einem Samstag im August des Jahres 1955 gerade an der Theke des «Nelson Arms» Platz genommen, als ihm schlagartig klar wurde, wie er den perfekten Mord begehen könnte.

Eine Stunde vor Einbruch der Nacht war er mit der Flut in die Flußmündung eingefahren. Die Möwe hatte er am Heck vertäut, so daß sie sich beim Einsetzen der Ebbe drehen und in Richtung Meer weisen würde, denn er spürte kein großes Verlangen, die Nacht in einem Fluß zu verbringen, der bei niedrigem Wasserstand kaum mehr sein dürfte als ein tiefer Graben im Watt. Wäre ihm nicht das Bier ausgegangen, er hätte sich ohnehin nicht in diesen tückischen Kanal hineingewagt – einen Wasserlauf, der ihm vollkommen fremd war. Doch laut Karte lag eine halbe Meile flußaufwärts ein Dorf, und wo ein Dorf war, konnte eine Kneipe nicht fehlen.

Mit einer leeren Bierkiste in der Hand kletterte Charles Hammer also ins Beiboot der Möwe. Seit er, angetrieben vom Hilfsmotor, in jenen gespenstischen Fluß hineingeglitten war, hatte er weder ein menschliches Wesen noch die Spur einer menschlichen Behausung ausmachen können. Im verblassenden Licht war selbst hier nichts zu sehen als Wasser, Dünen und aschgraues Gras. «Verdammtes gottverlassenes Nest», fluchte er vor sich hin, während die Strömung ihn in Richtung Brackham Staithe trieb. Bald kam er an eine scharfe Biegung des Gewässers, und die Möwe verschwand aus dem Blickfeld. Er schaute nach links und entdeckte ungefähr hundert Meter entfernt eine Reihe von Lichtern. Die Fahrrinne weitete sich zu einem Becken, an dessen Ränder sich eine geisterhafte Schar kleiner Boote drängte. Charles bahnte sich seinen Weg hindurch und legte am nördlichen Ufer des Flusses an.

«Brackham Staithe», höhnte er. «Das Seglerparadies. Na, Prost Mahlzeit. Aber vielleicht für Schmuggler ganz praktisch.»

Da er – aus freien Stücken – stets allein unterwegs war, hatte Charles Hammer sich Selbstgespräche angewöhnt. Tatsächlich liebte er diese Konversation mit sich selbst, und er zog sie beinahe sämtlichen anderen Unterhaltungen vor – ein Umstand, von dem seine zahlreichen Bekannten und Zechkumpane glücklicherweise nichts ahnten.

Brackham Staithe war alles andere als ein Seglerparadies. Von gelegentlichen Gästen abgesehen, fuhren hier nur Einheimische mit ihren Booten hinaus. Der Ort war also ziemlich ausgestorben, außer an Wochenenden, wenn nautisch begabte Besucher ihre kleinen Boote zwischen den schlecht markierten Sandbänken der Salzwasserlagunen hindurchzumanövrieren suchten.

Da es ein Samstagabend war, hatten sich Scharen von Wassersportlern im «Nelson Arms» eingefunden. Sie löschten dort den höllischen Durst, der beim Segeln im Salzwasser aufkommt, und überall herrschte jene ein wenig künstliche Ausgelassenheit, die immer dann um sich greift, wenn Menschen beieinanderstehen, die jenseits ihres Freizeitvergnügens nichts mit ihrem Gegenüber verbindet. Die Männer trugen Strickjacken, Shorts oder fleckige Hosen; die Frauen waren von der Sonne verbrannt und schienen eher aus Tauen denn aus Fleisch und Blut geformt; und dann gab es da noch ein oder zwei jener höchst exotischen Mädchen, die stets im Gefolge von Hobbyseglern aufkreuzen und die mit ihrer Leinenkleidung und den lackierten Fingernägeln wirken, als seien sie soeben den Seiten der Vogue entsprungen.

In diesem Gedränge nahm fast niemand Notiz von Charles Hammer. Die Einheimischen hielten ihn für einen Gast des «Nelson Arms», und die wenigen Besucher sahen in ihm wohl einen Einheimischen. Ein ungewöhnlich schönes Mädchen mit kupferfarbenem Haar, das gegenüber der Tür bei einem Mann saß, warf einen ganz flüchtigen Blick auf die untersetzte, breitschultrige Gestalt, die gerade in den Raum trat; fast unbewußt registrierte sie Hammers Piratenbart, sein rotbraunes Gesicht und die Klappe, die er über einem Auge trug.

Charles drängte sich zur Theke vor und bestellte dort ein Glas Bier und zwei Dutzend Bierflaschen, um seine Kiste aufzufüllen. Während er sein Glas leerte, schaute er sich um: Dielen und Kiefernholz; Holzstühle und Sitzbänke; Schilder mit Werbung; Bierpfützen auf den Tischen. Eng und verraucht und nichtssagend – passend genug für diese Binnenschiffer, dachte er. Mit ein wenig Chrom und rotem Leder könnte man daraus sogar etwas machen: ein paar Schiffslaternen statt dieser grellen nackten Glühbirnen; die Werbung an der Wand dort drüben dürfte ruhig hängenbleiben … mit den Schiffen in voller Fahrt … die Leute mögen diesen alten Plunder.

Charles bemerkte einen Öldruck mit dem Bildnis des Admirals, nach welchem der Pub benannt war, über der Theke.

«Der Schutzpatron hat immer alles im Blick, was?»

«Entschuldigen Sie …?» fragte der Wirt.

Charles wies mit dem Kopf auf das Bild. «Nelson.»

