Das Gesetz in uns - Lisa Honroth Löwe - E-Book

Das Gesetz in uns E-Book

Lisa Honroth Löwe

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Beschreibung

Frau Dr. med. Reyersdorff ist schön und in jeder Hinsicht beeindruckend, das ist der Eindruck, den Konsul Printheer von ihr hat, als er ihr zum ersten Mal gegenüber sitzt. Printheer, der in einem eigentümlichen Verhältnis zu ihrem gerade verstorbenen Vater stand, bietet ihr an, sie finanziell zu unterstützen, was sie ablehnt. In der flugs von seinen Untergebenen angelegten Mappe über die junge Ärztin kann der Konsul nachlesen, dass diese ihr Staatsexamen "summa cum laude" gemacht und über Krebserkrankungen promoviert hat. Daraufhin beschließt der Industriekapitän, ihr über Strohmänner eine berufliche Chance zu bieten und sie gleichzeitig mit wiederholten Einladungen an sich zu binden. Beides gelingt und die junge Frau, die nur unter großen Mühen ihr Studium zu Ende gebracht hat, erkennt nicht die Intention des alternden Frauenhelden, sie in sein Bett zu bekommen. Hochdramatisch endet diese Entwicklung mit dem Tod des Konsuls. Doch ist die junge Ärztin tatsächlich eine Mörderin im Affekt, wie sie selbst es glaubt?Lisa Honroth-Loewe (1890–1947) ist eine der deutschen Autorin, die vorwiegend leichte Liebes- und Unterhaltungsromane schrieb. Nach 1933 aus Deutschland emigriert, lebte sie in Basel, bevor sie später in die USA auswanderte. 1947 ist sie in Rockville, Maryland, gestorben. Außer unter ihrem eigenen Namen hat sich auch unter den Pseudonymen Liane Sanden und Rena Felden publiziert.-

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Lisa Honroth Löwe

Das Gesetz in uns

SAGA Egmont

Das Gesetz in uns

Copyright © 1933, 2018 Lisa Honroth-Loewe und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711593288

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

1

„Printheer“, las Agnete über dem großen Portal.

„Ich möchte Herrn Printheer sprechen.“

„Dritten Stock. Zimmer neunhundertvierundzwanzig. Anmeldung.“

Schon wandte der Pförtner sich einem anderen Besucher zu. Unschlüssig stand Agnete vor dem Paternosterwerk. Unaufhaltsam gingen die Fahrstühle nebeneinander hinauf, herunter, trugen empor, schleuderten hinaus. ‚Zellen‘ — mußte Agnete denken — ‚Zellen, in denen Menschen gefangen sind mit ihrer Arbeit, ihren Sorgen, mit all der sinnlosen Hast, aus der das Leben besteht.‘ Sie zögerte einen Augenblick, sah die Gesichter hinauf- und heruntergleiten, sorgenvolle, gespannte, ermüdete, alte und junge Gesichter — aber alle hineingerissen in das treibende Rad der Arbeit. Es lag etwas Atemberaubendes in diesem ewigen Hinauf und Hinab, das niemals Ruhe fand.

Gerade erschien eine dieser emporsausenden Holzzellen vor ihr. Sie trat hinein. Schon schwebte sie aufwärts.

„Erster Stock, Rechnungsabteilung“, las sie, „zweiter Stock, Personalabteilung.“

Hier stieg ein Herr mit einem dicken Aktenbündel und einem ebenso umfangreichen Bauch ein. Er schnaufte asthmatisch und ließ über schiefsitzende Gläser hinweg einen erfreuten Blick über Agnetes Erscheinung gleiten.

Der Paternosterfahrstuhl schwebte weiter. Dritter Stock. Sie stieg aus.

Eine breite Schranke von rötlich poliertem Holz versperrte den Weg. Ein Diener:

„Sie wünschen?“

„Zu Herrn Konsul Printheer.“

„Sind Sie angemeldet? Nein? Dann bedaure ich.“ Aus einem ihr selbst unklaren, inneren Widerstreben hatte Agnete bisher gezögert, die Karte Printheers vorzuzeigen. Aber anders kam sie jetzt nicht weiter.

Mit dem Diener ging eine sichtliche Veränderung vor, als seine Augen die Zeilen überflogen, in denen Printheer Agnete um ihren Besuch bat.

„Wollen gnädiges Fräulein mir, bitte, folgen?“ Er ging in respektvollem Abstand neben Agnete den Gang entlang zu einer Tür mit dem Schild: Privatsekretariat. Sie passierten ein sehr großes Zimmer, in dem eine Anzahl Herren warteten.

„Darf ich bitten, hier einen Augenblick Platz zu nehmen?“

Der Diener schob mit einem Schwunge Agnete einen bequemen Sessel hin. Dann ging er weiter in ein drittes Zimmer. Dort saßen einige junge Mädchen an Maschinen. Ein junger Mann ging diktierend auf und ab.

Auf eine kurze Mitteilung des Dieners hin kam dieser schnell auf Agnete zu.

„Ich bitte Sie, sich ein paar Augenblicke zu gedulden, gnädiges Fräulein. Herr Konsul ist beschäftigt. Aber ich werde Sie sofort persönlich anmelden.“

Agnete wartete. Von ihrem Platz am Fenster konnte sie die beiden Räume rechts und links beobachten. Die Herren in dem großen Zimmer schienen alle Besucher zu sein, die auf Konsul Printheer warteten. Sie war die einzige Frau hier.

