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Die Suche nach dem Sinn des Lebens. Bildungsroman. Adoleszenzprobleme. Liebessehnsucht und Liebesenttäuschung. Die Lügen der Erwachsenen, die eine Blaupause für Kunos Leben werden. Die Lügen der geistigen Würdenträger, die den Glauben an die Religion erschüttern. Die Lüge als Überlebensprinzip und die daraus entstehenden Konflikte. Hintergrund der Geschichte über Liebe, Schmerz und Tod, Illusionen und Erfolg, Eifersucht und Treuebruch ist ein Flüchtlingslager in Bayern nach dem zweiten Weltkrieg. In den Baracken, einem ehemaligen Gefangenenlager für deutsche Soldaten, leben die sudetendeutschen Flüchtlinge auf engsten Raum. Fast alle sehnen sich nach einem besseren Leben, das sich aber nur für jene Frauen erfüllt, die einen GI heiraten und anschließend in den USA leben. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Kuno, den Inge Malisch, eine hübsche Friseuse, in die er vernarrt ist, als Liebesspion missbraucht, um sich Informationen über das Liebesleben seines Großcousins Benny, einem kleinkriminellen Philosophen und Frauenheld, zu verschaffen. Als Belohnung winkt ihm Streicheln über Inges nackte Brüste. Außerdem spielen seine wesentlich ältere Jugendfreundin, die Medizinstudentin Gesine, und "Geierkralle" Lena, eine Mitschülerin und Baronin, in Kunos Leben eine entscheidende Rolle. Gesine lockt ihn nach München, missbraucht ihn auf ihre perverse Art und offeriert ihm Bildungsangebote. Lena wiederum liebt Kuno auf naive kindliche Weise. Handicap: Ihr verkrüppelte Hand, die ihr bei den Mitschülern den Spitznamen "Geierkralle" eingetragen hat. Ein Umgang mit ihr ist problematisch, da er den Spott der Mitschüler zur Folge hätte. Doch gerade als Kuno Lena trotz ihrer verkrüppelten Hand zu lieben beginnt, ändert sich sein Leben in dramatischer Weise.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hans Drawe
Kunos Leiden und Freuden in schwierigen Zeiten
Roman
Für Angelika Tornow
und
Nathalie Kir de Montfolet
Heute sind wir Flüchtlinge. Was morgen aus uns wird, wissen wir nicht.
"Der Mensch erlebt das, was ihm zukommt, nur in der Jugend in seiner ganzen Schärfe und Frische… davon zehrt er sein Leben lang."
(Hermann Hesse)
Warum diese Seiten schreiben? Wozu sind sie gut? – Es ist, meiner Ansicht nach, ziemlich töricht, die Menschen nach dem Grund ihrer Handlungen und ihrer Schriften zu fragen. – Wisst ihr denn selbst, warum ihr die erbärmlichen Blätter aufgeschlagen habt, die die Hand eines Irren vollzeichnen will?
(Flaubert Memoiren eines Irren)
© 2023 Hans Drawe
Umschlag, Illustration: Der Autor
Lektorat, Korrektorat: Angelika Tornow
Druck und Distribution im Auftrag des Autors.
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-82268-9
Hardcover
978-3-347-82269-6
e-Book
978-3-347-82270-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Hans Drawe schrieb die Romane Kopfstand, Griebnitzsee und Das Geheimnis früherer Jahre. Außerdem verfasste er Hörspiele, Drehbücher und mehrere Theaterstücke. Für das Drehbuch Ein Mädchen aus zweiter Hand erhielt er den Bundesfilmförderungspreis, für das Stück Der englische Pass (Regie: Horst Ruprecht) den Preis der Bayrischen Theatertage und als Regisseur den Deutschen Hörbuchpreis für König der Könige von Ryszard Kapuscinsky. Im Jahr 2000 wurde seine Produktion Wasserzeichen der Poesie (Autor: Enzensberger) zum Hörbuch des Jahres gekürt.
Das Flüchtlingslager Wengen existierte unter anderem Namen tatsächlich. Es befand sich in Oberbayern und wurde in den letzten Jahren des II. Weltkriegs von Pioniergeneral Todt mit und für seine Einheit errichtet. Nach dem II. Weltkrieg diente es den Amerikanern eine Zeit lang als Gefangenenlager für deutsche Soldaten. Danach wies die bayrische Landesregierung über tausend vom Krieg erschöpfte und gezeichnete Flüchtlinge aus dem Sudetenland und Schlesien in die Baracken des Lagers ein, das sich im Laufe der Jahre zu einem dorfähnlichen Gebilde mit einer Gaststätte und verschiedenen Geschäften entwickelte. Die Handlung des Romans ist ein Produkt der Fantasie. Ortsnamen und Familiennamen sind dahingehend geändert, dass Ähnlichkeiten mit realen Personen rein zufällig wären.
An
Dr. Heinz Wandrus
ÖhleinVerlag
Steinstraße 16
23625 Werdenhofen
Lieber Dr. Wandrus,
in der Anlage übersende ich Ihnen mein Buch mit einiger Verzögerung, wofür ich mich entschuldige (gesellschaftliche Umstände, Umschreiben und Unsicherheiten). Sie kennen das ja. Dennoch hoffe ich, dass es nun in Ihren Produktionsrahmen passt und zum baldigen Weihnachtsgeschäft auf den Markt kommt.
Wie abgesprochen handelt es sich in meinem Roman nicht nur um die Sorgen und Nöte eines Pubertierenden, der liebesverwirrt seinen Platz im Leben zu finden sucht. Im weitesten Sinne ist er für mich auch eine Art subjektiver Geschichtsschreibung, da er das Leben sudetendeutscher Flüchtlingen in der Bundesrepublik Mitte der Fünfziger beschreibt.
Ich bin, wie Sie wissen, kein professioneller Schriftsteller. Ich schreibe zu meinem Vergnügen. Formale Raffinessen sind mir gleichgültig. Ich schildere, was mir erzählenswert erscheint. Dennoch will ich der Wahrheit und nur der Wahrheit verpflichtet bleiben und auch vor intimen Bekenntnissen nicht zurückschrecken, da gerade sie den wahren Charakter eines Menschen, seine Bereitschaft zu Lüge und Gemeinheit offenbaren. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich intime Details gestehe, ohne die meine Figuren unvollständig wären. Erinnerungen sind wie Zugvögel, die uns verlassen und wiederkehren, wenn die Zeit reif dafür ist. Bestimmte Erlebnisse drücken unserem Gedächtnis einen emotionalen Stempel auf und verändern sich im Laufe der Jahre im Bewusstsein zu unseren Gunsten. Mitunter schleichen sich auch Begebenheiten oder Bilder in unsere Erinnerungen, die es real gar nicht gab, aber dennoch ein selbstbewusstes Eigenleben führen und zu unserer Geschichte gehören, da wir sie auf Grund unserer Erlebnisse mit unserer Fantasie produzieren. Wichtig ist mir, dem Leser einen stimmigen und spannenden Eindruck der Nachkriegszeit zu vermitteln, in der einzig nur das Durchkommen, Weiterkommen, kurz, das Überleben zählte, dem immer auch ein Quantum Lebensangst und kriminelle Energie beigemischt waren. Das klingt dramatisch oder auch pathetisch. Letztendlich aber war diese Angst auch ein Motor für die Selbstbefreiung. Zeitweilig rumorte sie so furchteinflößend in mir, dass es nur einen Ausweg gab: mich durch Beichte und Gebete zu läutern. Nur durch die Angst lernt der Mensch, behauptete der dänische Philosoph Kierkegaard vor über hundertfünfzig Jahren. Bekanntermaßen ist es heikel, von sich zu erzählen. Wie schnell sind wir geneigt, unsere Schuldgefühle, bösen Absichten, Lüsternheiten und Mordgedanken zu verdrängen oder zu verschweigen, um uns harmloser oder edler darzustellen, als wir in Wirklichkeit sind. In meinem Alter brauche ich nichts mehr zu verschweigen oder zu verheimlichen und kann mein Leben in aller Offenheit und ohne Schuldbewusstsein schildern.
Ich hoffe, Ihr Vertrauen in mich gerechtfertigt zu haben und wünsche Ihnen eine vergnügliche Unterhaltung mit meinem Buch.
