Das Gespenst des Kapitals - Joseph Vogl - E-Book

Das Gespenst des Kapitals E-Book

Joseph Vogl

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Beschreibung

Angesichts der Ereignisstürme im gegenwärtigen Finanz­geschäft widmet sich Joseph Vogl den Wahrnehmungs­weisen, Theorien und Problemlagen dessen, was man mit gutem Grund immer noch Kapitalismus nennen muss. Gerade Finanzmärkte gelten als das Marktgeschehen schlechthin: Unbelastet von den Beschwernissen der Produktion sind sie – für die herrschende ökonomische Doktrin – Schauplätze eines perfekten Wettbewerbs und idealer wirtschaftlicher Ausgleichprozesse: ein segensreiches Zusammenspiel von gewinnorientierten und also ebenso rationalen wie zuverlässigen Akteuren. Darum wollte man in Spekulationsblasen und Crashs bloße Anpassungskrisen oder jene Ausnahmesituationen erkennen, die im irrationalen Überschwang eines vielleicht gierigen, vielleicht inkompetenten oder schlicht rücksichtslosen Spekulationswesens gründen.

Hier setzen die Fragen des Essays an: Sind die irrationalen Exuberanzen wirklich Ausnahmefälle oder nicht eher reguläre Prozesse im Getriebe kapitalistischer Ökonomien? Reicht die Unterscheidung von rational und irrational überhaupt hin, die Effekte dieses Systems zu fassen? Begegnet ökonomische Rationalität hier nicht unmittelbar ihrer eigenen Unvernunft? Arbeitet das System tatsächlich effizient und rational?

Einer ebenso historischen wie theoretischen Sondierung folgend, hegt der Essay einen grundlegenden Zweifel darüber, ob die alte liberale Hoffnung auf die ausgleichende Ordnungsmacht des Marktes – Adam Smiths berühmte ›unsichtbare Hand‹ – noch gerechtfertigt ist. So wenig der Kapitalismus als reiner Rationalisierungsprozess beschrieben werden kann, so wenig lassen sich Spekulation und Spekulanten als verworfene oder pathologische Ausnahmegestalten begreifen. Das liegt nicht zuletzt an den Dynamiken der modernen Finanzökonomie, die sich auf die Wirkungsweise einer stets offenen und ungewissen Zukunft verpflichtet. Für die Märkte der futures und Derivate ist Zukunft, d.h. Zeit zur unerschöpflichen Ressource geworden. Im Zentrum steht das Wissen um jene scheinbar irregulären Ereignisse, in denen die finanzökonomische Welt unlesbar und undurchschaubar geworden ist: Hier wirken Ungewissheit und Instabilität im Herzen des Systems; und hier vollzieht sich ein Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit – Das Gespenst des Kapitals.

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Joseph Vogl

Inhalt

Vorbemerkung

Erstes Kapitel

Der schwarze Schwan

Zweites Kapitel

Idylle des Markts I

Drittes Kapitel

Zeit des Kapitals

Viertes Kapitel

Idylle des Markts II

Fünftes Kapitel

Ökonomische und soziale Reproduktion

Vorbemerkung

Politische Ökonomie hat seit jeher eine Neigung zur Geisterkunde gehegt und sich mit unsichtbaren Händen und anderem Spuk den Gang des Wirtschaftsgeschehens erklärt. Dies ist wohl einer gewissen Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse geschuldet, in denen zirkulierende Objekte und Zeichen einen gespenstischen Eigensinn entwickeln. Seit dem achtzehnten Jahrhundert werden Marktmechanismen und die Regungen des Kapitals als Rätselfiguren erfahren, an deren Auflösung sich die Selbstaufklärung neuzeitlicher Gesellschaften bemisst. Insbesondere gilt das für Bewegungen und Strukturen der modernen Finanzökonomie. Obwohl man Finanzmärkte als Veranstaltungen begreifen kann, in denen sich ein Gutteil menschlicher Wohlfahrt entscheidet, bleibt undurchsichtig, was genau in ihnen passiert. Das betrifft nicht nur die dabei wirksamen Verhaltensweisen, Mentalitäten, Praktiken oder Theorien, sondern auch die allgemeinen Dynamiken, die mit erhabenen, d.h. unvorstellbaren Geldsummen zu einem Beweggrund gegenwärtiger Sozial- und Weltverhältnisse geworden sind. Der Lauf der Dinge wird durch das Finanzgeschehen bestimmt, und es wiegt darum umso schwerer, dass es höchst umstritten ist, nach welchen Regeln und mit welcher Logik sich hier Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen. Gerade die so genannten Krisen der letzten Jahrzehnte haben die Frage veranlasst, ob sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirtschaft ein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft vollzieht. Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, ob der darin beschworene kapitalistische ›Geist‹ verlässlich und rational oder schlicht verrückt operiert.

Daraus hat sich ein mehrfaches Auslegungsproblem ergeben. Sosehr sich nämlich eine ökonomische Weltsicht seit geraumer Zeit die Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen auf besondere Weise zurechtlegt, sosehr sieht sich eine ökonomische Wissenschaft wiederum aufgerufen, die dadurch erzeugten Verwicklungen begreiflich zu machen. Man stößt dabei auf den – auch hermeneutisch – schwierigen Umstand, dass das ökonomische Wissen der letzten dreihundert Jahre die wirtschaftlichen Tatsachen geschaffen hat, mit deren Entzifferung es sich selbst konfrontiert. Dieser Sachlage sind die folgenden Überlegungen gewidmet. Sie beziehen sich auf einige Konstellationen ökonomischen Wissens vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart und kreisen dabei um jene scheinbar unerhörten Begebenheiten, die – wie Finanzkrisen oder crashs – den Ablauf finanzökonomischer Prozesse undurchschaubar machten. Dabei geht es allerdings nicht um Rezepte für den nötigen Umbau des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Es handelt sich vielmehr um den Versuch zu verstehen, wie die moderne Finanzökonomie eine Welt zu verstehen versucht, die durch sie selbst hervorgebracht wurde. Das ›Gespenst des Kapitals‹ erscheint darin als Chiffre für jene Kräfte, von denen unsere Gegenwart ihre Gesetze empfängt.

