Der Ritter und die Bastardtochter - Annika Dick - E-Book
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Der Ritter und die Bastardtochter E-Book

Annika Dick

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Beschreibung

"Brenne, du Hexe!" Mit Todesverachtung steht Rayne auf dem glimmenden Holzhaufen, der ihr Schicksal bedeutet. Die Menge schreit nach ihrer Hinrichtung. Gleich lodern die Flammen hoch, fressen sich in ihre zarte Haut - da kämpft sich ein fremder Krieger vor, zerschlägt ihre Fesseln und reitet mit ihr davon. Nur zu welchem Preis? Rayne spürt seinen finsteren Blick auf ihrer Haut. Nicholas Kendall, der Earl of Ravenglass, weiß genau, wie sie ihm die Freiheit vergelten kann. Er zwingt sie, seinen Bruder zu heilen! Wütend folgt sie ihm auf seine Burg - doch eines schwört sie sich: dem Ritter zu zeigen, wie widerspenstig "Hexen" wirklich sind …

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Seitenzahl: 326

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IMPRESSUM

REIHE erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2014 by books2read in der Harlequin Enterprises GmbH Deutschland, Hamburg erschienen bei: books2read

Erste Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg, in der Reihe: HISTORICAL SPECIAL, Band 57 – 2016

Abbildungen: The Killion Group / Hot Damn Designs, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733763503

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

Rayne spuckte Blut aus. Ihr Blick folgte dem roten Tropfen auf dem Holzscheit zu ihren Füßen. Die Menge um sie herum schrie und geiferte. Sie konnten es kaum erwarten, sie brennen zu sehen.

Doch Rayne ignorierte ihre Worte. Womit sie den Hass der Leute verdient hatte, wusste sie nicht. Vorsichtig schaute sie auf und blickte über die Köpfe der Dorfbewohner zu den Ehrengästen, die auf einem kleinen Podium platziert waren. Sie konnte die Gesichter von ihrer Position aus kaum erkennen, doch sie ahnte, mit welcher Freude der Mann auf der linken Seite zu ihr herübersah. Womit sie seinen Hass verdiente, wusste sie erst recht nicht. Ihr Leben lang hatte sie sich von ihnen ferngehalten. Es war eine einfache Lektion gewesen, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte: Halte dich von der Burg fern und von allen, die darin leben. Rayne hatte sie stets befolgt und doch schien es nicht genug gewesen zu sein. Erinnere ich dich so sehr an die Vergehen deines Vaters, dass du mich hasst?, fragte sie sich, während ihr Blick auf dem Mann haften blieb. Nein, das konnte sie sich kaum vorstellen. Nach dem, was sie über Henry Bewley gehört hatte, stand er seinem Vater an Grausamkeit in nichts nach. Es war gut, dass er nicht auf Ravenglass thronte. Nicht dass es ihr jetzt noch helfen würde, aber es war ein kleiner Trost. Selbst ihr Tod würde nichts daran ändern, dass ihm die Königin sein Erbe für immer genommen hatte.

Ihre Beine schmerzten. Man hatte ihre Hände so weit über ihrem Kopf festgebunden, dass sie auf ihren Zehen stehen musste. Ihre Arme spürte sie seit einigen Minuten schon nicht mehr. Bald würde sie gar nichts mehr spüren. All die Schmerzen, die man ihr in der letzten Woche beigebracht hatte, um von ihr das Geständnis zu erpressen, dass sie eine Hexe war, würden vergangen sein. Doch vorher würde sie noch unerträglichere Schmerzen erleiden müssen.

Rayne hatte immer Respekt vor dem Feuer gehabt. Nun fürchtete sie es. Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, wie Männer Fackeln entzündeten. Für einen Moment verstummten die Stimmen der anderen Menschen. Oder war nur das Rauschen in ihren Ohren zu laut? Ein rauchiges Wimmern drang an ihr Ohr, und Rayne brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es ihre eigene Stimme war.

Seit zwei Tagen hatte man ihr Wasser verweigert. Seitdem feststand, dass sie brennen würde. Sie hatte sich nicht schuldig bekannt. Hexen gab es nicht. Es war nur ein Begriff, mit dem die Dorfbewohner diejenigen benannten, die sie aus dem Weg schaffen wollten. Doch vor zwei Tagen hatte sie die Kraft verloren, sich zu verteidigen. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Die Peitschenhiebe auf ihrem Rücken, die Folterungen und Schläge, der Verzicht auf Nahrung, auf Licht und Bewegung, das alles hatte seinen Tribut gefordert. Dass es in dem Augenblick geschah, als der Priester ihre Zelle betrat, wurde ihr als Schuldanerkenntnis ausgelegt. Zum Glück musste ihre Mutter sie jetzt nicht sehen.

„Sofort aufhören!“ Eine neue Stimme übertönte das Rauschen, das sich in ihrem Kopf ausgebreitet hatte. Erde flog auf, als zwei schwarze Pferde auf den Marktplatz trabten. Schweigen legte sich über die Menge, und dieses Mal war sich Rayne sicher, dass es nicht an ihrem Gehör lag. Nach einem Moment der Verwirrung erhob sich ein unverständliches Gemurmel unter den Umstehenden, doch sie machten den beiden Reitern Platz. Rayne versuchte, einen Blick auf das Podium zu werfen. War dies Teil des Spektakels? War eine Hexenverbrennung schon zu gewöhnlich geworden?

Offensichtlich nicht, denn die beiden Männer auf dem Podium gestikulierten wild und scheinbar aufgebracht mit den Männern, die die Fackeln hielten. Aufhören wollten sie auf keinen Fall. Doch keiner wagte, die Fackeln auf den Scheiterhaufen zu werfen.