Herzlicher Gruß,
Ihr
Kuno Wülfling
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Der Spiegel
Bilder
I
II
1. Erstes Begehren
2. Der Friseursalon Malisch
3. Der Barackenflur
4. Benny
5. Das Lager der Verfemten
6. Ungeordnete Erinnerungen
7. Die roten Pumps
8. Das Angebot
9. Kurti und seine Familie
10. Die Bedrohung
11. Rachegedanken und andere Ungelegenheiten
12. Das Geständnis
13. Das Leben geht weiter
14. Der Film
15. Lena
16. Die wirkungslose Lüge
17. Donar
18. Gesine
19. Die Hochzeitsfeier
20. Die Pickelplage
21. Eine bittere Erkenntnis
22. Das Malheur
23. Die Nacktpyramide und der Heilige Sebastian
24. Der Sensenmann
25. Pech
26. Die Verhaftung
27. Einsam
28. Erneuter Besuch bei Frau Naundorf
29. Der Aufsatz
30. Der Gotteszweifel
31. Versprechen
32. Zwanzig Mark
33. Ein trauriger Abschied
34. Der unkalkulierbare Onkel
35. Ein kleines Wunder
36. Turbulente Tage
37. Onkel Anton und Frau Kuhn
38. Der Skandal
39. Der neue Anzug
40. Die Schreckensnachricht
41. Die Reise nach München
42. Gesines Zimmer
43. Beim Italiener
43. Die erste Nacht bei Gesine
44. Der Theaterbesuch
45. Kunst oder der Ursprung der Welt
46. Die letzte Nacht
47. Zurück
48. Dumpfe Tage
49. Die erneute Begegnung mit Lena
50. In der Badeanstalt
51. Bennys Flucht
52. Frau Naundorf kommt ins Irrenhaus
53. Mit Lena an der Ache
54. Der Aufbruch
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Der Spiegel
54. Der Aufbruch
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Der Spiegel
Bin ich der, der mir entgegen starrt? – Was für müde graugrüne Allerweltsaugen. Diese scharfen Falten an den Mundwinkeln und die hängenden Schultern, die meine Niederlagen bekunden. Erst neulich habe ich ein Foto aus Kindertagen von mir in einem vergilbten Album gefunden. Auch da fragte ich mich, ob ich das bin; dieser blonde Junge mit der Kommunionskerze, dem schwarzen Sakko, einem weißen Blumensträußchen am Revers. Diesem gläubigen Blick. Damals glaubte ich noch an den gütigen lieben Gott, der mir helfen würde, wenn ich mit Inbrunst zu ihm bete. Die Welt schien in Ordnung, da die Orientierung im Kleinen stattfand - bei den Eltern, mit Freunden, in der Schule und der Kirche. Unser lieber Gott thronte über allem als gerechter Richter. Alles war wie es war und schien unveränderbar. Heute bin ich müde und habe die Qualen des Alltags hinter mir. Meine Gedanken sind oft so starr wie der Körper eines Toten. Nur in der Erinnerung an die Jugend blühen sie wieder auf, erlebe ich die Liebe, die zur Lebenslust gehört, in ihrer Ursprünglichkeit neu. Die Vergangenheit war mir immer eine Decke, die mich liebevoll umhüllte und wärmte.
*
Vor meinem inneren Auge erscheinen die mit Teerpappe gedeckten Baracken, eine hinter der anderen zwischen schmalen unkrautbewachsenen Wegen, die auf den Hauptweg führen, der in die Asphaltstraße vor dem Lager mündet. Im Norden ragt der Überberg auf, im Süden der Katzmann mit Frau und Kindern. Die Gipfel sind schneebedeckt. Ein leichter Wind weht. Es nieselt. Ich stehe am Küchenfenster und verstehe meinen Körper nicht mehr. Nachts wälze ich mich herum und bin der Sklave meines Geschlechts; tagsüber bin ich unkonzentriert und ein billiges Opfer für den Rohrstock der Lehrer. Manchmal versuche ich, mich durch Gebete zu beruhigen; beuge demütig mein Knie vor dem Kruzifix; schleiche in den Beichtstuhl und flüstere meine unkeuschen Gedanken Pfarrer Gerber ins Ohr. Ich bete zehn Vaterunser und verspüre keine Erlösung. Die Sünde lauert überall. Meine Blicke sind ihr ausgesetzt. Ich starre auf den Boden und erflehe meine Unschuld. Doch die verführerischen Einflüsterungen des Teufels sind verlockender. Ein Blick auf Mädchenbeine erschüttert alle Grundsätze. Der Trieb raubt mir die Besinnung. Ich sehe in den Spiegel und erblicke einen Fremden. Meine Vorstellung von mir ist eine andere als meine Erscheinung. Was soll bei meinen schlechten Zensuren aus mir werden? Auf keinen Fall wollen Kurti und ich als Busfahrer, Ladenbesitzer oder gar in der Strumpffabrik oder dem Salzbergwerk von Bad Reben arbeiten. Schon gar nicht in einem Büro. Für uns kamen nur die üblichen großen Abenteuer infrage, die wir gelesen oder im Kino gesehen hatten. Ein Spion für Deutschland, Cowboy, Seemann oder Goldsucher wie Jack London. Hier versauerst du nur, hatte mir Benny eingeschärft, der nach Amerika auswandern wollte, wenn er genügend Geld beisammen hatte.
Bilder
I
Auch in meinem fortgeschrittenen Alter verfolgen mich die Fluchtbilder. Ich erinnere mich an unseren Leiterwagen mit der wenigen Habe, den die Mutter und Tante Otti über die zerbombten, nächtlichen Straßen ziehen; an die Blitze der Geschütze am Himmel, an das Quietschen des rechten Hinterrads und an die Tschechen, die uns mit hassvollen Blicken verfolgen, gemeine Worte zurufen und vor uns ausspucken. „Haut ab! Umbringen müsste man euch. Saubande. Nazischweine!“ Sie werfen Steine. Wir ducken uns. Ein alter Mann schreit und fällt mit dem Kopf in eine Pfütze. Die Tschechen lachen. Klatschen. Wir laufen. Der Leiterwagen hoppelt über das Pflaster. Ich falle hin, rapple mich auf. Die Großmutter keucht. „Ich kann nicht mehr.“ Die Mutter nimmt sie bei der Hand. „Wir müssen weiter, Mutti. Komm.“
Das Gesicht der Großmutter ist rot angeschwollen. In letzter Zeit bekommt sie kaum Luft, wenn sie Treppen steigen muss oder sich rascher bewegt. „Mein Herz!“
Ich rieche die Ausdünstungen der Ochsen vor den Gespannen, höre das dumpfe Ho, weiter, weiter, die Maschinengewehrschüsse in der Ferne und spüre Angst, die sich wie eine Klette an uns heftet.
In den Straßengräben verwesen die Leichen und Pferde mit aufgeschlitzten Bäuchen, in deren Gedärmen Vögel herumpicken. Eine Puppe lächelt mir aus einem der Kadaver zu. Sirenen heulen. In der Luft schwillt ein gefährliches Sirren auf und hinter mir weinen Kinder. - Die Russen kommen! Damals wusste ich noch nicht, was Vergewaltigung bedeutet, es war nur ein Wort, das mit Entsetzen ausgesprochen wurde. Ich höre das Keuchen der Frauen, die immer schneller laufen, je dichter uns das Maschinengewehrfeuer auf die Pelle rückt.
Nacht. Ich sehe mich auf einem Stein vor einem Zaun. Ich höre Kanonendonner und weine vor Angst. Irgendwann führt mich eine deutschsprechende Tschechin in ihr Schlafzimmer und versucht, mich zu trösten. Ihr Mann streicht mir übers Haar und sagt: Keine Angst, mein Junge.
Da sie keine Kinder haben, kann ich ihr Kind sein. Ich erinnere mich an ein Puppenspiel. Der Mann spielt den Kasper; die Frau die Hexe. Wir lachen, obwohl der Kanonendonner näherkommt. Ich weine wieder. Irgendwann liege ich zwischen den beiden Fremden im Bett.
Erst gegen Morgen höre ich die Stimme meiner Mutter. Mutter! Mutter! Ich laufe auf den Flur und umarme sie.
Black-out. Von der Flucht danach weiß ich nichts mehr.
Die Mutter erzählte mir einmal: Wir hatten dir verboten, im Zug Deutsch zu sprechen, da wir uns für Tschechen ausgaben. Das war ein Risiko. Du warst noch zu klein, bist die ganze Fahrt über aber still wie ein Mäuschen gewesen.
Die Großmutter sagte: Beinahe hätten wir dich verloren, mein Liebling. Dann wärst du heute ein Tscheche. Stell dir vor. Einer von dieser falschen Bagage, diesen Banditen. Nein!
