Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen - Dana Grigorcea - E-Book

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen E-Book

Dana Grigorcea

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Beschreibung

Ein Bildhauer im New York der 20er Jahre und eine Schriftstellerin auf seinen Spuren - verbunden durch die Frage, was Kunst wirklich ist

Voller Hoffnungen und Sehnsüchte reist der junge und aufstrebende Bildhauer Constantin Avis 1926 nach New York. Ein einflussreicher Galerist will ihn unter seine Fittiche nehmen und in dieser Stadt der Träumer und Macher ganz groß herausbringen. Beflügelt von einer aufkeimenden Liebe und der Aussicht auf Erfolg, schwebt er durch dieses neue Leben und droht dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn wie weit kann ihn seine Kunst wirklich tragen?
Ein ganzes Jahrhundert später versucht Dora, diese Frage zu beantworten. Im beginnenden Frühling an der ligurischen Küste schreibt sie an einem Roman über Constantin Avis. Gemeinsam mit ihrem Sohn und dem Kindermädchen sucht sie hier die Ruhe, die ihr im Alltag als Künstlerin und Mutter stets fehlt. Doch je tiefer sie sich hinabgleiten lässt in diese andere Welt, desto stärker vermischt sich ihre Geschichte mit der von Constantin, und sie begreift, dass sie seine Fragen nur mit ihrem eigenen Leben beantworten kann.
Mit unvergleichlichem Charme erzählt Dana Grigorcea von der Verquickung des Lebens mit der Kunst, in einer Sprache von überwältigender Kraft und schwebender Leichtigkeit.

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Ein Bildhauer im New York der 20er-Jahre und eine Schriftstellerin auf seinen Spuren – verbunden durch die Frage, was Kunst wirklich ist

Voller Hoffnungen und Sehnsüchte reist der junge und aufstrebende Bildhauer Constantin Avis 1926 nach New York. Ein berühmter Galerist will ihn unter seine Fittiche nehmen und ihn in dieser Stadt der Träumer und Macher ganz groß herausbringen. Beflügelt von einer neuen, aufregenden Liebe und der Aussicht auf Erfolg, schwebt er durch dieses neue Leben, und droht dabei doch, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn wie weit kann ihn seine Kunst wirklich tragen?

Ein ganzes Jahrhundert später versucht Dora, diese Frage zu beantworten. Im beginnenden Frühling an der ligurischen Küste schreibt sie an einem Roman über Constantin Avis. Gemeinsam mit ihrem Sohn und dem Kindermädchen sucht sie hier die Ruhe, die ihr im Alltag als Künstlerin und Mutter stets fehlt. Doch je tiefer sie sich hinabgleiten lässt, desto stärker vermischt sich ihre Geschichte mit der von Constantin, und sie begreift, dass sie seine Fragen nur mit ihrem eigenen Leben beantworten kann.

Mit unvergleichlichen Charme erzählt Dana Grigorcea von der untrennbaren Verbindung zwischen Kunst und Leben, mit einer Sprache so schwebend wie eine Feder im Wind und doch so kraftvoll, dass ihre Gedanken lange nachhallen.

Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, sie studierte Germanistik und Nederlandistik und lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Zürich. Die Werke der rumänisch-schweizerischen Schriftstellerin, etwa der Roman »Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit« und die Novelle »Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen«, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Ihr Roman »Die nicht sterben« wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert und 2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

»›Die nicht sterben‹, ein politischer Vampirroman. Für mich war’s Liebe auf den ersten Biss.« SWR 2 Lesenswert, Denis Scheck über Die nicht sterben

www.penguin-verlag.de

DANA GRIGORCEA

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen

ROMAN

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Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Marion Blomeyer / Lowlypaper, München

Umschlagabbildung: © gettyimages, 151815254

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26383-6V001

www.penguin-verlag.de

Für meinen Sohn Thomas

Wie alles begann

Die Fantoni scheint überall zu sein, auf der Wendeltreppe, unter der Spieltischlampe, dann wieder hinten bei der Palme, sie zwängt sich winkend an Gästen vorbei und dreht dem armen Freddie immer nur den Rücken zu – einen immerhin freien Rücken, vom schwarzen Chiffon eingefasst. Freddie steht mit seiner großen Fliege zwischen zwei Herren, die sich unterhalten und dabei paffen, sie stoßen ihn mit den Ellenbogen an. Vergeblich, er hört nicht hin. Alba Fantoni mag nicht in seine Richtung schauen.

