Das Gespräch unseres Lebens - Laura Karasek - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Gespräch unseres Lebens E-Book

Laura Karasek

0,0
17,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Gespräch über die Bedeutung von Familie, Freundschaft, Liebe, Abschied und Verlust, das alle Mütter und ihre Töchter führen sollten! Was war bisher wichtig in unserem Leben? Welche Wünsche haben sich erfüllt? Und wie viel wollen wir überhaupt von uns preisgeben?  Die Beziehung zur Mutter ist für jeden Menschen so prägend, dass wir ihr kaum entkommen können. Wir wenden uns von unserer Mutter ab, wir sehnen uns nach ihr, wir brauchen sie wie niemanden sonst im Leben, wir wollen ihr etwas beweisen, wir wollen so sein wie sie und doch nie so werden wie sie, wir wünschen uns ihre Liebe und Anerkennung, ihre Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit und manchmal auch, dass sie uns einfach in Ruhe lässt.  Laura Karasek und ihre Mutter, Armgard Karasek, sprechen in diesem Buch mit Blick aus zwei unterschiedlichen Generationen über das Leben als Frau, als Mutter, als Tochter, als Liebhaberin, als Freundin, als Anwältin, als Journalistin, als Teenager, als Witwe. Berührend offen, mitunter schonungslos, aber immer liebevoll stellen sich die beiden Frauen in einem unterhaltsamen und intimen Dialog jenen Fragen, die uns alle bewegen. Der erste Gesprächsband eines prominenten Mutter-Tochter-Duos

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 413

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Armgard Seegers-Karasek / Laura Karasek

Das Gespräch unseres Lebens

Ein aufrichtiges Mutter-Tochter-Buch

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein Gespräch über Höhen und Tiefen in der Liebe und im Beruf, über Macht und Ohnmacht, über die Bedeutung von Familie und Abschied, das alle Mütter und ihre Töchter führen sollten!

 

Was war bisher wichtig in unserem Leben? Welche Träume haben sich erfüllt? Was wünschen wir unseren Kindern?

Die Moderatorin und Autorin Laura Karasek und ihre Mutter, die Literaturkritikerin Armgard Karasek, werfen in diesem Buch einen Blick auf die ganz großen Themen. Aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Generationen sprechen sie über das Leben als Frau, als Mutter, als Tochter, als Liebhaberin, als Freundin, als Anwältin, als Journalistin, als Teenager, als Witwe. 

Berührend offen, mitunter schonungslos, aber immer liebevoll und selbstironisch stellen sich die beiden Frauen in einem unterhaltsamen und intimen Dialog jenen Fragen, die uns alle bewegen. 

 

»Dieses Buch enthält alle relevanten Buchstaben, Satzzeichen und Gefühle.« (Laura Karasek)

 

»Dieses Buch ist für alle, die eine Mutter haben!« (Armgard Karasek)

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Vorwort

Spiegelungen

Von Müttern und Töchtern

Berufswelt: Work hard, play hard?

Liebesleben

Älterwerden

Nähe und Nagellack

Prinzessinnen

Sex und andere Lebenskrisen

Frauen, Männer und das Geheimnis der Gleichberechtigung

Erziehungsfragen

Schuld und Erwartung: Die Familie

Die Angst vor dem Verpassen

Was bleibt?

Dank

In einigen Fällen wird im Text aus Gründen der Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet, das sich gleichermaßen auf alle Geschlechter bezieht.

Vorwort

»Hätte ich das mal früher gewusst! Jetzt ist es zu spät.« Diesen Gedanken kennen wir alle. Wir kennen ihn, weil wir eine Chance nicht wahrgenommen, eine Gelegenheit verpasst oder einen Menschen verloren haben. Wir kennen ihn. Und trotzdem warten wir immer auf irgendetwas. Wir warten, dass etwas vorbeigeht oder etwas stehen bleibt, dass etwas passiert, wir warten auf eine Antwort, auf eine Gelegenheit, auf ein Gefühl. Wir warten auf den richtigen Moment, auf den Feierabend, auf das Wochenende, auf Weihnachten, darauf, dass die Kinder groß genug sind. Wir warten viel zu lange auf ein ehrliches Gespräch, weil wir glauben, wir hätten uns doch eigentlich schon so viel gesagt. Wir meinen, einander zu kennen, genug voneinander zu wissen. Aber tun wir das wirklich? Oder haben wir uns zwischen Zahnarzttermin und Einkauf doch oft nur halbherzig zugehört? Wir lassen uns so leicht vom Alltag überrollen, wir nehmen die Familie gern für selbstverständlich, wir schieben ein Gespräch auf, eine Umarmung, ein Treffen.

 

Wir wollten nicht mehr warten und haben uns zum ersten Mal bewusst diesem Gespräch gestellt: Wir haben einander Sehnsüchte und Kummer gestanden, uns erzählt, wovor wir uns fürchten und worüber wir uns freuen. Wir haben uns über Wünsche und Niederlagen ausgetauscht, Lebensfragen diskutiert und unsere Erfahrungen und Einsichten aufgeschrieben. Wann sind wir je einem Menschen so nahegekommen?

Nach diesem Gespräch wissen wir, warum die andere bei bestimmten Sätzen verletzt ist, warum sie sich zurückzieht oder laut wird. Warum ihre Marotten zu ihr gehören. Wir haben uns intensiv über Nähe und Selbstbehauptung unterhalten, über das Leben als Frau, über unsere verschiedenen Generationen. So intensiv, dass wir uns besser begreifen und verstehen. Ist zu viel Ehrlichkeit schädlich für eine Familie? Nein. »Ich kann dir jetzt ins Herz schauen, Laura«, habe ich am Ende unseres zuletzt geführten Gesprächs gesagt. »Ich wundere mich nicht mehr über Dinge, die ich mir vorher bei dir nicht erklären konnte. Ich weiß jetzt, wie du fühlst, was du liebst und was dich verunsichert oder antreibt.«

All das haben wir in diesem Buch festgehalten. Ein Buch, das als Anregung dienen kann. Vielleicht finden Sie sich in manchen unserer Geschichten und Gefühle wieder, in anderen vielleicht nicht. Aber vielleicht möchten Sie durch dieses Buch zum Telefon greifen, in den nächsten Zug steigen, den Terminkalender freiräumen und sich Zeit nehmen für Fragen, auf die Sie schon lange nach Antworten gesucht haben. Es lohnt sich.

Betrachten Sie dieses Buch als eine Einladung zu einem Gespräch. Führen Sie es mit einem Menschen, den Sie lieben.

 

Armgard und Laura

Spiegelungen

Was siehst du eigentlich, wenn du in den Spiegel schaust, Mama?

 

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Natürlich sehe ich, dass ich anders aussehe als früher, älter. Und dicker. Das gefällt mir nicht. Doch ich fühle mich innerlich viel jünger, als mein Gesicht und mein Körper aussehen, bestimmt 20 Jahre jünger. Ich trage seit einiger Zeit eine Lesebrille, aber die setze ich natürlich nicht auf, wenn ich in den Spiegel schaue. Ich könnte ja näher an mein Spiegelbild herantreten, dann würde ich ganz viele Falten und graue Haare sehen, aber dieses Bild möchte ich eigentlich gar nicht so genau erkennen.

Neulich habe ich mir an der Geschirrspülmaschine das Bein verletzt. Es tat sehr weh, Blut ist auch geflossen. Ich dachte: Guck da lieber nicht genauer hin, sondern warte, bis der Schmerz vergeht. Also bin ich zum Sofa gehumpelt, habe den Fernseher angeschaltet und mich abgelenkt. Drei Stunden hat es wahnsinnig geschmerzt, dann erst habe ich mich getraut runterzugucken. Ähnlich geht’s mir mit dem Spiegelbild. Ich sehe mich lieber so, wie ich mich innerlich fühle.