«Oh, richtig. Er stammt ja aus dieser Gegend. Aus Burnham Thorpe drüben. Ihr erster Besuch hier?»

«Ja. Wie bitte? Oh ja. Ich bin …»

Charles vergaß seine Antwort. Über dem Öldruck hing nämlich ein breiter Spiegel in einem solchen Winkel, daß man die gegenüberliegende Seite des Raumes betrachten konnte. Zunächst hatte jene rothaarige Dame, die so dicht an den Kerl auf der Bank gerückt war, Charles’ Aufmerksamkeit erregt; nun aber besah er sich diesen Mann ein wenig genauer. Nie zuvor war ihm ein Mann begegnet, der offensichtlich so vollkommen am Ende seiner Kräfte angelangt war. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Charles Hammer hatte seine Erfahrungen bei der Küstenwache und bei den Polizeikräften in Palästina gesammelt, und er verstand sich auf die Signale des Körpers, die andeuteten, daß jemand dem Zusammenbruch nahe war. Das Paar verständigte sich beinahe flüsternd; das Gespräch floß schon geraume Zeit dahin, drehte sich, so schien es, im Kreis, seit Stunden schon, womöglich seit Wochen und Monaten. Charles lehnte an der Theke, die blauen Augen fast wie im Traum auf das Paar gerichtet, und so lauschte er ihrem Gespräch. Natürlich war bei diesem Lärm kein Wort zu vernehmen – doch Charles, der allerlei bemerkenswerte Fertigkeiten besaß, verstand sich aufs Lippenlesen.

Er hatte diese Kunst als Kind erlernt, im Krankenhaus, wo er lange Zeit lag, taub nach einem Schädelbasisbruch. Und er praktizierte diese Technik noch als Mann, da sie ihm das Gefühl von Macht gab: Charles Hammer liebte nämlich die Macht, und obwohl er sich durch sein entschlossenes Auftreten reichlich Macht zu verschaffen wußte, war er doch unersättlich und niemals damit zufrieden. Seit er vor fünf Jahren den Posten eines Personalleiters in der Fabrik seines Onkels in den Midlands angenommen hatte, fand er reichlich Gelegenheit, inmitten der lärmenden Maschinen von seiner Gabe Gebrauch zu machen. Das gehörte zu einem knabenhaften Charakterzug, ebenso wie die ausgelassene Freude am Unerkanntsein, am Tragen von Bart und mittlerweile unnötiger Augenklappe während seines Urlaubs auf See. Weil dieser Wesenszug ihm vollkommen natürlich war, wirkte diese Knabenhaftigkeit auch so vollkommen entwaffnend – und war deshalb nur um so gefährlicher.

Charles Hammer blickte also auf die Lippen des bleichen Mannes; er hörte förmlich die rauhe Stimme, die von äußerster Erschöpfung zeugte.

«… Aber Liebling, wir haben das doch schon hundertmal durchgesprochen. Ich kenne Miriam. Sie würde sich niemals freiwillig von mir scheiden lassen. Dafür genießt sie ihr Katz-und-Maus-Spiel viel zu sehr. Weiß sie erst, daß ich mich von ihr losreißen möchte, wird sie nur um so heftiger an der Schnur zerren.»

«Armer Ned! Also hat sie dich am Haken?»

«Vermutlich. In gewisser Hinsicht, ja. Wenn … wenn man zehn Jahre mit jemandem zusammengelebt hat …»

«Also gut, dann bleibt wohl kein anderer Ausweg als …»

«Aber nein! Laura, ich werde dich niemals aufgeben! Ich lebe doch nur noch, wenn ich in deiner Nähe bin. Alles andere ist so unwirklich. Möchtest du denn, daß ich dich aufgebe?»

«Ach Ned, ich bitte dich! Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe. Aber es quält mich eben auch … dieses Versteckspiel kann ich kaum noch ertragen. Unser Leben ist so schmutzig und unordentlich.»

Der Mann hob die Augen; ganz kurz nur streifte der Blick seinen Beobachter Charles Hammer. Nach längerem Schweigen setzte das Mädchen seine Lippen wieder in Bewegung.

«Trotzdem verstehe ich nicht, warum du sie nicht einfach verlassen kannst. Wir hätten endlich Klarheit. Und selbst wenn sie eine Scheidung oder eine Trennung verweigert, hättest du zumindest …»

«Ach, laß doch, das haben wir ja schon ein Dutzend Mal erörtert.»

«Immerhin habt ihr zwei ja keine Kinder.»

«Aber immerhin habe ich auch kein geregeltes Einkommen. Das vergißt du dabei gern. Falls ich sie verlasse, wird sie mit tödlicher Sicherheit alles so drehen, daß in Zukunft ich für ihren Unterhalt zahlen muß. Wovon würden wir beide dann leben?»

«Ach Liebling, wenn dein Theaterstück erst auf die Bühne kommt …»

«Wenn, wenn, wenn!» Das Gesicht des Mannes nahm einen wilden, finsteren Ausdruck an. Seine Lippen zuckten; hastig strich er eine Locke seines dunklen Haars zurück, die über seine zerfurchte Stirn gefallen war. Seine Augen starrten durch den Raum in Charles Hammers Richtung, ohne irgend etwas wahrzunehmen. «Ich wünschte, sie wäre tot», behauptete er.

«Oh Ned, so etwas darfst du doch nicht sagen!»