Erstes KapitelDer schwarze Schwan

Kosmopolis

Es war in New York, an einem Tag im April des Jahres 2000. Die Zwillingstürme des World Trade Centers standen noch. Mehr als einhundert Monate lang war die amerikanische Wirtschaft unaufhaltsam gewachsen, der Dow Jones Industrial hatte gerade ein Allzeit-Rekord-Hoch erreicht und die Marke von 11.000 Punkten überschritten, der elektronische Handel an der Nasdaq wurde von einer regelrechten Rallye getrieben. Von den obersten Etagen des Trump World Towers in der Nähe des UNO-Hauptquartiers aus gibt der anbrechende Tag einen Blick über den East River, über die Brücken und Schornsteine von Queens bis in eine Ferne jenseits der Suburbs, Dunstschwaden und Möwenschwärme tief unten. Nach einer schlaflosen Nacht entscheidet sich ein 28-jähriger Milliardär und Fondsmanager, dieses Apartment über der East Side von Manhattan zu verlassen, um einen Friseur an der schäbigen West Side – dem Ort seiner Kindheit – aufzusuchen. Er nimmt einen der privaten Fahrstühle nach unten, besteigt seine überlange weiße, gepanzerte Limousine, die mit Kork gegen Lärm, mit Überwachungskameras und mit zahllosen Bildschirmen für Weltnachrichten und Kursnotierungen ausgestattet ist. Chauffeur, Sicherheits- und Technologiechef warten bereits. Das Fahrzeug biegt in die 47. Straße auf den Weg nach Westen ein, passiert Häuserblock um Häuserblock und gerät bis in die späte Nacht in eine Reihe von Abenteuern und Verwicklungen, die den Titel einer Irrfahrt rechtfertigen. Der Fondsmanager begegnet seiner Frau sowie der einen oder anderen Geliebten. Die Ermordung des Direktors des Internationalen Währungsfonds wird gemeldet, ebenso die eines russischen Oligarchen und Medienunternehmers, der ein Freund des jungen Milliardärs gewesen ist. Im stockenden Verkehr kreuzt man die Park Avenue und die Madison Avenue, man durchquert das alte jüdische Viertel, erreicht den Theaterdistrikt in der Nähe des Broadways und wird dort durch den Aufruhr einer Anti-Globalisierungsdemonstration aufgehalten. Am Eingang einer Investmentbank explodiert eine Bombe; man beobachtet die Selbstverbrennung eines jungen Mannes, wenig später wird der Spekulant selbst Opfer eines Tortenattentats. Plötzlich und ohne besonderen Grund ermordet er seinen Sicherheitschef, gelangt dann zum Friseurladen seiner Kindheit in der Nähe der Docks. Wiederum grundlos und überstürzt verlässt er den Friseur, wird in nächtliche Filmaufnahmen mit dreihundert nackten Statisten verwickelt, trifft zufällig und ein letztes Mal seine Frau. In einer verlassenen Hausruine wird er von einem ehemaligen Mitarbeiter erwartet, den er schließlich als seinen Mörder erkennen muss.

Mit dieser kuriosen Geschichte führt Don DeLillos Roman Cosmopolis von 2003 in die Schauplätze moderner Finanzmärkte, rührt an die Frage ihrer Erzählbarkeit und bietet dafür eine Reihe narrativer und argumentativer Figuren auf, die das Rätsel der Finanzökonomie, ihres Personals und ihrer Operationen umstellen. DeLillo, der sich bereits in seinem Roman Players (1977) der Frage nach der erzählerischen Fassung von Finanzgeschäft und Börsenspekulation widmete, hat mit der Tagesfahrt eines New Yorker Spekulanten zum Friseur in Cosmopolis eine Darstellungspraxis gewählt, die eine Synopse von Wahrnehmungsweisen und Problemlagen dessen ergibt, was man immer noch Kapitalismus nennen muss. Das betrifft das Profil seiner Hauptfigur, die sich zu einer Allegorie modernen Finanzkapitals verdichtet und dabei ebenso historische Referenzen wie aktuelle wirtschaftstheoretische Einfälle aufruft. Zugleich verfolgt DeLillos Roman eine Erzählweise, die mit ihrer hypertrophen Ereignismasse grundsätzliche Fragen danach stellt, wie sich Begebenheiten mit Begebenheiten im Zeichen heutiger Weltwirtschaft verknüpfen. Das bietet auch eine Gelegenheit dazu, nach der Wirksamkeit jenes Geschickes zu fragen, das diese kapitalistische Ökonomie selber ist.