II
Love me tender. Die Mutter tanzt an die Brust eines dicken Amis geschmiegt; die Nägel lackiert, die Lippen geschminkt. Sie paukt mit Otti in der Küche englische Vokabeln. Sie posieren lachend vor dem Spiegel – hier ein Schleifchen, dort ein Löckchen. Are You Lonesome Tonight? Blues! Da, deine Mutter, ruft Kurti. Das Licht verschwimmt. Kiss Me Quick. Die weißen Jacketts der Musiker geistern durch die Dunkelheit. One Night With You. - Das gibt‘s nur einmal und kommt nicht wieder. Die Fensterscheiben klirren. Ein dicker Ami wiehert. Schweißige Hände gleiten an entblößten Schultern auf und ab. Herrlich duftende Haut. Fröhliche, lebenshungrige Gesichter. German Girl! I like you. Die kratzige Stimme des dürren Sängers mit dem Milchbubigesicht und den schalkhaft grünen Augen schwebt über den Köpfen und fährt feucht in die Glieder. Blühende Lippen! Die Körper erschauern in zuckender Sehnsucht nach Leben. Yes, Baby. Scheinwerfer schießen bunte Blitze durch den Raum und lösen Schreie der Verzückung aus. Eine unsichtbare Hand dimmt das Licht. Am Morgen liegen die Schwestern graugesichtig im Bett. Spröde Lippen, schwerer Kopf. Ein Cocktail der Schmerzen. Dösen. Der Duft der anderen Haut brennt noch auf den Gliedern. Das Erlebte ist ein zarter Schleier, der über der Wirklichkeit flattert. Vergessen. Nicht nachdenken. Leicht wie eine Boje an der Oberfläche schwimmen.
Wie süß, das Blut in den Adern zu spüren. Nicht mehr an Krieg, Tod und Tränen zu denken; an Fratzen der Gier und der Habsucht, Typhus und Läuse.
1. Erstes Begehren
Ich bin in meinem langen Leben oft verliebt gewesen, doch nie so unglücklich wie im März 1954, als ich mich in die Friseuse Inge Malisch vernarrte. Vernarrte ist das richtige Wort, da es meinen damaligen Geisteszustand beschreibt. Mir ist bewusst, dass Friseusen in der Literatur oft dargestellt wurden und ein Klischee sind – die hübsche Friseuse, die leichtfertige, die hinterhältige Friseuse usw. Meistens werden sie als dumm und sexgierig beschrieben. Inge ist nicht dumm, geht aber, um ihre Ziele zu erreichen, hin und wieder ungewöhnliche Wege. Zudem fühle ich mich der Wahrheit verpflichtet und beschreibe, was ich erlebt habe. Andererseits ist zu bedenken, dass ich noch ein sehr junger Mann war, den die äußeren Reize und nicht der Geist eines Mädchens lockten. Zu dieser Zeit war Inge die schönste und vollkommenste Frau auf dem Erdball für mich. Hätte ich ein Foto, würde ich es hier einbringen, um Ihnen eine Vorstellung von ihr zu geben. Auch sie war ein Opfer des Krieges. Mit ihren Zensuren hätte sie ein Gymnasium besuchen und studieren können. Durch die Flucht hatte sie den Anschluss und wohl auch die Lust verloren, täglich nach Bechtenhall ins Gymnasium zu fahren. Oder waren es vielleicht andere Gründe?
Fest steht, dass sie für den Friseurberuf außerordentlich talentiert war. Sie bediente ihre Kunden freundlich und zog durch ihre fröhliche Art vor allem die jungen Männer des Lagers an. Wie unabsichtlich lehnten sie ihren Kopf beim Schneiden zurück, um ihren vorspringenden Busen zu streifen. Wie wunderbar, wenn sie mit hautengen Jeans und weißen Turnschuhen durch den Salon schwebte, Bekannten zuwinkte, föhnte und ältere Herren zärtlich rasierte. Alle liebten ihre offene und fürsorglich Art, ihre Unkompliziertheit und Lebensfreude. Zum Verhängnis wurde ihr und mir, dass Benny sie nicht liebte und sie ihm genauso verfallen wie ich ihr. Das führte jedoch zu keinem der Dreierkonflikte, wie wir sie aus manchen Romanen und Hollywood-Filmen kennen. Unser Konflikt verlief so, wie das Leben verläuft: überraschend und unvorhersehbar. Außerdem war Benny Freund und Hassfigur zugleich, was das Verhältnis komplizierte.
Mitunter hasste ich ihn so sehr, dass ich ihn umbringen wollte. Im Gegensatz zu mir, war er für Inge ein Heiratskandidat, ich nur ein schwärmerischer Jüngling, der ihr durch seine Schwärmerei und Schüchternheit Vergnügen bereitete.
Meine erfolglose Liebesverrücktheit verwirrte mich. Ich hasste plötzlich alle Menschen (bis auf Inge, meine Mutter und Großmutter) und vor allem mich selbst. Verzweifelt schnitt ich mir in meiner Fantasie die Pulsadern auf, schoss mir mit Larrys Jagdgewehr in den Kopf oder sprang vom Überberg. Manchmal schrieb ich in Gedanken einen Abschiedsbrief und hörte die Eltern schluchzen, die durch meinen Tod endlich begriffen, was für ein begabter Sohn ich war. Die Großmutter entzündete an meinem Totenbett die Kerzen und weinte vor Verzweiflung. Benny biss sich schuldbewusst auf die Lippen und hatte ebenfalls Tränen in den Augen. Pfarrer Gerber schlug das Kreuz. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Kurti wies auf Benny und rief: Du bist schuld an seinem Tod.
2. Der Friseursalon Malisch
Der Friseursalon Malisch befand sich in der Baracke schräg gegenüber der Geschäftsbaracke meiner Eltern. Im Schaufenster hingen bunte Schildchen – Werbung für allerlei Kosmetika - durch die hindurch Inges Kopf nur gelegentlich sichtbar wurde, wenn ich auf der Bank vor dem Salon saß, um einen Blick von ihr zu erhaschen. Oder ein Winken und ein Lachen, das ihre Freude ausdrückte, mich zu sehen.
Vor dem Salon hatte General Todt einen Vorbau aus Brettern errichten lassen, zu dem eine fünfstufige Treppe führte. Offenbar hatte er von diesem Plateau aus zu seiner Truppe gesprochen oder die Paraden abgenommen, die er des Öfteren abhielt. An sonnigen Tagen stand Herr Malisch wie ein Potentat mit einem über die Schulter geworfenen Handtuch auf dem Brettervorbau, rauchte und grüßte die Vorübergehenden mit Verbeugungen, die lächerlich wirkten. In Erinnerung ist mir ein kleines Männchen mit schwarzem, lockigem, vom Kopf abstehendem Haar, einer ungewöhnlich langen Oberlippe mit einem Menjoubärtchen und einem wabbeligen Kinn. Sein Arbeitskittel leuchtete in makellosem Weiß. Die Frauen begrüßte er mit küssdiehandgenädigefrau und die Männer mit meineverehrung, Herr Walluscheck oder Herr Köster. Meine Mutter empfing er stets mit den Worten: Es ist mir ein ganz besonderes Vergnügen, Frau Wülfling, ihr wunderschönes Haar ondulieren zu dürfen.
Herr Malisch galt als gebildet, da er auf viele Fragen seiner Kunden eine Antwort wusste. Erst später erfuhr ich von Inge, dass er jeden Abend in einer Ausgabe von Meyers Konversationslexikon las, die ihm der verstorbene Chemiker Dr. rer. nat. Pilskat vermacht hatte, der kurz nach der Flucht durch einen Blasenriss gestorben war.
Malisch führte seine Schere mit artistischer Meisterschaft über und an die Köpfe seiner Kunden, was ihn nicht hinderte, dabei Witze zu reißen und in seiner meckernden Art am lautesten darüber zu lachen. Seine Frau hockte stupide starrend hinter dem Tisch an der Kasse und genehmigte sich hin und wieder einen kleinen Schluck Kognak aus der Thermosflasche. Auch sie hatte mehrere Vergewaltigungen der Tschechen über sich ergehen lassen müssen und litt seitdem an psychischen Störungen, Ausfällen des Gedächtnisses und war dem Alkohol verfallen. Ihr aufgedunsenes Gesicht wirkte stumpf; die grünen Augen trübe; ihre Bewegungen träge und unsicher.