«Du wünschst es doch auch, meine Liebe, du doch auch.» Die beiden blickten einander tief in die Augen. Unbekümmert wirkte er während dieser Worte, und so schien sein Gesicht um Jahre jünger und außerordentlich charmant. Das Mädchen griff nach seiner Hand und preßte ihre Oberschenkel eng an die seinen, und auf ihrem Gesicht zeichneten sich die unterschiedlichsten Empfindungen ab: Triumph, Verwirrung und Zärtlichkeit waren deutlich auszumachen. Offenbar zählte sie zu den ungewöhnlichen Frauen, in denen sich Unschuld und Erfahrung auf eine kaum beschreibbare Weise mischen. Charles Hammer bemerkte so etwas nicht; er war scharfsinnig, aber vollkommen unsensibel. «Sie braucht weniger Geschwätz und mehr Einsatz im Bett», flüsterte er. «Und ich glaube kaum, daß dieser Bursche ihr das bieten kann.»

Er wandte sich wieder an den Wirt. «Bleiben viele Leute über Nacht?»

«Ja, wir sind über das Wochenende komplett ausgebucht.»

«Kenne ich dieses rothaarige Mädchen da drüben nicht von irgendwo her? Eine Schauspielerin. Wie heißt sie noch gleich?»

«Das dürfte Mrs. Saunders mit ihrem Mann sein. Gestern abend angereist. Sie bleiben bis Montag. Also Schauspielerin ist sie? Kaum zu glauben! Ein so ruhiges, freundliches Paar.» Laut keuchend reckte der Wirt den Hals in die Höhe, um über die Köpfe seiner Gäste hinwegzuschauen.

«Na ja, zumindest dachte ich, ich hätte sie einmal irgendwo auf der Bühne gesehen», antwortete Charles ausweichend. Er blickte wieder zu den beiden hinüber und achtete auf die Lippen des bleichen Herrn.

«Ich würde jedenfalls keinen Finger rühren, um ihr das Leben zu retten. Ein hoffnungsloser Fall. Wäre sie ein Tier, hätte man sie schon längst von ihrem Leiden erlöst.» Er zitterte am ganzen Körper.

«Ich will dich, Ned», hauchte das Mädchen. «Vergessen wir sie doch heute abend einfach.»

«Dann geh schon mal nach oben, Liebes. Ich muß noch ein wenig frische Luft schnappen – die Luft ist so stickig hier unten. Dauert auch nicht lange.»

Charles Hammer blickte sich um. Er kannte hier niemanden, und niemand kannte ihn. Er verabschiedete sich flüchtig vom Wirt, griff nach seiner Bierkiste und verließ kurz vor «Mr. Saunders» das Lokal.

«Entschuldigen Sie», bat er einen Augenblick später, «könnten Sie mir wohl beim Kistentragen helfen? Habe da gestern meinen Arm ein wenig ausgerenkt.»

«Aber selbstverständlich», antwortete Ned. «Schöner Abend heute, nicht wahr?»

Unbewegt ragten die Masten der kleinen Segelschiffe in die Luft; das bei Ebbe zum Meer hin weichende Wasser wisperte und gluckste um die Boote, die an ihren Tauen zerrten und allesamt in die gleiche Richtung blickten, wie eine Herde Schafe. Kein Mensch war mehr am Ufer zu sehen. Im Licht des Viertelmondes schimmerte der Schlick neben der Fahrrinne wie ein Schokoladenpudding. Die Männer verstauten die Kiste an Bord.

«Muß erst einmal die Beine ausstrecken», begann Charles Hammer. «Meine Yacht liegt ein paar hundert Meter flußabwärts. Sie segeln?»

«Auf kleinen Booten ja, gelegentlich. Aber nicht auf dem offenen Meer. Vielleicht kann ich mir morgen mal ein Boot leihen.»

«Zigarette? Ach so, ich heiße Hammer, Charles Hammer.»

«Vielen Dank.» Ned behielt seinen Namen für sich. Er atmete tief ein und genoß das köstliche nächtliche Aroma aus Wasser, Schlamm, Dünen, Gras und Teer, bevor er Charles Hammer Feuer gab und sich selbst eine Zigarette anzündete. In einem der Zimmer im ersten Stock des «Nelson Arms» ging ein Licht an: Jetzt würde Laura sich für die Nacht fertigmachen. Ned lächelte ins Dunkle; er würde noch ein wenig länger hier draußen bleiben, um die Vorfreude zu steigern. Der Fremde spazierte den Uferweg entlang, weg vom Pub, Ned an seiner Seite. Ihre Schritte blieben auf dem Gras unhörbar. Schließlich fanden sie eine etwas marode Bank.

«Sie bleiben länger?» fragte Hammer, nachdem sie Platz genommen hatten.

«Ich weiß es noch nicht. Meine Frau muß Montag morgens nach London zurück. Ich könnte noch ein paar Tage dranhängen. Momentan arbeite ich freiberuflich.»

«Sie Glückspilz.» Einer exotischen Pflanze gleich, schien Charles im Dunkeln aufzublühen. «Ich meine», fuhr er fort, scheinbar einer Eingebung folgend, doch weiterhin mit gedämpfter Stimme, «wenn Sie ein paar Tage nichts zu tun haben, möchten Sie mich vielleicht auf der Möwe begleiten?»

«Nun ja …»

«Etwas seltsamer Vorschlag von einem völlig Fremden, ich weiß. Aber mein Partner ist krank geworden; mußte ihn letzten Mittwoch an Land absetzen. Normalerweise ist die Möwe auch von einem Mann gut zu segeln; aber jetzt, wo ich den Arm ausgerenkt habe …»

«Ich weiß nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe wäre», antwortete Ned zögerlich. Doch die Vorstellung reizte ihn durchaus. Jedenfalls ließe sich auf diese Weise die Rückkehr zu Miriam noch ein wenig hinauszögern.