 

Du hast nie darüber nachgedacht, dich »jünger« machen zu lassen, etwas zu optimieren?

 

Nein. Ich finde die Vorstellung, dass mir jemand im Gesicht rumschneidet, so gruselig, dass ich nicht mal daran denken mag. Neulich habe ich im Schwimmbad eine Frau getroffen, die ich schon lange kenne und die deutlich jünger ist als ich. Sie hatte ganz offensichtlich ein Facelifting hinter sich. Ich habe sie kaum erkannt und war ziemlich erschrocken. Sie hat jetzt das Gesicht einer anderen älteren Frau.

Aber was siehst du denn, Laura, wenn du in den Spiegel schaust?

 

Ich sehe oft das kleine Mädchen, das ich mal war. Wenn ich mich schminke und aufdonnere, was ich auch gerne mal mache, fühle ich mich auf eine gewisse Art verkleidet, wie eine, die in die Rolle einer sexy Frau schlüpft und diese Rolle dann auch lebt.

Ich habe ein eher weiches Gesicht, hohe Wangenknochen. Wenn Leute nett sind, sagen sie: »Puppe« oder »Slawin«. Weniger nett formuliert würde ich sagen: »aufgedunsen, füllig, üppig«. Ich sehe nicht androgyn aus und sobald ich geschminkt bin, wird das noch stärker, fast unnatürlich. Ich sehe dann immer nach zu viel aus, so angemalt, wie Teig mit Farbe und zu vielen Smarties, voller Zuckerguss. Mein Gesicht ist nicht hart und deswegen auch viel zu wenig konturiert. Mit 15 wurde ich von meinen Freundinnen »Goldie« genannt, weil ich so ein Hamstergesichtchen war. Ich mag meine Augenfarbe, meine Zähne, meinen Mund, aber das Kinn überhaupt nicht, auch die Augenbrauen könnten höher sein. Aber uns Frauen wird ja geradezu antrainiert, an uns rumzumäkeln. Wir dürfen nicht altern, wir dürfen aber auch nichts gegen das Altern tun. Wir sollen nicht dürr sein, aber auch nicht dick. Entweder Öko-Fritte oder Barbie-Hohlbratze.

Unsere Unzufriedenheit ist ein Milliardengeschäft. Daher die ganze Selbstoptimierung.

 

Gegen Selbstoptimierung ist generell nichts zu sagen. Natürlich sollte man sich »verbessern«, also schlauer, fitter, gesünder, sozialer, witziger und was weiß ich was werden. Das kann man mit Training durchaus. Aber dieses ständige Vergleichen macht unzufrieden. Wieso denkst du an dein Kinn, wenn du dich siehst? Das ist ein so belangloser Teil des Körpers. Ich habe euch als Kindern immer gesagt: Kümmert euch um die Sachen in der Welt, die ihr ändern könnt. Mit Dingen, die man nicht ändern kann, sollte man seinen Frieden machen.

 

Vielleicht betrifft das vor allem meine Generation und die nach mir Geborenen. Wir stecken alle im Selbstoptimierungswahn. Durch Social Media, Style-Magazine und Werbung wird uns ständig vorgehalten: »Du könntest noch mehr aus dir rausholen! Du musst dich noch mehr anstrengen. Du sollst Paleo essen und Algen trinken. Zum Cycling und ins Nagelstudio gehen. Du brauchst Botox, Faltencremes, Hyaluronspritzen, Straffungssalben, Cellulite-Peelings, Eigenbluttherapie, Fettverbrennungskapseln, Hirsepillen und Weizengras-Shakes.« Du kannst alles bestellen, dich mit jedem vergleichen und sollst dabei mithilfe von Achtsamkeits-Apps noch zu dir selbst finden. Kein Wunder, dass uns dauernd Selbstzweifel plagen!

Macht Schönheit überhaupt glücklich?

 

Es gibt Studien, nach denen hübsche Kinder eher angesprochen und angestrahlt werden als hässliche. Natürlich haben gut aussehende Menschen Vorteile im Leben. Aber uns wird ja vorgegaukelt, unser Leben werde leichter, besser, angenehmer, wenn wir bloß dünner oder jünger aussähen. Viele denken dann, das sei tatsächlich so. Es ist aber nicht so. Das Leben wird allenfalls leichter, wenn man etwas entspannter und liebevoller mit sich selbst umgeht.

 

Ja, aber selbst das klingt für mich nach Zwang: Sei doch mal entspannt, liebe dich selbst!

Wie leicht ist es denn, sich selbst zu lieben, wenn alle ständig ihre Wimpern, Zähne, Haare und Gesäße »restaurieren«? Inzwischen gibt es sogar Fadenlifting fürs Knie und ein Anti-Falten-Kissen, damit man selbst im Schlaf noch effizient ist! Aber sollte ich meinen Körper nicht einfach für das mögen, was er kann? Er riecht, schmeckt und verdaut, das ist doch ziemlich beeindruckend.

 

Am Ende wird noch das hinterletzte Organ in uns gefunden, das sich optimieren lässt. Was für ein Irrsinn! »Mit einer Ohrläppchenkorrektur zu mehr Wohlbefinden« heißt es in der Werbung einer Schönheitsklinik.

Wir lernen in der Schule nicht sehr viel über unseren Körper, der ja ein Wunderwerk ist. Was die Zellen können, was Hormone bewirken, wozu Faszien da sind – der Körper bietet so viel Faszinierendes. Ich habe das leider auch erst spät gelernt. Stattdessen wird uns eingeredet, wie seien alle unzulänglich, fehlerbehaftet. Eigentlich ist das eine Frechheit.

 

Wo würden Frauen heute wohl stehen, wenn sie nicht mindestens 20 Prozent ihrer Jugend damit verbracht hätten, herauszufinden, ob ihre Figur ausreicht, um im Bikini an den Strand zu gehen. Wie viel Zeit geht für die Frage drauf, ob der Busen nicht mithilfe der richtigen Cup-Form noch optimiert werden könnte? Oder mit welchen Tricks wir am besten unser »Hüftgold« kaschieren.

Das kostet nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Zeit, in der man etwas erfinden oder erforschen, eine neue Tierart entdecken oder ein Musikstück komponieren könnte. Nie waren die Möglichkeiten für Beauty-Maßnahmen so greifbar, so mannigfaltig, so enthemmt. Filter wollen uns weismachen, die ganze Welt sei voller Topmodels. Im Jahr 2019 wurde allein in Deutschland mit dekorativer Kosmetik knapp 2 Milliarden Euro Umsatz gemacht.

Mama, wie würdest du sagen, hat sich das Schönheitsideal verändert?

 

Na ja, schau dir Marilyn Monroe an. Nach heutigen Maßstäben ist sie pummelig. Millionen von Männern haben sich nach ihr verzehrt und für Millionen von Frauen war sie wunderschön. Ebenso Elizabeth Taylor. Ich habe manchmal den Eindruck, das Weibliche, das etwas Rundliche, Fülligere soll als Schönheitsideal vollkommen verschwinden. Also das, was man lange als »fraulich« bezeichnet hat. Ist das nicht irgendwie auch eine Abwertung des Weiblichen, wenn man als Frau androgyn aussehen soll, um als schön zu gelten?

