Das Geheimnis von Fynan Hall - Annika Dick - E-Book
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Das Geheimnis von Fynan Hall E-Book

Annika Dick

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Beschreibung

In jedem Haus gibt es eine Tür, die ein besonderes Geheimnis hütet. In den Anwesen der drei „Grauen Schwestern“ verbirgt eine Tür einhundert Geheimnisse. Als Mattie 1837 mit ihrer kleinen Schwester Violet zu ihrer Tante Eliza nach Fynan Hall reist, glaubt sie noch, dass ihre größte Herausforderung darin bestehen wird, den Tod ihrer Eltern zu verwinden. Doch bald muss sie lernen, dass es in Fynan Hall Geheimnisse gibt, die sie sich in ihren wildesten Träumen nicht hätte vorstellen können. Doch Geheimnisse können gefährlich sein. Und als Mattie dem Verschwinden ihrer jungen Tante Fanny vor achtzehn Jahren nachgeht, droht sich die Vergangenheit zu wiederholen.

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Annika Dick

 

 

 

Roman

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Ashera Verlag GbR

Alisha Bionda & Annika Dick

Hauptstr. 9

55592 Desloch

[email protected]

www.ashera-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: iStock

Innengrafiken: iStock, adobeStock

Szenentrenner: adobeStock

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

 

 

Inhalt

Prolog

Ankunft auf Fynan Hall

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Die geheime Tür

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Unerwartete Hilfe

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Die Abenteuer des Nathan Sale

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Schlüssel Achtundneunzig

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Die Autorin

 

Sie hatte gelernt, die Dunkelheit zu akzeptieren. Sie fürchtete sie schon lange nicht mehr. In der Dunkelheit gab es nichts Beängstigendes, nichts, das sie verletzen, ihr schaden könnte. Es gab einfach … nichts.

Die Schritte, die das Ende dieser Dunkelheit hin und wieder signalisierten, die fürchtete sie hingegen. Doch sie ließ nicht zu, dass die Angst von ihr Besitz ergriff. Nichts deutete darauf hin, was sie empfand, wenn der Riegel zurückgeschoben, und die schwere Holztür mit einem lauten Knarzen geöffnet wurde.

Hocherhobenen Hauptes starrte sie in das Licht, das durch die Tür schien und sie für einen Moment blendete, doch sie wich der Helligkeit nicht aus, zuckte nicht zusammen, gestattete sich nicht das feinste Zittern.

»Hast du deine Meinung geändert?«

Wie sie seine Stimme verabscheute. So selbstsicher, so siegesgewiss. Sie konnte ihn nicht sehen, das Licht, das durch die Tür hindurch auf seinen Rücken fiel, umhüllte ihn mit gleißender Helligkeit. Aber sie musste ihn auch nicht sehen, um zu wissen, wer vor ihr stand. Sie war sogar froh, wenn sie nicht in sein Gesicht blicken musste.

»Ich werde dich nicht heiraten.«

Er reagierte nicht. Manchmal fragte sie sich, ob er glaubte, sie würde ihre Meinung ändern, wenn er nur lange genug vor ihr stehen und sie anstarren würde.

»Ich werde dich nicht heiraten«, wiederholte sie langsam, als spräche sie zu einem Kind.

»Du wirst deine Meinung noch ändern.« Er wandte sich um und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sie wartete, bis der Riegel vorgeschoben wurde und seine Schritte nicht mehr zu hören waren, ehe sie sich erlaubte, tief durchzuatmen. Sie war wieder allein mit der Dunkelheit.

Sie hasste ihr Gefängnis, wollte nichts sehnlicher, als zurück nach Hause gehen, doch das Gefängnis war nur halb so schlimm, solange er nicht bei ihr war. Nie würde sie seine Frau werden. Niemals. In den letzten Jahren hatte sie gelernt zu akzeptieren, dass dies auch bedeutete, dass sie niemals mehr nach Hause zurückkehren würde.

Sie zog ihre Beine eng an ihren Körper und schlang ihre Arme um die Knie. Ihr Kleid hatte wahrlich schon bessere Tage erlebt, der Stoff war an vielen Stellen verschlissen, auch an ihrem Knie. Sie konnte ihre blanke Haut spüren, als sie ihren Kopf darauf legte und die Augen schloss. Nicht, dass es hier einen Unterschied machte, ob sie sie offen oder geschlossen hatte.

Wie lange war sie schon hier? Zu Beginn ihrer Gefangenschaft hatte sie versucht, die Stunden zu zählen, doch sie hatte bald aufgeben müssen. Waren bereits Jahre ins Land gezogen? Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber es konnten ebenso gut erst wenige Wochen vergangen sein.

Eine einsame Träne rann über ihre Wange und fiel auf ihr Knie. »Oh Theodore, was soll nur aus mir werden? Denkst du noch an mich? Suchst du vielleicht gerade nach mir? Oder hast du mich bereits vergessen und aus deinem Herzen und deinen Gedanken verbannt?« Sie erhielt keine Antwort. Die Dunkelheit um sie herum schwieg.

 

 

 

 

 

 

Die Kutsche polterte über die unebenen Straßen und Mattie wartete nur darauf, dass ein Rad brechen würde, weil der Kutscher die Pferde trotz der vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Erde antrieb, als ginge es darum, ein Wettrennen zu gewinnen.

Eine kleine Hand schob sich unter ihre, auf ihrem Rock ruhende, behandschuhte Hand und verschränkte die Finger mit ihren.

Mattie löste ihren Blick von der mit grauen Wolken verhangenen Landschaft, die an ihnen vorbeiflog, und zwang sich ein flüchtiges Lächeln auf die Lippen, als sie sich an ihre kleine Schwester wandte. Violet sah blass aus, blasser als sonst. Ihre helle Haut ein starker Kontrast zu ihren roten Haaren und den Sommersprossen auf ihrer Nase. Nur ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen glänzten fiebrig. Sie war tapfer gewesen, den ganzen Tag über, und hatte sich bemüht, nicht zu weinen, während sie in der Kutsche saßen.