Kapitalistischer Geist

So versammelt der Fondsmanager und Spekulant bei DeLillo zunächst einige kanonische und lange bewährte Merkmale, die seit wenigstens zwei Jahrhunderten die Karrieren von Finanz- und Börsenspekulanten begleiten und deren Kennung garantieren. Ausgestattet mit der Legende rücksichtsloser Effizienz, einem Raubtierinstinkt und mit dem Ruf von Exemplaren, die »jung und clever und von Wölfen aufgezogen« die Gefährlichkeit des Finanzkapitalismus verkörpern, fügt er sich in eine Serie, die von den »Condottieri«, den »Piraten« und »Werwölfen« des Geldgeschäfts bei Balzac über ein vagabundierendes Rittertum des Kredits bei Marx bis zu den mad dogs,rogue traders und »Wolfsrudeln« der gegenwärtigen Devisenmärkte reicht.1 Zudem präsentiert sich DeLillos Protagonist mit dem energischen Namen Eric Packer als Charaktermaske – oder besser noch: als Traum oder Vision – des aktuellsten Finanzkapitals. Er agiert nicht nur schlaflos und überwach, exzessiv und manisch, er ist nicht nur überall und nirgends zuhause, ein Odysseus der Globalisierung und Weltbürger einer monetären Kosmopolis. Ausgezeichnet wird er vielmehr durch das Begehren, die Schwerfälligkeit der materiellen Welt, das Reich der Körper- und Besitzzustände selbst hinter sich zu lassen. Er träumt vom Verlöschen der Gebrauchswerte, vom Schwinden der referenziellen Dimension, er träumt von der Auflösung der Welt in Datenströme und der Alleinherrschaft des binären Codes; und er setzt auf die Spiritualität des Cyberkapitals, das sich ins ewige Licht, in das Leuchten und Flimmern der Charts auf den Bildschirmen überträgt. Das ist der Traum einer radikalen und endgültigen Transsubstanziation. Wie schon in Emile Zolas Börsenroman Das Geld von Poeten erhabener Geldsummen die Rede war, so hat man es hier mit einer jüngsten Abwandlung zu tun: mit dem poète maudit einer neuen Generation von Symbolexperten, die Besessenheit mit Extravaganz kombinieren und sich den »Selbstgesprächen« des Geldes (87), einem freien, artifiziellen und selbstbezüglichen Spiel der Zeichen und der Information verschreiben, abgedichtet gegen die Restwelt wie die mit Kork gerüstete und also an Marcel Prousts isoliertes Schreibzimmer erinnernde Büro-Limousine. Zuletzt vollzieht sich hier ein Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit. Die Wörter und Begriffe der Umgangssprache, so heißt es einmal, sind noch allzu sehr mit historischen Bedeutungsresten beladen, allzu »schwerfällig« und »antifuturistisch«. Demgegenüber werden im Takt der Nanosekunden, den die Oszillatoren der Börsen- und Devisenmaschine diktieren, die Spuren der Geschichte ausgelöscht, annulliert im Sog der Futures und ihrer Derivate – die Gegenwart »wird aus der Welt gesaugt, um Platz zu schaffen für die Zukunft der unkontrollierten Märkte und ihre riesigen Investitionspotenziale. Die Zukunft wird dringlich« (90). Wie sich der Markt weder für Vergangenheit noch für die Gegenwart, sondern nur für künftige Gewinnaussichten interessiert, so ist der Traum dieses Kapitals Vergessen; er handelt von der Macht der Zukunft und erfüllt sich in einem Ende der Geschichte.

Angesichts der Mysterien des modernsten Finanzkapitals kombiniert DeLillos Roman offenbar die Elemente eines älteren mit denen des neuen kapitalistischen Geistes. Denn einerseits wird dabei der Prozess jener schöpferischen Zerstörung verhandelt, mit der Joseph Schumpeter einmal die Veränderungssucht, die kontinuierliche Revolutionierung von Welt- und Wirtschaftsstrukturen im Zeichen kapitalistischen Unternehmertums umschrieben hatte: »Zerstört die Vergangenheit, erschafft die Zukunft« (103). Die Kräfte des Kapitals waren niemals bewahrend oder ›konservativ‹. Andererseits aber haben sie sich von der Sphäre der Produktion selbst gelöst. Mit der Allianz von »Technologie und Kapital« (31) ist die Kultur des Marktes ebenso total wie schwerelos geworden, die Kapitalbewegung entgrenzt sich, befreit sich von den materiellen Erscheinungsformen des Reichtums und hat sich in einer »Zeit jenseits von Geographie und greifbarem Geld« (45) installiert. Sie diktiert ihre eigenen Dynamiken und Mobilitätsstandards, lässt alle lokalen, sozialen oder politischen Einbettungen hinter sich. Und sie kann dabei noch Aufruhr und Anarchie als vitalen Ausdruck ihres eigenen Systems absorbieren, sie kann den Protest als eine Fantasie freier Märkte und Kapitalismuskritik als deren konsequente Selbstoptimierung verbuchen: »Der Protest war eine Form systemischer Hygiene […]. Er attestierte der Kultur des Marktes ein weiteres, ein zehntausendstes Mal innovative Brillanz und die Fähigkeit, sich selbst zu ihren eigenen flexiblen Zwecken umzugestalten und dabei alles ringsum aufzunehmen« (110). Dieses System, so legt es DeLillos thesenhafter Roman nahe, reformiert sich im Widerstand, inkludiert seine Opposition, integriert die spontane Aktion und perfektioniert sich – ganz im Sinne eines New Managements – als eigentliches Kreativitätsreservat. Nicht von ungefähr wird das gesamte Geschehen einmal überragt von einer Schlagzeile, die – von Demonstranten in das Display, auf den Börsenticker an der Fassade einer Investmentbank geschrieben – den berühmten Anfang aus dem Kommunistischen Manifest entwendet, abwandelt und damit den kapitalistischen Geist mit dessen einstigem und ›gespenstischem‹ Widerpart verwechselbar macht: »ein gespenst geht um in der welt – das gespenst des kapitalismus« (107).

Entsicherung

Dieser literarische Zusammenschnitt von kanonischen Formeln älterer und neuer Kapitalismusanalysen – die wohl von Marx und Engels über Schumpeter bis zu Baudrillard, Boltanski, Chiapello oder Rifkin reichen mögen2 – fügt sich zum Tableau einer jüngsten industriellen Revolution, die nach der Herrschaft der Dampfmaschinen und dem Regime der Automatisierung einem »digitalen Imperativ« folgt und damit »jeden Atemzug der auf dem Planeten lebenden Milliarden« (33) bestimmen will. Hintergrund dafür ist tatsächlich ein technisch-ökonomischer Umbruch, der sich mit der Gründung elektronischer Börsen, mit der Verbreitung des Computerhandels seit den 1980er Jahren, mit dem Ausbau der Netze, der Einführung von ISDN und der Umstellung des Frequenzspektrums auf dreihundert Megahertz vollzog und zu einem exponentiellen Mobilitätszuwachs im Kapitalverkehr führte.3 Im Zentrum dieser euphorischen Verbindung aus Informationstechnologie und Finanzkapital steht allerdings in DeLillos Roman ein Geschehen, das eine irritierende Richtung einschlägt, dabei einen ganz und gar unwahrscheinlichen, irrationalen Verlauf nimmt und eine Interpretation dessen liefert, was Welt im Zeichen gegenwärtiger Finanzökonomie bedeutet. Das betrifft einerseits den Gang der erzählten Ereignisse selbst. Denn der Weg von DeLillos Kapitalallegorie führt nicht nur vom 89. Stock eines luxuriösen Wohnturms auf den Boden schäbiger Hinterhöfe, er führt nicht nur von Osten nach Westen und folgt damit der Himmelsrichtung des amerikanischen Traums, und er zieht nicht nur eine Linie vom Leben in den Tod, ins Untauschbare und ans Ende aller Transaktionen. Wie ein anderer moderner Ulysses ebenfalls einen ganzen Tag lang durch eine Metropole irrte, weist die Bahn von DeLillos Protagonisten vielmehr auf einen epischen Gang und auf die Verlaufsform alter Irrfahrten zurück. Das ergibt ein homerisches Pastiche und die Erinnerung an das Odysseus-Geschick samt seinen Varianten. Dabei ist der Weg des nóstos, der Umweg einer langen Heimkehr, bei DeLillo zu einer tödlichen Fahrt in die Bezirke der Kindheit geworden, das Heldengefährt aus dem südlichen Meer zu einem gepanzerten Kraftfahrzeug auf unsicheren Großstadtstraßen. Die webende Penelope kehrt als dichtende Milliardärserbin zurück, in deren Arme man nicht am Schluss, sondern zwischendurch, mehrmals und ganz zufällig gerät; Nausikaa, Kirke, Kalypso und die Sirenen, Orakel und Ungeheuer haben die Gestalt von weiblichen Bodyguards, alten Geliebten und eloquenten Geisteswissenschaftlerinnen, von Aktionskünstlern, maskierten Demonstranten und arbeitslosen Informatikern angenommen. Und der Höllenkreis, der dem listigen Odysseus bei Dante vorbehalten war, verwirklicht sich in der düsteren Szenerie eines endlos gedehnten Todesmoments am Schluss von DeLillos Roman.