«Kein Problem. Wenn Sie ein kleines Boot segeln können, werden Sie den Rest schnell lernen.» Charles Hammer schwieg einen Moment und überlegte, wie er die Sache am besten einfädeln könnte. Offenbar war dieser Bursche so eine Art Studierter, dachte er; da war es ratsam, dick aufzutragen. Du mußt seine romantische Ader anstechen; diese Schreibtischhelden träumen doch immer davon, Männer der Tat zu sein.

«Schon mal das Schmuggeln ausprobiert?» fragte er unvermittelt.

«Schmuggeln? Nun … nein.»

«Hätten Sie da moralische Bedenken?»

«Ich – ich habe noch nie darüber nachgedacht. Hängt davon ab, glaube ich.»

«Wie meinen Sie das?» Das glühende Ende der Zigarette brachte Charles Hammers blaue Augen zum Leuchten; sie waren fest auf Ned gerichtet.

«Hm, für mich wären Drogen wohl die Grenze. Ab da wird es schmutzig.»

«Richtig. Aber Uhren, Branntwein – solche Sachen?»

«Oh, das halte ich für annehmbar. Ich verspüre durchaus anarchistische Neigungen.»

Die Stille der Nacht, das bleiche Mondlicht, die Gegenwart des Fremden, der seiner Sache so sicher schien, und die aufgewühlte Stimmung, in der Ned selbst sich befand – dies alles verlieh dem Gespräch etwas Unwirkliches. Vom Pub her wehte gedämpftes Stimmengewirr herüber, und auf einem Hof jenseits des Dorfes bellte ein Hund: Laute wie aus einer Traumwelt.

«Gut, ich will mit offenen Karten spielen», begann Charles beiläufig. «Am Mittwoch erwarte ich eine Lieferung aus Holland. Beim Segeln könnte ich ein wenig Hilfe gebrauchen. Natürlich bekämen Sie Ihren Anteil; nicht unter fünfzig Pfund, vielleicht etwas mehr. Nervenkitzel ist gratis. Und womöglich Stoff für eine Geschichte – Sie sind doch Schriftsteller? Aber alles ohne großes Risiko; die Sache ist wasserdicht. Sind Sie dabei?»

Hammers Auftreten und seine Stimme wirkten so mitreißend, daß Ned glaubte, er müsse zumindest ein wenig symbolischen Widerstand leisten.

«Und warum gerade ich? Ich meine, Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Ich könnte gleich morgen zur nächsten Zollbehörde laufen.»

Hammer schmunzelte. «Menschenkenntnis. Ausschuß erkenne ich sofort. Sie sind in Ordnung.»

Ned verspürte eine absurde Genugtuung. «Okay, ich mache mit», erklärte er.

«Guter Mann. Wie heißen Sie übrigens?»

«Edwin Stowe … Saunders. Oder einfach Ned.»

«Doppelname? Stowe-Saunders?»

Da ließ sich nichts mehr kaschieren. «Hier unten bin ich Saunders», erwiderte Ned und errötete ein wenig.

«Verstehe. Sie müssen das nicht erklären.» Charles Hammer schlug einen geschäftsmäßigen Ton an. Er teilte Ned mit, wo und wann er ihn am Montagabend an Bord nehmen und wie Ned die Stelle am besten finden würde. Außerdem schlug er einen Ausweichtermin ein paar Stunden später vor, nur für den Fall, daß einer von ihnen vorher verhindert wäre. Und er riet Ned, nichts mitzubringen als Rasierer, Zahnbürste und Turnschuhe: Pullover, wasserfeste Jacken und Stiefel gab es auf der Möwe.

«Und noch etwas. Nur um Sie und mich so gut wie möglich zu schützen. Niemand darf wissen, daß Sie mich begleiten. Ich wiederhole: niemand; dazu rechne ich auch … ähm … Mrs. Saunders. Compris?»

«Aber natürlich.»

«Da ist nichts natürlich, alter Knabe.» Hinter dem leutseligen Ton Hammers blitzte kalte Härte auf. «Sobald Sie diesen Ort verlassen, müssen Sie Ihre Spuren verwischen. Lassen Sie sich etwas einfallen – ein paar freie Tage vielleicht, um die Kirchen von Norfolk zu besuchen, oder sonst etwas –, jedenfalls muß es ihre vorübergehende Abwesenheit erklären, und man darf keine Verbindung zu unserer kleinen Expedition herstellen können. Sie haben mich nie getroffen und nie von mir gehört – klar?»

«Klar.»

«Sie können es sich ja noch anders überlegen. Wenn Sie zu unseren beiden Rendezvous nicht erscheinen, weiß ich halt, daß Sie ihre Meinung geändert haben. So etwas kommt vor.»

«Ich werde dort sein», erwiderte Ned, leicht gereizt.

Charles warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «Ich muß aufbrechen, bevor die Fahrrinne austrocknet. Nein, nicht gemeinsam. Geben Sie mir drei Minuten Vorsprung. Bis bald, Ned.»

Die untersetzte Gestalt verschwand im Dunkeln. Als Ned ein paar Minuten später zum «Nelson Arms» zurückschlenderte, hörte er das leise Platschen der Ruder, während das Boot an ihm vorüberglitt. Da bemerkte er mit Schrecken, daß er während der letzten Viertelstunde nur ein einziges Mal an Laura gedacht hatte, nämlich als der Fremde «Mrs. Saunders» erwähnte.

«Ich bin noch hier», machte sich Laura bemerkbar.

«Ja, Schatz. Tut mir leid.»

«Denk doch nicht immer darüber nach. Es ist ein so schöner Tag, und er ist ja noch nicht vorbei. Vergiß sie doch jetzt einfach, Liebling.»