„Allmächtiger.“ Eine Frau bekreuzigte sich und machte einen weiteren Schritt zurück, als einer der Reiter sein Pferd bis an den Scheiterhaufen heranführte. Rayne musste ihr widersprechen. Wenn noch irgendjemand in diesem Dorf an ihre Unschuld geglaubt hatte, so war dieser Gedanke verflogen. Denn der Mann, der vor ihnen auf seinem Rappen saß, musste der Leibhaftige sein.

Nicholas fluchte und trieb sein Pferd noch einmal an, als er die Rufe der Menschen schon von Weitem hörte. Er sah sich nicht um, um zu sehen, ob Niall hinter ihm war. Er hatte keine Zeit zu verlieren.

Als er die Dorfmitte erreichte, stieß er einen noch derberen Fluch aus. Er war beinahe zu spät. Sie hatten die Frau, nach der er seit zwei Tagen gesucht hatte, bereits auf dem Scheiterhaufen festgebunden und waren dabei, diesen zu entzünden.

„Sofort aufhören!“, schrie er über das Kreischen der Menge hinweg, die nach dem Tod des Mädchens gierte. Das Schweigen, das ihm augenblicklich entgegenschlug, nahm er mit grimmiger Genugtuung zur Kenntnis. Elende Narren. Man hätte jeden von ihnen in den Krieg gegen die Spanier schicken sollen, dann wäre ihr Blutdurst vielleicht gestillt.

Nicholas lenkte sein Pferd durch die Menge, die bereitwillig vor ihm Platz machte, und ritt näher an den Scheiterhaufen heran.

„Allmächtiger.“ Das Wort drang an sein Ohr und ließ ihn nur verächtlich schnauben. Wenn diese Person tatsächlich an ihn glaubte, sollte sie nicht in der ersten Reihe bei einem solchen abergläubischen Spektakel stehen. Nicholas schwang sein rechtes Bein über den Kopf seines Pferdes und war mit einem Satz aus dem Sattel auf den Scheiterhaufen gesprungen.

„Ihr seid Rayne?“, fragte er die junge Frau, die ihn aus grünen Augen ängstlich ansah. Zögernd bestätigte sie die Frage mit einem leichten Nicken. Nach den Spuren von Schlägen in ihrem Gesicht zu deuten, war das wohl die einzige Art, auf die sie ihm im Moment antworten konnte. Nicholas stieß den Atem aus und zog sein Schwert, um die dicken Seile, die ihre Hände hielten, durchzuschlagen. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick des blanken Stahls, und Nicholas unterdrückte einen weiteren Fluch. Sie jetzt anzuschreien, dass er sie nicht umbringen wollte, hätte ohnehin keinen Zweck. Als sie entkräftet zusammenbrach, nachdem die losen Fesseln sie nicht länger hielten, fing er sie auf und trug sie zu seinem Pferd. Niall hatte zu ihm aufgeschlossen und hielt Nicholas’ Pferd an den Zügeln, worauf dieser mit der angeblichen Hexe in den Armen aufsaß. Ein Blick in ihr Gesicht sagte Nicholas, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Nicht, dass er es ihr verdenken konnte. Er lenkte sein Pferd durch die Menge und wollte nur noch aus diesem Dorf verschwinden. Doch ein Mann stellte sich ihm in den Weg, der zumindest der Kleidung nach nicht zu diesen Dorfbewohnern gehörte.

„Was erlaubt Ihr Euch? Diese Frau ist der Hexerei für schuldig befunden worden und zum Tode verurteilt. Wer glaubt Ihr, seid Ihr, dass Ihr gegen dieses Urteil verstoßen dürft?“ Der Mann reckte sein Kinn und griff nach den Zügeln von Nicholas’ʼ Pferd.

Nicholas zog abschätzig die Oberlippe ein Stück nach oben und sah zu dem blonden Mann herab. „War es ein Urteil des Königs?“

Er kannte die Antwort bereits. James war ein Freund der Hexenprozesse, aber momentan hatte er andere Sorgen, als selbst das Urteil über eine einfache Frau zu sprechen.

„Nun, nein, aber …“, setzte der Mann zu seinen Füßen an, doch Nicholas hatte genug gehört.

„Dann nehme ich mir das Recht heraus, diese Narretei zu beenden“, stieß er hervor und entriss dem Mann die Zügel.

„Wer glaubt Ihr, dass Ihr seid?“, fragte dieser und zitterte fast vor Wut.

„Der Earl of Ravenglass, und Ihr tut gut daran, auf meinen Ländereien keine weiteren Hexenverbrennungen mehr durchzuführen.“ Mit diesen Worten ließ er den Mann endgültig stehen und galoppierte aus dem Dorf. Dieser Unsinn hatte ihn bereits genug gekostet. Er wusste nicht, wie viel Zeit Jacob noch blieb, und diese Hexenjagd hatte ihm bereits zwei wertvolle Tage gestohlen.

Niall schloss zu ihm auf, und die beiden trieben ihre Pferde an. Schweigend ritten sie nebeneinanderher, bis Ravenglass bereits gut erkennbar vor ihnen lag.

„Nicholas, halt an!“, rief Niall ihm zu.

Nicholas sah fragend zu seinem Freund. Was um alles in der Welt sollte ihn zum Anhalten bringen?

„Halt schon an“, wiederholte der Schotte und zügelte seinen Rappen. Nicholas tat es ihm schließlich gleich und wandte sich ihm zu.

„Ist dein Pferd verletzt? Gibt es ein Problem? Wir müssen uns beeilen.“

Auf Nicholas’ Worte hin schüttelte Niall nur den Kopf und deutete auf das noch immer bewusstlose Bündel Mensch in den Armen des Earls. „Willst du so mit ihr in die Burg stürmen?“ Niall zog die Brauen hoch. Offenbar wartete er darauf, dass Nicholas seinem Blick folgte.