3. Der Barackenflur
Ich schleiche mit dem Schulranzen die knarrende Treppe hinunter. Ich habe die Hausaufgaben erst am Morgen hingeschmiert und Angst vor den Stockschlägen Hutterers. Meine Zensuren in Rechnen und Deutsch sind im Keller. Ich bin ein Sitzenbleiberkandidat und knabbere meine Fingernägel ab. Ich finde das Leben ungerecht und verlogen, sehne mich jedoch nach Anerkennung und Lob, Wärme und Geborgenheit. Ich schwöre mir, Hutterer eines Tages zu erstechen. Manchmal erlebe ich diese Vorstellung so bildhaft, dass ich vor Angst zu zittern beginne. Ich steche mit dem Messer auf ihn ein, sehe das Blut spritzen, steche ihm in den Hintern oder werfe ihm einen Strick um den Hals und erdrossele ihn. Verreck, du Hund. Verreck! Verreck! Hutterer war Feind Nummer 1, Kuhn Feind Nummer 2, Bierschke Feind Nummer 3. Eigentlich wollte ich alle drei auf einmal aus der Welt schaffen, was natürlich unmöglich war und meine Verzweiflung verstärkte.
Auf dem Gang glänzt matt dunkelbraunes Linoleum. Die abgestandenen Gerüche nach ranzigem Fett und Zwiebeln vermischen sich. Aus verschiedenen Radios dudeln schmachtende Melodien. Tür reiht sich an Tür. Kein Licht. Nur wenn die Haustür offensteht. Morgens und abends dringt die triviale Melodie des Alltags durch die Wände, deren Komponist der Zufall ist. In den Zimmern nisten Hass und Angst. Die Türen öffnen und schließen sich. Ich grüße die trüben Morgengesichter und husche vorbei. Eine süße Sehnsucht zerreißt meine Brust. Doktor Naundorf legt mir die Hand auf den Kopf. Er lebt mit seiner Frau, die schon seit längerer Zeit mit Depressionen im Bett liegt, in drei Zimmern auf der Westseite. Nicht mal seine Frau kann er heilen. Was ist das überhaupt für ein Doktor? Ein Physiator? Der hat ja schon in Königgrätz gesponnen. Und seine Frau war ja auch immer komisch. - Ich mochte es nicht, wenn mich Doktor Naundorf wie einen kleinen Jungen begrüßte. Ich brummte leise vor mich hin und dachte an Inge. Im Kopf nistete noch immer der Traum der vergangenen Nacht.
Neben der Treppe wohnen die Berans, Heidis Eltern. Frau Beran lauscht an der Tür. Sie hat Mäuseohren und Basedowaugen, die furchteinflößend wirken, wenn sie wütend ist. - Nur weg, um Anna nicht zu begegnen! Früher, nach dem Kasperletheater, hatte ich ihr Geschlecht betrachten dürfen, das mir wie ein Mund mit wulstigen Lippen erschien. Ich erinnere mich an ihre zusammengepressten Augenlider, wenn ich mit meinem Zeigefinger über ihre sündigen Wölbungen fuhr.
4. Benny
Wenden wir uns jetzt Benny, meinem Kontrahenten, Ersatzbruder und Helfer in allen kritischen Lebenslagen zu. Einem Filou, auch mir gegenüber. Er war verlässlich und unzuverlässig und eigentlich nur an sich selbst interessiert. Ein ausgeprägter Narziss. Nur kannte ich damals dieses Wort und seine Bedeutung noch nicht. Manchmal kam er mir wie eine der glitschigen Forellen vor, die Kurti und mir aus den Fingern flutschten, wenn wir nicht aufgepasst hatten.
Bennys winziges Zimmer befand sich in der Nähe der Treppe gegenüber seinen Eltern. Meist lag er morgens noch mit einem Brummschädel im Bett und ließ sich von Tante Thea mit Tee, Schmerztabletten und getoastetem Brot verwöhnen.
„Ich will kein Frühstück. Lasst mich in Ruhe. Wie spät ist es überhaupt?“ rief er meistens und zog sich die Bettdecke über den Kopf.
Tante Thea riss den verschlissenen dunkelroten Vorhang beiseite und rief. „Schäm dich! In deinem Alter. Du könntest deinem Vater ruhig ein bisschen zur Hand gehen. Er schuftet sich noch zu Tode. Willst du das?“
Benny stöhnte und rieb sich die geröteten Augen. Der Aschenbecher auf dem Nachttisch quoll von den bis zur Hälfte gerauchten Luckys über. Er hätte gar nicht rauchen dürfen, da er einen Herzfehler hatte. Doch da er einzig Leben wollte, war ihm der Herzfehler egal. Früh sterben fand er würdiger, als im Alter dahinzusiechen.
„Magst du auch mal ziehn, Kuno? - Hier, nimm dir die Schachtel mit.“ Für diese Geschenke war ich ihm dankbar. Benny war der Einzige, der mich wie einen Erwachsenen behandelte.
Manchmal saß er in seinem schwarzen Morgenmantel mit dem goldgetickten Monogramm BJ in seinem lädierten Ledersessel und bimste englische Vokabeln. Preposition + ing.It’s nice to go on holydaywithout having to worry about money. Er sprach die Sätze laut und prononciert aus und forderte mich auf, ihm nachzusprechen, da er Englisch für die Zukunftssprache hielt. - How nice to see you. Did you go out last night, Larry? „Ein Mann von Welt kann mindestens Englisch, Kuno. Napoleon sprach fünf Sprachen. Karl der Große ebenfalls. Ein Mann von Welt muss sich auf jedem Parkett zu bewegen verstehen. Sprachen sind das A und O, um mit den Frauen ins Gespräch zu kommen. Wenn du beim Tanzen ein Vollblutweib im Arm hältst und stotterst herum, wirst du zur komischen Nummer, auch wenn du hübsch bist. Glaub‘ mir, da nimmt sie sich lieber einen Hässlichen, mit dem sie reden und lachen kann. Otti hat auch fleißig Englisch gelernt und sich Larry geangelt. Und deine Mutter…“ Er stockte. „Nimm dir das zu Herzen, Kuno. Außerdem spielt der Geruch bei Frauen eine entscheidende Rolle. Wenn man sich gut riechen kann, ist die Schlacht gewonnen. Deswegen haben Frauen ja auch diese Vorliebe für Parfüm. Sie wollen dich locken wie die Blume die Biene. Jedenfalls ist es ein Signal, dass sie sozusagen offen sind, verstehst du? Oder zu einem Flirt bereit. In jedem Fall auf der Suche nach dem Mann ihrer Träume. Jede Frau ist auf der Suche nach dem Mann ihrer Träume.“
Auch Benny galt mit seinen zweiundzwanzig Jahren als ein Mann der Träume bei den heiratsfähigen Mädchen des Lagers. Er trug seidene Unterwäsche, Krokogürtel und handgemachte Schuhe, die er zum Ärger seines und meines Vaters bei einem teuren Herrenausstatter in Bechtenhall kaufte. Ich erinnere mich an seine schlanken, biegsamen Hände, die er an langen Nachmittagen und einsamen Abenden für den Betrug geschmeidig hielt, indem er sie knetete. Mitunter klebten die Karten an seinen Fingern und flogen kurz darauf wie ein Pfauenrad in wundersamem Bogen durch die Luft, um sich gleich wieder brav in seine Hände zu fügen. „Ohne Übung erreichst du nichts, Kuno. Natürlich ist auch ein bisschen Begabung dabei. Aber das meiste ist Übung. Du musst dich ständig überwinden. Darfst niemals aufgeben. Mit dem Glücksspiel ist es wie mit den Frauen. Das Entscheidende ist, dass du locker bleibst. Du darfst durch deinen Gesichtsausdruck niemals verraten, was du wirklich denkst. Und wenn‘s dir noch so schwerfällt – lächle – das ist das ganze Geheimnis. Damit bringst du in brenzligen Situationen den Gegenspieler aus der Fassung. Jede Unbeherrschtheit kostet Geld. Geld aber ist Freiheit, auch wenn es durch Betrug und Verheimlichung erworben ist. Sieh her: dieses Lächeln habe ich tagelang vor dem Spiegel geübt.“ Benny lächelte. Das Licht fiel gelblich auf sein blasses Gesicht. - Ich erinnere mich, wie er mit seinem und meinem Vater pokerte. Rauchschwaden ringelten sich empor. Royal Flesch. Full House. Straße. Alle drei flüsterten. Benny blies kunstvoll geformte Rauchringe in die Luft. Nur manchmal war ein herausgepresstes Verdammt zu hören.
