Das Geheimnis früherer Jahre - Hans Drawe - E-Book

Das Geheimnis früherer Jahre E-Book

Hans Drawe

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe, Eifersucht, Mord. Jahr 2000. Schauplatz: Mecklenburg Vorpommern und Berlin. Zeitgeschichte. Im Jahr 2000 beabsichtigt der Fernsehmann Ladislav Honsack aus Frankfurt am Main einen Dokumentarfilm über die international bekannte Malerin Rosa Lefschitz zu drehen, die in den Fünfziger Jahren in der DDR seine Jugendliebe war. Bei den Vorgesprächen für den Film brechen die emotionalen Geheimnisse und ideologischen Divergenzen früherer Jahre wieder auf. Rosas Mann, ein Tierarzt, glaubt zudem, dass sich seine Frau erneut in den Bonvivant Honsack verlieben könnte und installiert mit seinem Freund Stube, einem ehemaligen Stasioberst, eine Abhöranlage in Rosas Atelier. Danach wird sein Leben zum Desaster.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Angelika TornowundNathalie Kir de Montfolet

Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.

Epiktet

Zum Buch: Als Ladislav Honsack, ein Fernsehmann aus Frankfurt am Main, seiner einstigen Jugendliebe aus der ehemaligen DDR, der international bekannten Malerin Rosa Lefschitz, im Jahr 2000 seinen Besuch ankündigt, um einen Film über sie zu drehen, brechen die emotionalen und ideologischen Geheimnisse früherer Jahre wieder auf.

Arne, Rosas Mann, befürchtet zudem, dass sich seine Frau erneut in den Bonvivant Honsack verlieben könnte und installiert gemeinsam mit seinem Freud Stugge, einem ehemaligen Stasioberst, eine Abhöranlage im Atelier seiner Frau. Danach wird sein Leben zum Desaster.

Hans Drawe

Das Geheimnis früherer Jahre

Roman

© 2023 Hans Drawe

Umschlag, Illustration: Der Autor

Lektorat, Korrektorat: Angelika Tornow/Nathalie Kir de Montfolet

Fotos: Angelika Tornow

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

 

Paperback

978-3-347-80216-2

Hardcover

978-3-347-80218-6

e-Book

978-3-347-80221-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreseineie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

I.

Erster Tag Dienstag, 29. 5. 2000 Die Schatten der Vergangenheit

1. Arnes Tagebuch

6 Uhr 10

Mein Gewissen quält mich. Was ich tue, ist abscheulich. Dennoch bleibt mir keine andere Wahl, wenn ich die Wahrheit über Rosas Liebe zu mir und ihrem ehemaligen Jugendfreund Honsack herausfinden will. Ich brauche endlich Klarheit, obwohl mir bewusst ist, dass sie mich von meiner Liebe zu Rosa nicht erlösen wird, die schon immer einer Obsession glich. Ich bin mir nicht mehr sicher, was richtig und falsch ist. – Soll ich die Augen vor der Wahrheit verschließen, nur weil es die Moral gebietet? Anderseits hat diese Geschichte etwas Lächerliches und damit Entwürdigendes – zumal in unserem Alter, in dem Abgeklärtheit zur Würde gehört.

Die Situation ist folgende: Heute Nachmittag besucht uns der Jugendfreund meiner Frau, Ladislav Honsack, ein früher sehr prominenter Fernsehjournalist aus Frankfurt am Main, der sich in der Zeit des Kalten Krieges mit kritischen Dokumentationen über den real existierendenSozialismus einen Namen gemacht hat. Unsere damaligen Parteioberen schmähten ihn als Scharfmacher und Kapitalistenknecht, obwohl er nur anprangerte, was sich bei uns niemand auszusprechen wagte. In seiner Jugend studierte er wie Rosa am Institut für Lehrerbildung in Kobig, floh aber kurz vor dem Mauerbau in den Westen, da er sein Leben nicht als Lehrer auf einem Dorf verbringen wollte und keine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für sich sah. Doch das ist eine andere Geschichte! Frech ist, dass er heute bei uns auftaucht. Er weiß natürlich nicht, was ich weiß. Auch Rosa nicht. Bei ihrer damals vom Genossen Morgenfalter genehmigten Reise nach Frankfurt am Main war sie erneut Honsacks Geliebte. Eine Woche später gab es zwischen beiden einen Bruch, so dass Honsacks heutiger Besuch aus Rosas Sicht als Taktlosigkeit empfunden werden könnte, zumal sie ihm nach ihrer Rückkehr einen Abschiedsbrief geschrieben hatte, von dem ich durch meinen Freund Stugge erfuhr. Andererseits ist fraglich, ob ich über alle Einzelheiten dieser Affäre im Bilde oder das vertrottelte Opfer einer schmierigen Komödie bin.

