Das geniale Gedächtnis - Hannah Monyer - E-Book

Das geniale Gedächtnis E-Book

Hannah Monyer

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Beschreibung

Das Gedächtnis -
die unsichtbare Macht, die unser Leben bestimmt


Unser Gedächtnis ist weniger zuverlässig als wir uns das wünschen, manchmal lässt es uns auch im Stich. Je älter wir werden, umso mehr. Dabei zeigt die neuste Forschung: Sich alles merken zu können, ist gar nicht so wichtig. Das Gedächtnis ist nämlich viel mehr als bloß ein Speicher für Erinnerungen. Es erweist sich als höchst aktives Zukunftsorgan. Seine radikal auf das Kommende ausgerichtete Funktionsweise bestimmt, was wir uns merken, wie wir lernen und wer wir sind.

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Das Buch

Unser Gedächtnis ist weniger zuverlässig als wir uns das wünschen, manchmal lässt es uns auch im Stich. Je älter wir werden, umso mehr. Dabei zeigt die neueste Forschung: Sich alles merken zu können, ist gar nicht so wichtig. Das Gedächtnis ist nämlich viel mehr als bloß ein Speicher für Erinnerungen. Es erweist sich als höchst aktives Zukunftsorgan. Seine radikal auf das Kommende ausgerichtete Funktionsweise bestimmt, was wir uns merken, wie wir lernen und wer wir sind.

Die Autoren

Hannah Monyer ist Hirnforscherin. Sie wurde 1957 in Rumänien geboren und studierte in Heidelberg Medizin. Weitere Stationen waren Mannheim, Lübeck und Stanford. Seit 1994 ist sie Professorin an der Medizinischen Fakultät Heidelberg, seit 2010 auch am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). 2004 wurde sie mit dem Leibniz-Preis geehrt.

Martin Gessmann, geboren 1962, beschäftigt sich als Philosoph mit unserer Gegenwartskultur. Er studierte in Tübingen, Nantes und Washington D.C. Es folgte eine Karriere als Kulturjournalist. 2010 wurde er in Heidelberg zum Professor für Philosophie berufen, seit 2011 ist er Professor für Kultur- und Techniktheorie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Hannah Monyer

Martin Gessmann

Das geniale Gedächtnis

Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht

Knaus

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1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2015

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Margret Trebbe-Plath

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17401-9

www.knaus-verlag.de

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

KAPITEL 1

Die Gedächtnis-Revolution – oder: Wie unser Gedächtnis als Zukunftsplaner den Ereignissen immer schon voraus ist

Wie wir bei jeder Erinnerung zugleich dazulernen

Von Zelle zu Zelle – wie überhaupt eine Verbindung entsteht

Was zusammen feuert, das verbindet sich

Proteinsynthese an unerwarteter Stelle

Dem Vergessen auf der Spur

Erinnerung auf Knopfdruck

Dirigenten im Gehirn

Was verkraftet unser Arbeitsgedächtnis?

Interneurone in lokalen Netzwerken als Taktgeber

Wie Superdirigenten für ein Zusammenspiel zwischen unterschiedlichen Einsätzen sorgen

Das autobiographische Gedächtnis

KAPITEL 2

Träumen und lernen im Schlaf – oder: Wie wir zu dem werden, was wir sein wollen

Freud und die Anfänge der Traumforschung

Von wegen Tiefschlaf

Mit dem Gehirn verdrahtet

Vom Replay im Schlaf zum Preplay im Wachzustand

Wie aus einzelnen Tönen eine Melodie wird

Was wir beim Träumen wirklich lernen

Der Tagtraum als Film

Der Traum als Bühne des Lebens

Wie viel Wirklichkeit steckt in unseren Träumen?

Wenn Genies träumen

KAPITEL 3

Der Hochleistungstraum – oder: Wie man trainiert, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen

Kann man Bewusstsein im Traum künstlich hervorrufen?

Heilen durch klarträumen

Können wir im Traum eine neue Lebensperspektive gewinnen?

Wie wir im Traum bessere Menschen werden

KAPITEL 4

Einbildung und falsche Erinnerung – oder: Kann unser Gedächtnis uns aufrichtig täuschen?

Wenn das Gedächtnis versagt

Technisches Unvermögen oder absichtliche Verfälschung?

Kann ich mein Gedächtnis selbst belügen?