Von Benny lernte ich, Chrom und Leder auf Hochglanz zu polieren, denn im Frühjahr und Sommer saß er meist im Unterhemd auf einem Holzschemel vor der Baracke und wienerte seinen Motorroller oder putzte seine edlen Lederschuhe. - „Auf Hochglanz kriegst du sie nur, wenn du vor dem Polieren auf‘s Leder spuckst. Natürlich nicht zu viel. Grad so.“
Außerdem brachte er mir das Pokern und Motorrollerfahren bei und klärte mich über die Empfindlichkeit des weiblichen Geschlechtsorgans auf, worauf ich hier nicht näher eingehen möchte.
5. Das Lager der Verfemten
Vierundfünfzig hausten wir noch immer in Baracken. Jedenfalls der Großteil der Lagerbewohner. Einige, die unabhängig bleiben wollten, hatten mit ihrem Lastenausgleich oder ihren Bankkrediten Geschäfte eröffnet. Mein Vater einen Schuhladen, Paula Köster und ihr Vater ein Tabakgeschäft, Walluscheck einen Schreibwarenladen und Just ein Konfektionsgeschäft. Viele verdienten sich durch Heimarbeiten ihren Lebensunterhalt. Es gab einen Metzger, einen Lebensmittelladen, eine Leihbibliothek auf Rädern, eine Bäckerei und den Friseursalon Malisch, der Inges Vater gehörte. Nicht zu vergessen Beitz‘ Kneipe, in der wir die Faschingsfeste, Hochzeiten und Taufen feierten. Beitz hatte nach und nach aus der Lagerkantine, in der er auch Nägel, Knöpfe und Schreibmaterial verkauft hatte, einen Festbau für seine Gaststätte errichtet. Zudem besaß er einen Holzhandel, in dem er in der Saison dreißig Arbeiter beschäftigte.
An Regentagen oder wenn die Großmutter und ich unser Siebzehn-und-Vier-Spiel beendet hatten, erzählte sie mir oft von der Vertreibung durch die Tschechen. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein Unglück für uns war, Kuno. Wir hatten unsere Wohnung eingerichtet zu verlassen; durften unser Gepäck weder in Bettbezüge noch in Teppiche verpacken. Wer mehr als 50 Kilo mitgenommen hatte, riskierte, in ein Arbeitslager gesteckt zu werden. Die Tschechen bespuckten und beschimpften uns als Nazischweine! Fleischer Blass , der dir immer ein Stückchen Wurst geschenkt hatte, hat deine Mutter öffentlich geohrfeigt und beleidigt. Wir haben diesen Leuten nichts getan. Wir waren keine Nazis. Aber das spielte nach dem verlorenen Krieg keine Rolle mehr. Jeder, der konnte, hat sich zu bereichern versucht.“
Später hatte ich von Benny erfahren, dass die Tschechen der Großmutter ein Hakenkreuz auf den Rücken gemalt und sie mit anderen Frauen nackt durch die Straßen bis zum Marktplatz getrieben hatten, wo sie ein von den Tschechen bespucktes Hitlerbild ablecken mussten. Zwei Offiziersfrauen starben, als ihnen die Einheimischen mit Füßen in den Bauch und ins Gesicht traten.
6. Ungeordnete Erinnerungen
Bevor wir zur eigentlichen Geschichte und dem Beginn des Konflikts vorstoßen, muss ich noch den Background einiger wichtiger Personen beschreiben, die für die Handlung unabdingbar sind. Sie sind ungeordnet, weil ich keinen Plan für sie habe und meinem Erinnerungsvermögen freien Lauf lassen muss.
Die bedeutendste und wichtigste Person, mein Vater, tauchte an einem eisigen Wintertag im Schneegestöber auf. Er zitterte vor Kälte. Der schäbige Militärmantel ohne Rangabzeichen schlotterte an seinem dürren Leib. Um die Glatze hatte er sich einen durchlöcherten dunkelgrünen Schal gebunden und seine Stiefelsohlen mit Schnur am brüchigen Leder befestigt.
Die Mutter stieß einen Schrei aus.
Wenig später saß der fremde Mann am Küchentisch, trank Kaffee und Larrys Whisky und sah sich irritiert in der Küche um. Er strich mir übers Haar und sagte: „Ich bin dein Vater, mein Junge.“ Larry oder die anderen Amis, die besser rochen, Kaugummi und Schokolade verteilten, wären mir lieber gewesen. Schließlich stieg der fremde Vater in der Küche vorsichtig wie ein Storch auf Froschjagd in den Holzzuber Ah, das tut gut, das tut gut und verschwand anschließend, mit dem Eau de Cologne von Larry parfümiert, mit der Mutter im Schlafzimmer. - „Du wirst doch dem Vater nichts sagen, Kuno?! Dann setzt es nämlich was, verstanden? Sieh die Holzscheite an. Du weißt, was dir blüht, wenn du deine Mutter verrätst. Die Mutter zu verraten ist das Schlimmste, was ein Sohn tun kann. Wir müssen Gott danken, dass unser Vater gesund zurückgekommen ist.“ Ihre Worte hatten sich wie die Rillen einer Schallplatte in mich eingeritzt. Ich erinnere mich noch heute an das unendlich lange Knien auf Holzscheiten, wenn ich ein Vergehen abzubüßen hatte.
Nicht vergessen darf ich Gesine, die Tochter der Naundorfs, die mich wie einen Bruder liebte und später auch auf andere Weise. Als ich sieben oder acht Jahre war, las sie mir Abenteuer- und Reisegeschichten vor, die sie liebte. Zweimal Die Schatzinsel, den Robinson Crusoe, Die drei Musketiere. Ich fieberte und litt mit den Helden, spürte die tröstende Hand Gesines auf meiner Schulter und ihren Mund auf meinem Haar. Manchmal öffnete sie ihr rundes, mit einem Klappverschluss und aufgesticktem Edelweiß aus Elfenbein verziertes Portemonnaie und drückte mir ein paar Groschen in die schweißige Hand. – „Kauf dir Schokolade oder Kaugummi. Gehst du am Nachmittag mit mir schwimmen?“ - Ich mochte es, wenn sie meinen unschuldigen Körper mit einem frischen Frotteehandtuch abrubbelte, mir die Haare kämmte und einen Kuss auf die nackte Schulter hauchte. Zum Abschluss aßen wir oft ein Eis auf der Holzterrasse. „Oder möchtest du lieber die Glücksperlen? Sammelst du nicht diese kleinen Figuren? – Demnächst bring ich dir das Schwimmen bei. Willst du? Wir müssen uns nur noch einen Schwimmring kaufen.“ Frau Naundorf liegt im Bett und starrt an die Decke. Ihre Hände schimmern gelblich und wirken kraftlos; die Lippen weltverachtend zusammengepresst. Es ist ihr kaum möglich, das Wasserglas zu halten, wenn sie ihre Tabletten einnimmt. Sie stöhnt, als Gesine sie aufzurichten versucht. Die sonst so lustigen Augen starren leer; die Mundwinkel hängen traurig herab. Heute weiß ich, dass sie damals erst vierundvierzig Jahre alt war.
Gesine schluchzt. Ich streiche ihr tröstend über den Rücken. Doktor Naundorf liest in dicken medizinischen Büchern, die ich mir heimlich ansehe. - Skelette, Därme, der Blutkreislauf, das Herz, die Funktionsweise der Nieren. Ich betrachte die Abbildungen des Gehirns, versuche, kryptische Worte zu lesen, die mir die Zunge zu brechen scheinen, wenn ich sie auszusprechen versuche. - Da leben also die Gedanken, dachte ich. - Manchmal schaut Herr Naundorf mit den traurigen Augen eines Clowns aus dem Fenster auf den Überberg. Er schlurft, wenn er sich – die Schultern hängend - aus dem Kühlschrank eine Flasche Apfelsaft holt. - Den Naundorf haben die Russen in der Mangel gehabt. Der soll ja bei den Nazis in der Forschung gearbeitet haben und ein Giftmischer gewesen sein. – Niemals! Dafür leg ich meine Hand ins Feuer. Er war ein Kommunist und hat in den schwierigsten Zeiten Flugblätter verteilt. – So, so, aha, aha, na dann. Und warum haben ihn ausgerechnet die Russen in der Mangel gehabt? Wer‘s glaubt, wird selig. - Fast alle tragen ein Geheimnis mit sich herum. Auch der Vater, der über seine Vergangenheit und die Kriegserlebnisse schweigt. Manchmal fällt er um und windet sich mit Schaum vor dem Mund in epileptischen Anfällen. Beim ersten Mal hatte sich die Mutter über ihn geworfen und Nein, nicht sterben, Johannes geschrien, und Doktor Loheim hatte ihm eine Spritze verabreicht. Wird schon wieder werden! Sanitäter schoben den Vater in der Dämmerung auf einer Trage in den Krankenwagen.