Natürlich frage ich mich, weshalb Honsack heute bei uns auftaucht. Weil er in seiner Akte auf Rosa stieß und Rache nehmen will? Angeblich beabsichtigt er, einen Film über sie und weitere ehemalige DDR-Künstler zu drehen, die unter der Stasiherrschaft ausspioniert und lahmgelegt worden waren. Doch das kann auch eine Schutzbehauptungsein. Die Frage ist: Warum nach so langer Zeit? Weil er seine Akte erst jetzt gelesen hat und die Aussagen Rosas darin fand?

Dass Rosa ihn bespitzelte und bei der „Firma“ gegen ihn aussagte, erfuhr ich ebenfalls von Stugge. Aber auch er sagt mir nicht immer die Wahrheit, was auf Grund seiner früheren Position bei der „Firma“ verständlich ist. Um Zweifel an seiner Aufrichtigkeit abzubauen, empfahl er mir, Rosa in ihrem Atelier abzuhören und installierte eine Abhöranlage, die er mit einem seiner Mitarbeiter installierte, als sich Rosa auf einer Tagung des Künstlerbundes in Worgen befand. Mir war diese Art der Ausforschung unangenehm, doch sie stachelte meine Neugier an, Rosas Geheimnisse zu ergründen. Honsack ist einen halben Kopf größer als ich, eine imposante Erscheinung. Sein stoppliges graues Haar wirkt wie ein frischgemähter Rasen. Die spitze Nase mit den weit ausgeschwungenen Nasenflügeln verleiht ihm einen energischen, zielstrebigen Ausdruck. Seine Oberlippe ist ein wenig zu lang und wirkt ohne Schnurrbart (wie früher bei seinen Sendungen zu sehen) auf komische Weise obszön, was Frauen vermutlich anders beurteilen. Seine blauen Augen funkelten, wenn er einen Gast im Studio in eine Falle gelockt hatte. Seine Gesten sind beherrscht. In seinen Fragen schwingt immer auch ein leicht ironischer Unterton mit, als wenn er das, was er sagt, nur zur Probe sagen oder nicht ganz ernst meinen würde.

Ich bin kein Mann des Wortes. Ich bin Tierarzt. Den Tag beginne ich um fünf Uhr morgens, betrete gegen acht unsere Gemeinschaftspraxis und fahre zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr nach Hause. Für Fachzeitschriften und mein Hobby bleiben einzig nur die Wochenenden und Nachtstunden. Trotz dieser Überlastung habe ich beschlossen, Tagebuch zu führen, um angesichts der möglichen Krisensituation meine seelischen Abgründe zu ergründen.

Ich gebe zu, ich befürchte, dass Rosa diesem Herren erneut erliegen könnte und kopflos auf und davon mit ihm rennt. Warum sonst hat sie sich das Haar kurz schneiden lassen wie früher, als sie Honsacks Freundin war? Aus welchem Grund mehrmals die Kosmetikerin in Kobig aufgesucht und sich neue Kleider gekauft? Außerdem hatte sie in den letzten Tagen Flipp mehrmals kein Futter gegeben, was sie sonst nie vergisst. Offenbar ein Anzeichen von Nervosität und Gedankenlosigkeit.