KAPITEL 5

Das Gedächtnis der Gefühle – oder: Warum wir Kindheit und erste Liebe meistens in leuchtenden Farben erinnern und den Hund, der uns gebissen hat, nicht vergessen können

Das Proust’sche Erinnern

Einmal gebissen, doppelt vorsichtig

Warum man Ängste überwindet, wenn man sich ihnen stellt

KAPITEL 6

Gedächtnis und Älterwerden – oder: Vergessen ist menschlich und bringt uns weiter

Wie aus einem schlechten Gedächtnis ein gutes werden kann

Das implizite Gedächtnis

Höhen und Tiefen in der Dichte unserer Erinnerungen

Neurogenese, ein Jungbrunnen für das Gedächtnis

Was neue Gedächtniszellen mit dem Gesang von Kanarienvögeln und Zebrafinken zu tun haben

Wie Training dem Gedächtnis hilft

Besser als jedes Training: Mit der Zeit gehen

Warum Vampire nie alt werden

Morbus Alzheimer und die große Ratlosigkeit

KAPITEL 7

Das kollektive Gedächtnis – oder: Die Vernetzung der Gehirne und warum wir alle Rotkäppchen kennen

Mit Telepathie im Kopf des anderen

Kann ein Mensch einen anderen tatsächlich verstehen?

Freiheit oder Determinismus?

Warum wir uns an Rotkäppchen erinnern, auch wenn wir das Märchen nie gelesen haben

KAPITEL 8

Das Human Brain Project – oder: Wird das Gedächtnis der Zukunft hochgeladen?

Das Lächeln der Mona Lisa

ZUM SCHLUSS:

Wie uns das geniale Gedächtnis in die Zukunft führt

Anmerkungen

Unseren Eltern

La mémoire est l’avenir du passé.

Das Gedächtnis ist die Zukunft der Vergangenheit.

Paul Valéry

VORWORT

»Fisch und Vogel können sich ja mögen, wo aber bauen sie ihr Nest?« Mit dieser Lebensweisheit aus dem Tierreich sprach uns ein Kollege Mut zu, als wir beiläufig einmal die Idee erwähnten, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Und er hatte ja recht: Philosophie und Neurobiologie sind nicht gerade dafür bekannt, dass sie Hand in Hand durch das akademische Leben gehen. Die Philosophie liebt es bekanntlich, abstrakt zu denken und sich einer Frage aus großen begrifflichen Höhen zu nähern. Die Neurobiologie dagegen setzt beim Gegenstand selbst an, wie es auch in der Medizin üblich ist, und hat darüber hinaus die Besonderheit, sozusagen ganz von vorn anzufangen und sich um die kleinsten Bestandteile ihres Untersuchungsgegenstandes zu kümmern. Das ist schließlich schon in ihrem Namen verbrieft, denn die Nervenzellen, für deren Erforschung die Vorsilbe neuro steht, können als die ersten Atome im Kosmos der Biologie und der Medizin verstanden werden. Und so kann es in der Tat so aussehen, als schwebten die einen – die Philosophen – grundsätzlich über den Dingen, während die anderen – die Neurobiologen – immer schon mittendrin sind, und mehr als eine flüchtige Begegnung beim Luftholen, vielleicht während einer Forschungspause, ist eher nicht zu erwarten.

Allerdings war man sich, seitdem die Neurowissenschaften die Hirnforschung ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt haben, zwangsläufig schon nähergekommen. Die Philosophie versuchte immer schon zu erforschen, was der menschliche Geist ist und wie er funktioniert, und die Hirnforschung legte nun Angebote vor, wie man sich das konkret vorstellen musste – also welche Vorgänge man im Hirn für bestimmte Phänomene voraussetzen muss. Die großen klassischen Fragen etwa nach dem Wesen von Bewusstsein oder dem Ursprung des logischen Denkens konnten nun von zwei unterschiedlichen Seiten angegangen werden.

Vieles von dem, was man danach über sogenannte Neuro-Themen lesen konnte, blieb jedoch Stückwerk. Und dafür gibt es auch gute Gründe: Zwar liegen inzwischen zahlreiche Studien zu einzelnen spezifischen Themen vor, und wie raffiniert die Versuche konzipiert sind, um dahin zu kommen, davon werden wir in den acht Kapiteln dieses Buches nicht ohne Enthusiasmus berichten. Und doch fehlt es bis heute an einer übergreifenden Sichtweise, die das Große und Ganze bedenkt und es möglich macht, die vielen, sehr speziellen Einzelergebnisse einzuordnen und zusammenzufügen. Umgekehrt war auch die Philosophie bei der medizinischen und empirischen Erforschung des Gehirns nicht gerade behilflich. Die Theorien über den menschlichen Geist, wie sie vor allem von der angloamerikanischen Philosophie vorgestellt werden, sind im Grunde längst veraltet, und es ist an der Zeit, umzudenken.