 

Immerhin gibt es inzwischen vielfältigere Schönheitsideale, Stichwort: Body Positivity. Menschen, die Bodyshaming betreiben, also andere wegen ihres Äußeren beleidigen, werden heute in den sozialen Medien viel schärfer kritisiert als in den 90er-Jahren, als ich ein Teenager war. Das finde ich eigentlich eine gute Entwicklung.

Mama, wenn jetzt eine Freundin von dir sagt: »Du, ich will mir die Brüste vergrößern lassen.« Was rätst du ihr?

 

Ich habe sogar eine Freundin, die offen erzählt hat, dass sie sich die Brüste hat machen lassen. Weil ihre echten Brüste nach ihren Schwangerschaften »wie Tüten« ausgesehen hätten. Glücklich war sie mit den neuen prallen Dingern allerdings auch nicht. Jahre später hat sie sie als viel zu groß empfunden und sich die Implantate wieder entfernen lassen. Jetzt klagt sie seit längerer Zeit über eine Narbe, die unheimlich schmerzt. Also, ich würde einer Freundin, die sich die Brüste »machen lassen« will, sehr davon abraten.

 

Wieso sollte überhaupt eine Frau, die Kinder zur Welt gebracht hat, so aussehen, als ob sie keine Kinder bekommen hätte? Da werden sofort spezielle Fitnessprogramme für den »After-Baby-Body« angeboten. Musstest du dir solche Sätze auch anhören? »Für eine Mutter siehst du echt noch okay aus.« Oder: »Für 34 siehst du ja echt noch gut aus«?

 

Nein, so etwas habe ich nie gehört.

 

Aber wir waren ja beim Spiegelbild. Eigentlich sehe ich im Spiegel das Mädchen von früher. Dann muss ich an das wunderschöne Gedicht denken, das Niko mir zu meinem 30. Geburtstag geschrieben hat. Er hat es auf der Feier vorgetragen und meine Freundinnen und ich mussten weinen.

 

Ja, und zu mir haben sie gesagt: »Ich möchte auch so einen Bruder!«

 

In dem Gedicht kam immer der eine Satz: »Für sie magst du erwachsen sein – für mich bleibst du ein Kind.« Der wiederholte sich am Ende jeder Strophe: »Für sie magst du die Größte sein – für mich bleibst du ein Kind.« Da denke ich: Wie schön, dass es einen Menschen außer mir gibt, der dieses Mädchen noch kennt und sieht.

 

Deswegen habe ich dir einen Bruder geschenkt: damit es jemanden gibt, der sich mit dir auch später noch an eure Kindheit erinnern kann.

Nein, ernsthaft, ich sehe mich gar nicht als Kind, wenn ich in den Spiegel schaue. Ich sehe mich als jüngere Frau, vielleicht um die 30 oder 40, maximal 50. Innerlich bin ich nicht weiter gealtert.

Aber neulich habe ich einen schönen Satz gehört, der lautete: »Ich sehe so aus, wie ich behandelt werden möchte.« Das finde ich gut. Das möchte ich auch.

 

Über den Satz muss ich nachdenken. Er passt zu dem, was ich eben sagte: Wenn man sich aufdonnert und auftusst, dann ist das vielleicht – jedenfalls bei mir – auch eine Ansage an einen selbst, eine Erwartung, ein »Ich möchte jetzt so behandelt werden«. Und ich möchte mich in dem Moment selbst so behandeln, möchte mich als laszive Frau sehen, die verführerisch ist, möchte diese Femme fatale sein. Es kann so weit gehen, dass ich eine Reaktion meines Gegenübers provozieren will. Wenn ich zu Hause ganz »unmaskiert« bin, empfinde ich mich selbst als zarter und mädchenhafter, zerbrechlicher, verletzlicher.

 

Also, über das Aufdonnern haben wir ja schon gelegentlich gesprochen. Ich finde diese »sexy« Kleidung zu männerorientiert. Warum sollte ich lasziv durch die Welt staksen? Ich lebe doch nicht im Nachtclub. Sexy in der U-Bahn? Gott bewahre. Ich ziehe mich auch gerne schön an, aber ich war schon früh von der Idee begeistert, dass ich als Frau nicht so tun muss, als sei ich für den Mann auf der Welt. In meiner Jugend ging es nicht darum, für die Männer verführerisch auszusehen. Wir haben uns tolle Jeans oder Stiefel angezogen, weil das hippe Klamotten waren.UnsereEltern waren damals total anders gekleidet als wir, die Männer in Anzügen, die Frauen in engen Röcken, unter denen sie Strumpfhalter trugen, die zwickten. Kurz, ich verstehe das mit dem Aufbrezeln bei dir nicht. Mir kommt es wie eine Rüstung vor, mit der du dich vor der Welt wappnest. Aber hübscher wirst du in meinen Augen dadurch nicht.

 

In meinem Verständnis von Feminismus muss es heißen: Ich darf so aussehen und herumlaufen, wie ich will! Und wenn ich sexy sein will, ist das auch in Ordnung. Meckert nicht immer an den Frauen rum, was sie tun sollten oder wie sie auszusehen haben. Die eine »lässt sich gehen«, weil sie eine »Hirse-Jutebeutel-Dinkelkeks-Mutti« ist, und die nächste ist ’ne billige Bitch, weil sie zu viel Haut zeigt. Glitter-Fingernägel und falsche Wimpern sind genauso okay wie unrasierte Achseln und kein Make-up.

 

Aber alles, was du trägst, ist eine Aussage. Es gibt Auskunft über deine Gruppenzugehörigkeit. Kleidung ist ein Mittel, um dich darzustellen.

 

Ich will gar nicht zu EINER Gruppe gehören. Wie freiheitsberaubend! Ich will in vielen Gruppen sein dürfen. Wir müssen uns als Frauen nicht immer für das rechtfertigen, was wir schön finden. Und es ist ja nicht so, dass ein Minirock oder Lipgloss Gehirnzellen vernichten.

 

Wir sind da einfach vollkommen unterschiedlich. Ich stehe nicht gerne lange vor dem Spiegel und habe dafür vielleicht zu wenig Verständnis.

 

Ich stehe auch nicht lange vorm Spiegel und habe mir noch nie im Internet ein Schmink-Tutorial angesehen. Aber ich fand es manchmal schade, dass du dich gar nicht für so was interessierst, weil ich durchaus Freundinnen habe, die sich mit ihren Müttern über Mode austauschen und gemeinsam shoppen gehen. Wir konnten nie Outfits tauschen. Wir haben eher das Schreiben und Bücher geteilt oder Diskussionen über Feminismus. Ganz selten sind wir auch mal shoppen gegangen, aber wir haben uns nie zusammen geschminkt oder zu lauter Musik gestylt. Du hast mir auch nie die Haare geflochten oder so was.

 

Sorry, Laura, da habe ich einfach eine Leerstelle. Das macht mir keinen Spaß. Jeder kann nur das geben, was er gerne macht. Und ich laufe ja auch nicht herum wie ein Waldschrat. Also wirklich!

Aber ich finde es zum Beispiel fragwürdig, deiner Tochter durch das Aufbrezeln zu zeigen, dass du für die Menschen da draußen anders oder hübscher aussehen willst. Ich habe Verständnis dafür, dass man sich gerne schminkt. Ich wasche mir auch jeden Tag die Haare, damit die immer gut sitzen. Aber ich finde nicht, dass man sich optimieren muss, nur weil man vor die Tür tritt. Dafür würde kein Mann Zeit und Mühe aufwenden.