Rosa ist andererseits erdverbunden, schätzt die angenehmen Seiten des Landlebens, auch wegen der Ruhe, der Kinder und Enkelkinder, für die unser Anwesen ein Paradies ist. Dennoch beherrschen mich Angst und Unsicherheit. Rosa ist zwar bodenständig, bedenkt die negativen und positiven Seiten einer Entscheidung, konzentriert sich zäh auf ihre Ziele und ist eine verlässliche Lebenspartnerin. Sie hat ein ausgeprägtes Verlangen nach Sicherheit, sehnt sich jedoch auch nach Kontakt mit anderen Künstlern in den Metropolen von New York undParis, wo sie heute am liebsten leben und arbeiten würde. Allein, so gut glaube ich sie zu kennen, wagt sie diesen Schritt nicht; gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Ladislav Honsack, dem weltgewandten Sprachgenie, vielleicht doch; mit ihm hätte ein Neuanfang in ihrem Alter einen Reiz und wäre einer Schlangenhäutung vergleichbar. Möglicherweise hat es diesbezüglich sogar schon Telefonate zwischen beiden gegeben. – Nein, ich darf mich nicht durch Vermutungen beunruhigen, die meine Eifersucht schüren. Ich muss nüchtern zu analysieren versuchen. Zudem steht mir Stugge zur Seite, der mit Honsack auch noch eine Rechnung offen hat.

Vielleicht sollte ich hinzufügen: Ich verhalte mich auf diese schäbige und unmoralische Weise, weil ich meine Familie von ganzem Herzen liebe. Ein Leben ohne sie wäre undenkbar für mich.

Ja, ich habe Angst. Trotz meiner einundsechzig Jahre! Angst, dass mich Rosa allein in unserem schönen Heim zurücklässt, das wir uns in unserer entbehrungsreichen Vergangenheit so mühsam erhalten und für unsere Bedürfnisse hergerichtet haben. Erst vor einem halben Jahr habe ich das Dach neu decken und Rosas Atelier um ein Zimmer erweitern lassen. Zudem ließ ich ein zusätzliches Fenster einsetzen, so dass sie schon morgens die Spiegelungen des Sonnenlichts auf dem See und die Segelboote und Liniendampfer bewundern kann. Links zieht sich ein Laubwald die Hügel hinauf, der im Herbst einzigartige Farben gebiert: Orange,Beige, durchbrochen von einem satten Rot und sienafarbenem Gelb, wonach Rosas Serie „Farbexpolsionen I-IV ” entstand, die mehrfach preisgekrönt wurde.

Ich bin stolz auf mein Heim. Es wäre mir unmöglich, in einer Mietwohnung der Stadt zu leben. Ich hasse es, mit den Gerüchen und Geräuschen anderer belästigt zu werden, überhaupt Normierung und Enge, das Quietschen von Straßenbahnen in den Kurven der Gassen, die Abgase der Fabrikschlote, der Autos und die brutal vorwärtsdrängende Masse in den Geschäftsvierteln am Abend. Schon damals, während meines Studiums in Rostock, habe ich die fünfzehn Quadratmeter meiner Studentenbude als Zwangsjacke empfunden, obwohl ein Einzelzimmer bereits als Privileg galt und sich viele meiner Kommilitonen die gleiche Quadratmeterzahl zu viert teilen mussten. Nein, für mich gibt es nichts Schöneres, als mit Flipp gemächlich am Ufer des Sees entlang zu schlendern, die Freiheit der Landschaft zu genießen oder in meiner Werkstatt alte Möbel zu restaurieren. Viele unserer Stücke, die ich über Jahre auf Dachböden von Bauernhöfen der Umgebung aufgegabelt habe, habe ich mit Liebe zum Detail in kleine Schmuckstücke verwandelt. Erst heute Nacht, als ich nicht einschlafen konnte, habe ich eine Empire-Kommode, die ich vor einigen Monaten im Stall eines Bullterrierzüchters entdeckt und ihm für ein Butterbrot abgekauft habe, in all ihrer Pracht wiederhergestellt. Ihr Furnier glänzt matt im Morgenlicht. Jetzt bin ich auf RosasReaktion gespannt, wenn ich sie in den Flur unter mein gehasstes Porträt stelle.