»Wird sie uns wohl mögen? Was meinst du, Mattie?«

Sie.

Lady Eliza Sudgrove.

Ihre Tante mütterlicherseits. Mattie wusste keine Antwort auf die Frage ihrer Schwester. Lady Sudgrove hatte die beiden Mädchen das letzte Mal gesehen, als Violet gerade geboren worden war. Das war nun zehn Jahre her. Mattie selbst war erst sechs gewesen und konnte sich kaum an die Tante erinnern. Streng war sie gewesen und ganz in Schwarz gekleidet, obwohl es keinen Trauerfall gegeben hatte, daran erinnerte sie sich noch.

»Natürlich wird sie euch mögen. Ihr seid die Töchter ihrer jüngeren Schwester, wie könnte sie euch nicht mögen?« Mrs Hanson, ihre Nachbarin aus London, die sich bereiterklärt hatte, die Mädchen nach Dartmoor zu ihrer Tante zu begleiten, um sicherzugehen, dass den beiden jungen Damen unterwegs nichts geschah, tätschelte aufmunternd Violets Knie und lächelte beiden Schwestern zu. Mattie erwiderte das Lächeln der alten Frau dankbar. Natürlich erhielt sie eine Entschädigung dafür, dass sie diese Reise auf sich nahm, doch Mrs Hanson war eine gute Frau und ihrer Mutter stets eine treue Freundin gewesen. Mattie würde sie vermissen, wenn sie in Fynan Hall, dem Familiensitz ihrer Mutter, angekommen waren.

Fynan Hall.

Sie kannte das Anwesen nur aus den wenigen Erzählungen ihrer Mutter. Der verstorbene Lord Sudgrove, Matties Großvater, war mit der Wahl eines Ehemannes seiner jüngsten Tochter nicht einverstanden gewesen und hatte daraus nie einen Hehl gemacht. Sophie Cadderly, geborene Sudgrove, Gattin von Ernest Cadderly, war vom Tag ihrer Eheschließung an auf Fynan Hall nicht länger willkommen. Genauso wenig, wie der Rest ihrer Familie. So hatte es ihr Vater bestimmt und so führte seine älteste Tochter, als seine Erbin, es fort.

Erst jetzt, nach dem Tod ihrer geliebten Eltern, sollten Mattie und Violet in das Haus ihrer Ahnen kommen, um bei ihrer Tante zu leben.

Mattie wusste, dass es falsch war, im Angesicht des Verlusts, den sie vor zwei Monaten erlitten hatten, irgendetwas anderes als Dankbarkeit für ihre Tante zu empfinden, die sie bei sich aufnahm und sie nicht trennte, indem sie Violet in ein Waisenhaus und Mattie zum Arbeiten schickte.

Und dennoch, sie konnte das flaue Gefühl in ihrem Magen nicht gänzlich unterdrücken. Ihre Mutter hatte ihr nie viel über ihre ältere Schwester erzählt. Und Mattie hatte sie nicht mit Fragen über ihre Familie quälen wollen. Die feinen Gesichtszüge ihrer Mutter waren beim Gedanken an ihre Familie stets von einer gewissen Traurigkeit geprägt gewesen. Mattie teilte zwar Mrs Hansons Überzeugung nicht, doch sie wollte Violets Ängste nicht weiter schüren. Sollte sich das Verhalten von Lady Sudgrove in den vergangenen zehn Jahren nicht geändert haben, so würden sie sich damit in den kommenden Jahren genug beschäftigen können. Nun jedoch kam es darauf an, Violet zu beruhigen und bei ihrer Ankunft auf Fynan Hall einen guten Eindruck zu machen. Noch drei Stunden hatte der Kutscher bei ihrer letzten Rast gesagt. Eine Stunde was seither bereits vergangen.

Violets Hand schloss sich fester um Matties. Ihre Schwester erwiderte den Druck und lächelte noch einmal aufmunternd, während sie ihren Blick aus dem Fenster lenkte.

»Es ist hier ganz anders als in London, nicht wahr?«, fragte Mattie Violet in einem Versuch, ihre kleine Schwester abzulenken. Violet beugte sich über sie, um ebenfalls aus dem Fenster der Kutsche sehen zu können. Grün. Soweit sie blicken konnten, Wiesen, Felder und Wälder.

»Der gleiche graue Himmel«, entschied Violet und kräuselte ihre Nase, dass es so aussah, als würden die Sommersprossen darauf tanzen. »Aber das Wasser sieht sauberer aus, als die Themse.«

Mrs Hanson schnaubte. »Das ist schwerlich ein Kunststück.« Sie hatten in London nicht in der Nähe des Flusses gelebt und Mattie war sehr froh über diesen Umstand gewesen. Besonders in den kommenden Sommermonaten würde der Fluss wieder entsetzlich stinken und jeden in seiner Nähe in den Wahnsinn treiben. Trotzdem hätte Mattie den Sommer lieber in der Stadt verbracht, wenn es bedeuten würde, dass ihre Eltern noch am Leben wären. Sie unterdrückte ein Seufzen und lehnte sich zurück.

Sie musste stark sein für Violet und durfte sich ihren trüben Gedanken nicht hingeben.

»Byhollow. Wir sind da.« Mrs Hanson warf einen Blick aus dem Fenster der Kutsche, als das Gefährt auf dem Dorfplatz anhielt. Sie stieg mit den Mädchen aus, blieb jedoch stehen, als eine in Schwarz gekleidete Dame auf sie zutrat.

»Ihr müsst Matilda und Violet sein.«

Violet zuckte bei der kühlen Stimme ihrer Tante zusammen und Mattie drückte ihre Hand, die sie noch immer hielt, fester. Lady Eliza Sudgrove hatte nichts von der Strenge verloren, an die sich Mattie erinnerte. Noch immer war sie völlig in Schwarz gekleidet. Mattie hätte gern geglaubt, dass dies ein Zeichen der Anteilnahme am Tod ihrer jüngeren Schwester war, doch sie war sich sicher, dass Tante Eliza gar keine farbigen Kleider besaß.