Folgerichtig setzt diese epische Neigung bei DeLillo, mit Hegel gesprochen, eben nicht die »zur Prosa geordnete Wirklichkeit« neuzeitlicher Romanliteratur voraus. Sie führt vielmehr in eine Welt von Begebenheiten, die sich nur lose und episodisch verknüpfen, sich als äußere Mächte und Beschwernisse manifestieren, verhängnisvoll werden und mit ihrer Vernetzung ins Schicksalshafte eskalieren. Sowenig also das epische Geschehen nach Hegel mit einer organisierten Gesellschaft, mit einem instituierten Gemeinwesen und mit gesetzmäßiger Ordnung überhaupt korrespondiert,4 sosehr markiert es bei DeLillo den Eintritt in eine Zone elementarer Gefahr. Während der Beginn des Romans auf geradezu hyperbolische Weise die Fragen nach Systemsicherheit, Prävention, Risikoabschätzung, Überwachung und Gefahrenabwehr akkumuliert – »[u]nser System ist sicher« (20) –, gleicht der Fortgang des Geschehens dem Prozess einer zunehmenden Entsicherung. Der Präsident der Vereinigten Staaten, dieser letzte Exponent souveräner Staatsmacht, existiert nur noch als Bild eines »Untote[n]« (87), und emblematisch für diese Situation steht ein Augenblick, in dem der Protagonist die automatische Waffe seines Sicherheitschefs mit einem Codewort entsichert, diesen ganz unvermittelt erschießt und das Sekuritätsdispositiv gegen sich selbst kehrt. Damit führt der Weg von DeLillos Kapitalallegorie beyond the line und ins Terrain einer intra-zivilisatorischen Wildnis, die im Rhythmus plötzlicher Anschläge und Attacken das Stigma terroristischer Enthemmung trägt und sich überdies mit den Merkmalen des Barbarischen versieht. Das ist die Welt von hwa-byung, susto oder amok, die Welt jener kulturgebundenen Syndrome, die in Korea, auf den karibischen Inseln oder in Malaysia zu einer Chiffre dafür geworden sind, wie sich bei Eingeborenen unterdrückte Wut, bares Entsetzen oder Anfälle von Panik in entfesselter Gewaltsamkeit entladen.5 Und das ergibt die Karikatur einer affektiven Urlandschaft, in der sich die Exzesse aus den »fanatischen Tropen« (37) mit dem Horror von Selbstverstümmelung, Gemetzel und »rotem Fleisch« (23) vermischen. Am Ende ist DeLillos Protagonist der »Macht vorherbestimmter Ereignisse« (158) gefolgt und dem drohenden Tod wie einem »Schicksalsprinzip« (118) erlegen. Kam der Name des Spekulanten einmal von jenem römischen Wachposten her, der nach Gefahren und Missgeschicken Ausschau hielt (speculari), so ist aus diesem Späher oder »Seher« (55) selbst der Typus eines »gefährliche[n] Mensch[en]« (27) erwachsen, der am Ende – und in der Neigungslinie der Erzählung – zum Attraktor aller Gefahrenlagen geworden ist: beraubt, ausgesetzt und entblößt.

Undarstellbarkeit

Andererseits aber wiederholt diese Verkettung von archaischer Bedrohung, exzessiver Gewalt und Todesverfallenheit offenbar nur ein Ereignisgefüge, das von den Bewegungen des globalen Kapitalverkehrs diktiert wird. Während der gesamten Irrfahrt durch die Straßen von Manhattan spekuliert nämlich der junge Fondsmanager auf den Fall des japanischen Yen und folgt dabei einer der aggressivsten Finanzoperationen überhaupt, dem so genannten leveraged buyout: einer kreditgestützten Unternehmensübernahme, bei der – wie jüngst in den Fällen von Porsche / Volkswagen und Schaeffler / Continental – weitgehend über Fremdfinanzierung Unternehmensbeteiligungen mit hohen Gewinnaussichten erworben werden. Am Beispiel von Packer Capital in DeLillos Roman bedeutet dies, dass mit niedrig verzinsten Yen-Anleihen großzügig Aktien mit potenziell hohen Renditen angekauft werden, um in der Erwartung fallender Yen-Kurse die Spekulationsgewinne zusätzlich zu maximieren (carry trade). Und dabei geschieht das Unerhörte und Unerwartete, die eigentliche Intrige dieses Romans. Die erratische Bahn, die DeLillos Protagonist von Begebenheit zu Begebenheit bis in den Tod zieht, wird um einen erratischen Kursverlauf verdoppelt, mit dem der Wert des japanischen Yen »entgegen den Erwartungen« (16) unaufhaltsam, weiter und immer weiter steigt, bis endlich das Kapital von Packer Capital vernichtet und dessen CEO ruiniert sind – auch hier eine Irrfahrt mit fatalem Ausgang. Schließlich hat DeLillos Roman keinen Zweifel daran gelassen, dass mit diesem Yen-Carry etwas völlig Undenkbares und Unvernünftiges passiert, etwas, das »außer Kontrolle« (96) gerät, zu keinem wahrscheinlichen Skript passt und auf keine plausible Wirklichkeit mehr verweist, metastasierend und chaotisch. Die Weltlage ist unkenntlich geworden. Ist die notorische Welthaltigkeit des neuzeitlichen und modernen Romans mit der Frage verknüpft, wie und nach welchen Regeln sich Begebenheiten anordnen, so verzeichnet DeLillos Roman eine Wiederkehr von Archaismen in modernster Gestalt und hegt den Verdacht, dass sich die Welt des finanzökonomischen Systems durch einen Ereignissturm charakterisiert, der zur Chiffre größter Gefährlichkeit geworden ist. Börsengeschäft und die Fatalität roher Gewalt – hier dokumentiert sich die Variation eines Ereignisgefüges, das gut zehn Jahre zuvor den Titel eines »American Psycho« erhielt. Die Turbulenzen der Finanzmärkte jedenfalls und die Zonen elementarer Gefahr spiegeln einander und prägen ein erzähllogisches Programm, das die Dynamik von Devisenkursen in ein episches Schicksalsgefüge konvertiert und sich am Einbruch des Unwahrscheinlichsten misst.