Nein, ich muss cool bleiben, wie Kerstin immer sagt, darf auf keinen Fall zulassen, dass Vermutungen mein Verhalten dominieren, mir meine Eifersucht die unmöglichsten Unterstellungen suggeriert! Auch die Vorstellung, dass dieser Mann endlich stürbe, nein, verrecke, beunruhigt mich, da ich die Bilder, die mich beherrschen, nicht einfach ausblenden kann. Sie schießen plötzlich aus den Tiefen meines Es auf und dominieren mein Ich.

2. Rosa

Dunkelheit. Rosa lief über eine eisige Straße, hörte Schüsse, eine Sirene und ein rollendes Dröhnen. Sie verschwand in einem Labyrinth, schwitzte und war nackt, was sie wunderte. Der Himmel färbte sich rot und regnete Blut, das ihr in die Augen tropfte und brannte. Blut von deinem Geliebten, schrie Arne, der auf einer Wolke ein Skalpell jonglierte. Rosa rannte durch die engen Schächte und prallte gegen eine unverputzte Mauer, auf der Honsacks Kopf erschien, aus dessen Augenhöhlen ebenfalls Blut schoss. Sie schrie und fand sich auf dem S-Bahnhof-Friedrichstraße wieder. Ein Vopo mit Schäferhund zielte mit einer Pistole auf ihre Beine. An seiner Uniform steckten tellergroße Orden. Rosa versuchte zu flüchten, blieb jedoch mit dem Bahnsteig verwurzelt. Der Volkspolizist schoss. Die Schüsse glitten ohne Wirkung durch sie hindurch. Aus den Geleisen wucherte Watte, die ihr in die Ohren wuchs und Panik auslöste. Endlich hastete Ladislav die Treppe herauf und sprang in eine S-Bahn, die Richtung Westen fuhr. Die roten Schlusslichter zerplatzten wie Seifenblasen. Ihr Vater in Uniform zeigte mit der Pistole auf sie und sagte zu mehreren Grenzern: „Verhaften.“

Rosa wachte schweißgebadet auf und atmete schwer. Sie hatte die Nacht kaum geschlafen und reckte die Arme, um die Muskelverspannungen an der Schulter zu lösen. Sie stöhnte. Ihr Mund war so trocken, als ob sie tagelang nichts mehr getrunken hätte. – Hoffentlich hat er seine Akte nicht gelesen, schoss es ihr durch den Kopf. Das Wort Akte schmeckte wie Asche auf der Zunge, trocken und ekelerregend. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt wie lange nicht mehr. Und nun auch noch diese Ungewissheit! Sie erinnerte sich, dass sie über Ladislav ausgesagt hatte, dass er liberal sei, die DDR aus voller Überzeugung ablehne, da sie den Menschen eine fragwürdige Zukunft vorgaukele, die einzig und allein der Zementierung der Macht von alten Männern diene; die Bevölkerung einsperre und die Freiheit unterdrücke. Doch diese Haltung war ja durch seine Sendungen bekannt. Im Grunde hatte sie dem Vernehmer von der „Firma“ nur das gesagt, was sie selber dachte und empfand und was er hören wollte, um sich aus seinen Fängen zu befreien. Schlimm war die Erpressung durch die Fotos, die sie von ihr und Ladislav in der ersten Liebesnacht in Frankfurt gemacht hatten und Arne zukommen lassen wollten, falls sie nicht kooperieren sollte. Außerdem hatten sie gedroht, Kerstin den Studienplatz zu verweigern. Am liebsten hätte sie Ladislav abgesagt, doch das hätte sein Misstrauen erweckt. So sehr sie sich nach einem Wiedersehen mit ihm sehnte, so sehr verwünschte sie es und wäre am liebsten mit Arne nach Italien geflohen. Einmal stellte sie sich vor, dass Ladislav sie mit gezogener Pistole zur Rede stellen würde. Nein, erschießen wird er mich nicht, das bringt er nicht fertig, dachte sie, aber aus tiefster Seele verachten und unser Leben zerstören, das könnte er. Und doch liebte sie ihn immer noch, wie sie nie einen Menschen geliebt hatte. Sie erinnerte sich an die ersten Umarmungen am Institut in den trostlosen Klassenzimmern der Hospitationsschule, wenn sie bis in die Nacht ihre Seminararbeiten geschrieben und korrigiert hatten; an den ersten Kuss nach einem Tanzabend in der Aula auf dem Liebesweg hinter dem Krankenhaus an den Feldern, seinen Geruch und seine Schwüre, sie niemals zu verlassen. Und dann war er doch in das andere Deutschland geflohen, das Freiheit und Ungebundenheit versprach und mit den bunten Bildern der Illustrierten lockte.