So überlegten wir – die Neurobiologin und der Philosoph – also, wo Hirnforschung und Philosophie heute zusammenkommen müssen, wenn sie eine Antwort auf aktuelle Fragen liefern und zugleich den großen Wurf wagen wollen, ohne sich im Klein-Klein der Einzelergebnisse zu verlieren. Und wir kamen schnell darauf, dass es nur ein Phänomen gibt, das umfassend genug ist, um diesen Vorgaben gerecht zu werden: unser Gedächtnis. Anders als man gemeinhin denkt, ist nämlich das Gedächtnis nicht der Ort, an dem wir einzelne Inhalte oder Fähigkeiten nur ablegen – für einen möglichen späteren Gebrauch. Es ist zugleich der Raum, in dem sich Erstaunliches tut, was die weitere Bearbeitung und Ausrichtung unserer Erinnerungsinhalte betrifft. Und folgt man jener Spur bis zum Ende, merkt man bald, dass wir im Grunde gar nichts denken und fühlen, nichts überlegen und planen können, ohne dass unser Gedächtnis eine entscheidende Zuarbeit liefert. Es ist, wenn man so will, die Graue Eminenz, die im Hintergrund die Fäden zieht, wenn wir vordergründig der Ansicht sind, alles aus dem Stand heraus zu entscheiden und Probleme ohne große Vorbereitung zu lösen.

Wir waren beide unabhängig voneinander in unserer Forschung schon lange zu diesem Ergebnis gekommen.

Hannah Monyer hat eine Passion entwickelt für die Erforschung der Vorgänge im Gehirn, die es ermöglichen, dass wir uns im Raum zurechtfinden und orientieren können. Und eine wesentliche Einsicht ihrer Forschung ist es, dass man sich unser Raumgedächtnis nicht einfach als ein Archiv von Karten vorstellen darf, sondern vielmehr als ein hochdynamisches Navigationssystem: womit Gedächtnis dann zu einer Fähigkeit wird, nicht nur zurückzublicken, sondern vor allem vorauszuschauen – dorthin, wo man erst noch hinwill.

Martin Gessmann war lange Zeit in einer ganz anderen gedanklichen Richtung unterwegs: als Spezialist für Fragen der Interpretation und Deutung vergangener (großer) Texte und Techniken. Je mehr er sich aber dem Studium der Vergangenheit widmete, umso klarer wurde auch ihm, dass unsere Kultur erst zu sprechen beginnt, wenn sie es wagt, vorauszuschauen. Wollen wir die Vergangenheit und uns selbst darin verstehen, müssen wir in die Zukunft blicken.

Zwei Seiten, ein Ziel. Als uns das auf die spöttische Nachfrage des Kollegen klar wurde, galt es nur noch, alles aufzuschreiben. Oder mit dem akademischen Nestbau endlich zu beginnen.

EINLEITUNG

Jedem von uns ist es schon einmal so gegangen: Wir stehen vor einer komplexen Entscheidung oder schwierigen Situation, wir haben alles durchdacht und viele Male hin- und hergewendet. Soll ich lieber diesen Weg nehmen oder einen anderen, sollen wir heiraten oder lieber noch warten, soll ich mich für jenes Studium entscheiden oder doch lieber für ein anderes – und vieles, vieles mehr bis hin zu Alltagsfragen der Art, wohin der nächste Urlaub geht. Und jeder von uns hat es auch schon erlebt, wie solche Situationen schließlich auf seltsam einfache Art und Weise entschieden werden. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht recht einsehen, sind wir uns plötzlich voll und ganz bewusst, was wir eigentlich wollen und was jetzt zu tun ist. Am schönsten sieht man den Effekt, wenn man mit einem Problem abends schlafen geht und am nächsten Morgen aufwacht und die Lösung noch vor der ersten Tasse Kaffee vor Augen hat. Man weiß plötzlich, ohne jede weitere Anstrengung, wie sich die Dinge lösen lassen, man überblickt mühelos, was zuvor noch kompliziert schien. Und so magisch das klingt und so sehr es uns womöglich selbst überrascht: Wir tun meistens gut daran, uns nicht gegen diese plötzliche Einsicht zu sperren. Merken wir doch im Rückblick irgendwann, dass es offenbar genau das gewesen ist, was in besagter Situation das Richtige war, und dass die Folgen unserer Entscheidung günstiger nicht hätten ausfallen können. Folgen wir der Einsicht nicht, bleibt zumindest der nagende Zweifel bestehen, ob wir der inneren Stimme nicht lieber doch hätten folgen sollen.

Woher aber kommt diese Einsicht? Was ist das für eine eigenartige Macht, die unser Leben so geräuschlos, aber effektiv bestimmt? Woher haben wir den Rat, der uns wie ein Geniestreich erscheint und auch noch die verfahrensten Situationen zu lösen imstande ist?