Auch die Mutter huschte hinein. Hinter ihr schlossen sich die Türen mit dem roten Kreuz.
Nach diesem Anfall hatte ich zum ersten Mal Angst um meinen Vater.
Damals sprach ich nur das Notwendigste; fläzte mich in die Sessel und streckte die Beine vor. Ich wusste alles besser und wollte mich von niemandem herumkommandieren lassen. Ich hatte die Verlogenheit, Doppelmoral und die Lügen der Erwachsenen durchschaut. Ich wünschte mir, wie Errol Flynn auszusehen und focht wie er – mit einem Stock - gegen meine Feinde. Jeden Morgen betrachtete ich meine Oberlippe im Spiegel in der Erwartung, einen zarten Flaum zu entdecken, der sich zu einem Bärtchen wie bei Errol Flynn auswachsen könnte. Ich rauchte mit Kurti auf der Toilette der Schule und in der Höhle und betrachtete mit gierigen Blicken und erigiertem Penis die Nacktfotos, die mir Benny zugesteckt hatte. - „Schau dir diese Brüste an, Kurti. Und da, schau mal, was die für Haare unten hat. Dass die sich einfach so hinstellen und fotografieren lassen, einfach so nackt vor dem Fotografen.“
7. Die roten Pumps
Jetzt, denke ich, ist der richtige Zeitpunkt, von den roten Pumps und der entscheidenden Begegnung mit Inge zu erzählen, die meine kindische Leidenschaft für sie ausgelöst hatte. – Ausgerechnet rote Pumps werden Sie denken. Wie symbolträchtig! Rot ist die Liebe, usw. Ich schwöre, dass es genauso gewesen ist! Stellen Sie sich vor, wie ich im Geschrei und Getaumel handgreiflicher Hänseleien die Schule verlasse. Die Stirn in Sorgenfalten, da mir keine glaubhafte Ausrede einfällt, wie ich meinen Eltern die fünfte Vier im Diktat verschweigen könnte. Nur noch eine von diesen roten Bestien und mein Sitzenbleiberschicksal wäre besiegelt. Sitzenbleiber, Ochsentreiber hatten mir Bierschke, Hanel und Lackner schon mehrmals hinterhergeschrien. Auch mein Freund Kurti hatte eine Vier kassiert und lief bedeppert neben mir her.
Ich erinnere mich, dass ich mich am Laden meiner Eltern vorbeizustehlen versuchte, jedoch durch das mit nur wenigen Schuhen dekorierte Schaufenster Inge entdeckte, die sich vor dem Spiegel drehte und ihre Hände in die Hüften stemmte.
Ich stockte, vergaß meine Diktat-Vier und betrat wie von Ferne gesteuert mit der mir damals eigenen Lässigkeit den Laden.
„Großartig, dass du kommst, Kuno“, rief Inge fröhlich und wies auf die roten Pumps an ihren Füßen. „Sag, wie du sie findest?“
Der Vater, ein geborener Verkäufer und kein Kostverächter weiblicher Schönheit, schwärmte in blumigen Phrasen vom Chic der Schuhe und ihrer soliden Verarbeitung. „Dieses Leder, Fräulein Malisch! Weich und geschmeidig. Allein die Farbe. Das Rot ist einzigartig, sehen Sie nur. Italienische Handwerkskunst der feinsten Art“, rief er.
Ich hatte Inge zuvor nur in Turnschuhen gesehen. Die Pumps brachten ihre wohlgeformten Beine so erotisch zur Geltung, dass sie mein Verlangen nach ihr schmerzhaft verstärkten.
„Also, wie findest du sie?“ fragte sie kokett vor dem Spiegel. „Sag die Wahrheit, Kuno.“
„Gut, sehr gut“, stotterte ich.
„Mein Gott, hast du eine tiefe Stimme bekommen,“ rief Inge. „Finden Sie nicht auch, Herr Wülfling?“ „Ja, er wird langsam ein Mann“, sagte der Vater und lächelte sein spöttisches Lächeln, das ich hasste. Langsam ein Mann! Mir blieb nichts anderes übrig als zu grinsen.
Inge bemerkte natürlich, dass ich auf ihre Beine starrte und drehte sich vor dem Spiegel, um mich noch ein wenig länger zu quälen.
„Perfekt, Fräulein Malisch“, rief der Vater mit leuchtenden Augen, beugte sich herunter und strich bewundernd über das Leder.
Damals musste er um jeden Kunden kämpfen, da die meisten Lagerbewohner ihre ersten Waschmaschinen und Kühlschränke in den Kaufhäusern von Bechtenhall oder Bad Reben kauften, die auch Schuhe zu Schleuderpreisen anboten. Der Vater konnte sie auf Anhieb von seinen unterscheiden und sagte verärgert: Der Benisch hat seine Latschen mal wieder bei der Konkurrenz gekauft. Oder: Da schau an! Dieser falsche Fuffziger Lanske. Dem haben wir erst neulich zehn Prozent nachgelassen. Kauft jetzt auch bei der Konkurrenz. Ich kann meine Schuhe doch nicht zum Einkaufspreis verscherbeln.
Die Sonne schien auf die Goldrauten der Kasse, die der Vater bei einem Trödler in Bechtenhall gekauft hatte. Dahinter saß die rauchende Mutter und belauerte ihn. Zeitweilig beschlich mich das Gefühl, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn er im Krieg geblieben wäre. Natürlich gab es auch Tage, an denen sie viel Spaß miteinander hatten, wenn sie sich nach dem sonntäglichen Mittagsschlaf in der Beitzschen Kneipe beim Tanz amüsierten oder mit Köster und Walluscheck Skat spielten.
Litt der Vater an Verstopfung, kochte ihm die Mutter Kümmeltee oder schnitt von der Seife kleine Keile ab, die sie ihm vorsichtig in den Hintern schob. Zur Entspannung bereitete sie ihm manchmal auch ein Fußbad in der Küche und massierte anschließend seine Füße, bis er wie ein alter Täuberich gurrte.
„Ja, total schick“, rief Inge, die wieder vor dem Spiegel stand. Dabei hatte sie die Hände in die Hüften gestemmt und rollte mit den Augen, als wollte sie olala zu sich selber sagen.
Der Vater starrte auf ihre gebräunte Schulter und ihr blondes Haar. Er erschien mir wie ein Fuchs, der Witterung aufnimmt. In diesem Augenblick hasste ich ihn mehr als Hutterer.
Die Mutter stieß eine Rauchwolke aus und wirkte elegant und belustigt. Ich habe nie bemerkt, dass sie eifersüchtig war, wenn der Vater flirtete.
Durch die offene Tür entdeckte ich den alten Köster und Walluscheck am Gartentisch, die ich zuvor gar nicht bemerkt hatte. Beide tranken ein Bier und warteten auf den Vater, um das unterbrochene Skatspiel wieder aufzunehmen. Walluscheck fächelte sich mit den Karten, die er wie einen Fächer hielt, Luft zu. Köster kaute an den Ecken seines gelblichweißen Schnurrbarts und kratzte sich am rötlich schimmernden Hinterkopf. Seine Tochter, die bucklige Paula, saß im Korbsessel vor dem Schaufenster ihres Tabakladens und las wie so oft irgendeinen Roman. Meistens französische, deren Namen ich nicht aussprechen konnte. Ich erinnere mich noch genau an einen Buchdeckel, auf dem eine Frau mit einem Hütchen abgebildet war, die einen verwegenen Blick über die Schulter warf. Wahrscheinlich die Bovery.
„Ein solches Bein in diesem Schuh bringt jeden Mann um den Verstand, Fräulein Malisch“, gurrte der Vater, der sich bei Inge unterhakte und von der filigranen Leichtigkeit und architektonischen Raffinesse des Absatzes faselte. „Zerbrechlich wirkend, aber stabil. Stahleinlage. Der elegante Glanz des Leders.“
Er beugte sich zu ihrer Schulter und atmete den Duft ihrer Haut ein. Ihm fehlte nur ein Gockelkamm! Kikeriki!!!
Die Schnalle seines Gürtels blitzte.