Die Farben des Hiob leuchteten – das schreiende Gelb des Gesichts und ein im Hintergrund blutrot brennendes Haus. Sieh dir das Bild an, das bin ich, wird sie ihm sagen. Eine Rechtfertigung war das natürlich nicht. Sie hatte sich damals auf der Toilette übergeben und im Spiegel angespuckt. Führe uns nicht an der Nase herum, Genossin Lefschitz. Glaubst du, dass wir uns übertölpeln lassen und unsere Macht wieder an die kapitalistischen Blutsauger abgeben? Vorerst beobachten wir dich noch. Hier ein Tonbandmitschnitt im Park, indem du dich defätistisch über unseren Staat geäußert hast. Wir vergessen das, wenn du uns brauchbare Informationen lieferst.

Nach dem Frankfurtaufenthalt hatte sie keine strahlenden Helden mehr gemalt, die an eine glückliche Zukunft glaubten. Ich hätte Arne sagen müssen, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne war, als Ladislav in der Galerie auftauchte. Nur sag das mal einem Menschen, den du ebenfalls liebst. Natürlich auf eine andere Weise liebst. Aber liebst. Liebst! In den letzten Jahren hatte sich ihr Zusammenleben altersbedingt normalisiert. Nicht mehr die Sehnsucht nach erregtem Fleisch, das sich verhärtete, wenn es begehrte… Körperliche Erregung entzündete einzig noch die Farbe, der Akt des Malens, die Selbstverwirklichung.

Sie erinnerte sich an Ladislavs geschmeidigen Körper, als er sich im Sportunterricht elegant über die Hochsprunglatte schraubte oder beim Felgaufschwung um die Reckstange sauste, an den Besuch auf dem Rummel und das Ferienlager in der verfallenen Mühle am Gorgower See. Die Holzdecken hatten sie wegen der Mäuse mit Packpapier abgepinnt. Nachts hörten sie ihr Tappen und fürchteten sich. Einmal riss ein Papier, und eine Maus klatschte ihr ins Gesicht. Sie schrie, weinte, bis Ladislav sie in die Arme nahm und tröstete.

Die Bilder der Vergangenheit verdrängten die spröde Gegenwart und die Angst: Die Tanzabende in der Aula! Ladislav in schwarzer Hose, schwarzem Hemd, einem silbernen Schlips mit schwarzen Punkten. Doch er tanzte nur mit den Mädchen aus den oberen Kursen. Erst beim Ernteeinsatz kamen sie sich näher. – Der Regen, die nasse Erde, die glitschigen Kartoffeln und die Säcke über dem Kopf. Für die Molle 12 Pfennige. Ladislav hatte die leeren Körbe vor sie hingeworfen. Am zweiten Tag lag er mit Fieber in dem nach Hafer riechenden Krankenzimmer der Unterkunft. Rosa brachte ihm die üblichen Marmeladebrote und Muckfuck. Zwei Tage später wurde er mit Rippenfellentzündung ins Krankenhaus von Kobig eingeliefert. Auch noch nach dem Ernteeinsatz hatte er dort gelegen und sie durch seinen Freund Kurzi wissen lassen, dass er sich auf einen Besuch von ihr freuen würde. Durch das Krankenhausfenster war ihr Blick auf den Liebesweg gefallen, den sie später so oft gegangen waren. Schon damals hatte sie gemalt und ihm das Porträt geschenkt, das sie noch unter dem Einfluss Modiglianis aus der Fantasie von ihm gezeichnet hatte.