Interessierter schweifte aber ihr Blick in das andere Zimmer. Zum ersten Male sah sie solch einen modernen Bürobetrieb. Es schwirrte hier geradezu von Arbeit. Ununterbrochen ging das Telephon. Boten, Angestellte kamen herein, gingen hinaus. Eine Dame war ausschließlich damit beschäftigt, Briefe und Telegramme zu öffnen und in verschiedene Mappen zu ordnen. Ein Diener stand schon bereit, um diese Mappen in Empfang zu nehmen und mit ihnen durch eine andere Tür zu verschwinden.

Nun kam der junge Mann, der Agnete hatte anmelden wollen, zurück und öffnete im Vorbeigehen die Tür zu dem großen Raum, in dem die Herren warteten.

„Herr Konsul bedauert, er hat noch eine unerwartete Konferenz. Vielleicht bemühen sich die Herren morgen nochmals.“

Dann auf einen Zettel sehend:

„Herr Doktor Bernhard, wenn Sie, bitte, zu einer Vorbesprechung zu Herrn Direktor Sarter herübergehen wollen? — Herr Böhnisch, bitte, Zimmer zweihundertzweiundsechzig. Herr Prokurist Werner hat Anweisung bekommen, mit Ihnen zu verhandeln.“ Die namentlich aufgerufenen Herren ergriffen eilig ihre Mappen und gingen hinaus. Die anderen Wartenden standen enttäuscht auf.

Nun wandte der Herr sich zu Agnete:

„Darf ich Sie bitten, gnädiges Fräulein? Herr Konsul erwartet Sie.“

*

Agnete stand Printheer gegenüber. Der erste Eindruck war der ungewöhnlicher Kraft. Lag es in seiner sehr großen, breitschultrigen Gestalt, lag es in seinen Augen, die dunkel unter den schweren Lidern hervorblitzten? Das Mädchen sah in ein mächtiges Gesicht, das trotz seiner Gepflegtheit irgendwie unmodern wirkte. Irgendwo mußte sie eine solche Physiognomie schon einmal gesehen haben. Und das Wesentliche waren wohl die Augen, schien ihr.

Täuschte sie sich, oder lag eine gewisse Spannung in der Art, wie Printheer sie betrachtete? Galt diese Spannung ihrer Erscheinung? Von neuem überkam sie die starke Befangenheit. Was sollte sie Printheer eigentlich sagen? Aber schließlich war es ja an ihm, zu sprechen. Er selbst hatte sie hergebeten, ohne daß sie den Grund ahnte.

Jetzt reichte Printheer Agnete Reyersdorff die Hand. Es war eine große, fleischige Hand, die fest zufaßte. Nun hörte sie auch seine Stimme: tief, klangvoll.

„Fräulein Reyersdorff, zunächst mein aufrichtigstes Beileid zum Tode Ihres Vaters.“

Printheer machte eine kleine Pause und betrachtete Agnete unverwandt.

„Sie werden sich über meine Karte gewundert haben. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Bitte!“

Er wies auf einen Sessel und nahm ihr gegenüber Platz.

Agnete sah Printheer aufmerksam an. Ihre Befangenheit war geschwunden.

„Ich gehe wohl nicht fehl, Fräulein Reyersdorff, wenn ich annehme, daß Ihr Vater mit Ihnen über meine Beziehungen zu ihm gesprochen hat.“

Agnete schüttelte den Kopf.

„Nicht? — Dann haben Sie wohl aus den hinterlassenen Papieren des Verstorbenen Näheres ersehen?“

Wieder schüttelte Agnete den Kopf.

„Nichts, gar nichts, Fräulein Reyersdorff?“

„Gar nichts.“

Ton und Blick waren so aufrichtig und ob seiner eindringlichen Fragen so verwundert, daß Printheer, der Erfahrene, nicht zweifeln konnte, daß Agnete die Wahrheit sprach.

„Nun denn, Fräulein Reyersdorff, dann muß ich Ihnen wohl eine Erklärung geben. Ihr Vater und ich haben vor Jahren zusammen angefangen. Er hat mir einmal einen großen Dienst erwiesen — ich möchte nicht darüber reden, denn ich sehe, er hat es auch nicht gewollt. Eine Sache zwischen Männern war es. Ich habe es ihm nicht vergessen. Ich habe mich aus meiner Dankbarkeit heraus auch später weiter um ihn kümmern wollen. Aber er hat mich zurückgewiesen. Er wollte ja alles immer nur durch sich selbst erreichen. So — —“, er zögerte einen Augenblick, „kamen wir auseinander. Doch habe ich ihn auch, ohne daß er es wußte, immer im Auge behalten, bereit, einzugreifen, wenn es nötig wäre. Ich wußte, daß seine Verhältnisse eng waren, aber nicht eigentlich sorgenvoll. Das hat sich wohl in der letzten Zeit geändert? Würden Sie mir Näheres darüber sagen können? Ich frage nicht aus müßiger Neugier, sondern aus meiner Dankbarkeit für Ihren Vater heraus. War seine Lage schon lange bedrängt?“

„Nein, erst ganz zuletzt, Herr Konsul. Vater war ja in bezug auf seine pekuniären Verhältnisse sehr verschlossen. Und sehr stolz, stolz und aufrecht.“

„Ja, das war er wohl“, sagte Printheer und sah auf Agnetes versonnenes Gesicht.