Wir möchten in diesem Buch einen Kandidaten vorstellen, mit dem man so nicht unbedingt rechnen konnte: unser Gedächtnis. Meistens machen wir es für andere Dinge verantwortlich: wenn uns etwas zur rechten Zeit nicht einfallen will, wenn wir einen Blackout haben oder es uns unangenehm ist, bei einer Einladung wieder einmal die Namen der Kinder der Gastgeber nicht parat zu haben. Dass das Gedächtnis tatsächlich einen viel größeren Beitrag zum Gelingen unseres Lebens leistet, hatte man bislang so nicht vor Augen. Erst seitdem Krankheiten wie Morbus Alzheimer und andere Altersdemenzen häufiger werden, merken wir, was alles nicht mehr geht, wenn uns das Gedächtnis nicht einfach nur einen (kleinen) Streich spielt, sondern sich nach und nach verabschiedet und seine hilfreichen Dienste insgesamt einstellt. Dann wird uns auf bedrückende Weise klar, dass im Grunde gar nichts mehr in unserem Leben möglich ist. Zurück bleibt zuletzt eine große, unmenschliche Leere.

Fast immer waren es Krankheiten oder Folgen von Unfällen, die der Forschung den Weg wiesen und nachvollziehbar gemacht haben, in welchem Ausmaß unser Gedächtnis für das Gelingen unseres Lebens verantwortlich ist. Bekannt geworden ist der 2008 verstorbene Patient Henry Molaison (früher nur H. M. genannt).[1] Weil er unter epileptischen Anfällen litt, entschied man sich Anfang der 1950er Jahre zu einer Gehirnoperation, bei der ihm Teile des mittleren Schläfenlappens auf beiden Seiten entfernt wurden. Betroffen von dem Eingriff waren auch Teile des Hippocampus, einer Region, die fortan für Aufsehen in der Fachwelt sorgen sollte. Denn man stellte fest, dass der Patient nun nicht mehr in der Lage war, neue Erinnerungen zu bilden, sich also später an etwas zu erinnern, was er nach seiner Operation erlebte. Wenn er Menschen neu kennenlernte, geschah das immer mehr als ein Mal, weil er sich eben nicht erinnerte, sie bereits kennengelernt zu haben. In der Zwischenzeit haben sogar Spielfilme solche Motive aufgenommen, ihre Helden müssen sich erneut in die Person verlieben, mit der sie zuvor schon längere Zeit zusammen waren, so etwa der Film Vergiss mein nicht (im Original: Eternal Sunshine of the Spotless Mind).

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Gedächtnisforschung einen gewaltigen Aufschwung erlebt, weil hoch entwickelte Verfahren und Technologien es erlauben, bis zu einzelnen Nervenzellen im Gehirn und ihren elektrischen Signalen vorzudringen. Und nicht zuletzt ist es die Vernetzung auf der ganzen Welt verteilter Wissenschaftler, die es heute möglich macht, die Leistungen des Gedächtnisses systematisch und umfassend zu erforschen. Um nur ein Beispiel für die Dimensionen zu geben, in denen die Forschung voranschreitet: Vor ungefähr 50 Jahren begann der spätere Nobelpreisträger Eric Kandel damit, einfachste Formen von Gedächtnis beim Kalifornischen Seehasen (das ist eine Meeresschnecke) zu untersuchen. Die Aplysia californica, wie sie lateinisch heißt, verfügt über rund 20000 Nervenzellen. Es ging bei den Untersuchungen noch um einen simplen Reflex. Heute werden allein in Europa Forschungsgelder von mehr als einer Milliarde Euro ausgegeben, um mit Hilfe von Computern ein vergleichbares Modell des menschlichen Gehirns zu erstellen (wir berichten in Kapitel 8 darüber). Die Anzahl der Nervenzellen, die es jetzt in ihrer Funktion zu begreifen gilt, beträgt etwa 100 Milliarden Neurone, die Anzahl der Verbindungen, die jene Nervenzellen untereinander ausbilden, liegt bei 100 Billionen – das ist eine 10 mit 12 Nullen.

Dabei wurde lange Zeit viel Wert auf die Grundlagenarbeit gelegt. Es ging darum zu verstehen, wie auf der Ebene der Zellen kleinste Bausteine von Gedächtnis entstehen. Seit zwei Jahrzehnten kümmert sich die Forschung nun vermehrt darum, die komplexeren Zusammenhänge zu betrachten, das heißt das Zusammenspiel spezifischer Leistungen und Netzwerke auszutesten. Und so wird auch unser Gedächtnis nicht mehr nur als das angesehen, was man ursprünglich für seine Aufgabe hielt: nämlich der Speicherort zu sein, an dem unsere Erinnerungen abgelegt werden. Es wird vielmehr untersucht, was das Gedächtnis dazu beiträgt, dass wir auch sonst im Leben besser vorankommen.