Mit gerunzelter Stirn sah der Earl auf die Frau vor sich. Das Hemd, das man ihr angezogen hatte, war wohl einmal weiß gewesen. Nun jedoch war es braun vor Dreck und getrocknetem Blut. Es reichte gerade einmal bis unter ihre Knie und zeigte ihre Beine, die ebenfalls verdreckt waren. Nicholas presste die Lippen aufeinander, als sein Blick auf ihr Gesicht fiel. Ihre rechte Wange wies einen leichten Grünton auf, der von einer verheilenden Misshandlung zu rühren schien. Ihre Lippe war ebenfalls verletzt. Er konnte die Farbe ihres Haars nicht benennen, gerade wirkte es wie ein stumpfes Braun. Doch auch hieran konnte er deutlich erkennen, in welcher Umgebung sie auf ihre Verurteilung gewartet hatte.

„Sie braucht ein Bad“, wies Niall ihn auf das Offensichtliche hin. „Und neue Kleidung.“

Nicholas hob langsam den Kopf und sah Niall an, als habe dieser den Verstand verloren, ehe er mit der linken Hand um sich zeigte.

„Natürlich, sagst du mir, welches der vielen Gasthäuser wir aufsuchen und welchen Schneider wir mit der sofortigen Herstellung eines Kleides beauftragen sollen?“ Nicholas schüttelte den Kopf und schaute auf die Burg, die sich vor ihnen erhob. Dann fiel sein Blick wieder auf die Frau, die er vor einer Stunde vor dem Tod bewahrt hatte. Niall hatte recht, so ungern er dies auch zugab. Nicholas fluchte leise, als der Schotte sein Pferd langsam an ihm vorbeilenkte.

„Sie dürfte so groß wie deine Schwester sein, sicher wird sie ein altes Kleid von sich erübrigen können, und du suchst in der Zwischenzeit nach einem Bach oder einem See oder irgendeiner Wasserquelle, an der sie sich waschen kann.“

Niall wollte schon losreiten, als Nicholas ihm noch zurief, seit wann er die Befehle gab.

„Seitdem ich den klareren Verstand habe. Und nun kümmere dich um sie. Tot kann sie nämlich deinem Bruder auch nicht mehr helfen.“ Sofort trieb Niall sein Pferd wieder in den Galopp.

Nicholas sah ihm einen Moment lang kopfschüttelnd nach, ehe er dem Rat folgte und sein Pferd wendete, um nach einer geschützten Wasserstelle zu suchen.

Das Plätschern von Wasser in ihrer Nähe war das erste Geräusch, das Rayne vernahm. Zaghaft wagte sie es, die Lider zu öffnen. Warme Sonnenstrahlen schienen hier und da durch die Blätter der Baumkronen bis zu ihr herab. Für einen Moment blieb sie einfach liegen und blinzelte in das grüne Dach des Waldes über sich. Hatte sie geträumt?

„Wie geht es Euch?“

Als sie die Stimme hörte, weiteten sich ihre Augen. Hastig setzte sie sich auf und starrte zu dem Unbekannten hinüber. Das bereute sie im nächsten Augenblick, als eine heftige Welle des Schmerzes durch ihren Körper zog. Doch ohne zu wissen, wer dieser Fremde war und was er von ihr wollte, war sie nicht bereit, eine Schwäche zu offenbaren. Er saß mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und beobachtete sie.

Er zog die Brauen hoch, als Rayne ihn schweigend ansah. Auf dem Scheiterhaufen hatte sie ihn für den Leibhaftigen gehalten, erinnerte sie sich. So abwegig erschien ihr der Vergleich noch immer nicht. Es waren seine Augen, entschied sie. Sie waren grau, aber dabei so hell, dass sie fast blind wirkten. Eine Narbe verlief über seine linke Schläfe und Wange, ließ das Auge jedoch unversehrt. Als er das Schwert gezogen hatte, dachte sie, er würde sie töten und ihre Seele mit in die Hölle nehmen. Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.

„Wo sind wir?“, brachte sie krächzend hervor und suchte mit den Händen nach etwas, um sich im Notfall verteidigen zu können. Als sie die rechte Hand um einen Stein schloss, folgte sein Blick ihrer Bewegung und er runzelte die Stirn.

„In einem Wald in der Nähe von Ravenglass“, erwiderte er ruhig und deutete dann in Richtung des Steins. „Wenn ich Euch töten wollte, hätte ich Euch in Greystone gelassen.“

Rayne sah ihn nur schweigend an, ihre Hand rührte sich nicht von dem kalten Stein. Männer konnten mehr als nur töten. Sie mochte fernab von ihnen aufgewachsen sein, aber sie war weder naiv noch dumm.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie und hustete, da sich ihr Hals gegen die Anstrengung sträubte. Sie erinnerte sich, dass er ihren Namen gekannt hatte. Woher?

„Ich bin Nicholas Kendall, Earl of Ravenglass“, stellte er sich vor und erhob sich. „Ihr solltet trinken und Euch waschen, so gut das hier geht. Niall sollte bald mit einem neuen Kleid für Euch zurückkehren. Dann können wir weiterreiten.“

Raynes Finger klammerten sich um den Stein und nahmen ihn mit, während sie rückwärts in Richtung des Bachlaufs robbte. Sie sah, wie der Earl unwillig die Stirn runzelte, doch er sagte nichts dazu, dass sie nicht von ihrer einzigen Verteidigungswaffe abließ. Sie bemühte sich, ihn wenigstens aus den Augenwinkeln beobachten zu können, solange sie sich vorsichtig über den Bach beugte und mit der linken Hand Wasser an ihre Lippen führte. Sie konnte ein Seufzen nicht unterdrücken, als die ersten Tropfen ihre ausgetrockneten Lippen berührten. Hastig trank sie Schluck um Schluck, bis sich ihre Kehle ein wenig besser anfühlte. Salbei würde ihr helfen, doch bis sie wieder an ihre Kräuter käme, musste ihr das Wasser alleine reichen. Als sie sich sicher war, sprechen zu können, ohne dabei durch ihr Husten unterbrochen zu werden, wandte sie sich dem Fremden zu.