Als sie die Mädchen aus ernsten, blauen Augen musterte, fuhr sich Mattie mit der freien Hand über ihr Trauerkleid, auch wenn sie wusste, dass sie wenig tun konnte, um ihm die lange Reise aus London nicht ansehen zu lassen.

»Ja, Tante Eliza«, antwortete sie schließlich und machte einen Knicks. Violet starrte ihre Tante mit offenem Mund an und erst, als Mattie ihre Hand erneut drückte, konnte sie sich aus ihrer Erstarrung lösen und dem Beispiel ihrer Schwester folgen.

Eliza kniff die Lippen zusammen, als ihr Blick über ihre Nichten glitt, und Mattie fragte sich, womit sie bereits jetzt das Missfallen ihrer Tante erregt hatten.

»Wir sollten uns beeilen, nach Fynan Hall zu kommen. Ihr solltet euch vor dem Abendessen noch frisch machen. Ihr habt es dringend nötig.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Nun, gegen diese unvorteilhafte Haarfarbe kann man wohl leider nichts tun, aber man kann sie wenigstens bändigen.«

»In London sind rote Haare gerade sehr gefragt!«, verteidigte Violet sie beide und hob stolz das Kinn. Eliza sah die Zehnjährige missbilligend an. »Und wenn es die Eisenbahn hier schon gäbe, wäre auch die Fahrt hierher angenehmer gewesen.«

Elizas Blick wanderte von Violet zu Mattie und wieder zurück, ehe sie sich umdrehte und auf die Kutsche der Sudgroves zuging, die am Rande des Dorfplatzes auf sie wartete.

»Du bist für deine jüngere Schwester verantwortlich, Matilda. Du bist ebenfalls für ihr Verhalten verantwortlich. Das ist das Los einer älteren Schwester. Verantwortung. Erweise dich ihrer würdig und bring Violet Manieren bei. Ich dulde in meinem Haus kein solch ungebührliches Verhalten.« Als sie an der Kutsche angekommen waren, drehte sie sich noch einmal zu den Schwestern um, die sich hastig von Mrs Hanson verabschiedet und ihre Koffer vom Kutscher in Empfang genommen hatten, ehe sie ihrer Tante nachgeeilt waren.

»Hast du das verstanden?«

Mattie nickte hastig und reichte dem Kutscher ihren Koffer, ehe sie der Aufforderung ihrer Tante folgte und mit Violet in die Kutsche stieg.

»Ich kann mir vorstellen, dass es schwer für euch sein muss, eure Eltern verloren zu haben und nun ein neues Leben zu beginnen. Aber ich erwarte von euch, dass ihr euch an gewisse Regeln haltet.« Sie wartete nicht darauf, dass eine der beiden etwas erwiderte, sondern fuhr direkt damit fort, ihnen die Regeln zu nennen. »Ich dulde keinen Lärm oder wildes Herumgetobe im Haus. Ihr seid junge Damen – wenn auch durch euren Vater von herkömmlicher Geburt. Man kann von euch hoffentlich erwarten, dass ihr euch dementsprechend gesittet benehmt. Ich möchte zu keiner Zeit von euch wegen Trivialitäten gestört werden. Ihr habt eure Zimmer, in denen ihr euch aufhalten könnt und ich wünsche, dass ihr sie in ordentlichem Zustand hinterlasst. Nur, weil ihr von nun an von Dienstboten umgeben sein werdet, heißt das nicht, dass ihr keine Pflichten habt. Die Dienstboten werdet ihr nicht davon abhalten, ihre Arbeit zu erledigen. Am wichtigsten jedoch, und das werde ich nur ein einziges Mal sagen: Ich möchte keine von euch jemals allein in der Bibliothek antreffen, haben wir uns verstanden?« Erst jetzt hielt Eliza inne, um den Mädchen die Gelegenheit zu geben, ihr zu antworten.

Violet öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch Mattie kam ihr zuvor.

»Natürlich, Tante Eliza«, versicherte sie ihr und brachte Violet mit einem Blick zum Schweigen. Die Regeln ihrer Tante mochten streng sein, aber sie hatten keine Wahl, als sich daran zu halten.

Sie verließen das Dorf und bogen, nachdem sie auch die letzten Häuser hinter sich zurückgelassen hatten, von der Hauptstraße ab. Nun konnte Mattie beim Blick aus dem Fenster eine Allee erkennen, die sich vor ihnen auftat. Durch die Wipfel der blühenden Bäume hindurch sah sie hin und wieder einen grauen Fleck auftauchen.

»Noch etwas. Der Dart ist kein kleiner Bach, er ist ein gefährlicher Fluss, in dem schon viele ihr Leben lassen mussten. Ich wünsche nicht, dass ihr euch in seine Nähe begebt.«

Mattie löste den Blick von den Eiben, die den Weg säumten, und sah ihre Tante an. Doch dieses Mal erwartete sie offensichtlich keine Antwort.

Als die Kutsche erneut abbog, sah Mattie das herrschaftliche Gebäude vor ihnen auftauchen, das von nun an ihr Zuhause sein würde: Fynan Hall.

Das dreistöckige graue Steingebäude wuchs beängstigend in die Höhe, als sie sich ihm näherten. Die Sonne stand schon so tief am Himmel, dass es dunkle Schatten auf den Vorplatz warf, die wie eine stille Drohung auf Mattie wirkten.

Als die Droschke zum Stehen kam, und der Kutscher die Tür geöffnet hatte, um Lady Sudgrove aus dem Gefährt zu helfen, verabschiedete sich diese von ihren Nichten und ermahnte sie, sich pünktlich in einer Stunde im Esszimmer einzufinden, da sie großen Wert darauf lege, ihr Abendessen jeden Tag pünktlich einzunehmen.

Als Mattie und Violet mit Hilfe des Kutschers, der sich ihnen bei dieser Gelegenheit als Rufus Marsh, seines Zeichens Stallmeister auf Fynan Hall, vorstellte, ausstiegen, war ihre Tante bereits im Inneren des Hauses verschwunden. Die Eingangstür stand offen und ein hochgewachsener Mann mit grauem Haar verharrte regungslos davor, als warte er auf sie.