Im Lichte solcher Erkenntnisse wollen wir in diesem Buch zeigen, dass es Zeit für eine Neubewertung unseres Gedächtnisses ist. Wir wollen plausibel machen, dass wir unser Gedächtnis bislang immer unterschätzt haben und wir gut daran tun, uns der Sache mit einer ganz neuen Blickrichtung zu nähern. Gedächtnis hat demnach nicht nur mit Vergangenheit zu tun, sondern auch mit Zukunft. Es ist nicht dazu da, Erlebtes einfach in Schubladen zu stecken und es dort aufzubewahren, sondern ständig neu aufzubereiten und dabei zukunftstauglich zu machen. Es folgt einer Logik, die grundsätzlich nach vorn blickt, auch und gerade dann, wenn sie mit den Dingen zu tun hat, die wir früher erlebt haben und längst für erledigt halten. Wir müssen unser Verständnis von Gedächtnis also in einem sehr grundsätzlichen Sinn umpolen und damit revolutionieren. Es gilt zu verstehen, dass seine Hauptaufgabe in der Lebensplanung besteht und es deshalb wohl kein zweites menschliches Vermögen gibt, das mit derart komplexen und ständig wechselnden Aufgaben zu tun hat. Geht es doch letztendlich darum, wie aus der vielfältigen Vergangenheit des Erlebten heraus die Aussicht auf eine erstrebenswerte Zukunft entsteht.

Und so fragen wir in Kapitel 1 zunächst ganz grundsätzlich, welche neuen Einsichten in der Gedächtnisforschung ein solches Umdenken nahelegen. Wir werden bei den einfachsten Lernprozessen beginnen und dann weiterverfolgen, was aus den so angelegten Gedächtnisspuren später wird. Bleibt es bei dem, was einstmals erlebt und anschließend abgelegt wurde? Können wir sicher sein, dass wir auf genau das wieder zurückgreifen, was wir für spätere Zwecke einmal abgespeichert haben? Wir werden sehen, dass schon bei den ersten Schritten der Verarbeitung nicht alles so ist, wie wir es uns gern vorstellen – gewöhnt an unseren Umgang mit Computern. Anders als bei den Rechenmaschinen können wir zum Beispiel nicht einfach einen Button drücken und in Sekundenschnelle ganze Buchdateien herunterladen. Wir haben es vielmehr mit Beschränkungen zu tun, die mit einem ganz bestimmten Zeitmanagement unserer Lernvorgänge zu tun haben. Wie viel Informationseinheiten kann man gleichzeitig im Kopf behalten? Ab wann sind wir überfordert? Wir werden nicht nur Antworten geben, sondern auch erklären, warum das so sein muss. Am Ende des Kapitels wagen wir noch einen ersten Ausblick: Was bedeuten die neuen Einsichten, wenn wir schon einmal auf das Große und Ganze schauen und es also darum geht, wie unser Gedächtnis insgesamt angelegt und ausgerichtet ist? Wie helfen uns die nun erforschten Strukturen dabei, im Leben besser zurechtzukommen? Und vor allem: Was ist das spezifisch Menschliche an dieser Art, mit Vergangenheit umzugehen?

In Kapitel 2 wechseln wir dann von der Tagseite des Lernens und Behaltens auf die Nachtseite. Wir kümmern uns um Träume verschiedener Art. Wenn das Gedächtnis immer zurückhaltend erscheint und deshalb im Hintergrund bleibt und von dort aus wirkt, wäre es schließlich kein kleiner Gewinn, einmal hinter die Kulissen des Geschehens schauen zu können – und zu beobachten, was passiert, wenn es sozusagen ungestört seiner Arbeit nachgeht. Und genau das versucht man mit neuen Verfahren, die eine Art Leitung zu den beteiligten Hirnregionen legen, durch die wir dann einen live stream aus unseren Träumen zugespielt bekommen. Zuerst einmal darf man ankündigen, dass sich vor allem in der Tiefschlafphase viel mehr tut, als man das ausgehend von den eigenen Erfahrungen vermuten möchte. Und wir können auch schon vorausschicken, dass die fraglichen Vorgänge viel mit Lernprozessen zu tun haben, zumindest wenn es um dauerhaftes Lernen geht.

Es wird im Anschluss an solche Untersuchungen aber auch um jene Sorte Träume gehen, an die wir uns oft noch lebhaft erinnern und die also schon seit Urzeiten Gegenstand einer besonderen Traumdeutung sind. Und wir werden sehen, dass die neueren Forschungen einmal mehr zum Umdenken anregen. Könnte es etwa sein, dass wir unsere Träume in einem ganz bodenständigen Sinn betrachten müssen, so bizarr sie uns auch manches Mal erscheinen mögen? Wir werden versuchen, dafür zumindest gute Gründe beizubringen.