 

Aber Mama! Ich bin oft ungeschminkt, und das sehen meine Kinder auch. Es ist ja nicht so, dass ich mir für einen gemeinsamen Ausflug zum Minigolfplatz einen Lidstrich ziehe und falsche Wimpern anklebe. Und außerdem geht es ja nicht ausschließlich um die anderen, sondern sehr stark darum, wie ich mich durch meinen Look fühle. Ich mag es, in diese Verkleidung – diese Rüstung, wie du es nennst – zu schlüpfen, in der ich anders sein kann, weil ich mich darin anders fühle. Das ist aber nicht unechter als das, was ich zu Hause bin.

Ich betrachte es eher als Experiment, als Kostprobe: Inwieweit kann ich mich selbst durch mein Äußeres in eine neue Stimmung versetzen? Ich finde es in Ordnung, das zu nutzen, zu testen, damit zu spielen. Ich will nicht immer die Gleiche sein und auch nicht immer gleich aussehen. Dabei geht es nicht unbedingt um Selbstgefälligkeit, sondern vielleicht eher um Selbstauffälligkeit.

 

Jeder soll es so machen, wie er oder sie möchte. Aber da sind wir wieder beim Blick in den Spiegel. Ich bin eigentlich gerne ich selbst. Ich möchte nicht jemand anders sein und ich möchte mich auch nicht spielerisch verstellen. Ich spiele sehr gerne, aber lieber, wenn ich ich bin.

 

Das sehe ich anders! Ich bin auch als die Aufgebrezelte ich. Ich kann doch verschiedene Versionen von mir sein, es gibt ja nicht nur die eine Laura, die ich für immer gebucht habe – wie so ein lebenslanger Vertrag eines Fitnessstudios oder Telefonanbieters, aus dem man nicht mehr rauskommt. Schwierig wird es bloß, wenn ständig die Wünsche der anderen in dich hineinprojiziert werden, weil dein Äußeres bei ihnen Hoffnungen oder Erwartungen weckt. Dann wird man zu einer Vermutung; Menschen vermuten, dich zu erkennen, zu durchschauen. Aber im Leben ist man doch in verschiedenen Rollen: Mutter und Ehefrau, Anwältin und Freundin, Tochter und Liebhaberin.

Es gibt Momente, in denen ich mich beziehungsweise eine bestimmte Laura wie einen Mantel an der Garderobe abgeben möchte. Das kann ich mithilfe einer Kostümierung. Manchmal überfordert es mich, mich kennenlernen zu müssen. Manchmal möchte ich keine Zeit mit der einen Laura verbringen, sondern mit der anderen Laura. Manchmal nehme ich Anstoß an mir – auch das muss man ja aushalten: sich selbst gerade schlecht zu finden.

 

Ich mache das aber nicht von Äußerlichkeiten abhängig. Ich habe Abende, da möchte ich mich gerne über was ganz Schlaues unterhalten. Dann gibt es Abende, an denen ich rumgackern oder Karaoke singen möchte. Und ich habe Abende, an denen ich, da ich ja Berufsvoyeurin bin, einfach nur zuschauen oder zuhören will. Das Spiel besteht darin, jedes Mal eine andere Rolle zu haben. Ich spiele die Rolle so, wie ich mich innerlich gerade fühle: angespannt, aufgeregt, sanft, wütend, still, lustig. Und das hat nichts mit meinem Äußeren zu tun.

 

Doch, bei mir schon! Das habe ich im Lockdown gemerkt. Als ich tagelang gar keinen Sinn darin sah, mir mit meiner Erscheinung Mühe zu geben, habe ich mich auch anders gefühlt. In hohen Schuhen fühle ich mich anders als in flachen Schuhen und ich fühle mich im Minikleid anders als im Sweatshirt. Ich mag all diese Seinsweisen. Ich habe es immer genossen, mich schick zu machen, um in die Kanzlei, in der ich mehrere Jahre gearbeitet habe, oder zu einer Gerichtsverhandlung zu gehen, bei der Anwälte Roben tragen müssen. Nicht umsonst gibt es bestimmte Uniformen. Ich habe mal für ProSieben bei der Feuerwehr und bei der Polizei gearbeitet und dabei festgestellt: Diese Kleidung macht was mit einem. Also ja: Ich glaube, das Äußere färbt auf das Innere ab.

 

Auch ich fühle mich auf hohen Schuhen anders als auf flachen. Vor allen Dingen kann ich darauf nicht ewig gehen und der Abend muss dann irgendwo enden, wo ich mich hinsetzen kann – nur weil ich die hohen Schuhe anhabe. Das finde ich jetzt auch nicht so witzig.

 

Diese High Heels machen eben etwas mit mir. Ich verhalte mich anders, wenn ich mich gerade attraktiv finde. So wie ich mich auch anders verhalte, wenn ich mich nicht mag.

Natürlich kann man sich die Frage stellen: Was ist zuerst da? Fühle ich mich gut und deswegen finde ich mich gerade schön oder finde ich mich schön und bin deswegen glücklich? Oder anders gefragt: Woher kommt das, was wir schön finden? Die Schönheitsindustrie lebt schließlich davon, dass wir uns nicht schön genug finden und ständig etwas verändern wollen. Unterwerfe ich mich diesem Diktat? Ich kann gar nicht so scharf trennen, ob ich etwas für mich tue oder für andere. Es fühlt sich eben gut an, gemocht zu werden. Wie ich das erreiche, ist doch meine Sache.

 

Es geht doch um eines: Erreicht man das, womit man glücklich ist? Als Mutter versucht man natürlich, seiner Tochter Wege zu zeigen, die für einen selbst einigermaßen glückverheißend waren. Und ich denke, mit am wichtigsten im Leben sind Selbstgewissheit und Autonomie – viel wichtiger als irgendwelche Äußerlichkeiten.

 

Selbstgewissheit und Autonomie sind schön und gut, aber Gefühle richten sich ja nicht danach, was du WOLLEN willst, sondern nach dem, was du fühlst. Sie sind eigentlich geradezu autonom! Du kannst dir deine Gefühle ja nicht aussuchen. Und deinen Willen auch nicht.

 

Ein wenig kann man seine Gefühle durch das, was man denkt, schon beeinflussen. Wenn ich spazieren gehe und darüber nachdenke, dass die Welt auf den Abgrund zusteuert, fühle ich mich viel schlechter, als wenn ich daran denke, dass ich gestern bei einem schönen Abendessen mit Freunden war.

 

Das mag in manchen Fällen funktionieren, aber deine Gefühle sind doch auch abhängig von dem, was andere Leute tun und sagen. Ich habe mich oft sehr stark durch das Außen gespürt. Mir ist es nicht egal, wie andere mich wahrnehmen. Ich bin nicht frei davon, wer mich mag, und vor allem nicht davon, wer mich nicht mag.

 

Ich fühle mich schon seit vielen Jahren ziemlich selbstsicher. Das ist ganz unabhängig von dem, was ich im Spiegel sehe. Und warum fühle ich mich selbstsicher? Weil ich aus eigener Kraft einen Platz im Leben gefunden habe, der mir gefällt. Glaubst du denn, dass dich der Blick in den Spiegel auch in dein Inneres blicken lässt? Wenn ich darüber nachdenke, was ich im Spiegel sehe, dann ist es nicht nur mein Gesicht, es sind vor allem Gefühle oder Erfahrungen.

 

Ich glaube durchaus, dass der Blick in den Spiegel auch ins Innere blicken lässt. Es ist wie beim Blick in die Augen von jemand anderem. Das ist ja mitunter sehr intensiv – wenn man einander lange ansieht, kann man sehr viel sehen, sofern man das aushält. Sich selbst länger im Spiegel zu betrachten, kann ebenso schwer sein. Dann kommt bei mir manchmal Selbsthass auf, ich denke: Was ist denn das für eine Fratze?, und versuche die Situation aufzulösen, indem ich, wie du, nicht zu lange in diesen Spiegel gucke. Dafür blicke ich lange in meinen inneren Spiegel, manchmal zu lang.