Mit der Undarstellbarkeit dieses Kursverlaufs – »[w]as hier geschieht, stellt sich nicht dar« (29) – ist allerdings nicht nur ein »Angriff auf die Grenzen der Wahrnehmung« (30) und somit die sublime Größe unvorstellbarer Geldsummen gemeint, ein Ökonomisch-Erhabenes, das in keiner sinnlichen Form aufgeht und schon mit der Tatsache aufgerufen wird, dass etwa im Jahr 2000 Tag für Tag 1,9 Billionen Dollar durch die elektronischen Netze von New York City flossen und bereits in den 1990er Jahren dort alle zwei Wochen die Summe des weltweiten Gesamtprodukts umgesetzt wurde.6 Im Idiom der Börsianer hat man es hier vielmehr mit einer »besonderen Situation« (49) und einem jener unwahrscheinlichen und seltenen Ereignisse zu tun, die unabsehbar, launisch und ohne Vorzeichen hereinbrechen wie die Tat eines »geistesgestörte[n] Amokläufer[s]«, der lange unerkannt, als »netter Mensch« und guter »alter Nachbar« nebenan lebte.7 Man hat dafür auch das Bild eines »schwarzen Schwans« reserviert und damit eine vereinzelte Begebenheit gemeint, die erstens außerhalb aller Erwartungen und Erwartbarkeiten liegt, zweitens höchste und fatale Wirksamkeit entfaltet und drittens eine manifeste Erklärungsnot provoziert, eine nachträgliche Suche nach Kohärenz, Zusammenhang und Plausibilität. Wie schwarze Schwäne im naturhistorischen Wissen der Neuzeit als schiere Unmöglichkeit erschienen und darum zum Emblem problematischer Induktionsschlüsse werden konnten, so bezeichnen sie hier einen Sprung, der die lineare Abfolge von Ereignissen unterbricht und ein ebenso insuläres wie unglaubliches und turbulentes Geschehen hinterlässt, eine Zufälligkeit im Exzess.8 Am Ende dieses episodischen Verlaufs ist jedenfalls zweierlei geschehen. Auf der einen Seite hat der spekulative Fehlgriff das System selbst in eine instabile Lage gebracht und den Vorfall einer globalen Krise produziert: »Er wusste, es lag am Yen. Seine Unternehmungen mit dem Yen verursachten Chaosstürme. Er war so stark fremdfinanziert (leveraged), der Wertpapierbestand seiner Firma war so groß und verzweigt, vital verknüpft mit den Angelegenheiten von so vielen wechselseitig verwundbaren Schlüsselinstitutionen, dass das gesamte System in Gefahr geriet« (126–127). Tatsächlich ist ja der Markt der New Economy im Frühjahr 2000 aus ähnlichen Gründen zusammengebrochen, hat die Technologiebörse Nasdaq in den ersten beiden Aprilwochen desselben Jahres einen Kurssturz von 27% erfahren und ratlose Analysten hinterlassen.9 Andererseits musste dabei die manifeste Blindheit des vermeintlichen Sehers und Spekulanten eingeräumt werden: »Ich habe den Yen nicht durchschaut« (201). Die Welt ist unlesbar, der Weltzusammenhang undeutlich und der Lauf der Dinge richtungslos geworden, die Serie der Notierungen und Zahlungsereignisse fügt sich zu keinem erkennbaren Muster und verliert ihren motivierten Gang. DeLillos Protagonist ist am Gipfel der Finanzkrise vom Frühjahr 2000 in eine jener unbequemen Lagen geraten, die auch Alan Greenspan, langjähriger Direktor der US-Notenbank und hartnäckiger Verfechter unregulierter Finanzmärkte, gute acht Jahre später für sich reklamieren musste, in eine Lage, in der seine »Sicht auf die Welt«, seine »Ideologie« und lange Zeit gültige Evidenzen oder Interpretationen nicht mehr funktionierten: Das »ganze intellektuelle Gebäude« der Finanzwirtschaft kollabierte.10