Unsere Beschäftigung mit Träumen wird an dieser Stelle jedoch noch nicht zu Ende sein. Die Hirnforschung hat noch etwas herausgefunden, was unser allnächtliches Träumen künftig verändern könnte. Sie arbeitet nämlich an Verfahren, die es möglich machen, uns zum Koregisseur des Traumgeschehens zu machen. Manche, sehr talentierte Menschen können das auch ohne technische Hilfe. Für uns Normalsterbliche ergeben sich daraus aber neue Möglichkeiten. Wir könnten eingreifen an Stellen, an denen wir bislang den Traumgeschichten hilflos ausgeliefert waren. Welche Aussichten uns das erschließt, sehen wir in Kapitel 3. Nur so viel sei vorab gesagt: Es geht um den Traum eines jeden Sportlers, trainieren zu können, ohne einen Finger krumm zu machen.

Im Traum kann man sich manches einbilden, was in Wahrheit nie geschehen ist. Ist das aber auch am Tag und bei vollem Bewusstsein möglich? In Kapitel 4 gehen wir dem Phänomen der falschen Erinnerungen nach. Dabei geht es jedoch weniger um ein zufälliges Vertun und die natürlichen Irrtümer, die einem unter ungünstigen Umständen unterlaufen. Wir fragen vielmehr danach, ob es möglich ist, das Gedächtnis absichtlich zu verfälschen. Kann man sich selbst etwas einreden, so sehr, dass man am Ende an die eigene Lüge glaubt?

Je mehr die Hirnforschung in Sachen Gedächtnis zutage bringt, umso deutlicher wird es, dass es sich in sehr unterschiedlichen Netzwerken organisiert und damit kein einheitliches Vermögen sein kann. Und so kommen wir in Kapitel 5 zu einer Gedächtnisform, die als ein Relikt aus vergangenen Tagen erscheinen muss. Es geht um Gefühle und die besondere Weise, wie sie uns im Gedächtnis bleiben. Wie kommt es, dass wir uns nur sehr schwer von negativen Erlebnissen lösen und Erinnerungen uns immer wieder einholen, die wir nur zu gern und ein für alle Mal verabschieden würden? Warum muss der Liebeskummer so tief empfunden werden? Wieso lassen uns traumatische Erfahrungen einfach nicht los? Dann gibt es aber natürlich auch Erinnerungen, die mit sehr positiven Erlebnissen zu tun haben, wie etwa Kindheitserinnerungen. Was machen diese Erinnerungen mit uns? Wie gelingt es ihnen, uns in die Stimmung längst vergangener Tage zurückzuversetzen? Wir begeben uns auf eine Zeitreise und folgen den Spuren des Schriftstellers Marcel Proust. Kann man Vergangenheit womöglich riechen?

Lernen im Schlaf und eine Zeitreise in das Land unserer Kindheit sind aber bestenfalls Nebenprodukte einer Gedächtnisforschung, die sich noch weit größeren Herausforderungen stellen muss. Jener Frage nämlich, wie sich unser Gedächtnis im Laufe unseres Lebens entwickelt und uns bis ins hohe Alter hinein begleitet. Dann zeigt sich am deutlichsten, wie stark wir im Alltag immer noch Klischees folgen und vollkommen unterschätzen, was unser Gedächtnis wirklich kann. Meinen wir doch sicher zu sein, dass unser Erinnerungsvermögen schwächer wird, sobald wir in das Alter kommen, in dem wir eine Lesebrille brauchen. Verlegen wir einmal den Schlüssel und suchen ihn eine Viertelstunde lang, sind wir sogleich alarmiert und fahnden im Internet nach einem verlässlichen Gedächtnistest. Haben wir einen Termin verschwitzt, fragen wir uns, wie lange es noch bis zur Verrentung ist. Und wenn uns eine Kollegin darauf anspricht, wie wir das Mittagessen in der Kantine fanden, sagen wir irgendetwas Durchschnittliches und sind innerlich unglaublich beschämt, weil wir schon nicht mehr genau wissen, was es eigentlich gab. Wir versuchen nun zu zeigen, dass diese vermeintlichen Versäumnisse und Gedächtnislücken nur Kleinigkeiten sind, die man am besten gar nicht ernst nimmt. Oder besser als Zeichen dafür wertet, dass unser Gedächtnis sich um Wichtigeres zu kümmern hat als um das richtige Schälchen für den Schlüssel, einen von zig Terminen oder die Qualität eines Mittagessens, das vermutlich so durchschnittlich war, dass es eben keine besondere Erinnerung verdient.

Um es auf eine These zu bringen: Das Gedächtnis passt sich unseren wahren Bedürfnissen an und ist dabei sehr effektiv. Werden wir älter und unsere Aufgaben womöglich anspruchsvoller, legt auch unser Gedächtnis das Hauptaugenmerk auf die Dinge, die jetzt zählen. Es sind dann die großen Zusammenhänge, die es zu bedenken und zu memorieren gilt.