Papa hat mal gesagt: »Man möchte nicht jeden Stein aufheben und das Gewürm darunter sehen.« Diese Anhäufung von Würmern. Das ist wahr, manches lässt man lieber verdeckt. Manchmal möchte ich auch bei mir selbst wegsehen. Ganz früher hatte man keine Spiegel, irgendwann hingen überall welche und inzwischen haben wir Selfies, die man länger betrachtet als andere Menschen. Immerzu muss man sich sehen, sich ansehen, sich ertragen, sich bewerten, sich aushalten. Was macht diese Ego-Dauerbeleuchtung mit uns?

 

Das Gewürm unter dem Stein nicht sehen zu wollen, gehört zu meiner Konfliktscheuheit dazu. Ich sehe in meinem Spiegelbild natürlich auch, dass ich ein ziemlich gutes, ja, erfülltes Leben geführt habe. Ich bin nicht schief und krumm, sondern sehr beweglich. Körpersprache sagt ja sehr viel über einen Menschen aus. Und wenn ich in den Spiegel schaue, bin ich in der Regel zufrieden mit dem, was ich da sehe. Also Selbsthass kenne ich nicht. Und eine Fratze sehe ich auch nie im Spiegel.

 

Das merkt man dir auch an. Du bist sehr EINS mit deiner Körpersprache – ich würde sagen: 1 mit Sternchen!

 

Woran merkst du das?

 

Ich spüre bei dir irgendwie keine Unzufriedenheit oder Unsicherheit in Bezug auf deinen Körper. Du mäkelst nicht so viel an dir herum, du zippelst nicht an dir herum, du bist relativ lieb zu dir und du strahlst das auch aus. Positiv formuliert, ist es Gelassenheit. Man könnte auch sagen: Du bist dir etwas egaler als ich mir. Wurschtiger.

 

Ja, damit hast du es ziemlich genau getroffen.

Das war schon in meiner Jugend so. In Berlin war ja vieles lockerer als woanders. Man konnte Nächte durchfeiern und es gab jede Menge junger Menschen. Meine Freundinnen und ich haben alle mehrere Freunde gehabt und hatten auch untereinander wenig Hemmungen. Keine hat sich für ihren Körper geschämt, was ja heute bei vielen Mädchen der Fall ist.Schrecklich. Wir haben nie darüber gesprochen, ob wir unsere Beine zu kurz oder unser Kinn zu dick finden. Wir haben über unsere aktuelle Liebschaft gesprochen, über Klamotten oder auch darüber, wie ungerecht es in der Welt zugeht. Natürlich wollten wir cool sein, wie jede Generation. Und es wäre völlig uncool gewesen, über zu dicke Hintern oder zu kleine Brüste zu reden.

 

Also, ich habe mich schon manchmal für meinen Körper geschämt.

Aber das hing auch stark mit meiner Krankheit zusammen. Mit zwölf bekam ich die Diagnose: Diabetes Typ 1. Als Kind war ich so lang und dürr, dass die Leute in der Schule mich darauf angesprochen haben. Ich aß meistens wenig. Oma und Opa fanden es immer ganz schlimm, dass ich nie aufaß, und haben ein bisschen Druck auf mich ausgeübt – warum ich denn so schlecht esse und den Eltern Kummer bereite. Sie waren besorgt. Ihr auch, glaube ich. Ich habe auf dem Teller alles hin und her geschoben, sodass sich in der Mitte eine Lücke bildete und es so wirkte, als hätte ich viel gegessen. Oft habe ich auch Essen von meinem auf Nikos Teller gehievt.

Dann kam Diabetes und auf einmal wurde ich pummeliger, ein wohlgenährter Teenager. Ich bekam große Brüste und Fressattacken. Diese Völlerei war, glaube ich, durch die Krankheit ausgelöst. Weil Nahrung plötzlich »schlecht« für mich war und gewisse Dinge »tabu« waren, wollte ich auf einmal ganz viel essen. Ich wollte rebellieren und ungehorsam sein. Ihr habt natürlich die Süßigkeiten vor mir versteckt, aber ich habe die ganze Wohnung wie eine Drogensüchtige durchsucht, habe alles zerwühlt, Schubladen aufgerissen, Schüsseln und andere Hindernisse aus den Regalen geräumt, gierig und ungehemmt. Es war mir egal, was ich fand, aber ich wollte unbedingt etwas finden, etwas entdecken, wie auf dem Grabbeltisch, ein Schnäppchen machen, erbeuten. Ich neigte schon immer zur Sucht.

 

Ich war auch geschockt, als ich erfuhr, dass du Diabetes hast. Ich wusste nicht, wie einschneidend diese Krankheit ist, wie sehr sie das Leben verändert. Glaube mir, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht denke, wie gerne ich dir die Krankheit abnehmen würde. Und wie schlimm es ist, dass ich dir als Mutter nicht helfen kann.

 

Es ist ganz schön schwer, ein gesundes Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper zu haben. Für meine Generation und in der heutigen Zeit ist es vielleicht noch schwerer als in deiner Jugend. Und mit so einer Krankheit sowieso.

Ich habe meinen Körper sehr lange gehasst, weil er nicht machte, was ich wollte. Mit zwölf Jahren entwickelte er plötzlich eine Autoimmunkrankheit und ich wollte ihn dafür bestrafen – habe nichts gegessen, zu viel gegessen, angefangen zu rauchen, exzessiv zu feiern, alle möglichen Experimente mit ihm gemacht. Ich war ziemlich zerstörerisch unterwegs und so wütend auf meinen Körper: Warum tut er mir das an, warum funktioniert er nicht, warum gehorcht er mir nicht, warum hat er mich nicht lieb? Bis ein Arzt mal zu mir sagte: »Seien SIE doch erst mal lieb zu Ihrem Körper! Warum sollte er gut zu Ihnen sein, so wie Sie ihn behandeln?« Es war geradezu eine toxische Beziehung. Ich wollte meinem Körper beweisen, dass ich die Stärkere war, wie gemein ich zu ihm sein konnte – aber er konnte natürlich noch viel gemeiner zu mir sein.

 

Ich kenne das nicht, gegen meinen Körper zu kämpfen. Natürlich habe ich auch nicht diese belastende Krankheit. Mir war aber schon früh klar, dass ich nur diesen einen Körper habe und deshalb irgendwie mit ihm klarkommen sollte. Wir haben als Kinder mal mit Spinnen gespielt und ihnen Beine ausgerissen. Als ich dann sah, wie sich eine Spinne mit nur einem Bein zu bewegen versuchte, wurde mir bewusst, dass sie nie wieder ihre natürliche Form erlangen würde. Ich war damals neun Jahre alt und habe gefühlt, dass man auf seinen Körper aufpassen muss.

 

Ich habe noch nie einer Spinne ein Bein ausgerissen. Aber ich erinnere mich, dass ich mir viel zu viele Gedanken darüber gemacht habe, was ich esse, ob ich zu dick bin, ob ich nicht schön genug bin, ob ich wieder zugenommen habe. Ich war immer besonders glücklich, wenn ich abgenommen hatte, denn das ging für mich einher mit einem Gefühl der Euphorie und Leichtigkeit, einem Gefühl von Kontrolle und Überlegenheit. Ja, ich hatte die Herrschaft über meinen Körper!