«Ja, mach ich.» Aber Ned hatte überhaupt nicht an Miriam gedacht. Die ungewöhnliche Begegnung am vergangenen Abend wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte sie nicht geträumt, und doch besaß alles die plastische Unwirklichkeit eines Traumes, der beim Erwachen albern wirkt und dennoch wie eine Vorahnung.

Ned ließ den Sand der Düne durch die Finger rinnen. Schmuggeln? Wäre ich ein Schmuggler, würde ich dann wohl einen vollkommen Fremden in einem Pub ansprechen, ihm meinen Namen und den Namen meines Bootes nennen (aber gut, die mögen falsch gewesen sein), und würde ich ihn dann einfach mir nichts, dir nichts bitten, mich zu begleiten? Ein geradezu abenteuerliches Risiko. Oder etwa nicht? Natürlich könnte Charles Hammer alles abstreiten, wenn ich jetzt zur Polizei ginge. Dann stände mein Wort gegen seines. Aber woher will er so genau wissen, daß ich nicht gleich die Behörden alarmiere, damit sie ihn bei der Rückkehr mit der Schmuggelware in Empfang nehmen? Sehe ich denn wie ein Gangster aus?

Ned bemerkte, daß er die letzten Worte tatsächlich laut ausgesprochen hatte.

«Manchmal ja», bestätigte das Mädchen. «Worum geht’s denn?»

«Ach, um nichts.»

«Eine Art verhaltene Spannung», fuhr sie träumerisch fort, «wie bei einem Topf mit kochendem Wasser unter dem Deckel. Ich habe das letzte Nacht schon bemerkt.»

«So zurückhaltend war ich doch hoffentlich nicht?»

«Das meine ich nicht.» Laura hatte den Kopf geneigt und wandte ihn nun zur Seite; ihr schönes kupferfarbenes Haar fiel wie ein Schleier über eine ihrer Wangen. Diese Bewegung hatte nichts Kokettes an sich; wenn Laura einem Gedanken nachhing, senkte sie oft auf diese Weise den Kopf und blickte zur Seite. Und doch wirkte diese flüchtige Bewegung immer wieder wie ein Zauber auf Ned Stowe; kein noch so aufreizender oder sehnsuchtsvoller Blick vermochte ihn so tief zu treffen.

«Das meine ich nicht», wiederholte sie. «Als du gestern nacht nach oben kamst, warst du wie ein kleiner Junge, der sich über ein Geheimnis freut … nein, das trifft es nicht ganz … wie ein kleiner Junge, der sich zu einer Mutprobe verabredet hat und nichts davon verraten will: ein klein wenig eingeschüchtert und doch voller Begeisterung.»

Nie war die Versuchung für Ned größer, ihr alles zu erzählen, als in diesem Moment. Ihn beglückte, daß Laura so viel von seinen Gedanken zu erspüren vermochte: Ein weiteres Zeichen, das ihm bewies, wie sehr sie füreinander bestimmt waren. Natürlich hatte auch Miriam gelegentlich ähnliche Intuitionen, bei ihr waren es aber eher die grellen Eingebungen der neurotischen Ehefrau, die ihn ins schlechtestmögliche Licht tauchten.

«Klar, daß ich aufgeregt war», bestätigte er. «Du weißt ja, wie sehr mich deine Nähe freut.»

Es war das erste Mal, daß er bei Laura eine Ausflucht suchte und die Freundin bewußt in die Irre führte. Charles Hammer mußte ihn wirklich tief beeindruckt haben. Aber gut, er hatte dem Burschen ja auch sein Wort gegeben. Und es war doch auch recht reizvoll, ein Geheimnis vor Laura zu haben, sein erstes Geheimnis, natürlich nur für ein paar Tage: Er würde ihr dann nächste Woche in London alles beichten.

«Woran denkst du?» fragte Laura.

«Sieht das Dorf nicht reizend aus? Ich versuche, mir alles bildlich vorzustellen … All die Orte, an denen wir gemeinsam waren. Man sollte dort überall Gedenktafeln anbringen.»

«‹Hier waren Ned Stowe und Laura Camberson glücklich.›»

«Glücklich?» Er seufzte, und die Falten schnitten sich tiefer in sein Gesicht. «Wenn wir bloß nicht alles immer gleich zum letzten Mal sehen würde, meine Liebe …»

«Wenn ich bei dir bin, sehe ich alles zum ersten Mal.»

Sie saßen in den Dünen; von hier aus ähnelten die kleinen Häuschen am Wasser, die etwa eine halbe Meile vor ihnen aufgereiht lagen, eher einem Schiff als einem Dorf. Die Wände der Häuser waren schwarz gestrichen oder geteert; die in Weiß abgesetzten Fensterrahmen erschienen wie winzige Geschützpforten, und die Holzbalkone gehörten zur Takelage: All das ergab einen langgezogenen Rumpf aus Häusern, der kaum aus dem Meer herausragte, und man hatte das Gefühl, das Wasser und nicht das Land sei ihr natürliches Element. Der Fluß und die Lagunen waren mit Segeln übersät, und über allem wölbte sich der weite Himmel von East Anglia. Von Osten her wehte eine frische Brise, doch die beiden Liebenden waren durch die Dünen geschützt. Ned hatte am Morgen ein kleines Segelboot gemietet. Sie hatten eine abenteuerliche Stunde in den Kanälen hinter sich, und Laura hatte genug mit dem Kielschwert zu tun gehabt, denn oft genug waren sie viel zu nah an Sandbänke herangefahren. Schließlich hatten sie das Boot an dieser kleinen Insel festgemacht, die zwischen der Hauptlagune und dem Meer lag.