Kapitel 6, in dem wir uns mit dem Altern beschäftigen, macht also Mut. Wie die Hirnforschung es heute darstellen kann, sind die nötigen Ressourcen vorhanden, und es gilt, etwas aus ihnen zu machen. Wir wollen zeigen, was es dazu alles braucht und dass die üblichen Ratgeber gern eine wesentliche Komponente in Sachen Gedächtnistraining übersehen: Man muss im Leben noch etwas vorhaben und etwas wirklich wollen. Ohne eine echte Motivation wird es schwer, noch einmal wirklich kreativ zu sein und voranzukommen.

In Kapitel 7 betreten wir Neuland, insofern, als dass die neurobiologische Hirnforschung eben erst auf dem Weg ist, sich eine neue Dimension der Gedächtnisforschung zu erschließen. Es geht dabei um das Thema kollektives Gedächtnis. Wir versuchen zu klären, was das eine individuelle Gedächtnis mit einem anderen individuellen Gedächtnis zu tun hat und ob sich nicht viele individuelle Gedächtnisse zusammen- oder auch kurzschließen lassen. Unsere persönlichen Erinnerungen wären dann Teil eines sie noch einmal umfassenden Netzwerkes, eines Supergedächtnisses, wenn man so will. Das Magische an dieser Vorstellung besteht in dem Umstand, dass wir womöglich Dinge wissen können, die wir uns zwar selbst nie aktiv angeeignet haben, die uns aber dennoch irgendwie präsent sind. Irgendwie kann jeder sagen, wer Rotkäppchen ist, auch wenn man das Märchen selbst niemals gelesen hat. Wir versuchen nachzuvollziehen, wie es dazu kommt.

Das Schlusskapitel des Buches behandelt die Frage, welch unglaubliches Zukunftspotenzial in den aktuellen Forschungen steckt und wie man sinnvoll damit umgehen kann. Es gibt Visionen, die unser Gedächtnis technisch verbessern und zuletzt auch ganz auf Maschinen übertragbar machen wollen. Die kühnsten Erwartungen diesbezüglich stammen aus der Feder US-amerikanischer Softwareentwickler und Schriftsteller. Sie sehen den menschlichen Geist schon in Gestalt von Robotern in das Universum ausschwärmen und die ganze Welt mit unserem Know-how und unserer Kultur beglücken. Bei uns ist man vorsichtiger und vor allem skeptischer. Man fürchtet, dass Gedächtnisroboter schon in Kürze damit beginnen könnten, ein Eigenleben zu führen. Und das wäre nicht unbedingt zu unserem Vorteil. Wir folgen dieser Gedankenspur und stellen eigene Überlegungen dazu an.

So viel zu dem, was die Leserin oder den Leser in diesem Buch inhaltlich erwartet. Dabei geht es uns nicht nur darum, den Stand der Forschung darzustellen, auch wenn die Einzelexperimente an sich schon spektakulär erscheinen. Wir wollen vor allem eine ganz neue Sichtweise auf das Gedächtnis eröffnen, auf seinen Charakter und seine Aufgabe. Wir behaupten nichts weniger, als dass unser Gedächtnis bislang falsch verstanden wurde, wenn man meint, es sei in erster Linie für die Vergangenheit zuständig, das heißt für die Speicherung von Daten und Inhalten. Dagegen gehen wir davon aus, dass unser Gedächtnis damit zu tun hat, unsere Zukunft zu planen und unser weiteres Vorgehen im Leben vorzubereiten. Seine Hauptaufgabe ist es demnach, das Gespeicherte nicht nur bereitzuhalten für einen späteren Abruf, sondern es zugleich und ständig von neuem zu bearbeiten und aufzubereiten. Das heißt in dem Zusammenhang, die Gedächtnisinhalte neu zu ordnen und auszurichten auf das, was nun als Aufgabe ansteht und für die weitere Lebensplanung wichtig ist.

So weit, so einfach – aber wir gehen noch einen Schritt weiter: Wir behaupten, das Gedächtnis ist nicht bloß ein Dienstleister, der passende Erinnerungen beisteuert zu Vorhaben, die wir uns ausdenken. Umgekehrt ist vielmehr davon auszugehen, dass die Organisation der Inhalte im Gedächtnis uns überhaupt erst auf den Weg bringt, Dinge zu wollen – Dinge, von denen wir anschließend annehmen, wir seien ganz spontan und wie von selbst darauf gekommen. Das Gedächtnis schafft durch seine Zuarbeit Grundlagen für Entscheidungen und legt dabei die einzelnen Punkte schon in einer bestimmten Art und Weise zurecht. Es experimentiert, welche Pfade zu gehen möglich sind und wo wir im Licht des Erlebten mit Schwierigkeiten oder Widerständen rechnen müssen. Wenn man so will, malt es das i, auf das wir dann noch den Punkt setzen müssen. Demselben Gedankengang kann man schließlich auch in umgekehrter Richtung folgen. Engt sich die Zukunftsperspektive unseres Lebens ein, etwa durch hohes Alter oder durch Krankheit, ändert sich auch die Vorgehensweise unseres Gedächtnisses. Es plant dann weniger für die bevorstehende Zukunft und schaut voraus, als dass es uns zurückblicken lässt auf das, was einstmals noch der Ausblick auf eine mögliche Zukunft war. Weniger abstrakt formuliert: Kindheitserinnerungen werden wichtig, das Erinnern eines Anfangs, aus dem sich alles Weitere in unserem Leben erst noch entwickeln sollte. Unser Gedächtnis versetzt uns zurück in eine Vergangenheit, in der uns die Welt noch offenstand.