„Da machen Sie keinen Fehler, Fräulein Malisch.“ Dabei stand er so nahe vor mir, dass ich seine schwärzlich schimmernden Falten im Nacken und die Flaumhärchen in der Ohrmuschel sah, die die Mutter regelmäßig mit einer Schere entfernte. Was du wieder für Haare in den Ohren hast! Wie ein alter Mann. Die muss ich dir herausschneiden, hörte ich sie in der Küche öfter zu ihm sagen.
Mein Gott, knurrte dann der Vater, setzte sich aber brav auf einen Stuhl am Fenster und ließ sie sich herausschneiden.
In meiner Erregung hatte ich das Diktat völlig vergessen. Beim Blick auf den Vater fiel es mir mit Schrecken wieder ein, da er es unterschreiben musste. Für Kurti war es kein Problem, die kindliche Unterschrift seines Erzeugers zu fälschen, für mich unmöglich, da sie ein kalligrafisches Kunstwerk mit über die Jahre perfektionierten Ober- und Unterschwüngen war. Hutterer hätte den Braten sofort gerochen und mir das Fell versohlt. Du glaubst wohl, du kannst mich für dumm verkaufen, Wülfling. Einen Hutterer verkauft man nicht für dumm. Ich fasse das als Beleidigung auf. Er hasste mich, weil ihm Tante Otti wegen Larry den Laufpass gegeben hatte. Seitdem schlug er mir meine verpfuschten Arbeiten um die Ohren und ließ mich bis zum Schluss der Heftverteilung zittern, um mich vor der Klasse zu blamieren. Er beschimpfte mich als Dummkopf, der blind durch die Regeln der Orthografie tappt, und drosch mir seinen Rohrstock auf die Hände und den Hintern.
Die Kasse klingelte. Der komische Joker entblößte seine langen weißen Zähne und die rote Zunge.
„Gratulation, Fräulein Malisch“, rief der Vater, „da haben Sie sich etwas Schönes gegönnt.“
„Ja, das glaube ich auch“, sagte Inge.
Die Mutter verpackte die Pumps in einem weißen Schuhkarton und legte eine Dose roter Schuhcreme dazu, auf die der Frosch mit goldener Krone von Erdal gedruckt war, der mich an den Froschkönig erinnerte.
„Kuno! Kuno? Na sowas, er träumt mal wieder. Bringst du mich noch ein Stückchen?“ fragte Inge. Ich erschrak und starrte auf ihren roten Mund.
„Na, was ist?“
„Natürlich bringt er Sie, Fräulein Malisch“, sagte der Vater mit serviler Verbeugung.
8. Das Angebot
An dieser Stelle muss ich die Ankunft des Kredithais Mack erwähnen, der den Fortgang unseres Lebens entscheidend bestimmte. Damals wusste ich noch nicht, wer er ist, als er mit silberknöpfiger Trachtenjacke und grauem Filzhut mit Gamsbart aus seinem nagelneuen Opel/Rekord stieg und auf das Geschäft meiner Eltern zusteuerte. In dieser Phase spielte er noch keine entscheidende Rolle, bereitete das Unglück jedoch vor wie einst Lheureux in der Bovary.
Indessen schlenderten Inge und ich an der buckligen Paula, dem alten Köster und Walluscheck vorbei, die uns erstaunte Blicke zuwarfen.
„Mein Kreislauf bringt mich noch um“, stöhnte Walluscheck. „Loheim meint, es wäre das Wetter und geht, wie es gekommen ist.“
Köster lachte. „Typisch Quacksalber!“
Dann wandte er sich uns zu. „Na, Kuno? Mit der hübschen Inge unterwegs? Dass mir keine Klagen kommen.“ Er wieherte wie ein alter Gaul und entblößte seine gelben Zähne.
Inge winkte ihm zu. „Immer zu einem Scherz aufgelegt, der Herr Köster.“
„Also, Vater“, rief Paula. „Dafür ist er doch noch viel zu jung.“
Jetzt lachten alle, und ich lief wie immer rot an.
An der Ladentür fragte mich Inge, ob ich ihr die Schuhe auf ihr Zimmer tragen könne. „Wir unterhalten uns noch ein bisschen. Ich hab noch Mittagspause. Hast du Lust?“
Natürlich hatte ich Lust und spürte, wie mir erneut die verhasste Pennälerröte in die Wangen schoss. Gleichzeitig sah ich Inge nackt wie die Frauen auf Bennys Nacktfotos.
„Ich hab auch Luckys“, flüsterte sie, als ob es um eine Verschwörung ging, griff nach meiner schweißigen Hand und zog mich in den kühlen, schummrigen Flur. Ich fühlte mich wie in Trance. Ein lang gehegter Traum schien in Erfüllung zu gehen! Endlich, endlich, dachte ich, war mir aber nicht klar darüber, was endlich bedeuten sollte. Meine Diktat-Vier hatte sich erneut in das Reich des Vergessens geflüchtet.
Inge presste ihren Zeigefinger an den Mund, da ihre Eltern Mittagsschlaf hielten.
Mein Blick fiel auf einen Spiegelschrank aus weißem Schleiflack mit verschiedenfarbigen Bürsten, Cremes und Parfums. Dann auf einen mit rotem Plüsch bezogenen Hocker. Hier sitzt sie also und schminkt sich, dachte ich und spürte, wie mein Herz vor Aufregung pochte.
„Du bist gewachsen, Kuno, stimmt‘s?“ „Kann sein“, sagte ich stolz.
„Setz dich“, forderte sie mich mit verführerischer Süße in der Stimme auf und wies auf einen der Schalensessel.
Meine Aufregung war so groß, dass ich Sodbrennen bekam. Ich wusste nicht, wohin mit den Händen, räusperte mich und starrte auf den Hampelmann über ihrem Bett, während sie die Pumps auspackte. In diesem Augenblick sah sie aus wie ein Kind, das sich über ein Weihnachtsgeschenk freut. Neben dem Hampelmann hingen Fotos der kleinen Inge mit ihren Eltern auf einem Rummelplatz in Königgrätz. Inge biss sich auf die Lippen und hielt einen mit einem Clownsgesicht bemalten Luftballon in der Hand. Ihre schlanke, damals noch hübsche Mutter, strahlte und streckte einen Lutscher in die Luft.
Zu meinem Verdruss tanzte plötzlich wieder die Vier vor meinen Augen. Eine Vier im Diktat, so, so! Hosen runter, hörte ich den Vater schimpfen.
Inge stellte sich vor den Ganzkörperspiegel neben dem Fenster, stolzierte auf und ab, blieb stehen, schob ihre Brüste vor und lächelte mir zu. „Magst du mich ein bisschen, Kuno?“ fragte sie und schob die Träger ihres Kleides auf die Oberarme, so dass der Ansatz ihres Busens sichtbar wurde. „Wir könnten gute Freunde sein, meinst du nicht?“ „Warum nicht?“ sagte ich gespielt gleichgültig, weil ich von Benny wusste, dass das bei Frauen Eindruck macht. Wenn du Ihnen zeigst, dass du in sie verschossen bist, machen sie mit dir, was sie wollen. Wenn sie um dich kämpfen müssen, sieht es anders aus.
„Aber eigentlich willst du es nicht?“ fragte sie mit erstauntem Augenaufschlag.
„Wieso? Doch“, sagte ich und setzte mich gerade auf.
Inges Fenster wies auf die Rückseite der Fleischerei Meierlich, in der wöchentlich einmal Kühe und Schweine geschlachtet wurden. Vor einiger Zeit hatte mein Vater mit Meierlich vereinbart, dass ich Lehrling bei ihm werden sollte, was ich auf keinen Fall wollte. Auch die Mutter nicht. Der Junge ist als Metzger überhaupt nicht geeignet, hatte sie sich empört. Ich bin dagegen. Danach hatte es einen langen Streit zwischen beiden gegeben und keine Entscheidung. Seitdem hing der Metzgerberuf wie ein Damoklesschwert über mir.
Das Problem war, dass mein Vater auch Metzger gelernt hatte und nicht verstand, warum der Beruf für mich zu fein sein sollte.
Ich starrte auf Inges Rücken, ihr Becken und ihre Beine. Ihr Po war ein wenig zu üppig, erregte mich jedoch trotzdem oder gerade deswegen. Ich stellte mir vor, ihn so zu küssen, wie ich es auf Bennys Bildchen gesehen hatte. Eine Vorstellung, die mich noch mehr durcheinanderbrachte.