Ich esse eher aus Langeweile; ich gehe zum Kühlschrank und schaue hinein, als müsste er mir etwas anbieten, ein Gefühl, ein Versprechen. Aber das Nichtessen löst bei mir eine ganz andere Befriedigung aus. Ich finde es immer toll, wenn ich viel zu tun habe und es sich anbietet, eine Mahlzeit auszulassen. Heute ist das der Fall, wenn ich drehe, weil ich vor großen TV-Shows und Auftritten so aufgeregt bin, dass ich nichts essen kann. Das ist wie Verliebtsein: Ich bin dann ganz hektisch und appetitlos. Auch in der Kanzlei war es schon so, dass ich vor lauter Aufregung, Druck und Stress vergaß, etwas zu essen; es gab Wichtigeres. Das hat mir immer so ein High gegeben. Weißt du, was ich meine?

 

Was du beschreibst, dass man high wird, wenn man nichts isst, klingt leicht pathologisch. Glücklicherweise warst du nie magersüchtig.

Bei mir ist es umgekehrt. Wenn ich nichts esse, bekomme ich unglaublich schlechte Laune. Wenn ich nur einen Snack zu mir nehme, habe ich ein ganz flaues Gefühl und bin für den Rest des Tages hungrig. Dann esse ich pausenlos dagegen an, esse also viel mehr, als wenn ich eine richtige Mahlzeit gehabt hätte.

Essen ist ein riesiges Thema in der Gesellschaft. Viele Menschen sind zu dick. Seit ich alleine lebe, ist Essen natürlich auch immer eine Gelegenheit, um Freunde, Kollegen, Bekannte zu treffen. Essen ist ein Gemeinschaftserlebnis. Das war schon in der Steinzeit so und das ist überall auf der Welt so. Dass wir heute alles zu exzessiv machen, ist auch klar. Man muss irgendwie ein Mittelmaß finden hinsichtlich dessen, was man isst und was man nicht isst.

Dein Vater hat ja wahnsinnig gut gekocht und wir haben immer viele Gäste gehabt. Ständig haben Freunde gefragt: »Wann macht Hellmuth wieder sein Ossobuco oder sein Zürcher Geschnetzeltes?« Er konnte beispielsweise eine wahnsinnig köstliche kalte Tomatensuppe zubereiten. Ich denke so oft, wie gerne ich noch einmal seine Gerichte essen würde. Das fehlt mir wahnsinnig. Wir haben immer zusammen gekocht. Also, er hat gekocht, ich habe Salat gemacht und aufgeräumt. Das war unglaublich innig. Und wir haben uns auf das Essen gefreut und es dann genossen und uns unterhalten. Jedes Wochenende.Aber ich kenne keines seiner Rezepte. Vorbei der Geschmack, für immer. Es ist irre, wie sehr mir das fehlt. Das geht mir übrigens auch so mit dem Sauerbraten meiner Mutter.

 

Papas Kerbelsuppe! Da werde ich ganz traurig, wenn du das so sagst. Man denkt immer, man könnte das wiederhaben, nachkochen, es ist ja bloß Essen. Aber du hast recht: Es geht nicht. Und die Endgültigkeit zeigt sich nicht in etwas Großem, sondern im Sauerbraten oder im Geschnetzelten. Manchmal habe ich so Fresstage, an denen irgendwann der Punkt kommt, an dem ich denke: »Jetzt ist es auch egal.« Kennst du das, dass du schon Bauchweh hast und dir übel ist und du immer weiter isst: süß, salzig, sauer, wieder süß …? Es fing mit Käsebrot und Erdnüssen an und endete mit Chips, Schokolinsen und Nutella. Auch eine Form von Selbstbestrafung, eine Selbstaufgabe. Ich fühle mich elend, kann aber nicht aufhören.

 

Ja natürlich! Insbesondere nach Papas Tod habe ich irgendwann überhaupt nicht mehr drauf geachtet, was ich aß. Als ich dann merkte, dass ich dicker geworden war, habe ich mir gesagt: »Ist egal. Alles andere in meinem Leben ist gerade viel schlimmer. Das Dickwerden ist am wenigsten schlimm.« Essen kann ein Schutzmechanismus sein und es beruhigt. Nicht umsonst heißt es, ein Baby wird »gestillt«. Beim Thema Essen belügt man sich besonders oft.

 

Das kenne ich von meiner Erkrankung. Ich habe mir oft glaubhaft versichert, dass meine Zucker- und Laborwerte doch gar nicht so schlecht seien, dass ich total gut auf mich achtgebe …

 

Wie ist es denn gegenüber anderen: Bist du gut im Lügen?

 

Also, das müsstest du als meine Mutter doch am besten beantworten können. Hast du das Gefühl, dass ich dich oft angelogen habe? Hast du es früher gemerkt, wenn ich geflunkert habe?

 

Du hast mich sehr selten belogen oder mir irgendwelche Geschichten erzählt, um Vorteile zu bekommen. Ich kann dazu kaum etwas sagen.

 

Da du aber einiges über meine schauspielerischen Fähigkeiten weißt, die du ja nicht für besonders ausgeprägt hältst …

 

… das ist noch zu positiv formuliert …

 

… solltest du es ahnen: Ich kann ziemlich schlecht lügen. Ich muss dann immer grinsen. Ich glaube, es fällt mir leichter, schriftlich zu lügen, also bei WhatsApp und in E-Mails. Aber meistens flunkern wir ja nicht, um den anderen zu veräppeln, sondern um ihn – oder uns selbst – zu schützen. Dinge verschweigen oder übergehen kann ich gut. Viele meiner Freundinnen und Freunde sagen, ich hätte ein großes Talent, auf unbequeme Fragen nicht zu reagieren. Ich ignoriere die einfach, ich tue so, als hätte ich sie überlesen oder nicht gehört.

 

Das geht mir genauso. Ich nehme Fragen, die mir unangenehm sind, einfach nicht wahr. Wie gesagt, ich bin konfliktscheu. Du dann ja offenbar auch.

Hast du mal jemanden ganz bewusst belogen? Es heißt ja, jeder Mensch würde am Tag mehrfach lügen.

 

Ich habe mal gelesen, dass ein Mensch im Schnitt täglich 200-mal lügt. Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Aber vielleicht meint die Umfrage Sachen wie: ob es geschmeckt hat, ob meiner Freundin das Kleid steht. Vielleicht fallen aber auch die Lügen darunter, die man sich selbst den lieben langen Tag erzählt. Und ja, ich habe andere Menschen belogen, vermutlich vor allem Männer.

 

Da sage ich jetzt mal ganz flapsig: »Na, dann ist es ja nicht so schlimm.«

Natürlich belügen wir uns alle selbst. Wenn ich morgens müde bin, weil ich zu spät ins Bett gegangen war, sage ich mir: »Heute Abend gehe ich bestimmt früh ins Bett.« Mache ich dann aber nie. Abends bin ich ja nicht mehr müde.

 

Genau! Ich sage mir mittags: Heute gehe ich mal richtig früh ins Bett. Cool. Dann um 2 Uhr nachts: LOL! Das ist der perfekte Zeitpunkt, um eine Liste mit allen Dingen zu erstellen, die ich noch tun muss, tun sollte. Um 4 Uhr nachts: Das ist der richtige Moment, um darüber nachzudenken, warum alle Menschen, die ich kenne, sauer auf mich sein könnten. Eine Stunde später: genialer Einfall! Genau jetzt sollte ich mir alte Textnachrichten durchlesen und sie gründlich analysieren. Carpe diem!