«Warum müssen wir überhaupt zurück?» fragte Laura. «Laß uns doch einfach hier auf der Insel ein Häuschen bauen.»

Ned nahm es gelassen. Sie kannten einander gut genug, um solche Träume richtig zu deuten.

«Wir werden wieder zurückkommen, nicht wahr?» antwortete Ned.

«Werden wir das?» Sie schaute zu ihm auf, doch ihre Augen wirkten fern und ungläubig. «Werden wir das?» murmelte sie noch einmal rasch und wandte den Blick ab.

Er nahm es als Zeichen der Bekräftigung. Denn er ahnte nicht, daß sie sich in diesem Moment … nicht gerade dazu entschlossen hatte, aber dies doch mit schrecklicher Gewißheit kommen sah: daß sie sich auf immer trennen mußten.

«Aber natürlich werden wir das, Liebling. Warum denn nicht?»

«Küßchen.»

Als er seinen Arm um Laura legte, zitterte sie plötzlich am ganzen Körper, und sie begann zu weinen.

Ned versuchte, sie zu trösten, doch gerade jetzt blieb er innerlich unbeteiligt und sogar ein klein wenig kalt gegenüber Laura. Vielleicht haben zehn Jahre mit Miriam meinen Vorrat an Mitleid aufgebraucht, dachte er.

«Es tut mir leid», sagte Laura schließlich. «Aber dies alles bringt mich noch einmal ins Grab.»

Ihre hilflose Geste schloß alles ein: die verstohlenen Verabredungen in abgelegenen Restaurants, unendlich vorsichtige Telefonate, die mühsam ausgetüftelten flüchtigen Begegnungen, das abweisende und fremde Gesicht, das sie zur Schau stellen mußten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit trafen, und die unermüdliche Findigkeit und Klugheit, auf der ihre gesamte Beziehung beruhte, seit sie einander vor vier Monaten im Fernsehstudio begegnet waren.

«Mir gefällt das ja auch nicht.»

Über dem kleinen Strand, an dem sie ihr Boot zurückgelassen hatten, vollführten Seeschwalben ihre atemberaubende Luftakrobatik: aufblitzend im Sonnenlicht, wild dahinrasend wie Raketen, die sich auf ihrer Bahn von niemandem mehr beirren ließen. Ned sah ihnen traurig nach. Er spürte, daß seine Nerven fast vollständig zerschlissen waren. Nur weil er sich allergrößte Mühe gab, weil er seine Worte und Gesten unablässig kontrollierte, war er bislang noch nicht in Tausende auseinanderstrebender Teile zerbrochen.

«Ich werde dich nicht gehen lassen», flüsterte er als Antwort auf eine Frage, die er sich selbst gestellt hatte.

Laura lag auf dem Rücken, ihr Haar war über den bleichen Sand gebreitet, die Augen waren geschlossen. Ned blickte auf sie herab, auf die feinen blauen Äderchen in ihren Augenlidern, die hohen Wangenknochen, die langen, entblößten Arme, die weißen Schlangen glichen, und auf ihren kräftigen Leib, der doch auch so biegsam und zart sein konnte. Sie sollte Kinder bekommen, dachte er: meine Kinder. Er betrachtete sie eingehend, wie man eine Karte betrachtet – die Karte eines Landes, mit dem er recht vertraut war und das ihm doch in alle Ewigkeit rätselhaft bliebe.

Immerhin kannte er sie lange genug, um zu wissen, daß er sich niemals von ihr losreißen könnte, ohne sich dabei selbst eine unheilbare Wunde zu schlagen.

«Was wirst du nur tun, wenn ich fort bin?» fragte sie. Die Worte klangen wie das ferne Echo einer Explosion, die in diesem Augenblick sein Hirn zerriß. Seine Stimme bebte.

«Du wirst mich doch nicht verlassen, Laura?»

«Ich meine, morgen und …»

«Ach so … ich werde ein wenig segeln. Mich einfach ein bißchen umschauen.»

«Was nimmst du denn als Ballast, wenn ich weg bin?»

«Ach, ein paar Zentner Sand.»

«Zentner! Du bist so gemein!» Was ihre Figur betraf, war Laura ziemlich empfindlich. Scherze darüber konnte sie nicht leiden, nicht einmal aus dem Munde von Ned. Diese Anflüge von Selbstzweifel, ja Selbstverachtung bei einer Frau, die auf andere immer gelassen und unangreifbar wirkte, stimmten ihren Liebhaber stets sanft und zärtlich.

«Du bist die schönste Frau der Welt», sagte er und berühte sie sanft mit der Hand.

«Nein, mein Lieber.» Laura richtete sich auf. Seine Hand ruhte in ihrem Schoß; sie betrachtete die Hand eine Weile, schob sie dann beiseite und rückte ein wenig von ihm fort. «Was ich dir sagen muß, kann ich nicht aussprechen, wenn du mich berührst.»

Neds Züge verdüsterten sich. Fast schien es, als schlinge er die Arme um die eigene Brust, um einen lange erwarteten Stoß abzuwehren.

«Ned, ich hätte das schon so lange beichten müssen, aber ich habe es immer wieder aufgeschoben», fuhr Laura fort; ihre Stimme war leise und hastig, beinahe atemlos. «Ich kann diese Art von Leben nicht viel länger ertragen. Oh Lieber, schau mich doch nicht an wie eine Statue … versuch doch bitte, meine Gefühle zu verstehen. Ich weiß, das klingt selbstsüchtig, aber ich muß mein Leben doch auf irgend etwas hin ausrichten.»

«Und meine Liebe …?»