„Weiterreiten? Wohin?“, fragte sie und hielt ihre linke Hand tiefer ins Wasser. Es kühlte so angenehm auf ihrer Haut. Das Taubheitsgefühl in ihren Armen wich allmählich einem dumpfen Schmerz. „Ich will nur nach Hause“, setzte sie hinzu und reckte ihr Kinn.

Der Earl hatte ihr den Rücken zugewandt, drehte sich aber bei ihren letzten Worten wieder zu ihr um und runzelte die Stirn.

„Nach Hause?“, fragte er, als sei es das Unverständlichste, was sie hätte sagen können. „In Eure Hütte im Wald? Oder das, was davon übrig geblieben ist?“

Rayne spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und ihr schwindlig wurde.

„Was soll das heißen?“ Erneut klang ihre Stimme brüchig, doch dieses Mal konnte sie es nicht auf ihre trockene Kehle zurückführen. Es lag vielmehr an der eiskalten Hand, die sich um ihr Herz schloss und drohte jeden Moment zuzudrücken.

„Dass die Hütte nicht mehr existiert. Sie ist niedergebrannt worden. Ebenso wie die umliegenden Sträucher.“ Seine Stimme klang ruhig, wurde beinahe mitleidig.

Rayne rang nach Atem. Die kalte Hand schloss sich erbarmungslos fester um ihr Herz. Ihr Zuhause … zerstört. Alles, was sie besaß, war dort gewesen, all ihre Erinnerungen verband sie mit diesem Flecken Erde. Alles verbrannt. Sie sank in sich zusammen, ließ den Stein in ihrer Hand ins Wasser gleiten und starrte ins Leere. Sie hörte nicht, wie der Earl zu ihr ans Bachufer trat und sich vor ihr in die Hocke begab. Erst, als er ihr etwas entgegenhielt, fanden ihre Gedanken in die Gegenwart zurück.

„Das war alles, was dort noch zu finden war. Es tut mir leid.“ Seine Stimme klang aufrichtig. So aufrichtig ein Mann von Adel sein konnte. Rayne streckte die zitternden Finger nach den beiden Metallstücken in seiner Handfläche aus.

Das Kreuz ihrer Mutter. Zerbrochen, so wie alles, was ihr etwas bedeutet hatte. Das Metall hatte gelitten, war nicht nur in der Mitte gebrochen, sondern auch beinahe schwarz geworden. Doch die blauen Glassteine waren noch alle vorhanden. Das Kreuz war nichts Besonderes, ein Anhänger, den ihre Mutter als Kind von ihrem Großvater, einem Schmied, bekommen hatte, aber es war alles, was ihr von ihr geblieben war. Rayne schloss die Finger um die beiden Bruchstücke und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten.

„Wascht Euch, ich warte dort vorne auf Niall, Ihr seid ungestört.“ Noch immer war seine Stimme leise. Er erhob sich und ließ sie allein. Rayne folgte ihm mit dem Blick, doch er drehte ihr wieder den Rücken zu. Vorsichtig legte sie das zerbrochene Kreuz ins Gras, abseits des Baches, damit es ihr nicht aus Versehen ins Wasser gleiten konnte. Mit vorsichtigen Bewegungen begann sie, sich die Arme und das Gesicht zu waschen. Sie wagte nicht, das Sünderhemd auszuziehen. Auch wenn es schmutzig war, so war es doch der einzige Schutz, den sie derzeit hatte. Während sie ihre Haare in das Wasser des Baches tauchte, um den Schmutz von einer Woche in dem düsteren Kerkerloch auszuwaschen, erinnerte sie sich daran, dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte.

„Wohin weiterreiten?“, fragte sie daher noch einmal, laut genug, dass er sie hören musste. Dieses Mal drehte er sich nicht zu ihr um, sondern rief einfach über seine Schulter.

„Nach Ravenglass natürlich, wohin sonst?“

Wohin sonst? Er hörte sich an, als wäre es das Selbstverständlichste, dass sie in die Burg reiten sollte, die sie von jeher gemieden hatte. Die Burg, in der sie selbst geboren worden war, als uneheliches Kind Oliver Bewleys, als Hexenkind.

Nun, die Bewleys lebten nicht mehr auf Ravenglass, aber die meisten der Bediensteten waren noch die Gleichen, die ihre Mutter dazu gebracht hatten, die Burg zu verlassen.

„Nein.“ Ihre Stimme war mehr ein Keuchen, doch es drang bis zu Nicholas, der sich überrascht umdrehte, die Hand an seinem Schwertgriff. Sie blickte entsetzt zu ihm auf und schüttelte das nasse Haar, das nun noch dunkler wirkte.

„Nein?“ Er sah sie verblüfft an. Was meinte sie mit Nein?

„Nein!“, wiederholte sie und reckte erneut ihr Kinn.

Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Ich glaube, Ihr missversteht die Situation“, begann er, doch die junge Frau schüttelte vehement den Kopf.

„Ich glaube, Ihr missversteht“, entgegnete sie kühl. „Ravenglass ist kein Ort, den ich je betreten werde. Die Bewleys …“

„Sind seit zehn Jahren nicht mehr die Earls of Ravenglass und auf der Burg zu Hause“, beendete Nicholas ihren Satz. Mit zusammengepressten Lippen sah sie ihn an. War dies wirklich die Frau, mit der er eben noch Mitleid empfunden hatte, als er ihr davon erzählte, dass ihr Zuhause vernichtet worden war? Das Häufchen Elend, das sie gerade noch abgegeben hatte, schien mit dem Schmutz aus ihrem Haar und ihrem Gesicht gewaschen worden zu sein. Ein schönes Gesicht, musste er widerwillig zugeben.