Mit diesen erratischen und scheinbar irrationalen Bewegungen zitiert DeLillos Cosmopolis natürlich den schnellen Takt von Finanzkrisen, die vom zwanzigsten ins einundzwanzigste Jahrhundert herüberreichen: vom Krach des Jahres 1987 über die Japankrise 1990, das Rentenmarktdebakel von 1994 und die Russlandkrise 1998 bis zur so genannten Technologie- oder Dotcom-Blase von 2000 oder bis zum Desaster der Jahre 2007 und 2008 ff. – allesamt Ereignisse, die aller ökonomischen Wahrscheinlichkeit nach eigentlich gar nicht oder allenfalls alle paar Milliarden Jahre hätten passieren dürfen. Und DeLillo verweist damit vielleicht auch auf den überraschenden und spekulativen Trend des Yen-Kurses im Verhältnis zum Dollar in den 1990er Jahren, dessen Anstieg damals der japanischen Wirtschaft einen empfindlichen und dauerhaften Schaden zufügte und sich in den Jahren zwischen 1998 und 2000 auf ruinöse Weise wiederholte.11 Vor allem aber kreist die Erzählung ganz offensichtlich um ein Ereignis, mit dessen Darstellung die Kohärenz der erzählten Welt und die Rationalität des ökonomischen Systems gleichermaßen auf dem Spiel stehen. Hier geht es um den Bestand von »plausible[n] Wirklichkeiten«, die »verfolgt und analysiert werden können« (95); hier geht es um »Techniken der Darstellbarkeit«, die die Bewegungen der Finanzmärkte zu fassen und zu »prognostizieren« vermögen (86); und hier, mit dem rätselhaften Devisenkurs des Yen und seinen ruinösen Effekten, liegt eine Art unerhörter Ereignishaftigkeit vor, die alle hermeneutischen Anstrengungen herausfordert und nicht weniger als die Frage nach dem zureichenden Grund dieses Geschehens, d.h. nach seiner Verknüpfungsform, nach seiner Motivation, nach seiner Erwartbarkeit und seinem möglichen oder wahrscheinlichen Verlauf stellt: »Der Yen sagt uns etwas. Lesen Sie es« (29). Welches Ereignis ein aktueller Kurswert ist, was sich in ihm ausdrückt, wie er sich verändern und welchen künftigen Weg er nehmen wird, wie notwendig oder zufällig sich Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen, wie sprunghaft oder linear das geschieht – all das sind die Fragen, die im Zentrum von DeLillos narrativer Intrige, aber auch im Fokus eines finanzökonomischen Willens zum Wissen stehen. Literarischer Text und spekulatives Zeichenspiel stellen gleichermaßen ein Lektüreproblem. Offenbar handelt es sich hier um den Einbruch eines Unerwartbaren und – wiederum mit einem Wort Greenspans – um die Dynamik einer irrational exuberance, um einen irrationalen Überschwang, der das System ökonomischer Vernunft oder die Vernunft dieses Systems auf die Probe stellt.

Perplexität

Dies verweist zwangsläufig auf eine gewisse Perplexität innerhalb des ökonomischen Wissens selbst, auf eine offene Frage danach, ob und wie sich hier noch eine Idee von der Kohärenz der ökonomischen Welt manifestiert. Denn im Grunde hält die Wirtschaftswissenschaft, diese Glaubenslehre unserer Tage, völlig verschiedene und widersprüchliche Interpretationen parat, um die Geschehnisse und Ereignisstürme im gegenwärtigen Finanzgeschäft zu erklären. Eine erste davon ist orthodoxer Natur, geht auf den Markt-Fundamentalismus der Schule von Chicago zurück und nennt sich Efficient Market Hypothesis, Hypothese von der Effizienz der Märkte. Demnach sind es gerade die Finanzmärkte, die das Marktgeschehen schlechthin und in größter Reinheit vertreten. Unbeschwert von Transaktionskosten, unbelastet vom Transport und von den Beschwernissen der Produktion, sind sie ideale und friktionslose Schauplätze für Preisbildungsmechanismen und perfekten Wettbewerb, ausgestattet mit rationalen, gewinnorientierten und darum zuverlässigen ökonomischen Akteuren. Deshalb reflektieren die jeweiligen Preise und Preisbewegungen auf diesen Märkten auch unmittelbar und erschöpfend alle erhältlichen Informationen. Sofern unter optimalen Markt- und Wettbewerbsbedingungen alle Akteure gleichen Zugang zu allen kursrelevanten Informationen – hinsichtlich Schnelligkeit und Umfang des Zugriffs – besitzen, sagen die aktuellen Notierungen jeweils exakt die Wahrheit des ökonomischen Geschehens aus. Die entsprechenden Vermögenswerte sind niemals wirklich unter- oder überbewertet. Und eventuelle Irrtümer und Ineffizienzen, d.h. große Divergenzen zwischen tatsächlichen und erwartbaren Erträgen, sind nur diversen und ärgerlichen Hindernissen der freien Marktbewegung geschuldet und werden im günstigen Fall schnell wieder korrigiert. Noch im Jahr 2007 galt es für einen der Gründerväter dieser Schule, Eugene Fama, als ausgemacht, dass Begriff und Sache der »Blase« auf den Finanzmärkten ebenso haltlos wie unsinnig seien.12 Alle Krisen und Depressionen wären demnach nichts als Anpassungsmomente und dokumentierten nur den unerbittlichen Gang ökonomischer Vernunft. Der Markt selbst ist das Wirkliche und also das Vernünftige schlechthin.

Eine andere Interpretation ist ein wenig konservativer, aber nicht weniger orthodox. Dabei wird – am Beispiel der verschiedensten Finanzkrisen – tatsächlich von Blasen und bubbles, von runs, busts und booms, von Finanzpanik oder euphorischen Eskalationen gesprochen; und mit Semantiken dieser Art wurde schon seit dem siebzehnten, vor allem aber seit dem neunzehnten Jahrhundert die bare Irrationalität eines Spekulationsgeschäfts adressiert, das sich grundsätzlich von allen Gesetzmäßigkeiten des Warenmarktes, von den Prinzipien ökonomischer Rationalität und von der Basis der so genannten Realökonomie abgetrennt hat. Bereits Daniel Defoe hatte den stock jobbers eine Anfälligkeit für jede Art von Verblendung und Trug attestiert und im Börsengeschäft insgesamt die Bodenlosigkeit eines ganz und gar unvernünftigen Treibens festgestellt. Und später wurden im Börsen- und Spekulationshandel – von der holländischen Tulpenmanie bis zur englischen South-Sea Bubble oder zur französischen Mississippi-Blase – beispielhafte Schauplätze für die Wirksamkeit von Massenwahn, Herdenverhalten und blinden Nachahmungstrieben erkannt. Zuletzt wollte man gerade die hohe Volatilität der Finanzmärkte als Grund dafür sehen, dass große Kursschwankungen eben keinen rationalen Erwartungen folgen können und dass diese Märkte selbst darum höchst irrtümlich, ineffizient und irregulär operieren.13 Ganz konsequent stellt man hier zwangsläufige Über- oder Unterbewertungen fest, die schließlich auf die Einwirkung fremder, externer, wirtschaftsferner Faktoren zurückverfolgt werden können: Emotionen, dilettantisches Tun, Spielerverhalten, Gier oder schlicht mangelnde Vernunft. Bis zum jüngsten Kollaps ringen Finanzmärkte und Börsen demnach mit einem regelrechten Inklusionsproblem – zu viele Mitspieler betreiben allzu inkompetente Operationen oder hegen sinistre Neigungen, die gemeinsam irrationale Bewegungen freisetzen und von Zeit zu Zeit eben ökonomische Ausnahmesituationen erzeugen. Der Markt ist hier also weder effizient noch rational, sondern schlicht ahnungslos.