«Ich bin eine Frau. Es reicht mir einfach nicht, nur zu wissen, daß du mich liebst. Ich kann mein Leben nicht auf kurze Momente reduzieren – ich brauche ein wenig Verläßlichkeit. Ich weiß ja, für dich ist es genauso schlimm – vermutlich noch schlimmer, weil du auch noch an Miriam denken mußt. Ich sehe doch, wie du immer ungeduldiger wirst. Du stehst ja schon kurz vor dem Nervenzusammenbruch … oh Ned, ich möchte es doch nicht noch schlimmer für dich machen.»

«Aber warum jetzt? Warum nimmst du ausgerechnet unsere glücklichste Stunde, um …?»

«Gerade weil es die glücklichste war. Als wir eben gemeinsam gesegelt sind … haben wir uns doch so vollkommen verstanden, ohne ein einziges Wort. Spürst du das denn nicht? Wir müssen alles gemeinsam tun, und zwar immer, oder einander verlassen. Was wir miteinander haben, ist nicht bloß eine Affäre, für keinen von uns. Nur ein wenig davon zu haben ist schlechter als nichts. Wir können nicht von ein paar geborgten Stunden leben: Vielen mag das genügen, für uns reicht es nicht.»

«Willst du damit sagen, daß ich zu Miriam zurückkehren soll? Ahnst du denn überhaupt, welchem Schicksal du mich überläßt, wenn …?»

«Sei nicht böse auf mich, Lieber, bitte. Ich möchte offen mit dir zusammenleben, von mir aus auch als deine Geliebte, wenn sie nicht in die Scheidung einwilligt. Aber ich muß mit dir zusammenleben. Ich kann es einfach nicht länger ertragen, behandelt zu werden wie … wie eine unansehnlich gewordene Ansichtskarte.»

«Aber Laura!»

«Versetz dich doch in meine Lage. Würdest du nicht das gleiche empfinden?»

«Schon möglich. Aber ich würde mich für dich entscheiden, unter allen Umständen, und dich nicht im Stich lassen.» Seine Stimme klang entschlossen.

Nach einer Pause begann sie wieder: «Das liegt eben daran, daß du ein Mann bist. Für dich ist es etwas anderes. Aber ich mag nicht einfach so weitermachen, ohne zu wissen …»

Hoch über ihnen ertönte der Klageruf einer Möwe. Ned erhob sich rasch. «Zieh deine Jacke an, Schatz. Wir sollten aufbrechen. Das Wasser weicht schon zurück.»

2. KAPITELPRÜFUNG AUF SEE

Ned Stowe brachte Laura im Wagen nach Fakenham, damit sie noch den Nachmittagszug bekam. In ihrer gegenwärtigen Gemütsverfassung schien es zwecklos, sie noch eine weitere Nacht hierzubehalten; und obwohl er genau wußte, daß sie insgeheim hoffte, er möge sie zum Bleiben drängen, hinderte ihn eine merkwürdige Laune daran, ihr in diesem Punkt entgegenzukommen. Sie fuhren durch Kornfelder, deren Ähren schon schwer niederhingen, und durch Dörfer, die förmlich in ihrer Rosenpracht ertranken. Später konnte Ned sich nicht mehr an diese Fahrt erinnern, außer an den Druck ihrer Hand, die in der seinen lag: Es war, als habe das Schicksal schon ein Leichentuch über sie beide gebreitet, als geleite jeder den anderen ins Schlachthaus. Auf dem Bahnsteig sagte Laura noch: «Ich werde immer für dich da sein»; und etwas später: «Sei mir nicht böse.» Sie wirkten wie Geister beim Abschied nach einem posthumen und daher vergeblichen Wiedersehen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, lehnte Laura sich aus dem Fenster und wandte kein Auge von Ned; ihr Gesicht schien leer und schattenhaft wie die ausdruckslose Schönheit einer Totenmaske. Welche Botschaft an ihn lag in diesem Blick? Machte sie ihm Mut? Bat sie ihn um Verständnis? Er wußte es nicht. Ganz unvermittelt hob sie ihre Hand zu einer zögerlichen, furchtsamen Bewegung, die ihn mitten ins Herz traf. Nachher war er froh, daß er zurückgewunken hatte.

Im «Nelson Arms» stand er lange in ihrem leeren Schlafzimmer, ohne den Blick auf irgend etwas zu richten, so als habe er eine Gehirnerschütterung erlitten. Dann raffte er sich dazu auf, seiner Frau einen kurzen Brief zu schreiben: Er sei zum Segeln gewesen, das Lokal sei angenehm, morgen früh werde er zu einer größeren Fahrt aufbrechen; er könne noch nicht sagen, wo er schließlich an Land gehen werde, aber einen nach Yarwich gesandten postlagernden Brief würde er wohl am Donnerstag vorfinden; er hoffe, zu Hause sei alles in bester Ordnung. Der Brief eines Schuljungen an seine Mutter, dachte er bitter.

Erst nachdem er den Umschlag verschlossen hatte, fiel ihm ein, daß Miriam aus dem Brief auf seinen Aufenthaltsort schließen konnte: Falls sie ihm mißtraute, könnte ein Privatdetektiv problemlos ermitteln, daß er hier mit einer anderen Frau abgestiegen war. Ach, was soll’s, dann muß sie eben erfahren, was sie unbedingt herausbekommen will. Dann kommt es eben zum endgültigen Bruch! Doch näher als auf diese Weise kam er nicht an den Konflikt heran; er wußte genau, daß er nicht Manns genug war, den ersten Schritt zu tun und seiner Frau von Laura zu erzählen, und er schämte sich.