»Sie lassen Weldon besser nicht warten, junge Damen. Nate wird Ihre Koffer ins Haus tragen.«

»Weldon? Nate?« Mattie sah Mr Marsh verwirrt an.

Der Stallmeister nickte. »Weldon, der Butler. Und das hier ist Nate.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung eines großgewachsenen jungen Mannes, den Mattie bisher nicht bemerkt hatte. Er hob gerade den zweiten Koffer von der Kutsche herab, ehe er sich die Mütze von den dunklen Haaren zog und sich vor den Neuankömmlingen verbeugte. »Nate Sale, Mylady«, stellte er sich mit einem kurzen Lächeln vor. Sobald sein Blick Matties traf, ließ er ihn auch schon wieder sinken.

»Miss … Cadderly«, korrigierte sie hastig und warf einen Blick über die Schulter, als fürchte sie, ihre Tante könne hinter ihr auftauchen und sie an ihre unadlige Herkunft erinnern. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke erneut und Mattie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als Nates Lächeln breiter wurde.

»Miss Cadderly also«, stimmte er zu und bückte sich nach den beiden Koffern.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Violet ihre Schwester leise und Mattie schüttelte rasch den Kopf.

»Komm.« Sie nahm Violet bei der Hand und zog sie zur Eingangstür, wo Weldon sie begrüßte. Mattie verstand sofort, weshalb der alte Mann als Butler auf Fynan Hall war. Sein ernstes Auftreten stand dem ihrer Tante in nichts nach. Immerhin vermied er es, die beiden vielsagend zu mustern, als er sich ihnen als Jonathan Weldon vorstellte und ihnen ein Dienstmädchen rief, das ihnen ihre Zimmer sowie den Weg ins Esszimmer zeigen sollte, nachdem sie sich frisch gemacht hatten.

»Ich glaube, er ist ein Geist«, flüsterte Violet und warf dem Butler einen letzten Blick über ihre Schulter zu, als sie dem Dienstmädchen die Treppe hinauf zu ihren Zimmern folgten.

»Unsinn«, schalt Mattie ihre Schwester ebenso leise und zog sie hinter sich her. Sie vermied es dabei tunlichst, selbst noch einmal einen Blick auf den alten Butler zu werfen. Auch wenn sie nicht an Geister glaubte, so konnte sie nicht das Gefühl abschütteln, dass Jonathan Weldon ihr und ihrer Schwester nicht gewogen war.

Würde ihr Großvater noch leben, hätte er sie überhaupt hier aufgenommen, nachdem er seine jüngste Tochter des Hauses verwiesen hatte? Mattie wagte es nicht, darüber nachzudenken. Die Angst, mit Violet in einem Armenhaus zu landen, hatte sie die ersten Tage nach dem Tod ihrer Eltern stets begleitet, ehe der Brief ihrer Tante eingetroffen war, in dem diese anbot, die beiden Schwestern aufzunehmen.

»Hier ist Ihr Zimmer, Miss Cadderly.« Die Stimme des Dienstmädchens riss Mattie aus ihren Gedanken und erst jetzt bemerkte sie, dass sie angehalten hatte. Das Mädchen stand in der offenen Tür und wartete darauf, dass Mattie ihr neues Zimmer betrat. Violet hielt noch immer ihre Hand fest umklammert und folgte Mattie.

Der Raum war größer, als das Schlafzimmer, das sich die beiden Schwestern zu Hause geteilt hatten, und auch das dunkle Mobiliar und die schweren, dunkelgrünen Vorhänge an den Fenstern bildeten einen starken Kontrast zu dem hellen Zimmer, welches sie nun nie wieder sehen würde. Sie spürte, wie sich Violet enger an sie drängte. Auch ihr musste die Düsternis unangenehm sein.

Als das Dienstmädchen fragte, ob Mattie Hilfe beim Aus und Ankleiden benötigte, verneinte diese hastig. Das Mädchen machte einen Knicks und verließ das Zimmer, um im Flur zu warten. »Dann zeige ich Miss Violet ihr Zimmer und komme in einer halben Stunde, um Ihnen beiden den Weg zum Esszimmer zu zeigen.«

»Wie ist dein Name?«, fragte Mattie, während sie Violets Hand beruhigend drückte, ehe sie sie losließ.

»Sarah, Miss Cadderly.«

»Vielen Dank, Sarah.«

»Ich will nicht in ein anderes Zimmer.« Violet sah Mattie mit großen Augen an.

»Es ist direkt nebenan«, erklärte Sarah und deutete den Flur entlang.

Mattie lächelte ihre Schwester aufmunternd an. »Siehst du, ich bin gleich nebenan, wenn du etwas brauchst. Sobald ich mich umgezogen habe, komme ich zu dir«, versprach sie und schob Violet sanft in Sarahs Richtung. Auch wenn sie selbst es lieber gehabt hätte, ihre Schwester bei sich im Zimmer zu wissen, sie durfte vor Violet ihre eigene Unsicherheit nicht zeigen. Das würde es für ihre Schwester nur noch schwieriger machen, sich hier einzuleben. Mattie war gerade sechzehn geworden. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor ihre Tante eine Anstellung für sie finden würde, oder, sollte sie dies vorhaben, einen Ehemann für sie suchen. Violet könnte in wenigen Monaten auf sich selbst gestellt sein. Der Gedanke ängstigte Mattie weit mehr, als es die Furcht vor der eigenen Zukunft tat. Sie lächelte Violet noch einmal zu und schloss die Tür hinter ihr.