Als sie sich mir gegenüber in den Sessel fallen ließ und die Beine übereinanderschlug, so dass ich ein Stück ihrer braunen Schenkel sah, wusste ich nicht, wo ich hinschauen sollte und ärgerte mich über mein blödes Verhalten. Ich hatte Inge zwar schon öfter im Schwimmbad im Badeanzug gesehen, aber da rumorten noch keinerlei erotische Gefühle in mir. Nun aber vibrierte mein Körper.
„Weißt du schon, was du mal werden willst, Kuno?“
„Nichts.“
„Nichts? Du bist ja putzig. Nichts gibt‘s nicht.“ „Wieso nicht?“
„Weil du dann kein Geld verdienst. Und mit den Frauen, na ja… wird es auch schwierig werden.“ „Benny macht ja auch nichts und hat genug.“ „Weil ihn seine Eltern und die Frauen aushalten. Und er ein Falschspieler ist.“
„Dann lass ich mich eben auch von Frauen aushalten und werde Falschspieler“, sagte ich und fühlte mich in meiner Großspurigkeit großartig.
Inge lächelte. Sie schien mich durchschaut zu haben. Doch das machte mir nichts aus.
„Stell dir das nicht so einfach vor. Falschspielen will gelernt sein. Außerdem braucht man eiserne Nerven, wenn man nicht erwischt werden will.“ Sie trank einen Schluck Cola und lehnte sich zurück. Dabei rutschte ihr Rock ein wenig höher und brachte mich vollends durcheinander.
„Weißt du, was er jetzt für eine Freundin hat?“ „Nein“, sagte ich pampig, da es wieder nur um Benny ging. Ich verstand nicht, dass ihn alle Frauen liebten, obwohl er ein Falschspieler war und sich von ihnen aushalten ließ.
Inge ging darüber hinweg. „Und wie geht‘s in der Schule, Kuno? Alles gut?“
„Ja, prima.“
„Ich wäre gern auf eine höhere Schule gegangen, aber durch den Krieg war‘s unmöglich. Ich wasche Köpfe, schneide Haare, lege Dauerwellen. Jetzt ist es zu spät für mich, das Abitur nachzuholen. Gesine hat es noch in Königgrätz gemacht, die Glückliche und darf hier studieren. Inzwischen liebe ich meinen Beruf. Manchmal muss man auch zu seinem Glück gezwungen werden. Nur dieses Lager ist so langweilig. Ich möchte weg. Weit weg. Verstehst du das, Kuno?“
„Klar.“
Inge sah mich mit einem prüfenden Blick an und drückte ihre Zigarette in einem Kristallaschenbecher aus. „Du bist ein gutaussehender Junge, Kuno, weißt du das? Wenn du älter wärst, würd‘ ich mich glatt in dich verlieben. Schade.“ Sie zündete sich erneut eine Zigarette an und blies einen fetten Rauchring in die Luft, der lange über dem Tisch schwebte und sich nur langsam aufzulösen begann.
Hatte ihr Benny dieses Kunststück beigebracht?
„Kannst du das auch? Versuch‘s mal.“
Sie erhob sich und schob mir ihre Lucky in den Mund, die am Filter feucht von ihrer Spucke war. Sie beugte sich über mich. „Du musst die Lippen zu einem kleinen Loch formen, und dann den Rauch mit einem kurzen Atemstoß durchblasen.“
Ich versuchte es mehrmals, bis mir ein wunderbar geformter Ring gelang, der sich einen Augenblick über dem Tisch hielt und dann zu Inges Bett schwebte, bis er sich nach einer Weile aufzulösen begann. „Bravo“, rief sie, ließ sich wieder in den Sessel fallen und musterte mich. Kurz darauf erhob sie sich erneut und warf sich auf ihr Bett. „Ich muss mich noch ein bisschen hinlegen vor der Arbeit. Es ist manchmal so anstrengend.“
Ich erschrak. Was hatte sie vor? „Gut, dann geh‘ ich jetzt.“
„Nein, nein, komm her, Kuno, komm her.“
Ich starrte sie verunsichert an.
„Setz dich“, sagte sie und wies neben sich. „Hast du schon mal von mir geträumt?“
„Wieso?“ fragte ich überrascht und fühlte mich ertappt.
„Ach, Kuno, Kuno“, rief sie lachend, „verstehst du denn gar keinen Spaß?“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und starrte in meiner Verlegenheit auf ihre Brüste. „Findest du sie schön?“ fragte Inge. „Du möchtest sie gern mal streicheln, stimmt‘s?“
Ich saß wie erstarrt.
„Du brauchst mir nur zu sagen, mit welchen Frauen Benny sich herumtreibt, dann darfst du‘s.“ „Benny? Warum denn Benny?“ fragte ich irritiert. „Weil er der Einzige ist, der für mich in diesem Lager in Frage käme. Er ist ganz anders als die anderen Jungs, spricht verschiedene Sprachen, ist gebildet. - Also, wenn du mir sagst, was er treibt, was für eine Geliebte er hat, darfst du sie streicheln.“ Ich verstand überhaupt nichts mehr, saß nur da und starrte.
„Riech mal, wie sie duften“, sagte sie und hielt mir ihre Brüste wie eine Opfergabe entgegen.
Ich prallte zurück, da ich Pfarrer Gerbers Stimme hörte: Du sollst nichts Unkeusches begehren! rief er. Unkeuschheit ist schwere Sünde.
„Was hast du denn, Kuno? Du bist ja ganz blass“, rief Inge erschrocken.
SÜNDE, SÜNDE, hallte es in meinem Kopf. „Kuno!“ rief Inge, die sich in eine Schlange verwandelt hatte.
Ich sprang auf. Nur weg! Weg!
„Wo willst du denn hin?“
Ich stolperte über einen der Schalensessel, rappelte mich wieder auf und stürzte aus dem Zimmer.
„Kuno!“
Ich war schon auf dem Flur, riss die Haustür auf und lief, als ob mich der Teufel verfolgte.
Zuhause ärgerte und schämte ich mich über mein dummes Verhalten. Meine großartige Vorstellung von mir und meiner aufkommenden Männlichkeit endeten in einem seelischen Fiasko. Ich wollte Inge nie mehr wiedersehen! Überhaupt wollte ich von Frauen nichts mehr wissen. Das Beste wäre, dachte ich, wie Pfarrer Gerber zu leben, Gott zu dienen, um Erfüllung zu finden. In meiner Verzweiflung schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Öffnete auch nicht, als mich die Großmutter zum Abendbrot rief. „Lasst mich in Ruhe, ich will alleine sein“, rief ich.
„Wir essen jetzt und du kommst an den Tisch, das wäre ja noch schöner“, schnauzte der Vater.
Die Einzige, die mir wieder einmal beistand, war die Mutter. „Lasst den Jungen zufrieden, wenn er nicht will.“
Damals glaubte ich, dass ich Inge nie wieder in die Augen schauen könnte, dass sie über mich lachte und mein seltsames Verhalten Bienchen und Susi erzählen würde. Über mich zu lachen, empfand ich als das Schlimmste. Doch Inge hat meine unverhoffte Flucht aus gutem Grund nie wieder erwähnt. Das rechnete ich ihr hoch an.
9. Kurti und seine Familie
Kurti war mein einziger Freund und Leidensgenosse in diesen stürmischen und leidgeprüften Tagen. Er war um einen halben Kopf kleiner als ich, mit muskulösen o-förmigen Fußballerbeinen ausgestattet und verehrte Ottmar Walter. Ich bewunderte Ottmars Bruder, den Mittelstürmer Fritz Walter. Beide spielten in der Nationalmannschaft und wurden später, im Juni 1954, in Bern Weltmeister. Durch die Wahlverwandtschaft fühlten Kurti und ich uns ebenfalls wie Brüder. Fritz und Ottmar spielten auf den gleichen Positionen wie wir in unserem Fußballverein. Auch Kurti litt unter dem explosionsartigen Aufbäumen seines Geschlechts, der Gängelung und Langeweile in der Schule und den Leistungsanforderungen der Eltern. Kurti hatte einen Igelschnitt, athletische Schultern und eine leicht schiefe Nase über wulstigen Lippen. Außerdem eine schmale Narbe unter seinem linken Auge, durch die er verwegen, aber auch gefährlich aussah. Als Kleinkind war er auf der Straße gestolpert und hatte sich am Bordstein das Nasenbein gebrochen. Er war das vierte von vier Kindern und als einziges noch schulpflichtig. Sein ältester Bruder Harald arbeitete seit zwei Jahren in der Bar des