Lieber wollte er sein Elend vergessen, und so überlegte er, wie er den Anweisungen von Charles Hammer folgen würde. Im «Nelson Arms» war er inkognito abgestiegen: Und sollte nicht zufällig irgend jemand ihn von einem der Fotos erkannt haben, die gelegentlich in der Radio Times und der TV Times abgedruckt waren, käme wohl niemand auf die Idee, hinter «E. Saunders» Edwin Stowe zu vermuten. Morgen würde er eine Autotour durch die Dörfer von Norfolk unternehmen und sich dabei von Norden nach Süden vortasten, dann wäre er erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder zurück in Yarwich. Den Wagen würde er in einer Parkgarage unterstellen und sein Gepäck im Kofferraum einschließen; was er auf dem Boot benötigte, dürfte wohl in die Taschen seines Regenmantels passen. Charles Hammer hatte ihm den Weg aus der Stadt hinaus und zur halb verfallenen Slipanlage am äußeren Hafenbecken ganz genau beschrieben. Was das betraf, mußte er seiner Sache absolut sicher sein: Ein Mann, der sich spät abends nach dem Weg zu einem solchen Ort erkundigt, erregt unliebsames Aufsehen. Morgen würde er sich eine Wanderkarte von Yarwich besorgen und sich den Weg genau einprägen. Außerdem war es natürlich wichtig, sehr pünktlich am Treffpunkt zu erscheinen, denn niemand durfte ihn schon vorher an einem so gottverlassenen Ort beobachten. Lief alles nach Plan, würde er morgen früh beim Verlassen des «Nelson Arms» einfach von der Bildfläche verschwinden; kein Mensch könnte dann «E. Saunders», ganz zu schweigen von Ned Stowe, mit Charles Hammer und der Möwe in Verbindung bringen.

Riskant war dabei eigentlich nur die Slipanlage. Käme er versehentlich zu früh oder sollte sich der geheimnisvolle Charles Hammer verspäten und liefe ihm dort ein Einheimischer über den Weg, bräuchte er eine ziemlich überzeugende Geschichte, um seine Anwesenheit dort draußen zu erklären. Als Drehbuchautor war Ned eigentlich um plausible Einfälle nie verlegen, doch dieses Mal versagte seine Phantasie.

Unten im Schankraum gönnte er sich noch ein Gläschen mit dem Wirt, er selbst genehmigte sich vor dem Abendessen dann noch ein paar weitere Getränke. Lauras Abreise hatte er zunächst verwirrt und vollkommen empfindungslos hingenommen, doch nun wurde der Schmerz darüber unerträglich. Nicht nur sein Herz, auch das Blut in den Adern schien wie vergiftet von Selbstmitleid und quälender Bitterkeit – gegenüber Laura, seiner Frau, seiner eigenen Schwäche; und der Alkohol ließ den Schmerz nur um so heftiger brennen.

«Wie schade, daß die Frau Gemahlin schon abreisen mußte», bedauerte der Wirt.

«Wie bitte? Oh ja.» Sofort war Ned wieder hellwach. Er setzte schon zur Erklärung an, die Dame habe eine Nachricht erhalten und ganz überraschend nach London zurückfahren müssen, doch ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß diese Lüge etwas albern wirken mußte: Sie hatten ja hier keinerlei Briefe oder Telegramme bekommen. «Ja, sie muß morgen schon ganz früh zur Arbeit.»

«Ganz schön hartes Leben als Schauspielerin, oder?»

«Schauspielerin?»

«Ich dachte, Mrs. Saunders wäre beim Theater beschäftigt.»

«Aber nein. Sie ist Studioleiterin.»

Das sagte dem Wirt allerdings gar nichts. «Der Herr, der letzte Nacht vorbeigeschaut hat, hat sie in irgendeinem Stück gesehen.»

«Da muß er sich geirrt haben.» Neds Gesicht zuckte, und er wandte sich ab.

«Hat wohl nur geglaubt, daß er sie wiedererkennt. Na ja. Der Herr mit der Augenklappe. Ein Fremder.»

Charles Hammer sollte Laura erkannt haben? Der Mann wird von Mal zu Mal unheimlicher. Vielleicht wollte er ganz einfach mit ihr durchbrennen, dachte Ned. Vielleicht war seine Einladung nur der erste Schritt eines ausgeklügelten Plans. Die Eifersucht, deren Glut in ihm nie ganz erlosch, flammte heftig auf. Laura Camberson war siebenundzwanzig, dreizehn Jahre jünger als er selbst, und es hieß, daß sie die Dinge mitunter recht leicht nahm. Tief unter ihrer munteren Oberfläche lag eine Art von Passivität – ein erotischer Fatalismus, dachte Ned –, und so kam es, daß sie den Avancen ihrer Verehrer keinen wirklichen Widerstand entgegenzusetzen wußte. Sie waren sich auf einer Party nach Abschluß von Dreharbeiten zum ersten Mal begegnet. Quer durchs Studio hatten ihre Blicke sich getroffen, und sie hatten einander lange betrachtet; dann war Laura aufgestanden und wie ein Roboter an den Leuten vorbeigewandert, mit denen sie sich eben noch unterhalten hatte, und sie hatte neben ihm Platz genommen. Kurz darauf begleitete er sie dann in ihre Wohnung, wo sie sich sofort gemeinsam ins Bett stürzten, zueinander hingezogen wie von einer magnetischen Kraft.

«Eigentlich ist das nicht so meine Art», gestand er ihr nachher.

«Da bin ich aber froh», hatte sie erwidert. Aber sie bestätigte ihm nie, weder damals noch später, daß dies auch ihre Art nicht sei. Als ihm das nun wieder einfiel, dachte Ned: «Schon möglich, daß sie eine Schlampe ist, aber sie war doch wenigstens immer eine ehrliche Schlampe.»