Als sie allein war, ließ sie ihren Blick erneut durch das Zimmer streifen. Ob es einst ihrer Mutter gehört hatte? Mattie stellte sich vor, wie sie am Fenster gesessen hatte, ein Buch in den Händen, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, so, wie sie es immer getan hatte, wenn sie ihr als kleines Kind vorgelesen hatte. Mattie schritt zum Fenster und sah hinaus. Von hier aus hatte sie einen guten Blick in den Garten und da, am Rande ihres Blickfeldes, sah sie Pferde grasen. Zum ersten Mal fand ein echtes Lächeln seinen Weg auf ihre Lippen. Sie liebte es, zu reiten. Es war die einzige Verbindung ihrer Mutter zu ihrem Leben hier auf Fynan Hall gewesen, von der sich diese nicht hatte trennen können. Auch in London war sie geritten und hatte es ebenfalls ihren Töchtern beibringen lassen. Während Violet nur mit Mühe ihre Angst vor den großen Tieren hatte ablegen können, hatte Mattie die Leidenschaft ihrer Mutter stets geteilt.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie ihren Blick von den grasenden Pferden mit einem Seufzen abwenden. Noch während sie zur Tür schritt, schüttelte sie den Kopf.

»Violet, ich habe dir doch gesagt … oh.« Nate stand vor ihr, ihren Koffer in der Hand und zog hastig seine Mütze vom Kopf.

»Verzeihung, Miss Cadderly, ich musste noch beim Ausspannen der Pferde helfen, ehe ich Ihr Gepäck hereinbringen konnte.«

Hastig machte Mattie ihm Platz, damit er eintreten und ihren Koffer abstellen konnte.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Mattie nickte nur stumm, als Nate mit Violets Koffer aus ihrem Zimmer ging. Nicht einmal ein Danke war ihr über die Lippen gekommen und sie schalt sich eine Närrin, dass sie sich so benahm. Beim nächsten Mal würde sie es wiedergutmachen, schwor sie sich, während sie ihren Koffer öffnete, um sich umzuziehen.

Wie sie es versprochen hatte, holte Sarah sie eine halbe Stunde später in Violets Zimmer ab und zeigte ihnen den Weg in den Salon.

»Ich dachte, wir sollten ins Esszimmer gehen?«, fragte Mattie, bevor Sarah anklopfen konnte.

»Lady Sudgrove hat Besuch bekommen, der Sie beide begrüßen möchte. Lord und Lady Darline. Sie sind entfernte Bekannte Ihrer Familie und leben am anderen Ende Byhollows auf Glassford Manor.« Als Sarah anklopfte, drang Lady Sudgroves Stimme zu ihnen heraus, die sie bat, einzutreten. Sarah öffnete die Tür und knickste. Als Mattie und Violet den Salon betreten hatten, hörten sie, wie die Tür hinter ihnen geschlossen wurde.

Sofort ergriff Violet wieder Matties Hand. Lady Sudgrove musterte ihre Nichten, als habe sie sie nicht erst vor weniger als einer Stunde gesehen und ihre Lippen bildeten diese dünne Linie, von der Mattie glaubte, dass sie ihrer Tante im Laufe ihres Lebens in Leib und Seele übergegangen war.

»Matilda, Violet, ich möchte euch Lord und Lady Darline vorstellen.«

Die Schwestern knicksten vor dem älteren Ehepaar, das sie freundlich anlächelte. Mattie hörte, wie Violet leise ausatmete.

»Sie sehen Sophie so ähnlich, nicht wahr, Charles?«

»In der Tat, Maria, in der Tat.« Lord Darline, ein großgewachsener Mann mit schütterem Haar, tätschelte seiner Frau die Hand, die diese beim Anblick der beiden Mädchen auf seinen Arm gelegt hatte.

»Sie kannten unsere Mama?«, platzte es aus Violet heraus. Sie bemerkte nicht einmal Lady Sudgroves tadelnden Blick.

»Oh, aber natürlich«, versicherte Lady Darline, die sich an den beiden scheinbar nicht sattsehen konnte. »Wirklich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Haar ist ein wenig roter, aber die Augen … der gleiche Blauton. Ganz genau wie Sophie. Nicht wahr, Eliza?«

Lady Sudgrove presste ihre Lippen noch stärker aufeinander und Mattie senkte hastig den Blick, um die Stimmung ihrer Tante nicht noch mehr zu verschlechtern.

»Mag schon sein.«

»Oh, aber Eliza, sieh sie dir doch an.« Lady Darline erhob sich, für eine Dame ihres Alters erstaunlich schnell, wie Mattie fand, und kam auf die beiden zu. Sie ergriff Matties Kinn und sah ihr in die Augen. Die alte Dame lächelte über das ganze Gesicht und die grünen Augen funkelten voller Freude.

»Du bist Matilda, nicht wahr? Ja, ganz deine Mutter. Reitest du auch? Sophie war ein solcher Pferdenarr. Weißt du noch Charles? Sie kam jeden Tag zu uns nach Glassford Manor geritten, um uns zu besuchen.«

Aus den Augenwinkeln sah Mattie, dass Lord Darline nickte, während er seine Frau amüsiert beobachtete.

»Und du, Violet, richtig, ich wage fast zu sagen, sie hat auch große Ähnlichkeit mit Fanny, denkt ihr nicht? Das hellere Haar und dieser Ausdruck, als habe man Fanny wieder vor Augen.«

»Ich denke, wir sollten die beiden nicht mit alten Geschichten langweilen«, unterbrach Lady Sudgrove Lady Darline. Mattie hatte das Gefühl, dass die Stimme ihrer Tante die Temperatur im Zimmer deutlich abgekühlt hatte, doch Lady Darline schien davon nichts zu bemerken.

»Ihr beiden müsst uns unbedingt besuchen kommen, nicht wahr, Charles?« Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu und strahlte, als dieser ihr zustimmte.

»Eliza, was sagst du, wirst du uns deine beiden Engel ab und zu vorbeischicken, um uns alte Leute aufzuheitern.«

»Ich denke, das lässt sich einrichten.«

»Sie könnten morgen zum Tee kommen.«

»Wir werden sehen.« Lady Sudgroves Gesicht zeigte keinerlei Regung. Mattie fragte sich, wie Lady Darline in ihrer Anwesenheit so freundlich bleiben konnte. Sie tätschelte Violets Wange und strich Mattie über den Arm, bevor sie und ihr Mann sich von Lady Sudgrove verabschiedeten. Als die beiden gegangen waren, ergriff eine unangenehme Stille den Salon. Nur das Ticken der großen Standuhr war zu hören. Mattie blickte hoffnungsvoll zur Tür, als es klopfte. Weldon erschien und kündigte an, dass das Essen nun serviert werden könne.