„Nun, Fräulein Reyersdorff, meine Dankesschuld an Ihrem Vater besteht für mich weiter — Ihnen gegenüber. Für Sie würde er diesen Dank nicht zurückweisen, soweit kannte ich ihn auch. Würden Sie mir vielleicht einmal von sich in kurzen Umrissen erzählen? Sie wissen nun: Ich frage aus bestimmten Gründen. Wie sind Ihre pekuniären Verhältnisse jetzt?“

„Ich bin bis jetzt durchgekommen, Herr Konsul. Aber nun sieht es etwas sehr schwierig aus.“

„Hat Ihnen Ihr Vater gar nichts hinterlassen?“

„Nur das kleine Anwesen, das er sich in der Werksiedlung erworben hatte.“

„Wollen Sie das Haus behalten?“

„Ich weiß es noch nicht. Mein Beruf wird mich ja nie mehr dauernd in die Heimat zurückführen. So wird das Haus ein Luxus sein, den ich mir nicht mehr leisten kann. Freilich“, fügte Agnete leiser hinzu, „ich hänge an ihm.“

„Nun, Fräulein Reyersdorff, Sie brauchen ja heut und morgen noch keine Entschlüsse zu fassen. Würden Sie vielleicht die Sorge dafür mir später überlassen, auch einen eventuellen Verkauf?“

„Gern, wenn Sie so gütig sein wollen.“

„Dann schicken Sie mir, bitte, alle diesbezüglichen Schriftstücke und Urkunden über Kauf und Belastung sowie den Hypothekenbrief an mein Büro. Sie werden dann bald von mir hören. — Aber nun wüßte ich gern noch etwas über Ihr Leben. Sie haben einen Beruf?“

„Ja, ich habe Medizin studiert.“

„Wie weit sind Sie denn?“

„Ich bin fertig.“

„Ganz fertig? Sie sehen ja noch so jung aus.“

Hier lächelte Agnete zum ersten Male. Es war nur ein ganz schneller Hauch eines Lächelns, der über ihr Gesicht ging, aber er erhellte es wunderbar.

Printheers Augen schossen wie ein Blitz über sie hin.

Eine Schönheit war ja dieses Mädchen. Nur froher und unbelasteter müßte es aussehen.

„Haben Sie auch schon Ihr praktisches Jahr gemacht? Womöglich auch schon den Doktor? Ja? Oh, dann bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie nicht mit Ihrem Titel angeredet habe. Nun, Fräulein Doktor, wollen Sie mir jetzt noch anvertrauen, wie Sie sich die Zukunft vorgestellt haben?“

„Wie ich mir die Zukunft vorgestellt habe? Ach Gott, Herr Konsul, Vorstellungen von der Zukunft kann man sich unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr machen. Man muß ja alles beiseitestellen an eigenen Wünschen, um sich nur überhaupt durchzuschlagen. Bezahlte Assistentenstellungen zu bekommen ist unmöglich, wenn man nicht besondere Beziehungen hat —“

„Protektion ist heut in allen Berufen notwendig, Fräulein Reyersdorff.“

„— ja, und Vertretungen sind kaum noch zu haben. Für eine selbständige Niederlassung fehlen mir alle Mittel, ganz abgesehen davon, daß mir meine Ausbildung noch lange nicht genügen würde. Ich habe schon versucht, alles mögliche zu bekommen. Aber es ist für eine Akademikerin viel schwerer als für einen anderen Menschen, eine Stellung zu finden. Man kommt nicht einmal als Dienstmädchen unter. Der Arbeitsnachweis hat mir ein paar Stellen nachgewiesen. Aber die Leute haben sofort nein gesagt. Man kann doch eine Ärztin nicht ans Waschfaß stellen oder an den Aufwischeimer, hieß es.“ Printheer sagte lächelnd, und wieder streifte sein Blick schnell über Agnete hin:

„Das kann ich mir vorstellen, daß Sie als Dienstmädchen nicht gerade an Ihrem richtigen Platze sind.“

„Auch als Stenotypistin habe ich mich schon beworben, aber auch vergebens.“

„Stenotypistin? Das ist Unsinn, Fräulein Reyersdorff. Wir haben in der Wirtschaft so viel tüchtige und geschulte Bürokräfte, die auf der Straße liegen, daß wir nicht noch ungeschulte einstellen können.“ Agnete zuckte die Schultern:

„Sie haben ja recht, Herr Konsul. Aber —“ Sie schwieg bedrückt.

„Und was würden Sie beginnen, Fräulein Reyersdorff, wenn Sie reich wären?“

„Reich? Ich ersehne Reichtum nicht, Herr Konsul.

Die Wünsche, die ich ans Leben habe, sind bescheiden. Aber wenn ich nur die geringsten Mittel hätte, dann würde ich rein wissenschaftlich arbeiten wollen.“

„Denken Sie an ein Spezialgebiet?“

Agnetes blasses Gesicht belebte sich. Ihre Stimme bekam Wärme und Klang.