Eine solche neue Sichtweise auf das Gedächtnis hat also damit zu tun, dass wir es grundsätzlich als zukunftsorientiert und kreativ ansehen, und dementsprechend müssen wir auch seinen Charakter neu bestimmen. Wobei es uns besonders bedenkenswert erscheint, dass die Kreativleistung unseres Gedächtnisses meistens unbemerkt bleibt, und wir nur mehr oder weniger staunend vor dem Ergebnis seines verborgenen Tuns stehen. Bei der Frage, welchen Titel unser Gedächtnis für sich beanspruchen darf, kommt uns die Philosophie zu Hilfe.

Vor mehr als 200 Jahren hat der Königsberger Philosoph Immanuel Kant einmal nachgefragt, was denn den Künstler zum Künstler macht. Und er kam auf die Idee, dass es ein ganz besonderer Geist sein muss, der ihn zu seinen Taten befähigt. Dieser Geist wirkt nämlich aus dem Hintergrund heraus. Sosehr sich jemand müht, der Künstler sein will, etwas Schönes hervorzubringen, sosehr er sich anstrengt und überlegt, wie es aussehen muss und welche Regeln es einzuhalten gilt, es wird ihm gerade durch solche Mühe nicht gelingen. Vielmehr hat er dann Aussicht auf Erfolg, wenn irgendeine gut verborgene Kraft oder Anlage in ihm die Arbeit der Komposition übernimmt und in einer glücklichen Stunde einfach vorstellt, wie es am Ende auszusehen hat. Jener Geist erscheint dem Menschen dann als »schützend« und »leitend«.[2]

Es ist also ein guter Geist, der den Menschen für Kant zum Original und Genie macht. Und im Grunde muss man nun nur noch verstehen, dass unser Gedächtnis wie jenes natürliche Talent inspirierend auf uns wirkt, ohne dass wir es jemals richtig bemerken und zur Kenntnis nehmen. Mit dem einzigen Unterschied, dass es nicht um ein Kunstwerk geht, sondern um unser Leben selbst. Das Gedächtnis erscheint als genial, weil es Lösungen hervorbringt, auf die wir auch nach reiflicher Überlegung nicht gekommen wären– und es meistens auch gut mit uns meint. Dort jedoch, wo es uns verlässt, fühlen wir uns auch von allen guten Geistern verlassen. Wenn das Gedächtnis also versagt, wie es bei Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz geschieht, fällt das Leben am Ende einfach auseinander. Das sind die zwei Seiten, die ein geniales Vermögen eben an sich hat: Es stürzt uns in Abgründe, wenn es versagt, vor allem aber ist es hoch originell und lässt uns über uns hinauswachsen, solange alles gut geht.

Noch eine Überlegung zum Schluss. Wie wir gerade bemerkten, erscheint unser Gedächtnis als ein unglaublich diskreter Lebensbegleiter, der sich gerne hinter den Kulissen der Tagesgeschäfte aufhält und nur dann auffällig wird, wenn er seinen gewohnten Dienst versagt. Schon der heilige Augustinus bemerkte einmal zum Wesen der Zeit, das ja mit dem Wirken unseres Gedächtnisses eng zusammenhängt: »Solange mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es aber einem erklären will, der danach fragt, weiß ich es nicht.«[3] Und weil es so verborgen und schwer zu erklären ist, versucht man sich das Wirken unseres Gedächtnisses seit jeher an einem Modell klarzumachen. Schon in der Antike wurden technische Vorrichtungen und Apparate zum Vergleich herangezogen. So war Aristoteles der Erste, der vor mehr als zweitausend Jahren das Gedächtnis nach dem Modell eines Siegelringes erklärte, der Abdrücke auf einer Wachstafel hervorbringt. Bei sehr jungen Menschen– und bei alten Menschen wiederum– sei das Wachs so flüssig wie Wasser, und deshalb bleibe von der Prägung nichts erhalten. Bei den trägen Geistern gibt es nichts zu merken, weil das Wachs zu trocken ist.[4]

ENDE DER LESEPROBE