„Ich weiß nicht, was die Bewleys Euch angetan haben …“ Sie unterbrach ihn mit einem Schnauben, und er zog die Brauen hoch. „Aber Ihr könnt Euch sicher sein, dass sie Euch auf Ravenglass nichts tun können.“

„Und wieso sollte ich mit Euch nach Ravenglass kommen? Ihr beschützt mich doch nicht aus reiner Herzensgüte.“ Sie musterte ihn misstrauisch, und Nicholas musste seine Meinung über sie revidieren. Eben noch war er bereit gewesen, sie töricht zu nennen, doch sie war vernünftiger, als er geglaubt hatte. Vernünftig genug jedenfalls, um zu wissen, dass einem im Leben nichts geschenkt wurde.

„Ihr seid eine Heilerin, heißt es, das stimmt doch?“ Wieder war ihr Nicken die einzige Antwort, mit der sie ihn bedachte, doch dieses Mal kam es nicht zögerlich. Er glaubte sogar, einen gewissen Stolz in ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen.

„Mein Bruder ist krank, keiner weiß, was ihm fehlt. Helft ihm. Heilt meinen Bruder, und Ihr werdet unter meinem persönlichen Schutz stehen. Eure Hütte wird wieder aufgebaut, und Ihr könnt dorthin zurückkehren und tun und lassen, was Ihr wollt.“

Sie verzog die Lippen. Ihr Blick blieb auf ihm haften. Sie schwieg. Nicholas bemühte sich, ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, bis sie ihm eine Antwort gab.

„Was ist, wenn ich ihm nicht helfen kann? Nicht jede Krankheit kann man heilen“, gab sie zu bedenken, und Nicholas musste erneut ihren Verstand bewundern. Auch wenn es ihm dieser nicht gerade einfacher machte. Er schwieg. Für einen Moment erwog er, ihr zu sagen, dass er sie dann nach Greystone zurückbringen würde, doch er hielt nichts davon, leere Drohungen auszustoßen. Niemals würde er einen Unschuldigen zum Tode verurteilen. Mochte dieser Mensch auch noch so sehr an seinen Nerven zehren.

„Ihr habt nicht wirklich eine andere Wahl, und das wisst Ihr“, sagte er schließlich und sah, wie sie zusammenzuckte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, dass Niall zurückkam, doch er wandte seinen Blick nicht von der jungen Frau am Bachufer ab.

„Nun?“

„Ihr sagtet doch gerade, dass ich keine Wahl habe“, entgegnete sie. „Wofür soll ich dann noch antworten?“ Nachdem Nicholas sie mit einem weiteren finsteren Blick bedacht hatte, seufzte sie und fuhr sich mit der rechten Hand über das linke Handgelenk.

„Ja, ich helfe Eurem Bruder“, rief sie ihm schließlich zu, als Niall sein Pferd gerade neben ihm zum Stehen brachte.

2. KAPITEL

Nur widerwillig nahm Rayne das Kleid entgegen, das der Earl of Ravenglass ihr brachte, doch sie widersprach nicht, als er sie aufforderte, sich umzuziehen. Selbst wenn das blaue Gewand feiner war als alles, was sie je in Händen gehalten hatte, und obwohl es ihr nicht zustand, ein solches Kleid zu tragen, wusste sie, dass sie Ravenglass unmöglich in ihrem verschmutzten Sünderhemd betreten konnte.

Den Blick auf die beiden Männer gerichtet, die mit dem Rücken zu ihr standen, zog sie das einstmals weiße Hemd über den Kopf und unterdrückte dabei ein schmerzerfülltes Stöhnen, als sie den Stoff von ihrem Rücken zog. Das Blut ihrer Wunden war getrocknet und hatte das einzige Kleidungsstück, das man ihr zugestanden hatte, an ihre Haut geheftet. Es nun davon zu trennen, bereitete ihr große Schmerzen.

Rayne biss sich auf die Lippe, um ihre Qualen nicht zu verraten. Der Wald vor ihr verschwamm für einen Augenblick, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, fiel ihr Blick auf den Earl, dessen Schultern sich anspannten. Was auch immer sein Freund zu ihm gesagt hatte, gefiel ihm nicht. Das schien den blonden Mann jedoch nicht davon abzuhalten, weiter auf den Earl einzureden. Rayne nutzte diese Beobachtung, um sich von ihren Schmerzen abzulenken, und zog sich das neue Unterkleid über den Kopf, ehe sie das feine blaue Kleid darüber anzog. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, doch es gelang ihr nicht, die Knoten zu lösen, die sich in den Tagen ihrer Gefangenschaft darin gebildet hatten. Es bräuchte mehr als ein Bad im Fluss, um dem Abhilfe zu verschaffen. Für den Moment musste es genügen, dass sie den Dreck und das Blut hatte auswaschen können. Sie erwartete ohnehin nicht, lange auf Ravenglass zu verweilen. Der Earl würde seinen Fehler bald einsehen. Sie hatte auf der Burg nichts verloren. Sie wusste es, die Bediensteten der Burg wussten es, der Earl würde es bald herausfinden.

Langsam kam sie den Hang vom Flussufer hinauf und räusperte sich leicht, um ihre Anwesenheit den beiden Männern zu verkünden. Der blonde Freund des Earls wandte sich mit einem Lächeln zu ihr um und musterte sie von Kopf bis Fuß, ehe er mit einem Zungenschnalzen zu seinem Pferd ging und etwas aus seiner Satteltasche nahm.

„Die hätte ich fast vergessen. Wir können Euch natürlich nicht barfuß in die Burg einreiten lassen, Lady …“

„Rayne. Nur Rayne“, erwiderte sie und nahm die Schuhe, die er ihr reichte, entgegen. Es waren Schuhe einer Dame, einer Burgherrin, wie das Kleid, das sie trug.

„Man könnte mich wieder ins Verlies werfen, allein weil ich diese Kleidung trage.“ Aus den Augenwinkeln nahm Rayne wahr, wie der Earl sich erneut verspannte und zu ihr herübersah.