Abgesehen davon, dass die Preisbewegungen auf den Finanzmärkten immer wieder als Strömungsturbulenzen und pures molekulares Gestöber beschrieben wurden,14 lässt sich hier nicht nur ein Dissens verschiedener Schulmeinungen, sondern eine flagrante Uneinigkeit darüber verzeichnen, was Zahlungsereignisse mit Zahlungsereignissen verknüpft, durch welche Kräfte, mit welcher Vernunft oder Unvernunft das finanzökonomische Geschehen, seine Dynamiken und Anomalien motiviert werden; und diese Problemlage kompliziert sich zudem durch die Frage, worauf das ökonomische Zeichenspiel, worauf Kursverläufe und die Kette von Notierungen verweisen – wie also die Serien von Preisen bzw. Preisschwankungen auf Börsen- und Finanzmärkten zu lesen und zu interpretieren sind und welche repräsentative Kraft in ihnen steckt. Angesichts dieser semiotischen Frage kann man wiederum eine eigentümliche Zwiespältigkeit im finanzökonomischen Wissen konstatieren. Denn einerseits konzentriert sich eine so genannte Fundamentalanalyse darauf, die Preisbewegungen auf den Finanzmärkten mit basalen Wirtschaftsdaten abzugleichen: mit Faktoren wie Produktivität, Ertragslagen, Kostenstrukturen, erwartbaren Dividenden, Diskontsätzen, Leistungsbilanzen oder Kaufkraft – Faktoren, die eine begründete Referenz für semiotische Ereignisse und eine realistische oder objektive Wertorientierung darstellen. In dieser gleichsam klassischen Sicht oszillieren Finanzpreise und Börsennotierungen langfristig um den intrinsischen Wert von Unternehmen oder ganzen Volkswirtschaften, und die Konjunkturen und Trends auf den Märkten wären bloß der mehr oder weniger direkte Ausdruck einer stummen ökonomischen Realität, die sich mit ihrem wahren und realen Wertsubstrat schließlich durchsetzen wird.15 Die Bewegung der Devisen- und Aktienmärkte, ihre Zeichen und Notierungen werden also transparent für ein substanzielles Referenzsystem und finden in den fundamentalen Wirtschaftsdaten einen zureichenden Grund.

Andererseits operiert die geläufige Praxis der technischen Analyse mit einer Beobachtungsform, die von diesen referenziellen Dimensionen konsequent absieht. Das ist die Rätselkunde eines eingeweihten Banken- und Börsenpersonals, das – herkommend von Operations Research und Computational Finance – allein aus den Charts, aus dem Charakter von Kursverläufen prognostische Hinweise für kurzfristige Investitionsentscheidungen gewinnt. Hier geht es um die Abbildung wahrscheinlicher Bewegungen, um die zum Bild geronnenen Hoffnungen und Erwartungen. Bereits 1884 hatte Charles Dow den täglichen Durchschnitt von zwölf der wichtigsten Aktienkurse an der Wall Street errechnet, dabei klare Bewegungsprofile und verschiedene – tägliche, monatliche, mehrjährige – Schwingungsmuster erkennen wollen, eine Art Barometerstand für das allgemeine Geschäftsklima. Und spätestens seit den 1950er Jahren ist daraus der Erfolg einer Geschäftspraxis geworden, die die Bedeutung wiederholter patterns und graphischer Muster dechiffriert und von vergangenen Notierungen auf wahrscheinliche Zukünfte schließt. Besser als in allen anderen Daten – etwa intrinsischen oder Buchwerten von Aktienpapieren – soll sich darin die Evidenz von Marktlagen abbilden, ein Gestaltwille und die Aussagekraft von Graphen, die auf verborgene Rhythmen in den Fluktuationen von Aktien- und Währungskursen verweisen. Chartisten und Analysten sprechen hier etwa von ›Trendlinien‹ und ›Trendkanälen‹, von ›bärischen‹ und ›bullischen‹ Mustern, von ›umgekehrter Untertasse‹, ›Schulter-Kopf-Schulter-Top‹, ›Muscheln‹ oder ›Flaggen‹ und ›Wimpeln‹ – allesamt charakteristische Formationen, die Trendverläufe und deren Umkehrpunkte verzeichnen. Diese Graphen repräsentieren weniger zugrunde liegende Wertreferenten. Die Entscheidungen über Kauf und Verkauf werden vielmehr allein danach bemessen, wie und in welcher Verlaufsform, mit welchem Syntagma sich hier Preissignale mit Preissignalen verketten. Dies ergibt auf der einen Seite eine Art Rein- oder Schönschrift der ökonomischen Welt; in den trading rooms formieren sich die Signale der Außenwelt zu einem rauschfreien Tableau. Andererseits versammelt sich darin der Artenreichtum einer finanzökonomischen Morphologie. Wie in den Zyklen der Natur wiederholt der Markt immer wieder dieselben alten Bewegungen in derselben alten Routine, die Geschichte gerinnt zur wiederholbaren Form.16