„O ja, Herr Konsul, Krebsforschung. Meine Doktorarbeit handelte von derartigen Problemen. Ich wäre glücklich, wenn ich auf diesem Gebiet weiterarbeiten könnte. Aber — das sind Wünsche. Es geht eben nicht.“

Printheer überlegte kurz:

„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Fräulein Doktor. Vielleicht ist es möglich, etwas für Sie zu tun. Jedenfalls stehe ich immer zu Ihrer Verfügung, wenn Sie etwas von mir wünschen. Bitte, wenden Sie sich immer direkt an meinen Privatsekretär Doktor Dörnberg. Das erspart Ihnen den Instanzenweg.“

Er sah auf seine Uhr. Agnete erhob sich sofort. „Ich danke Ihnen, Herr Konsul.“

„Noch nichts zu danken, Fräulein Doktor. Hoffentlich bald auf Wiedersehen.“

Printheer ließ Agnete vor sich durchs Zimmer gehen. Sie sah nicht den Blick, mit dem er sie prüfte, ihre große, schmale Gestalt mit dem federnden Gang, die stolze, entschlossene Haltung des Kopfes, um den sich das blonde Haar wie ein Helm schloß, das ganze Strenge und Unberührte ihrer Erscheinung. Etwas Dianenhaftes war in der Art, wie ihre Füße ausschritten. Unwillkürlich schlossen sich seine Augen zusammen. Der schmallippige Mund, der in so starkem Gegensatz zu dem großflächigen Gesicht stand, schob sich vor. Agnete fühlte, ohne ihn zu sehen, diesen prüfenden Blick in ihrem Rücken. Beunruhigt drehte sie sich um, sah aber in ein verbindlich lächelndes, beherrschtes Gesicht. Printheer öffnete ihr selbst die Tür zu dem Sekretariatszimmer. An dem erstaunten Aufsehen der Sekretärinnen drin spürte Agnete, daß diese Höflichkeit Printheers etwas Ungewöhnliches war. Noch einmal fühlte sie seine Hand mit dem festen zupackenden Druck, sah, wie seine große, dunkle Gestalt in dem hellen Lichtviereck stand, das von den großen Fenstern her bis zur Tür fiel.

Und schon riß der Privatsekretär die Tür zum Korridor vor Agnete auf.

Konsul Printheer sah Agnetes schwarze, schmale Silhouette um die Ecke biegen. Schon in der Tür zu seinem Arbeitszimmer wandte er sich um:

„Legen Sie Akten an: Dr. med. Agnete Reyersdorff.“

2

Agnete stand auf der Straße. Der feuchte Märzwind warf sich ihr in wilden Stößen entgegen und nahm ihr fast den Atem. Merkwürdig, daß ihr diese erste, ungewohnte Weichheit der Frühlingsluft jetzt erst zum Bewußtsein kam. Heute früh hatte sie in ihrer Aufregung nichts von allem gespürt. Und jetzt fühlte sie eine Unruhe in sich, stärker eigentlich als vor dem Besuch bei Printheer. Niemals hätte sie geglaubt, daß der Vater eine Beziehung zu einem Manne wie Printheer gehabt hätte, niemals geglaubt, daß sie selbst je in eine Beziehung zu ihm treten würde. Vielleicht würde er doch einen Weg für sie wissen? Er hatte es ja angedeutet. Aber wie vielen, die zu einem Manne wie Printheer kamen, mochte wohl Ähnliches gesagt werden! Wie vielen etwas versprochen werden, ohne daß das Versprechen je eingelöst wurde. Vermutlich war es dies Unsichere, was sie so bedrängte. Heute früh noch, ehe diese Karte von Printheer ihr aus der Heimat nachgesandt worden war, hatte sie ihr Leben überschauen können, hatte gewußt, daß sie ganz allein auf sich gestellt war und auf das, was die Studentenhilfe ihr an Arbeit übermittelte. Jetzt war alles vage geworden — und doch hatte im Grunde sich nichts geändert. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte diesen Besuch bei Printheer nicht gemacht. Man hätte sich nicht noch durch solche Dinge in falsche Erwartungen hineinziehen lassen sollen.

Agnete fühlte sich plötzlich sehr allein. Sie hatte das Bedürfnis, mit einem Menschen zu sprechen; darum nahm sie eine Elektrische und fuhr nach dem Studentenhaus in der Johannisstraße. Um diese Zeit würde sie Wolfgang treffen.

*

Ein ununterbrochenes Kommen und Gehen herrschte in dem alten Hause der Johannisstraße. Jetzt, um die Mittagszeit, wurde der Speiseraum fast gestürmt. Für wenig Geld bekamen hier die ewig hungrigen jungen Menschen eine kräftige Mahlzeit. Und wenn es auch nicht gerade so schmeckte wie daheim bei der Mutter, so war man doch froh, sich einmal am Tag richtig satt essen zu können. Studentenleben von heute ist wahrlich kein leichtes Leben. Wo ist die Sorgenlosigkeit geblieben, der fröhliche Leichtsinn, der früher untrennbar verbunden war mit dem Begriff „Student“? „Durchhalten! Fertig werden!“ — das ist der Rhythmus, der heute den gewaltigen Bau der Universität durchpulst. Fertig werden! Nicht mehr den Eltern auf der Tasche liegen, die oft genug das Geld für das Studium ihres Kindes nur mit den schwersten Opfern aufbringen können. Nicht mehr von Tee und trockenen Semmeln leben müssen, wenn der Monat sich seinem Ende nähert und man selbst das Geld für das Mittagessen in der Studentenspeisung nicht mehr hat. Aber Durchhalten! — bis zum Examen. Der wissenschaftlichen Arbeit treu bleiben. Arzt werden, um der Menschheit helfen zu können. Recht studieren, um später Recht zu sprechen. Selbst lernen, viel lernen, um andere einst lehren zu können!

Und dann macht man das Examen, dann ist man glücklich fertig, hat sich mit größten Opfern an Kraft und Geld durchgearbeitet bis zum Abschluß — und was ist dann? Gering die Aussicht auf irgendeine Anstellung, gering die Bezahlung, wenn man so glücklich war, etwas zu bekommen. Jahrelange, trostlose Wartezeit für die meisten.