 

Ich glaube, das Sich-selbst-Belügen ist überlebenswichtig. Damit man sich aushält, sich mag. Wir kennen ja unsere Schlechtigkeiten, wollen aber trotzdem gut von uns denken. Aus Rücksicht belügt man vielleicht auch seine Liebsten oder seine Freunde.

Ich finde es nur unzulässig zu lügen, wenn man damit eine Gemeinheit verbindet. Beispielsweise wenn man absichtlich etwas verschweigt oder wenn man jemandem etwas verspricht und es dann nicht hält. Wenn man einen inneren moralischen Kompass hat, wirft man sich solche Lügen wahrscheinlich selbst vor.

 

Aber ich muss doch nicht alles erzählen! Was ist daran gemein, wenn ich Dinge, die nur mich betreffen, verschweige?

Ich brauche nicht immer die Wahrheit. Manche Fragen sind auch schlichtweg übergriffig, zum Beispiel: »Wollt ihr eigentlich Kinder?« Vielleicht klappt es nicht und dann ist diese Frage irgendwie nicht so angenehm.

 

Solche Fragen sind reine Neugier. Die sollte man überhaupt nicht stellen.

 

Du warst schlau genug, nicht alles von mir wissen zu wollen. Du hast vielleicht geahnt, dass ich rauche oder trinke oder Männer treffe, aber du hast da nicht nachgeforscht.

 

Ich glaube, ich hätte nur eine Sache unbedingt wissen wollen, und das gilt eigentlich bis heute: wenn du dich akut in Gefahr befunden hättest. Ich finde es nicht so wichtig, ob du mir erzählst, dass du als Teenager mal gekokst hast. Das ist dann ja vorbei. Solltest du es aber immer noch tun, und zwar regelmäßig, fände ich es sehr wichtig, es zu erfahren. Denn vielleicht könnte ich dir zur Seite stehen.

 

Aber dann würdest du dir ja auch akut Sorgen machen. Wohingegen ich dir einen abgeschlossenen Sachverhalt oder ein bereits behobenes Problem viel leichter erzählen könnte, denn dann wüsste ich, du würdest nicht darunter leiden.

 

Genauso ist es. Einerseits will ich wissen, warum du dich gerade seltsam verhältst. Andererseits ist es schmerzhaft zu erfahren, dass du Sorgen, Probleme oder eine Krankheit hast.

 

Das ist vermutlich der Zwiespalt, wenn man jemanden liebt. Man will seine Mutter oder den Menschen, den man liebt, nicht belasten. Und der Unwissende fühlt sich wohl, weil er eben nichts weiß. Will man diese Sorglosigkeit zerstören, indem man die Wahrheit sagt? Die Glückseligkeit der Ahnungslosen? Vielleicht kann sich gerade im Wegsehen und im Verschweigen der unbedingte Wille, zu lieben, ausdrücken.

 

Ich habe meinen Eltern vieles nicht erzählt, weil ich sie nicht belasten wollte.

 

Es birgt immer ein Risiko, sich jemandem anzuvertrauen, weil es das Verhältnis verändern kann und am Ende möglicherweise beide Seiten enttäuscht sind.

Dabei bin ich zu dir immer offen gewesen. Ich schätze Aufrichtigkeit, aber deswegen möchte ich noch lange nicht alles wissen! Vor allem nicht, wenn es mich nur verunsichert oder verletzt. Ich fände eine Beziehung – egal ob eine romantische oder die zu meinen Eltern oder Freunden – schwierig, in der man alles preisgibt, sich gegenseitig kontrolliert, observiert, überwacht. »Wir machen uns ja nur Sorgen!«, kommt dann als Rechtfertigung. Das kann übergriffig sein, moralisch. Ich mag keine possessiven Beziehungen, ich möchte nicht bevormundet oder ermahnt werden, ich möchte mich nicht abmelden müssen und kein Formular ausfüllen wie beim Arzt, wie viel ich pro Woche trinke, schlafe, esse. Ich möchte für mein Gegenüber mysteriös bleiben, rätselhaft, aufregend, überraschend.

 

Jeder Mensch braucht seine Intimsphäre. Die Wahrheit könnte den anderen kränken oder um den Schlaf bringen, denn jede Wahrheit ist auch eine Belastung. Derjenige, der sie erfährt, muss sich ja mit ihr auseinandersetzen. Was hat jemand davon, wenn ihm sein Ehepartner beichtet, er habe eine Affäre? Will er sich aus der Verantwortung stehlen und dem Partner suggerieren: Jetzt weißt du’s und wenn du nichts dagegen unternimmst, ist es für mich quasi ein Freibrief? Und selbst da, wo es nur um Kleinigkeiten geht, sollte man sich sehr überlegen, ob man die Wahrheit braucht. Etwas wie »In den Klamotten siehst du aus wie eine Wurst« zu sagen, ist eine Frechheit, selbst wenn es wahr ist. Unser Umgang miteinander basiert ja darauf, dass man einander nicht mutwillig verletzt. Das ist dann keine Notlüge, das ist rücksichtsvoll.

 

Es ist umsichtig. Und es macht einen Unterschied, ob man aktiv lügt oder ob man etwas verschweigt. Ist das Nichterzählen schon eine Lüge? Wo hört die Höflichkeit auf und wo fängt die Lüge an? Die Frage ist doch: Wie unhöflich ist die Wahrheit? Benutze ich sie nur als Mittel, um mich zu entlasten, oder dient sie einem höheren Zweck? Die Lüge ist oft die höflichere Variante. Aber Höflichkeit ist oft auch ein Zeichen von Distanz. Wir waren in unserer Familie auf eine Art »unhöflich« miteinander, weil wir einander viele Wahrheiten zugemutet haben. Papa sicher mehr als du.

 

Ich bin zwar Realistin, aber ich rede mir vieles auch schön. Vielleicht mache ich mir damit selbst etwas vor. Und wenn schon! Das Vormachen lässt mich leichter durchs Leben gehen. 

 

Mich auch. Ich kann mir selbst die tollsten Geschichten über mich erzählen.

 

Hast du mich schon mal bewusst nicht als Mutter, sondern als Frau gesehen? Geht das überhaupt?

 

Ich glaube, es ist total schwer, sich die Mutter außerhalb ihrer Rolle als Mutter vorzustellen. Ich weiß, dass du ein sehr reiches Leben vor meiner Geburt hattest und auch jetzt führst. Manchmal fragt man sich als Kind ja schon: Wie ist meine Mutter eigentlich als Frau, als Partnerin, als Kollegin? Als Freundin kann ich dich ganz gut beurteilen, weil ich das oft beobachtet habe, und natürlich kenne ich dich als Frau meines Vaters. Aber wie ihr wirklich zu zweit wart, weiß ich nicht. Und noch weniger, wie du mit anderen Männern bist. Da kann ich dich gar nicht einschätzen.

 

Ich habe mich schon bei meinen Eltern gefragt, was die wohl vor meiner Geburt gemacht haben. Meine Mutter hat mir viel von ihren früheren Freunden erzählt und ich fand das eigentlich okay, nicht unbedingt peinlich. Peinlich war es mir aber, wenn ich beispielsweise bei einer Freundin beobachtet habe, wie sie plötzlich guckte, wenn ein Mann, den sie attraktiv fand, den Raum betrat. Da veränderte sich die ganze Körperhaltung, der Blick, die Kopfhaltung, die Körperspannung. Davon wollte ich nicht Zeugin sein. Bei meinen Eltern hätte ich mir so etwas auch nicht gerne angeschaut. Trotzdem weiß man natürlich, dass die Mutter ein ganz eigenes Leben führt, an dem man nicht teilhat.