Telefon! Rosa erschrak. Wer mochte das sein? Ladislav? So früh? Sie erhob sich, durchquerte den Raum und nahm den Hörer ab. Am Apparat begrüßte sie Gerti mit nervöser hoher Stimme! Beide hatten vor vielen Jahren gemeinsam auf einem Dorf als Lehrerinnen gearbeitet und sich ihre Freundschaft über die Zeit bewahrt. Bei persönlichen Problemen holte sich Rosa öfter Rat bei ihr. Beide vertrauten sich ihre Geheimnisse wie Zwillingsschwestern an. Früher waren sie im Trabant von Gertis Mann, einem Bauingenieur, zu den Tanzabenden in den umliegenden Dörfern gefahren und hatten amouröse Abenteuer erlebt. Bis ihr Mann dahinter kam und sich scheiden ließ. Zur damaligen Zeit war Gerti eine Schönheit, hatte nach der Scheidung diverse Männerbekanntschaften, aber nicht mehr geheiratet. Mit Fünfzig ließ sie sich gehen, legte keinen Wert mehr auf Kleidung und Männer.

„Gerti! So früh?“ sagte Rosa erstaunt.

„Ich hab die Nacht kaum geschlafen. – Hat er sich schon gemeldet?“

„Nein.“

Pause.

„Hast du Angst?“

Zögern. „Ja.“

„Dass dich dieser ganze Mist jetzt wieder einholt. Wenn er dich bedroht, erschießt …“

Rosa lachte nervös. Doch genau davor hatte sie Angst.

„An deiner Stelle würde ich mir einen Revolver zulegen. Man kann nie wissen.“

„Wo soll ich denn einen Revolver hernehmen, Gerti? Bis jetzt weiß ich doch nur, dass er einen Film machen will.“

Kurze Pause.

„Liebst du ihn immer noch?“

„Lieben! Nach so langer Zeit. Nein. Das ist jetzt vorbei.“

„Arne ist ja auch ein prima Kerl. Aber als Liebhaber war Honsack doch ein anderer…“

„Hör auf, Gerti!“

„Warum denn auf einmal so verklemmt?“ lachte Gerti.

„Weil das zu nichts führt. – Ich hab im Augenblick den Kopf so voll. Die Vernissage …“

„Okay. Sag mir Bescheid, wenn du mich beim Packen brauchst.“

„Ich ruf dich an.“

Rosa atmete tief durch und bedauerte, Gerti in so viele ihrer Geheimnisse eingeweiht zu haben.

Aus den Tiefen ihres Bewusstseins tauchte das Gesicht des Stasi-Chamäleons wieder auf. – Erzwungener Verrat ist wie eine Vergewaltigung, dachte Rosa. Misstrauen… beständiges Lauern… in die anderen hineinhorchen… Nach der leidigen Frankfurtepisode hatte sie ihren Vater gemieden, der kurz darauf an einem Herzinfarkt gestorben und mit allen Ehren eines kommunistischen Führers begraben worden war. Alte gebrechliche Männer mit versteinerten Gesichtern hatten an seinem Sarg gestanden und an ihre eigene Beerdigung gedacht. Sie hätte damals mit Ladislav flüchten sollen. Ich gehe mit dir, egal, was kommt. Dieses reißende Gefühl in der Brust! Abschied. Wie in Frankfurt, als er ihr lächelnd nachgewunken hatte, und sie sich im Zug mit einer Flasche Kognak zu betäuben versuchte. Ohne Arne wäre sie zu Grunde gegangen. Ohne ihn hätte sie niemals den Mut aufgebracht, sich nur auf die Malerei zu konzentrieren. Sie liebte ihn, ja, doch Ladislav war die unmittelbare Verbindung zu ihrem Körper, Arne die über den Kopf. Die Hörigkeit ihres Körpers hatte sie wehrlos gemacht, als ihr einstiger Geliebter in der Galerie in Frankfurt erschien, Hallo sagte und sie wie früher umarmte. Anschließend war sie ihm wie ein gehorsamer Hund in seine Wohnung gefolgt und hatte sich wie selbstverständlich geöffnet. Vierzehn Tage später der Abschiedsbrief nach der Rückkehr. Brav und familienbewusst… Gibt es eine Verantwortung jenseits der Körper… Als Rettung vor dem Wahnsinn blieben ihr nur die sicheren Gefilde hinter der Mauer; die Flucht in die Zelle der Familie, in die Fürsorge Arnes, die Abkapslung im Atelier. – Wie hätte ich mich denn verhalten sollen, wird sie Ladislav fragen. Ich möchte dich nie mehr wiedersehen, hatte sie geschrieben und geweint. Der Verrat ist ein Brandzeichen, dachte sie. Ich verstehe dich, hatte er geantwortet. Aber: Begreife du auch, dass mich deine unerklärliche Abwendung mit Ratlosigkeit erfüllt. Nur meine Liebe vermag diesen Schmerz zu besiegen… - All die Worte ohne den Körper, nach dem sie sich sehnte.