Es steckt ein ungeheurer Idealismus in dieser studierenden Jugend von heute, die trotz der trüben Zukunftsaussichten weiterarbeitet, weiterhungert, weiterstrebt. Durchhalten! Fertig werden!

Agnete schob sich zwischen ein paar Kommilitonen hindurch, nickte hier und da. Es waren Studenten, die sie von den Hörsälen und Kollegs kannte. Ein Klappern von Tellern, Geruch von Kohl und Suppe schlug ihr aus dem niedrigen Eßsaal entgegen.

„Tag, Fräulein Reyersdorff“, sagte ein blonder junger Mann hinter ihr — er fuhr nachts eine Taxe, um am Tage studieren zu können — „na, beehren Sie uns auch einmal wieder? Wen suchen Sie denn?“

„Wolfgang, Wolfgang Rautenberg, ach, ich sehe ihn schon.“

Agnete steuerte zwischen ein paar Studentinnen hindurch, die ihren Teller mit der Mittagssuppe vorsichtig durch den menschenvollen Raum trugen.

Aus einer Ecke hinter einem weißgescheuerten Tisch winkte Wolf Rautenberg.

„Hallo, Agnete!“ schrie er über den summenden Lärm hinweg und hielt seine Hand wie einen Wegweiser hoch.

„Tag, Wölfchen.“

Agnete schob sich neben ihn auf die Bank. Ein Student rückte zur Seite.

„Tag, Agnete, wie geht’s? Hast du schon gegessen, oder soll ich dir etwas von dem köstlichen Mahl besorgen? Herrlicher Lunch, sage ich dir. Ganz neues Gericht, Weißkohl mit Fleisch. Das heißt, fürs Fleisch hätten wir eigentlich das Mikroskop mitbringen müssen. Mit unbewaffneten Augen vermochte ich wenig davon zu entdecken.“

„Bist du schon fertig, Wolfgang, oder geht’s erst los?“

„Nee, danke“, Wolf schüttelte sich. „Für den ersten Hunger reicht’s, und für den zweiten möchte ich hier nicht noch mal. Ich weiß nicht, euer Essen, das ist — —“

„Na, wie ist es denn, du Materialist?“

„Preußisch ist es“, sagte Wolfgang mit tiefster Verachtung. „Meiner Ansicht nach beginnt die Trennung zwischen Süd- und Norddeutschland nicht beim Main, sondern bei der Kohlsuppe.“

Er sah mit tiefstem Widerwillen auf seinen Nachbarn, der geräuschvoll das Esssen auslöffelte.

„Weißt du was, Wölfchen, ich lade dich ein zu einer Tasse Kaffee und Kuchen. Wie wäre es damit? Aber nicht hier. Drüben bei Dobrin am Tiergarten. Mir ist so nach Tiergarten und einem guten Kaffee.“

„Welchen reichen Mann hast du totgeschlagen?“ fragte Wolfgang mißtrauisch. „Jetzt? Hast du den Kalender im Kopf, meine Teure? Siebenundzwanzigster. Oder hast du die Studentenhilfe ausgeraubt? Kaffee und Kuchen bei Dobrin? Verwegener Gedanke!“

„Ach, man muß auch einmal verwegene Gedanken haben, Wolfgang. Mit der Vorsicht kommt man auch nicht weiter. Wer weiß, vielleicht geht’s einem bald mal besser.“

„Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf“, zitierte Wolfgang und schob rücksichtslos ein paar Kommilitonen beiseite.

„Einen Augenblick.“

Agnete blieb gewohnheitsmäßig vor dem schwarzen Brett mit den Arbeitsvakanzen stehen.

„Keine Schreibmaschinenarbeiten, nichts zu machen.“

Ihr Gesicht war schon wieder bedrückt.

„Was ist denn mit dir, Agnete?“

Wolfgang sah sie von der Seite an: „Du bist ja so ungleich. Ist dir etwas Unangenehmes passiert? Erzähl’ doch schon, Mädchen.“

Er schob seinen Arm in den ihren.

„Unangenehmes eigentlich nicht. Bloß etwas Merkwürdiges. Und darum habe ich dich ja abgeholt, weil ich selbst mich nicht so ganz zurechtfinde. Eine komische Sache, die mir da passiert ist.“

Während sie beide durch den Tiergarten gingen, erzählte Agnete.

Wolfgang blieb mitten auf dem Wege stehen.

„Was“, sagt er, „Printheer, der große Printheer? Printheer, die Kohle, das Eisen, die Bergwerke, der Mammon? Wie kommt der Glanz in deine niedere Hütte?“

„Das weiß ich eben nicht, Wolf. Warum hat er mich kommen lassen? Nur so aus Dankbarkeit für meinen Vater? So was gibt’s doch eigentlich nicht.“ Wolfgang bemerkte philosophisch:

„Es gibt nichts, liebe Agnete, was es nicht gibt. Vielleicht will er dich zur Universalerbin einsetzen?“

„Du bist verdreht. Mit dir kann man auch kein vernünftiges Wort über solche Angelegenheit reden.“ Wolfgang machte ein halb ernstes, halb spöttisches Gesicht:

„Gib doch zu, Agnete, bei einer solch mysteriösen Aufforderung kann man sich alles mögliche denken. Da bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, was dabei herauskommt.“

Plötzlich sagte er nachdenklich:

„Du, Agnete, kannte dich der Printheer eigentlich schon vorher?“

„Nein. Warum fragst du denn?“

„Ach, nur so.“

Aber das Übermütige und etwas Freche seines Jungengesichts war überschattet. Er ging ganz gegen seine Gewohnheit schweigsam neben Agnete her. Agnete, selbst in ihren unruhigen Gedanken versunken, spürte nichts davon.