Während des Abendessens konnte Mattie ein Frösteln nicht unterdrücken. Ihre Tante sprach kaum ein Wort mit ihnen, während sie am Kopfende des Tisches saß. Dafür fühlte Mattie ihren Blick immer wieder auf sich ruhen und bemühte sich dann, aufrechter zu sitzen, als sie es ohnehin schon tat.

»Iss nicht so hastig, Kind«, rügte Lady Sudgrove Violet, als sich diese verschluckte.

»Entschuldigung, Tante … Lady Sudgrove.« Violet blickte unsicher zu Mattie. Sie hatten sich am Abend zuvor noch darüber unterhalten, wie sie ihre Tante ansprechen sollten und Mattie war schließlich zu dem Entschluss gekommen, dass es am besten war, sie mit ihrem Titel anzureden.

»Ich denke, Tante Eliza ist angemessen. Was sollen denn die Leute denken, wenn ihr mich wie Dienstboten ansprecht. Habt ihr verstanden?«

»Ja, Tante Eliza«, sagten Mattie und Violet wie aus einem Mund. Damit war die Unterhaltung bei Tisch auch schon beendet. Violet bemühte sich, langsamer zu essen und schaute immer wieder zu Mattie, um sich zu vergewissern, dass sie alles richtig machte.

Bevor sie sich zurückzog, wandte sich Eliza noch einmal an die beiden Mädchen. »Ihr werdet also morgen die Darlines zum Tee besuchen. Ich muss euch ja nicht daran erinnern, euch zu benehmen, hoffe ich. Morgen wird auch Violets Lehrer eintreffen, der übermorgen mit dem Unterricht beginnen wird. Mit dir, Matilda, wird er sich auch unterhalten, um festzustellen, ob du ebenfalls weiteren Unterricht benötigst, oder ob wir deine Ausbildung als abgeschlossen betrachten können. Ich weiß, dass es eine Umstellung für euch ist, hier zu wohnen und euch entsprechend zu benehmen, aber da ihr die letzten Nachkommen der Familie seid, wird eine von euch nach meinem Tod dieses Anwesen erben. Ihr solltet euch also stets bewusst sein, dass ihr die Familie Sudgrove repräsentiert und euch dementsprechend benehmen. Gute Nacht.«

Mattie und Violet blieben noch einen Moment am Tisch sitzen und sahen auf die Tür, die ihre Tante hinter sich geschlossen hatte.

»Heißt das, wir müssen jetzt auch den Rest unseres Lebens Schwarz tragen und so bitter dreinblicken?«, fragte Violet, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

»Psst«, warnte Mattie sie und legte den Finger an die Lippen. Ängstlich blickte sie zur Tür in der Erwartung, ihre Tante könne sie gehört haben. Doch alles blieb still.

»Lass uns nach oben gehen.« Mattie stand auf und wartete darauf, dass Violet ihr folgte, dann gingen sie gemeinsam zu ihren Zimmern.

Nachdem sie Violet eine gute Nacht gewünscht hatte, zog sich Mattie um. Sie hatte erwartet, dass die lange Reise und die ersten Eindrücke ihres neuen Heims sie ermüden würden, aber sie war viel zu aufgewühlt, um zu schlafen. So zündete sie eine Kerze an und setzte sich an den Schreibtisch, um noch etwas zu lesen. Sie schlang sich den Wollschal ihrer Mutter um die Schultern, der sie vor der nächtlichen Kälte schützen sollte, und vertiefte sich in ihre Lektüre. Während sie den Abenteuern ihrer Romanheldin in einem alten, von Geistern heimgesuchten, Schloss folgte, wurde sie des Öfteren durch knarzende Dielen oder das Pfeifen des Windes aufgeschreckt und musste sich daran erinnern, dass all diese Geräusche einen natürlichen Ursprung hatten. Als sie jedoch Schritte auf dem Flur hörte und sah, wie sich der Knauf ihrer Zimmertür drehte, spürte sie, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie zog den Wollschal fester um ihre Schultern und wagte es kaum zu atmen, als die Tür langsam aufgestoßen wurde.

»Kann ich heute Nacht bei dir bleiben? Ich finde es unheimlich, allein zu schlafen.«

Mattie schloss für einen Moment die Augen und atmete erleichtert aus. Für heute hatte sie eindeutig genug gelesen. Sie schlug ihr Buch zu und nahm die Kerze mit zum Bett.

»Natürlich«, sagte sie zu Violet und winkte ihre Schwester zu sich. Violet brauchte keine weitere Einladung. Sie schloss die Tür hinter sich und flüchtete sich in Matties Bett.

»Es ist gruselig hier, findest du nicht? All diese Geräusche. Überall knarrt und knackst es und ich habe Stimmen gehört.«

»Das war der Wind«, erklärte Mattie ihr, während sie die Bettdecke zurückschlug und ebenfalls ins Bett stieg. Sie blies die Kerze aus und legte sich hin. Violet drehte sich zu ihr um, das Mondlicht schien durch einen Spalt der Vorhänge und schenkte ihnen genug Licht, um ein wenig sehen zu können.

»Der Wind hustet aber nicht«, widersprach Violet und zog die Decke bis über ihre Schultern hoch.