Oikodizee

Diese gängigen Modelle, Positionen und Verfahren, mit denen die Finanzwissenschaft seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts den Verlauf und die zeitlichen Dynamiken von Preisbildungen auf den Devisen- und Aktienmärkten zu erklären und darzustellen versucht, kreisen also um das Rätsel der Kursbewegungen und Preisschwankungen, um die dazugehörigen Timing-Probleme und Prognoseverfahren und zeugen in ihrem Konzert von einer gewissen Ratlosigkeit. Der Erklärungsbedarf für das Finanzgeschehen fordert eine umfangreiche ökonomische Hermeneutik heraus und dokumentiert dabei vor allem ein Zerwürfnis in den praktischen und theoretischen Interventionsformeln, in den verschiedenen Rezepten und Deutungsgesten. Alle diese Interpretationen und Sichtweisen stellen diverse und letztlich unvereinbare Erklärungsversuche für diejenigen semiotischen Ereignisse dar, die im Zentrum moderner Finanzökonomie stehen. In ihnen werden nicht nur jeweils unterschiedliche Schichten oder Aspekte derselben Ereignishaftigkeit geltend gemacht, sondern auch verschiedene, einander teils widersprechende, teils überschneidende Ideen vom Zusammenhang der ökonomischen Welt. Es steht hier nicht weniger als die Konsistenz, d.h. der Ordnungsgehalt des finanzökonomischen Systems auf dem Spiel. Bezogen auf die Frage danach, was ein Ereignis auf den Finanzmärkten sei, wie es sich darstellt, mit welchen Gründen es geschieht und wie es sich auf der Achse der Zeit mit anderen zusammenfügt; und bezogen auf die Fragen, welche Wirklichkeit sich im Spiel der Preissignale ausdrückt, welche Kräfte die Trends und Konjunkturen, die Ausnahmeereignisse und Krisen auf den modernen Finanzmärkten hervorrufen, dramatisiert sich offenbar eine Kontroverse, die zuletzt auf eine manifeste Ungelöstheit dieser Fragen verweist. Es handelt sich also um Streitfragen innerhalb der ökonomischen Fakultät. Ob die Geschichte von Notierungen Lehren für zukünftige Kursverläufe und Investitionen bietet oder eben nicht; ob und wie Kursschwankungen mit ökonomischen Fundamentaldaten und mit den Umständen der Restwelt zusammenhängen, ob und auf welche Weise sich ein fiktives Zeichenspiel von einer so genannten Realökonomie abgelöst hat; ob die Bewegungen auf den Finanzmärkten gesetzmäßig oder rein zufällig geschehen; wie motiviert oder grundlos Zahlungsereignisse auf Zahlungsereignisse folgen; ob das Finanzgeschehen entweder effizient oder chaotisch – oder effizient und chaotisch zugleich – funktioniert; ob die Dynamik der Märkte ein rationales Zusammenspiel oder Manifeste reinster Unvernunft präsentiert – diese Fragen lassen die Modelle und Hypothesen der Finanzwirtschaft als Aktionsprogramme erscheinen, die mit Blick auf die ökonomische Welt ebenso historisch wie prognostisch verfahren, aber keine Einigkeit darüber dokumentieren, was diese Welt im Innern zusammenhält. Gemeinsam führen sie ins Feld einer dunklen und verworrenen Empirie. Sie verweisen auf eine Ungewissheit darüber, was eine ökonomische Wirklichkeit überhaupt sei, und geben einigen Enttäuschungen Raum. »Auf keinem Gebiet der empirischen Forschung«, bemerkte etwa der Ökonom Wassily Leontief, »ist je eine so ausgeklügelte statistische Maschinerie mit derart mäßigen Ergebnissen verwendet worden.«17 Das Rätsel besonderer Situationen, seltener Ereignisse und schwarzer Schwäne bleibt bestehen.

Im Fluchtpunkt finanzwirtschaftlichen Wissens steht jedenfalls eine Problemfigur, die sich auf das Vexierbild einer kritischen Ereignismasse bezieht und darin immer wieder eine prekäre Ununterscheidbarkeit zwischen Vernunft und Unvernunft, Chaos und Ordnung, zwischen absehbarem Weltlauf und entfesselter Kontingenz ausmachen muss. Fragen, exegetische Anstrengungen und Kontroversen dieser Art wiegen allerdings umso schwerer, als es in ihnen nicht zuletzt um die Geltung einer alten und unverwüstlichen Überzeugung liberaler Ökonomie geht, um die Überzeugung nämlich, dass das Marktgeschehen ein exemplarischer Schauplatz von Ordnung, Integrationsmechanismen, Ausgleich, sinnvollen Allokationen und somit von gesellschaftlicher Vernunft sei und insgesamt an eine kohärente, systematische Darstellungsform appelliere. Darum mag es gerechtfertigt erscheinen, im Kern dieser Auseinandersetzungen und im diskursiven Passepartout finanzökonomischer Krisen eine Wiederkehr von gewissen Problemlagen zu erkennen, denen sich nur ältere Versuche der Theodizee ähnlich systematisch stellen mussten. Sofern nämlich kapitalistische Ökonomie Schicksal geworden ist, sofern Gewinnerwartung und ökonomisches Wachstum zur Hoffnung auf einen Restbestand an irdischer Providenz gehören, kann auch moderne Finanztheorie der Rätselfrage nicht ausweichen, ob und wie scheinbare Irregularitäten und Anomalien mit einer vernünftigen Einrichtung ihres Systems korrespondieren, welche Ereignisse mit welchen anderen Ereignissen gemeinsam möglich und also kompossibel erscheinen, ob, wie und welche Gesetzmäßigkeiten sich darin artikulieren und wie die bestehende ökonomische Welt die beste aller möglichen sein kann.

Die Fragen jedenfalls, mit denen Kant einmal die Haltbarkeit von Versuchen in der Theodizee überprüfen wollte, müssten analog auch an die Rechtfertigungen des finanzökonomischen Systems gestellt werden. Hier gälte es also nachzuweisen, dass die offenbaren »Zweckwidrigkeiten« und Dysfunktionen eigentlich keine seien; oder dass sie nicht als Gegebenheit, sondern als »unvermeidliche Folge aus der Natur der Dinge«, als hinzunehmende Effekte einer insgesamt erfreulichen Weltordnung beurteilt werden müssten; oder dass sie schließlich nur den hinfälligen »Weltwesen«, der beschränkten Umsicht unzuverlässiger Mitspieler zuzurechnen seien.18