„Wir müssen weiter“, sagte er nur und griff nach Raynes Ellbogen, um sie zu seinem Pferd zu führen. Immer wieder hörte Rayne die warnenden Worte ihrer Mutter, während sie sich vom Earl auf sein Pferd helfen ließ, und wartete, bis er hinter ihr aufsaß. Halte dich von der Burg fern. Nichts Gutes wartet in diesen Mauern. Für Menschen wie uns ist dort nur Unheil zu finden.

Rayne kämpfte gegen die Angst an, die sich in ihr ausbreitete, als sie ihren Weg durch den Wald fortsetzten. Sie drückte ihren Rücken durch, damit der Earl ihren geschundenen Rücken nicht berührte. Sobald sie Zugang zu Kräutern hatte und sich eine Salbe herstellen konnte, würde sie sich um ihre Verletzungen kümmern.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie den schützenden Rand des Waldes verlassen mussten und über die offenen Felder und Wiesen galoppierten. Zu schnell näherten sie sich Ravenglass, und immer lauter kamen ihr die Warnungen ihrer Mutter in den Sinn. Sie würde sich im Grabe umdrehen, wüsste sie, dass ihre Tochter sich auf dem Weg in ebenjene Burg befand, die ihnen beiden so großes Unrecht angetan hatte. Verzeih mir, Mutter, dachte Rayne und hielt sich an dem Gedanken an den kranken Bruder des Earls fest. Im Sterben waren sich alle Menschen gleich, der einfachste Bauer wurde eins mit dem mächtigsten König. Sie alle wurden eines Tages vor den Allmächtigen gerufen. Rayne konnte nur darauf hoffen, dass der Herr ihr die Kraft geben würde, den Kranken zu heilen.

Als sie durch das Burgtor ritten, wagte Rayne nur einen kurzen Blick auf die Gesichter der Menschen, die auf dem Burghof ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Die Erste, die sie erblickte, war eine alte, beleibte Frau, die einen Korb in der Hand trug. Ihre Augen weiteten sich, als sie Rayne sah, und der Korb fiel zu Boden. Eier zerbrachen, einige rollten über den Boden. Rayne senkte den Blick. Sie hatte es gewusst.

„Es ist ein Fehler“, flüsterte sie, doch der Earl antwortete ihr nicht. Konnte er denn nicht sehen, was um sie herum geschah? Hörte er nicht, wie alles um sie herum verstummte?

„Ich fürchte fast, deine Untertanen sind ebenso abergläubisch wie die Dorfbewohner“, raunte sein Freund ihm zu, der sein Pferd nah an den Rappen des Earls führte.

„Was für ein Unsinn!“, widersprach der Earl und hielt sein Pferd an. Mühelos ließ er sich vom Rücken des schwarzen Tieres gleiten und reichte Rayne seine Hand, um auch ihr abzuhelfen.

„Ich warnte Euch. Ich gehöre nicht hierher. Sie alle wissen es.“

Tatsächlich näherte sich keiner der Umstehenden den Neuankömmlingen. Nicht einmal ein Stallbursche tauchte auf, um die beiden Pferde der Edelmänner abzunehmen. Rayne spürte die Blicke der Bediensteten auf sich ruhen und versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. Sie würde ihnen nicht zeigen, dass sie sich vor ihnen fürchtete. Vor ihnen und dem, was sie mit ihr tun konnten. Vor ihren Schlägen und dem Feuer, auf dem sie sie brennen sehen wollten.

„Wo zum Teufel ist Borin? Er sollte sich um die Pferde kümmern und …“

„Nicholas.“

Rayne hörte eilige Schritte, die sich ihnen näherten. Eine junge Frau, nur wenig jünger als sie selbst, kam vom Haupthaus der Burg auf sie zugelaufen.

„Rulf sagte, du wolltest Hilfe für Jacob holen.“ Ihr Blick blieb auf Rayne haften, und sie lächelte ihr zaghaft zu.

„Joanna, das ist Lady … Woodcross.“

„Rayne. Einfach nur Rayne“, korrigierte Rayne den Earl und machte vor Joanna einen Knicks.

„Lady Woodcross wird nach Jacob sehen und hoffentlich herausfinden, welche Krankheit ihn plagt.“ Die Stimme des Earls wurde lauter. Rayne wandte sich zu ihm um und funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

„Ich zeige Euch das Zimmer meines Bruders, während man Euer Schlafzimmer herrichten lässt, Mylady.“ Joannas Hand, die nach ihrem Arm griff und sie sanft mit sich zog, hielt Rayne davon ab, dem Earl zu sagen, was sie von diesem lächerlichen Titel hielt. Niemand hier würde sie als Lady bezeichnen − und niemals könnte sie eine solche Rolle tatsächlich spielen. Joanna, die offensichtlich eine wirkliche Lady war, musste blind und taub sein, wenn sie nicht bis zum Abendessen erfuhr, wer Rayne tatsächlich war – und wofür man sie hielt.

„Ihr müsst meinem Bruder verzeihen, er war lange weg und ist der Überzeugung, dass alles nach seinem Willen geschehen muss, nun da er das Erbe unseres Vaters antreten muss. Wenn er glaubte, er könnte ihn hören, würde er Jacob sogar befehlen, wieder gesund zu werden.“ Ein Schmunzeln legte sich um die Lippen der jungen Frau, das ihrem Gesicht eine Sanftheit verlieh, die so gänzlich anders war als die Kälte, die Rayne in deren Bruder sah.

„Mein Kleid steht Euch übrigens vorzüglich. Das Blau bringt Euer rotes Haar wundervoll zur Geltung.“

„Es tut mir leid, dass es Euch meinetwegen entwendet wurde. Ich werde es sofort …“

„Nichts werdet Ihr“, unterbrach Joanna sie und nahm ihre linke Hand zwischen ihre beiden Hände und drückte sie. „Wie gesagt, es steht Euch ausgezeichnet, und wenn Nicholas darauf beharrt, Euch als Lady Woodcross hier auf Ravenglass vorzustellen, solltet Ihr entsprechend angezogen sein.“

Rayne sah die junge Dame nachdenklich an.