»Versuch jetzt zu schlafen.«

»Ich wünschte, wir könnten bei Lord und Lady Darline leben. Die sind nett, findest du nicht? Ganz anders als Tante Eliza.« Plötzlich setzte sich Violet im Bett auf und zog hörbar die Luft ein. »Glaubst du, sie wird uns töten?«

»Was redest du denn da?«

»Ich habe davon gelesen. Zwei Waisenkinder kamen zu einer entfernten Verwandten. Diese benahm sich ihnen gegenüber sehr nett und freundlich, aber in Wahrheit hat sie sie vergiftet, um ihr Erbe einzustreichen.«

Mattie gähnte. »Dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen.«

»Aber Mattie, was, wenn …«

»Violet, uns wird nichts passieren. Das verspreche ich dir. Wir sind hier sicher. Niemand will uns töten, es gibt hier keine Geister und auch sonst gibt es hier nichts, was in irgendeiner Weise übernatürlich wäre. Jetzt schlaf. Gute Nacht.«

Widerstrebend kroch Violet wieder unter die Decke und wünschte ihrer Schwester eine gute Nacht. Während das regelmäßige Atmen ihr bald verriet, dass Violet eingeschlafen war, lag Mattie noch lange wach. Waren das wieder Schritte auf dem Flur? Sie hielt den Atem an und lauschte. Wartete. Waren das Stimmen? Sie kniff die Augen zusammen, als sie erneut Schritte hörte, dieses Mal war sie sich sicher. Ihr Herz schlug laut in ihrer Brust, während sie versuchte, herauszuhören, wo sie sich hinbewegten. Sie glaubte, ein Rasseln zu vernehmen, doch sie konnte sich auch täuschen. Sicher gab es hier keine Geister, die mit ihren Ketten rasselten. Sie würde sich nicht von Violets Fantasie anstecken lassen. In Fynan Hall gab es nichts Außergewöhnliches. Über diesen Gedanken schlief sie schließlich ein.

 

 

 

 

 

Im Licht des neuen Tages erschienen Mattie ihre nächtlichen Gedanken noch unwirklicher. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, als sie sich wusch und anzog. Noch einmal würde sie ihrer Fantasie nicht solch freien Lauf lassen, dass sie sich von ihren Büchern oder Violet anstecken lassen würde.

Das Frühstück verlief ebenso schweigsam, wie es das Abendessen getan hatte. Die einzigen Worte, die ihre Tante sprach, waren an Weldon gerichtet, als dieser die Zeitung und die Morgenpost hereinbrachte. Den Rest des Vormittags waren die Schwestern sich selbst überlassen. Sarah erbot sich, den beiden das Haus zu zeigen. Violet beharrte darauf, zu wissen, wo ihre Tante ihre Zimmer hatte, um diesen möglichst aus dem Weg gehen zu können. Nachdem Sarah diesem Wunsch nachgekommen war, zeigte sie ihnen das Erdgeschoss.

»Den Salon und das Esszimmer kennen Sie ja bereits. Ich zeige Ihnen noch das Musikzimmer und die Bibliothek. Diese beiden Räume sollen aber nur nach Absprache mit Lady Sudgrove betreten werden.« Als sie die fragenden Blicke der Schwestern sah, erklärte sie: »Ihre Ladyschaft empfindet Musik als störend, ich habe aber gehört, sie erachtet sie als nötiges Übel für Ihrer beider Ausbildung. Und in der Bibliothek hält sie sich meist selbst auf und möchte nicht gestört werden.« Als Violet einen neugierigen Schritt in die Bibliothek hinein machen wollte, hielt Mattie sie zurück und warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Was ist das da hinten für eine Tür?«, fragte Violet und deutete auf eine Tür am anderen Ende des Raums, die sehr alt aussah.

»Ich weiß nur, dass sie verschlossen ist. Was sich dahinter verbirgt, kann aber nur Lady Sudgrove sagen. Wir sollen noch nicht einmal dort drinnen saubermachen.«

»Ich wette, sie versteckt etwas darin. Vielleicht eine Leiche.« Violet sah um Bestätigung heischend zu Mattie hoch.

Sarah schmunzelte, schwieg aber, wofür Mattie ihr sehr dankbar war.

»Ich erwarte heute Abend einen Gast zum Essen, ihr werdet also pünktlich nach Hause kommen und die Gastfreundschaft der Darlines nicht überstrapazieren«, ermahnte Eliza ihre Nichten, als sich diese auf den Weg zu ihrer Einladung zum Tee machten.

Erst, als sie in der Kutsche saßen, bemerkte Mattie, dass sich ihre Schultern entspannten, nun, da sie nicht länger in der Anwesenheit ihrer Tante waren. Rufus fuhr mit ihnen die längere Strecke, an Byhollow vorbei, statt mitten durch den Ort hindurch. »Muss ja keiner die beiden jungen Damen wie Zirkusattraktionen begaffen«, gab er als Erklärung mit einem Grinsen an.

Auf Glassford Manor wurden sie bereits erwartet. Lady Darline erhob sich von ihrem Platz und kam auf die beiden Mädchen zu, kaum dass ihr Butler sie in den Salon geführt hatte. Sie ergriff Matties Hände und drückte sie, ehe sie das Gleiche mit Violets tat.

»Oh, es ist so schön, euch hier zu sehen. Ganz so, als wäre eure Mutter wieder ein junges Mädchen. Nicht wahr, Charles?«

»Ja, meine Liebe«, erwiderte Lord Darline und unterdrückte ein Schmunzeln.

»Oh, bitte, setzt euch doch, setzt euch.« Lady Darline führte ihre Gäste zum Sofa und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich neben Mattie und ergriff gleich wieder deren Hand. »Wirklich, du bist das Ebenbild deiner Mutter.«

»Wir möchten Ihnen sehr für die Einladung danken, Lady Darline, Lord Darline.«

»Bitte, nicht so förmlich.« Lady Darline drückte ihre Hand und lächelte Mattie an. »Wir werden uns von Sophies Töchtern doch nicht anreden lassen, als wären wir Fremde. Für eure Mutter waren wir Tante Maria und Onkel Charles und das möchten wir auch für euch sein. Und bitte, greift zu. Jane hat heute Morgen frische Scones und Zitronentörtchen gebacken.«

Violet grinste und ließ sich nicht zweimal auffordern, sondern griff beherzt zu den Scones und biss hinein, während Mattie noch versuchte, ihr einen warnenden Blick zuzuwerfen, der ihre Schwester daran erinnern sollte, sich zu benehmen.

Wenn auch Violet den Bemühungen ihrer Schwester gegenüber blind war, ihrem Gastgeber entgingen sie nicht und Charles Darline lachte so laut, dass beide Mädchen ihn erschrocken ansehen.