 

Ich merke das bei meinen Freundinnen auch immer sofort, wenn ihnen jemand gefällt. Im Gegensatz zu dir finde ich es aber gar nicht peinlich, sondern es berührt oder interessiert mich. Ich finde es süß. Und ich bin mir sicher, dass viele meiner sensiblen Freundinnen das auch bei mir durchschauen.

 

Ich glaube, ich kann das bei dir auch sehen.

 

Wie schrecklich! Wie unangenehm! Woran hast du das gemerkt?

 

Plötzlich lächelst du auffallend gezielt in eine Richtung. Dann schickst du Blicke umher. Bewegst den Kopf so hin und her, greifst dir ins Haar, gestikulierst viel. Du tust eigentlich alles, damit dieser Typ dich sieht und beachtet.

 

Und war dir das bei mir auch peinlich?

 

Nein, überhaupt nicht. Ich fand es sehr amüsant und unterhaltsam. Und habe gedacht: Guck mal, jetzt legt die nächste Generation los.

 

Schön, dass ich dich mit meinen jämmerlichen Flirtversuchen so amüsiert habe! Premium Entertainment. Hast du mich in solchen Momenten nicht als Tochter, sondern als Frau gesehen?

 

Ich fand es aufregend, zu beobachten, wie du als jüngere Frau das Jagdrevier betrittst und eroberst. Ich habe dir dabei ganz gerne zugeschaut. Einmal, da warst du noch sehr jung, waren wir abends zusammen unterwegs und hatten nur ein Auto. Ich wollte irgendwann nach Hause, weil es schon sehr spät war, und du wolltest partout nicht gehen. Da war ich dann ziemlich genervt. Aber den Typ, den du dir ausgeguckt hattest, mochte ich sehr gerne.

 

Ich weiß genau, wer das war. Am Ende hat er mich nach Hause gebracht, weil du wütend abgedampft warst … Es hat also alles geklappt. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!

Von Müttern und Töchtern

Hast du das Gefühl, viel für mich aufgegeben zu haben, Mama?

 

Ja, natürlich habe ich etwas aufgegeben. Freiheit, Selbstbestimmung, Hobbys. Man kann nicht so weiterleben, als hätte man kein Kind. Als du neugeboren warst, habe ich mich anfangs nicht mal getraut, Brötchen zu holen. Obwohl unten in unserem Haus ein Bäcker war. Ich hatte Sorge, dich drei Minuten allein zu lassen. So ein Baby ist wie ein Käfig oder noch schlimmer, ein Gefängnis. Ein winziger, komplett von dir abhängiger Mensch, auf den du jede Minute aufpassen musst. Und wenn er anfängt zu schreien, weißt du überhaupt nicht, was du tun sollst. Du bekommst Angst. Du hast ja keine Erfahrung. Alles ist neu, ungewohnt, unheimlich. Glücklicherweise bin ich da schnell reingewachsen. Ich war noch jung, 28. Und es gibt ja auch diese überwältigenden Gefühle, wenn man das Baby im Arm hält, es sich auf den Bauch legt. Oder in das winzige Gesicht schaut. Ich wollte dich einfach endlos lange anschauen. Wir haben manchmal den halben Abend nur vor deinem Bettchen gesessen und zugeguckt, wie du schläfst. Das hat mich ungemein beruhigt. Der Stress des Tages verfliegt. Ich glaube, dabei werden Glückshormone ausgeschüttet. Und dann der Geruch des Babys. Das ist der schönste Geruch, den es gibt. So nach Frische und Creme und weichen Härchen, weicher Haut. Diese ganz, ganz leisen Atemgeräusche. Wie von einem kleinen Tierchen.

Du hast ziemlich bald ziemlich gut geschlafen. Außerdem haben Hellmuth und ich uns nachts immer abgewechselt, sodass keiner von uns total übermüdet war. Als du dann etwas größer wurdest, hast du unheimlich schlecht gegessen. Das hat uns große Sorgen gemacht. Du hast den Kopf weggedreht, wenn der Löffel kam. Und auch als kleines Kind hast du immer noch das Essen zur Seite geschoben.

Ja, man lebt lange Jahre in Symbiose mit seinem Kind. Zwangsläufig. Weil kleine Kinder vollkommen hilflos sind. Vielleicht ist es deshalb so, dass manch eine Mutter oder ein Vater später, wenn die Kinder größer sind, innerlich Bilanz zieht. Man hat viel investiert, Lebenszeit, Kraft, man hat auf vieles verzichtet. Und wenn sich das Kind dann so ganz anders entwickelt, als man es sich vorgestellt hat, ist man enttäuscht. Deshalb nörgeln vielleicht einige Eltern an ihren Kindern herum.

 

Heute bin ich selbst Mutter. Heute weiß ich selbst, wie das ist. Meine Kinder sind fast acht Jahre alt. Es liegt noch viel vor uns. Und trotzdem ist schon so viel geschafft, so viel erreicht, so viel schon vorbei. Ich erinnere mich, wie ich sie nachts auf dem Arm gehalten habe. Ich erinnere mich an die Schlafsäckchen, aus denen nur der Eierkopf rausschaute. Ich erinnere mich an den Duft ihres Schädels und den weichen Flaum. An das erste Lachen, als ich mit ihnen auf dem Arm getanzt habe. An den ersten Brei, der auf dem Löffel aus meiner Hand in ihren zahnlosen Mund wanderte. Ich erinnere mich an das erste Baden mit ihnen im Pool, daran, wie ich sie hochwerfe und auffange. Wie ich sie an ihren Ärmchen durchs Wasser ziehe. Ich erinnere mich an die Angst, die ich hatte, wenn sie schliefen und ich wieder und wieder überprüfte, ob sie noch atmeten. An die Angst davor, sie nicht beschützen zu können. Ich erinnere mich an die neuen Geräusche im Haus, an das Glucksen, an das Quaken und die knisternden Windeln. Ich erinnere mich, dass jede Ecke abgeklebt werden musste. Jede Steckdose wurde kindersicher gemacht; jede Schublade hatte Verletzungspotenzial.

Was ich ohne meine Kinder alles nicht erlebt hätte, was ich alles nicht gelernt hätte, was ich alles nicht gefühlt hätte!

 

Natürlich wäre mein Leben ohne Kinder anders verlaufen. Ich habe mich für euch auch abgerackert. Ich habe euch angezogen, gewaschen, geföhnt, gefüttert, habe vorgesungen, vorgelesen, Fieber gemessen, Erbrochenes aufgewischt und Tee gekocht, habe eure Lieblingssticker besorgt, endlose Nachmittage im Kaufmannsladen Pilze und Zucker eingekauft, Flecken entfernt, Mützen gesucht, 100-mal »Buh« gerufen, damit du 100-mal lachst, Pflaster aufs Knie geklebt und getröstet, wenn euch jemand in der Schule geärgert hat. Wenn ich euch nicht bekommen hätte, hätte ich nie eine kleine, klebrige Kinderhand, die sich vertrauensvoll in meine legt, gespürt. Eine Hand, die sich an mir festhält. Kleine Schritte, die neben mir tapsen, die mit mir gehen. Die mir vertrauen, dass ich den richtigen Weg finde. Ich wäre nie als Pinguin verkleidet und mit Schwimmflossen an den Füßen mit dir zum Fasching gewatschelt. Ich hätte dich nie auf der Schaukel fliegen sehen, nie dieses strahlende Glück in deinem Gesicht dabei entdeckt. Wie ein Kind alleine dadurch, dass es spielt, vollkommen eins mit sich und der Welt ist. Was für ein wunderbarer, entzückender, erfüllender Moment.