„Ihr wisst, wer ich bin“, stellte sie schließlich fest.

Joanna nickte und schenkte ihr erneut ein Lächeln, während sie Rayne die steinerne Treppe zum Haupthaus hinaufführte.

„Mein Bruder hat lange im Krieg gegen die Spanier gekämpft. Er ist sicherlich der Einzige, der nicht weiß, wer Ihr seid.“

„Und dennoch empfangt Ihr mich ohne Vorbehalt.“

„Wie Ihr schon sagtet, ich weiß, wer Ihr seid. Wenn es jemanden gibt, der Jacob noch helfen kann, dann seid Ihr es. Ich wünschte nur, wir hätten Euch schon gerufen, als es unserem Vater so schlecht ging.“

„Euer Vater litt unter der gleichen Krankheit? Aber außer den beiden ist niemand befallen?“

Joanna schüttelte den Kopf und ging mit Rayne an ihrer Seite durch die große Halle der Burg, bevor sie die Treppe hinauf in den oberen Stock stiegen, in dem die Gemächer der Familie untergebracht waren.

Rayne ließ sie vorangehen und folgte ihr in einen abgedunkelten Raum. Schwere Vorhänge verdeckten die Sicht nach draußen. Nur das schwache Licht einiger weniger Kerzen erhellte den Raum. Rayne brauchte einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Ein Husten zog ihre Aufmerksamkeit auf die Mitte des Zimmers, in der das Bett des Kranken stand. Zielstrebig schritt Rayne auf das erste Fenster des Zimmers zu.

„Was tut Ihr?“, fragte Joanna verwirrt und folgte ihr, als Rayne die schweren Vorhänge zur Seite zog und das Fenster öffnete, um Licht und frische Luft ins Zimmer zu lassen.

„Ich lasse die schlechte Luft und die Dunkelheit hinaus. Wenn Euer Bruder genesen soll, braucht er Licht und Luft zum Atmen. Auch die Vorhänge an seinem Bett müssen zurückgeschlagen werden.“ Kaum hatte sie dies gesagt, ließ sie ihren Worten Taten folgen und zog die Vorhänge um das Bett herum auf. Erst dann kehrte sie an die Seite ihres Patienten zurück und sah ihn sich an.

Schweißperlen rollten über seine Stirn, das dunkle Haar klebte an seinem Gesicht. Unruhig hob und senkte sich die Brust des jungen Edelmannes, während seine Augen geschlossen blieben. Als Rayne ihm eine Hand auf die Stirn legte, entrang sich seiner Kehle ein leises Seufzen.

„Wir haben versucht, das Fieber zu senken, doch es will uns nicht gelingen. Ich bin schon froh, dass ich ihm jeden Tag etwas Suppe zu essen geben kann. Bitte, sagt mir, ob Ihr ihm helfen könnt.“

Rayne sah sich den jungen Mann noch einen Moment lang nachdenklich an, ehe sie sich an Joanna wandte.

„Ich werde mein Bestes tun, aber ich werde euch keine Versprechungen geben, die ich nicht halten kann. Ich brauche ein paar starke Männer, die ihn aus dem Bett heben können. Seine Laken müssen erneuert werden. Außerdem sollte Euer Bruder ein Bad nehmen, ehe er wieder ins Bett kommt.“

Schritte, die sich dem Zimmer näherten, ließen Rayne zur Tür blicken. Der Earl betrat den Raum und sah sie erwartungsvoll an.

„Ich brauche außerdem bestimmte Wildkräuter, von denen ich nicht annehme, dass ich sie in der Burgküche vorfinden werde.“

„Sagt mir welche, ich werde einige Männer schicken, um sie zu holen“, erwiderte der Earl, doch Rayne schüttelte den Kopf. Die Bewegung ließ ihr noch feuchtes Haar am Rücken über den Stoff ihres Kleides streichen. Die Nässe kühlte ihre Wunden und erlaubte es ihr, sich nicht bei jeder Bewegung vor Schmerzen auf die Zunge zu beißen, um sich nicht zu verraten.

„Es kostet unnötige Zeit, Euren Männern zu erklären, was ich brauche und wo es zu finden ist. Ich werde mich bei Morgengrauen in den Wald begeben und …“

„Ihr werdet die Burg nicht allein verlassen.“ Die Stimme des Earls ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht von seiner Entscheidung abzubringen war. Rayne straffte die Schultern und reckte das Kinn. Earl oder nicht, er würde ihr nicht im Weg stehen, wenn es darum ging, ein Menschenleben zu retten.

„Wenn Ihr einen Eurer Männer dazu bewegen könnt, mich zu begleiten, nur zu. Ich werde auf jeden Fall morgen früh nach den nötigen Kräutern suchen.“ Sie wandte dem Earl den Rücken zu und zog die Decke vom Bett.

„Wenn Ihr jetzt also bitte helfen würdet?“ Als sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich noch einmal zu dem Burgherrn herum, der sie ansah, als habe sie den Verstand verloren.

„Helfen? Wobei?“

„Wie ich Eurer Schwester gerade erklärte, muss Euer Bruder das Bett verlassen, um ein Bad zu nehmen und in frische Laken gelegt werden. Er windet sich hier in seinem eigenen Fieber, das kann ihm nicht bekommen.“

„Ich lasse ein Bad für Jacob einlassen“, murmelte Joanna, und Rayne sah, wie die junge Frau ein Schmunzeln unterdrückte, während sie den Raum verließ.

„Was fehlt ihm?“, fragte der Earl, als er an das Bett seines Bruders herantrat und einen Arm unter dessen Schultern legte. Für einen Moment öffneten sich die braunen Augen des jungen Mannes. Ein Schleier schien über ihnen zu liegen, und er schloss sie sogleich wieder, ohne auf die Stimmen an seinem Bett zu reagieren.