»Du hattest Recht, Maria, sie ist ihrer Tante wirklich sehr ähnlich.«

Während seine Frau diese Feststellung mit einem warmherzigen Lächeln erwiderte, verzog Violet das Gesicht. »Ich habe so gar nichts mit Tante Eliza gemein.«

»Oh, er redet nicht von Eliza, meine Liebe. Er redet von eurer Tante Fanny.« Maria hob den Teller mit den Zitronentörtchen vom Tisch und bot Mattie eines an. Diese bedankte sich höflich und griff nach einem der kleinen Gebäckstücke.

»Tante Fanny?«, fragte sie dabei. Sie hatte diesen Namen noch nie gehört, dessen war sie sich sicher. Sie bemerkte den Blick, den ihre Gastgeber austauschten, und hätte ihre Frage am liebsten zurückgenommen, doch ihre Neugierde war nun geweckt, und wenn dies einmal der Fall war, konnte selbst Mattie die Formen des Anstands einmal vergessen.

»Mama hat uns nie von einer anderen Tante erzählt«, fuhr sie fort, in der Hoffnung, jemand würde ihr mehr erzählen. Maria seufzte und ihr Lächeln verflog. Jetzt tat es Mattie beinahe leid, mehr erfahren zu wollen. Sie kannte Lady Darline zwar noch nicht, aber die Fröhlichkeit und Herzensgüte dieser Frau konnte man in wenigen Momenten erkennen und sie bedauerte es, diese zu trüben. Sie hoffte, die Schuldgefühle mit einem Bissen des Törtchens herunterschlucken zu können und stellte fest, dass die Zitronentörtchen wirklich hervorragend schmeckten.

»Ich nehme an, es schmerzte sie zu sehr, über sie zu reden. Fanny war einige Jahre älter als eure Mutter. Die beiden standen sich nahe. Sie waren sich vom Wesen her recht ähnlich.«

»Was ist passiert?«, fragte Violet leise, ein klares Zeichen, dass auch ihre Schwester von der Neugier angesteckt worden war.

»Das weiß keiner so genau.«

Mattie, die gerade ein zweites Stück ihres Zitronentörtchens abgebissen hatte, ließ ihre Hand sinken und vergaß beinahe zu kauen, während Lord Darline sich räusperte.

»Aber es ist wahr«, verteidigte sich seine Frau ihm gegenüber und reckte dabei leicht das Kinn. Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder an ihre Gäste.

»Man soll einen Abschiedsbrief in ihrem Namen gefunden haben. Sie soll sich das Leben genommen haben. Aber das glaube ich nicht. Ich kann und will es einfach nicht glauben.« Als sie dem Blick ihres Mannes begegnete, seufzte sie und zwang erneut ein Lächeln auf ihre Lippen. »Aber das ist kein Thema für einen so schönen Tag, an dem wir so netten Besuch haben.«

Violet nutzte die Gelegenheit, um nach ihrem verzehrten Scone noch ein Zitronentörtchen zu ergattern, während Mattie darüber nachdachte, was Maria ihnen gerade erzählt hatte. Weshalb hatte sie nie von einer Tante Fanny gehört? Hatte sie sich tatsächlich das Leben genommen? Weshalb? Was konnte sie so sehr an den Rand der Verzweiflung getrieben haben? Sie dachte an die nächtlichen Geräusche und ihre eigene Versicherung, dass es keine Geister gab. Tante Fannys Geist spukt nicht in Fynan Hall!, schalt sie sich und versuchte, sich erneut auf die Unterhaltung mit den Darlines zu konzentrieren. Doch auf dem Rückweg nach Hause musste sie immer wieder an ihre geheimgehaltene Tante denken. Ob Tante Eliza ihnen mehr über sie erzählen würde?

»Das ist auf keinen Fall ein Thema, das beim Abendessen besprochen werden sollte«, teilte Tante Eliza Violet eisig mit, als diese von Tante Elizas Gast über ihre Fahrt von London nach Byhollow gefragt wurde.

»Die Toten sollten in Frieden ruhen.«

»Aber ich wollte doch nur …« Violet verstummte, als Elizas Augen sich verengten.

»Meine liebe Freundin, seien Sie nicht so streng mit Ihren Nichten. Es sind junge Mädchen, die nicht in den richtigen Kreisen erzogen wurden, sie werden noch viel lernen müssen, sich aber gewiss die größte Mühe geben, nicht wahr?« Lord Octavius Holding, Tante Elizas Gast und ein enger Freund der Familie, wie den Mädchen erzählt worden war, lächelte Violet aufmunternd zu, doch diese sah ihn nur mit großen Augen an. Als sie nach der Gabel griff, um ihr Essen fortzusetzen, zitterte ihre Hand kaum merklich, doch Mattie bemerkte es. Ihr entging auch das Zittern in Violets Unterlippe nicht.

»Die Reise war den Umständen entsprechend angenehm, Lord Holding«, gab sie hastig eine Antwort, um die Aufmerksamkeit von Violet wegzulenken. Ihre Schwester war den Tränen nahe und Mattie hätte sie gern in den Arm genommen, um sie zu trösten, doch sie ahnte, dass ihre Tante dies nicht dulden würde. Weder am Esstisch, noch sonst. Zumindest wusste sie nun, dass es keinen Sinn machen würde, sie nach Tante Fanny zu fragen. Den Rest des Abendessens über schwiegen Mattie und Violet und hingen ihren Gedanken nach, während sich ihre Tante und Lord Holding lebhaft unterhielten. Einmal wurde Mattie gar durch ein Lachen ihrer Tante aus ihren Gedanken gerissen. Für einige Augenblicke folgte sie der Unterhaltung der Erwachsenen und beobachtete die beiden. Lord Holding, einem Mann mittleren Alters, der sich – wie Mrs Hanson zu sagen pflegte gut gehalten hatte, schaffte es tatsächlich, dass ein ständig vorhandenes Lächeln an den sonst so strengen Mundwinkeln ihrer Tante haftete.

---ENDE DER LESEPROBE---