Wolfgang Rautenberg sah von der Seite ihr Gesicht. Wie schön es war in seiner herben Fügung. Wie schön die kluge Stirn und, im Gegensatz dazu, der zarte, unerweckte Mund. Er bemerkte es wohl, wie die Blicke der ihnen entgegenkommenden Männer das geliebte Mädchen neben ihm begehrlich streiften. Zärtlichkeit durchrann ihn erneut. Wie sehr war er an Agnete gebunden. Viel mehr als er verriet und sie wußte. Es war gut, daß man den etwas rauhen Ton kameradschaftlicher Herzlichkeit hatte. Und mit ihm ließ sich vieles verbergen an Sehnsucht, Wünschen. Solange Agnete unangerührt von der Liebe durchs Leben ging, war eine hoffnungslose Neigung erträglich. Man mußte nur die Zähne zusammenbeißen. Agnete sah in ihm nichts anderes als den Freund und Arbeitsgenossen. Bisher aber hatte sie auch noch niemals mehr in irgendeinem anderen Mann gesehen. Wenn sie einmal erwachte, dann würde es schwer für ihn sein.

*

Vor Printheer lag eine Mappe mit dem Vermerk: „Agnete Reyersdorff.“ Er las nochmals die Informationen. Sie ergänzten das Bild, das Agnete ihm von ihrem bisherigen Leben gegeben. Armut, Arbeit, Studium, Hunger und Versuche, durch Arbeit aller Art sich obenzuhalten. Aber eines hatte sie ihm nicht gesagt. Hier stand es: Doktorexamen summa cum laude bestanden. Thema der Doktorarbeit: „Moderne Krebsprobleme.“ Besondere Bemerkung: „Wegen hervorragender Ergebnisse wurde diese Arbeit auf Kosten der Fakultät gedruckt und in den Annalen für Krebsforschung publiziert.“

Das hatte sie ihm nicht gesagt. Sie glich offenbar sehr dem Vater. Der hatte sich auch nie ins Licht gestellt, war verschlossen bis zur Starrheit gewesen. Sonst wäre alles anders gekommen. Ob seine Tochter wirklich auch so war? Was verbarg sich hinter diesem schönen und strengen Gesicht?

Printheer schloß die Augen. Agnetes Antlitz war vor ihm. Sie wußte nichts von ihm, nichts von dem, was sich zwischen ihm und dem Vater ereignet hatte. Die Sorge, die er seit Christian Reyersdorffs plötzlichem Tode gehabt, war unbegründet gewesen. Aus dieser Sorge heraus hatte er Agnete zu sich gebeten. Er hatte geglaubt, das Schweigen, das der Vater freiwillig gewahrt, nach seinem Tode von ihr erkaufen zu müssen. Doch Christian Reyersdorff hatte auch alle Papiere vernichtet. Seine Tochter wußte von ihm nichts, und man hätte sie ihres Weges gehen lassen können. Doch nun er sie gesehen, würde er sie nicht mehr aus den Augen verlieren. Die uneingelöste Schuld, die er gegenüber Christian Reyersdorff durchs Leben getragen, sollte nun endlich beglichen werden. Um so mehr, als die Gläubigerin nun diese Agnete war.

Printheer schloß die Mappe.

Er wandte sich der eingegangenen Post zu. Neben den geöffneten Geschäftsbriefen ein geschlossener Privatbrief mit steiler, männlicher Handschrift. Er öffnete das Schreiben, sah verblüfft auf einen Scheck, der mit einem Brief zusammen herausfiel.

„Sehr geehrter Herr Konsul“, las er. „Es war sehr gütig von Ihnen, mir mit der Übersendung des Schecks meine augenblickliche schwierige Lage erleichtern zu wollen. Ich hoffe, daß Sie mir nicht zürnen, wenn ich den Scheck in Ihre Hände zurücklege. Es widerstrebt mir, Geld ohne Arbeit und Gegenleistung anzunehmen. Da Sie aber soviel gütiges Interesse an mir bezeigen, erlaube ich mir, Sie nochmals zu bitten, ob Sie nicht irgendeine Anstellung für mich wissen. Ich würde jede Arbeit, die ich leisten kann, annehmen, um zu verdienen und nicht auf die Güte anderer angewiesen zu sein.

Mit bester EmpfehlungIhre sehr ergebene Agnete Reyersdorff.“

Printheer las den Brief zweimal. Dann hob er den Telephonhörer ab.

„Stellen Sie Verbindung her mit dem Kultusministerium, Medizinalabteilung. Ich möchte den Personalreferenten sprechen.“

Dann begann er zu arbeiten. Draußen gab die Sekretärin die Meldung weiter. Nach wenigen Minuten hörte Printheer:

„Hier Ministerialrat Brechlin.“

„Hier Printheer. Guten Morgen, Herr Ministerialrat. Ich glaube, wir kennen uns. Bei dem letzten Abend des Kultusministers hatte ich den Vorzug. Doch, natürlich. Ich habe ein ausgezeichnetes Personengedächtnis. Würden Sie mir einen großen Gefallen tun, mir eine Viertelstunde zu einer Unterredung zur Verfügung stehen?“

„Wie? Sie wollen sich selbst zu mir bemühen? Mehr, als ich verlangen kann, Herr Ministerialrat. Wann darf ich Ihnen meinen Wagen schicken? Schön, zwölf Uhr zwanzig. Ich danke Ihnen, ich erwarte Sie also bei mir.“

Printheer griff zum Diktaphon:

„Chauffeur Adberg zwölf Uhr zwanzig vor dem Kultusministerium, Ministerialrat Brechlin abholen. Direkt zu mir fahren.