„Ich kann keine Wunder vollbringen, Mylord. Euer Bruder kann an vielen Krankheiten leiden.“

„Die Kräuter, die Ihr braucht …“

„Werden ihm auf keinen Fall schaden und sollten ihm dabei helfen, das Fieber zu bekämpfen. Hebt ihn hoch. Bitte.“ Sie fügte das letzte Wort nachträglich hinzu, als ihr einfiel, mit wem sie gerade sprach.

Rayne kümmerte sich weiter um Jacobs Bett, bis Joanna − gefolgt von zwei Dienern, die einen Bottich für Jacobs Bad mit sich trugen − wieder das Zimmer betrat. Zwei Küchenmädchen schlossen sich mit dampfenden Wassereimern an. Die Diener beeilten sich, ihren Dienst im Zimmer zu verrichten und dieses wieder zu verlassen. Keiner von ihnen wagte, in Raynes Richtung zu sehen, und eines der Küchenmädchen bekreuzigte sich auf seinem Weg nach draußen. Rayne bemühte sich, sie zu ignorieren, während sie das Tuch von Joanna entgegennahm, das diese ihr mitgebracht hatte.

„Braucht Ihr noch etwas?“

„Nein, danke. Ihr könnt Euren Bruder hineinsetzen. Ich rufe Euch, wenn ich ihn gewaschen habe.“

Erneut sah der Earl sie an, als wolle er nicht recht glauben, was sie gerade gesagt hatte.

„Ihr wollt ihn baden?“

„Nun, wenn es Euch lieber ist, Mylord, könnt auch Ihr diese Aufgabe übernehmen. Meine Erfahrung jedoch hat mich gelehrt, dass Männer für Krankenzimmer recht ungeeignet sind. Daher würde ich empfehlen, dass Ihr Eure Schwester nun nach draußen begleitet und mich machen lasst, wofür Ihr mich geholt habt.“

Nicholas hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen und wusste nicht recht, wie ihm geschah. Diese Frau hatte ihn tatsächlich unter seinem Dach des Zimmers verwiesen. Noch dazu des Zimmers seines eigenen Bruders. Sie hatte mit ihm geredet, als sei er ein kleines Kind, das belehrt werden musste. Dabei sollte sie ihm dankbar dafür sein, dass er sie vom Scheiterhaufen und den geifernden Dorfbewohnern gerettet hatte.

Mit gerunzelter Stirn folgte er Joanna die Treppe hinab in die Halle. Er brauchte Luft, um seine Gedanken zu klären. Mit großen Schritten durchquerte er die Halle und verließ das Haupthaus der Burg. Sofort drang der Klang von Metall, das aufeinanderschlug, an sein Ohr, gefolgt von der herrischen Stimme Oscars, der schon ihm und Jacob den Schwertkampf beigebracht hatte.

Nicholas folgte den Geräuschen und sah zu, wie der alte Ritter den jungen Männern das Kämpfen beibrachte.

„Du siehst aus, als habe man dir gerade mitgeteilt, dass du zurück in die Schlacht reiten musst.“

Nicholas warf Niall nur einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder auf die Kämpfe vor ihnen konzentrierte. Widerwillig musste er einräumen, dass das Mädchen zumindest in einer Sache recht hatte: Männer waren nicht für ein Krankenzimmer geschaffen. Lieber wollte er mit einem Schwert in der Hand gegen die Spanier kämpfen, als oben in diesem muffigen Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, was aus seinem Bruder wurde.

„Wie geht es Jacob?“

„Er wird gerade gebadet.“ Nicholas empfand eine gewisse Genugtuung darin, dass Niall ihm einen ebenso verwirrten Blick zuwarf, wie er es sicher getan hatte, als Rayne ihm erklärt hatte, was sie vorhatte. Baden. Wer hatte das schon einmal gehört? Was sie sich davon versprach, wusste er nicht, aber vielleicht würde es Jacob ja tatsächlich helfen. Was wusste er schon davon, wie man Kranke heilte? Er konnte einen Pfeil aus einer Wunde ziehen, sich um einen Schwerthieb kümmern. Kranke hingegen … nein, sie hatte recht, das war eine Aufgabe für Frauen.

Da traf sein Blick auf den seines alten Mentors, der ihm zunickte, seinen Schützlingen noch ein paar Anweisungen zurief, bevor er auf ihn und Niall zuging.

„Mylord.“

„Oscar. Wie ich sehe, machen sich die Jungen recht gut.“

„Ah, es ist immer dasselbe mit diesen Hitzköpfen. Man muss vor allem darauf aufpassen, dass sie sich nicht selbst das Schwert überziehen. Ihr und Euer Bruder wart nicht anders. Euer Vater, Gott hab ihn selig, hat jeden Tag gefragt, ob Ihr noch beide Hände und Füße hättet, wenn Euer Training beendet war.“

Nicholas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen bei der Erinnerung an die unzähligen Schrammen, die Jacob und er schon von den ersten Übungen mit den hölzernen Stöcken davongetragen hatten. Von den Verletzungen, die sie sich später mit den richtigen Schwertern zufügten, ganz zu schweigen.

„Ich hoffe, Eurem Bruder geht es besser?“

Nicholas’ʼ Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Er kämpft noch immer mit dem Fieber.“

Oscar fuhr sich mit einer Hand durchs ergraute Haar und blickte gen Himmel.

„Diese unnatürliche Hitze der letzten Tage hat ihm sicher nicht geholfen. Und kein Wölkchen am Himmel, das Milderung verspricht.“

„Ich hoffe auf mehr als auf besseres Wetter. Was mich daran erinnert, ich brauche einen Mann, der die Heilerin morgen früh in den Wald begleitet, wenn sie Kräuter sucht.“ Nicholas beobachtete, wie der ältere Mann sich anspannte. Seine Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie, die Augen hielt er starr auf die kämpfenden Männer gerichtet, sein Körper gespannt wie ein Bogen.