„Ladislav, mein Geliebter“, flüsterte sie und erschrak. Die erste Nacht! Ihr Körper glühte, als ob ein Feuer in ihm brannte. Die Bilder der Vergangenheit übermannten sie in den letzten Jahren immer öfter. – War das die Sehnsucht nach der Behütetheit der Jugend?! – Das ungeduldige Warten auf die entscheidende Veränderung; der achtzehnte Geburtstag, die Prüfungen am Institut und endlich das Lehrerdiplom. Die einsamen Nächte auf dem Dorf, als sie in ihr Kissen geweint und sich nach Ladislav gesehnt hatte, der nun hinter der Mauer lebte und aus Sicherheitsgründen den Kontakt abgebrochen hatte. Aufbewahrt einzig die hastig geschriebenen Liebesbriefe in der Zeit des Praktikums. – Ein Glücksgefühl, wenn er nach den Heimfahrtstagen am Institut vor dem Bahnhof in Kobig auf sie wartete. – Der von Studenten übersäte Bahnhofsvorplatz, die Bollerwagen, auf die sie ihre Koffer luden und zwischen all den Körpern und Köpfen sein Gesicht.

Rosa stand auf, ging erneut auf und ab und spürte ein unangenehmes Pochen im Nacken, das einen heftigen Schmerz in der rechten Schulter auslöste. In letzter Zeit schmerzte die Schulter öfter. Bald werde ich den Pinsel nicht mehr halten können, dachte sie. Dann hat das Leben ohnehin keinen Sinn mehr. Ihr Schuldgefühl trieb sie in die Toilette, in der sie eine Flasche Kognak im Spülkasten versteckt hatte. Ihr Blick fiel auf das Etikett mit der kurvigen Schrift, die Schwung und Dynamik versprach. Trinke mich und deiner Seele wachsen Flügel. Am liebsten hätte sie die Flasche auf den Fliesen zerschlagen, besann sich jedoch und stellte sie als Rettungsanker in den Spülkasten zurück.

Im Spiegel entdeckte sie die Angst in ihren Augen. Ihre Hand fuhr prüfend über die Stirn, die Schläfen, die haarfeinen Fältchen an den Mundwinkeln und die verwischte Wimperntusche.

Sollte sie eine Valium nehmen? Nur 2,5 mg? Doch auch dazu konnte sie sich nicht entschließen, da die geringsten Mengen den Augeninnendruck erhöhten, der bei ihr ohnehin schon sehr hoch war.

Um sich zur Ruhe zu zwingen, legte sie sich wieder auf die Couch und betrachtete das durch die Jalousien streifig einsickernde Morgenlicht. Warum malst du nicht, was du fühlst, hatte Arne sie gefragt, als sie im Alkoholrausch auf das Porträt einer zukunftsfroh lachenden LPG-Brigadierin mit dem Messer eingestochen und: Verrat, Verrat, geschrien hatte. – Dann der Rückzug! Diese wunderbare Befreiung und direkte Umsetzung des Gewollten auf der Leinwand in klösterlicher Abgeschiedenheit. Das Schlimme war, dass sie für sich selbst nicht garantieren konnte, wenn ihr Ladislav gegenüber stand. Bei diesem Gedanken erfasste sie Panik.

3. Die Tokarew

Arne riss die Kopfhörer von den Ohren, sprang auf und taumelte durch die Werkstatt. Er hasste Gerti, seit er sie kannte. Irgendwann bring ich sie um, dachte er; erschrak jedoch über diesen Gedanken und lachte laut wie jemand, der sich selbst auslacht. Danach ließ er sich wieder entmutigt auf den Schreibtischstuhl fallen.