Herr Doktor Sonneberg mit Unterlagen in Sachen Sidkaudis zu mir.

Bitte, Fräulein Claas, nehmen Sie auf.“

Draußen, in Printheers Privatsekretariat, saß in einer Art Extraabteil ein junges Mädchen. Sie schrieb nach Printheers Diktat.

„An unsere Vertretung in Lieblau, Bezüglich der Waldterrains (vergleiche Angebot Sidkaudis, zwölften März).

Wir haben nach wie vor Interesse an dem Erwerb. Doch werden wir Caloweit dazwischenschalten. Caloweit wird in den nächsten Tagen mit genauen Direktiven bei Ihnen eintreffen.

Sollte das russische Kommissariat für Holzverkäufe inzwischen Angebote machen, so können Sie etwas davon durchsickern lassen.

Über den finanziellen Status der Firma Sidkaudis und ihre Möglichkeit, noch durchzuhalten, erwarte ich binnen acht Tagen zuverlässige Information.“

„Weiter. Nächster Brief. An die Generaldirektion unserer Bleigruben in Bilhao:

Wie Ihnen schon durch Chiffretelegramm mitgeteilt wurde, sind die neuen Lohnforderungen durchaus abzulehnen. Falls es zum Streik kommt, braucht uns das nicht zu stören. Im Gegenteil. Wir hätten dann einen guten Grund, die Bleigruben stillzulegen, was bei der dauernd sinkenden Tendenz der Weltmarktpreise für uns nur vorteilhaft sein kann. Ich habe im Ministerium bereits vertraulich auf die Möglichkeit der Stillegung als Beantwortung eines Streiks hingewiesen. Sie wollen unverzüglich sich direkt mit dem Ministerium ins Benehmen setzen, inwieweit wir auf militärischen Schutz bei Unruhen rechnen können.“

*

Punkt zwölf Uhr zwanzig wurde Ministerialrat Brechlin bei Printheer gemeldet.

Der ging ihm mit liebenswürdigem Lächeln und ausgestreckter Hand entgegen:

„Wirklich ungemein freundlich von Ihnen, Herr Ministerialrat, daß Sie mir Ihre kostbare Zeit —“

„Aber ich bitte Sie, Herr Konsul“, der weißhaarige, zerknitterte Herr lächelte zuvorkommend, „ich glaube, daß Ihre Zeit bedeutend kostbarer ist als die meine. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen gefällig sein zu können. Das Kultusministerium und besonders die medizinische Abteilung verdankt Ihrer Hochherzigkeit so viel.“

„Na, übertreiben Sie nicht, Herr Ministerialrat“, lachte Printheer. „Ich habe nun einmal ein Faible für die Medizin. Auch meine heutige Bitte an Sie — aber nehmen Sie doch Platz. Rauchen Sie? Ich bitte sehr! Schwerer? Leicht? Ja, also, meine heutige Bitte geht aufs Medizinische. Ist allerdings etwas persönlich. Wollen wir gleich in medias res gehen. Es handelt sich um folgendes:

Ein mir befreundeter Professor Ihrer Fakultät hat sich geradezu begeistert über eine Arbeit aus dem Krebsforschungsgebiet ausgesprochen, die von einer jungen Ärztin namens Reyersdorff hergestellt wurde. Er sagte mir, es wäre eine Fülle von neuen Gedanken in dieser Arbeit enthalten, denen im Interesse der leidenden Menschheit nachgegangen werden müsse. Der Professor bezeichnete es geradezu als ein Unglück, daß eine solche Kraft nicht von Staats wegen die Möglichkeit hätte, ihre Ideen weiter auszubauen. Nun ist die betreffende junge Ärztin vollständig mittellos. Ich habe mir die Sache notiert, weil ich glaube, man könnte hier etwas tun. Selbstverständlich habe ich auch Erkundigungen eingezogen. Die Angaben des mir befreundeten Professors sind in allem bestätigt worden. Daraufhin habe ich bereits lose Fühlung mit der betreffenden Dame genommen.“ Er reichte dem Ministerialrat das Blatt mit der Spezialinformation herüber. „Ich habe nun versucht, der Dame den Weg etwas zu ebnen, ohne Sie erst zu bemühen. Habe aber daneben gegriffen. Die junge Person scheint außerordentlich stolz und empfindlich zu sein und lehnt eine Geldbeihilfe für ihr Studium durchaus ab. Einen Scheck über fünfhundert Mark, den ich ihr zur Vervollständigung ihrer Ausbildung sandte, schickte sie mir glatt zurück.“

„Ach nein“, der Ministerialrat machte ein geradezu erschrockenes Gesicht. Fünfhundert Mark, heutzutage? Das war ein großer Bruchteil seines Monatsgehalts. War Möglichkeit, aus immer wieder sich ansammelnden Rechnungen herauszukommen, Luft zu bekommen, die einem allmählich bei dem chronischen Gehaltsabbau ausging. — Er gab sich einen Ruck:

„Ideal gedacht“, sagte er mit einem dünnen Lächeln, „unzeitgemäß, aber sympathisch.“

„Nicht wahr? Sie ist wirklich sympathisch. Die Dame hat auf mich den allerbesten Eindruck gemacht. Sie scheint sehr genau zu wissen, was sie will. Nun möchte ich einen Weg finden, ihr die Arbeitsmöglichkeit zu sichern, ohne daß sie auch im entferntesten ahnt, wer dahintersteht. Wollen Sie mir dabei behilflich sein?“

„Aber gern.“

„Wie stellen Sie sich das vor?“

„Etatmäßige Stellen sind an den beiden Instituten, an denen zur Zeit über Krebsforschung gearbeitet wird, nicht frei. Ich habe Sie aber wohl richtig verstanden, wenn ich annehme, daß Sie eine neu zu schaffende Assistentenstelle aus Ihren Mitteln dotieren würden?“

Printheer nickte.

„Dann kommen zwei Institute in Betracht. Das eine ist das Staatliche Forschungslaboratorium, dem Sie, Herr Konsul, als Ehrendoktor angehören. Das andere ist das Universitätsinstitut. Die intensivere Arbeit ließe sich am Staatlichen Institut ermöglichen.“

„Einverstanden.“

„Wie hoch gedenken Sie die Stelle zu dotieren?“

„Machen Sie mir einen Vorschlag.“

„Ich denke, ein junger Mensch, der wirklich unbeschwert arbeiten soll, müßte wenigstens dreihundert Mark Gehalt bekommen.“

„Sagen wir vierhundert.“

„Damit allein ist es noch nicht gemacht, Herr Konsul. Krebsforschungen bedingen einen großen Verbrauch an Versuchsmaterial. Und der Etat des Instituts ist in diesem Jahre schon um dreitausend Mark überschritten worden. Aus diesem Grunde sind besondere Sparmaßnahmen bereits verfügt worden.“

„Bedauerlich! Wie hoch ist der gesamte Materialetat für diese Abteilung?“

„Immerhin fünfundzwanzigtausend Mark, Herr Konsul.“

„Moment“, Printheer griff zum Hörer, „soziale Abteilung! Bitte, die Aufstellung über Dotationen an wissenschaftliche Institute. Wie hoch ist mein jährlicher Beitrag zum Staatlichen Forschungsinstitut?“

„Fünftausend Mark“, hörte er durchs Telephon.

„Machen Sie Vermerk, wird mit Wirkung vom Ersten ab verdoppelt. Genügt’s Ihnen, Herr Ministerialrat, für unsere Zwecke?“

„Mehr als genügend, Herr Konsul.“

„Natürlich wünsche ich, daß der Mehrbetrag vorzugsweise der Krebsforschungsabteilung zur Verfügung steht. Würden Sie nun doch die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, auf welchem Weg man der jungen Forscherin die Anstellung verschaffen könnte, ohne daß sie im geringsten merkt, daß sie begünstigt wird?“

„Das stelle ich mir sehr einfach vor. Wir teilen dem Akademischen Arbeitsamt mit, daß eine solche Stelle frei ist. Ich wette neunundneunzig zu hundert, daß sich die junge Dame bewerben wird. Das übrige lassen Sie meine Sorge sein.“

„Gemacht, Herr Ministerialrat.“

3

Ein paar Tage später kam Agnete, wie täglich, in das Studentenwerk, um nach Arbeitsvakanzen zu fragen. Vor dem Schwarzen Brett stieß sie auf Wolfgang Rautenberg.

„Komm mal her, Agnete“, sagte der. „Hör mal, was hier steht: Staatl. Forschungsinstitut, Abteilung für Krebsforschung. Die neu geschaffene Stellung eines Assistenten (Assistentin) soll sofort besetzt werden. Gehalt vierhundert Mark monatlich, Privatpraxis nicht gestattet. Dienststunden neun bis drei. Bewerbungen mit Lebenslauf an das Kultusministerium, Abteilung Medizinalwesen, Personalreferenten.

Na, Agnete, wäre das was?“

Agnetes blasses, bedrücktes Gesicht spannte sich, erleuchtete sich förmlich von innen her:

„Ob das was wäre? Ach, Wölfchen, ich weiß nicht, ob du das schon begreifen kannst. Du bist ja auch noch nicht soweit. Bist wohl auch ganz auf das praktische Arztsein eingestellt. Aber ich? Zu denken, daß man wieder forschen könnte? Einem Ziele nach, das vor einem steht, das einen ruft, immerfort ruft. Und zu dem man nicht kommen kann, weil diese ekelhafte Armut dazwischensteht. Arbeiten können, wie man möchte: Laboratorium, Mikroskope, Versuchsmaterial —“, sie zuckte die Schultern, „ach, was hat’s für einen Sinn, Luftschlösser zu bauen. Glaubst du, diese gebratene Taube wird gerade mir in den Mund fliegen? Da mache ich mir keine Hoffnung. Für unsereinen gibt’s ja so was doch nicht.“

„Warum eigentlich nicht?“

„Frag doch nicht so dumm. Hast du vielleicht Protektion oder ich? Na also.“

Fritz machte einen wütenden Lufthieb:

„Protektion! Immer Protektion. Das ist, um an den Wänden hochzugehen! Und daß du summa cum lande über den Krebs gearbeitet hast, ist das gar nichts? Den einen Erfolg müßte es doch wenigstens haben, daß du in die engere Wahl kommst!“