So schlendert er denn zum Grammofon – das neuste Modell – und legt eine Platte auf, Eddie Cantor, »You’d Be Surprised«.

Die Scheibe dreht sich. Finger schnippen im Takt, die Pailletten an den Kleidern schimmern, auch die große Schleife über dem Gesäß des Servierfräuleins da vorn. Der volle Saal beginnt zu schwingen, pausbackige Damen schauen einander ungläubig an und prusten los. Der Text ist frech, die Gesellschaft exaltiert.

Da steht sie schon beim Grammofon, Alba Fantoni, und schaut Freddie mit schwarz umflortem Blick an. Langsam dreht sie ihre schmale Hüfte seitlich ab, steht einen Augenblick nur da, in mondäner Eleganz. Ihr Chiffonkleid spannt und glänzt schwarz wie der Grammofontrichter. Alba, göttliche Alba!

Jäh wirft sie die Arme in die Höhe, ihr Sektglas fliegt in hohem Bogen über die Köpfe hinweg. Sie ruft etwas, von ihren Lippen lässt sich ablesen: »Damenwahl!« Adrette Männer springen auf und stellen sich ihr kurz in den Weg.

Sie streckt ihre nackten Arme hinter Jacketts und pomadierten Köpfen, an allen vorbei, hin zum besten Tänzer im Saal – zu Freddie!

Nun ist sie bei ihm, umfasst von der wogenden Menge. Die Hand an ihrem Rücken, drücken seine Finger leicht in ihre Haut. Er dreht sie im Tanz, weg von den aufdringlichen Männern.

»Alba«, lässt sich an seine Lippen ablesen. »Alba!«

Er legt die Wange auf die ihre und bewegt seine Lippen zum Text:

»He’s not so good in the crowd,

but when you get him alone –

you’d be surprised …«

Sie wiegen sich im Takt, ihre Rechte in seiner Linken, ertanzen sich eine Schneise durch den Saal, und allmählich bewegt auch sie die Lippen:

»He doesn’t look like much of a lover,

but don’t judge a book by it’s cover.«

Sie lacht herzhaft, mit glänzenden Augen, und er mit ihr. Endlich! Doch sie winkt bereits einem anderen zu, schickt ihm Luftküsse und deutet auf den Armlehnstuhl beim Grammofon.

Die Tanzenden schauen ihnen zu – da ist der finstere Meister Peters, der sich ein enormes Präsent übers Knie legt und es mit seinen großen Händen umfasst.

Freddie hält Alba zurück: Bitte, noch ein Tanz!

Sie schaut zu Meister Peter. Der nickt.

Freddie dreht Alba weg, nimmt den Blick des unheimlichen Mannes auf sich, den Kajal-umrahmten Blick des Hypnotiseurs.

Zur allgemeinen Begeisterung kommt nun der alberne Truthahn-Tanz. Die Paare stellen sich auf, Hand in Hand. Sie werfen die Beine vor und zurück, immer höher und schneller, einander zugewandt, im lustigen Wettstreit. Sie schütteln die Arme, schwenken die Hüfte, knicken ein, stapfen wie die Gockel umher.

Freddie macht Sensation, denn er ist flink und lustig und schneidet Grimassen. Und auch Tango kann er: ziehende Griffe, brüske Pirouetten, die Frau übers lange Knie, im fallenden Bogen, Aug’ in Aug’, der sehnsüchtige Blick!

Nun aber will Doktor Hines seine Verlobte zurück. Seine kleine, dicke Hand mit dem Siegelring klopft Freddie auf die Schulter; er nimmt Alba Fantoni am Arm und führt sie weg.

Freddie schaut dem ungleichen Paar nach, streckt sich, mit hochgezogenen Brauen. Ob Alba zurückblickt?

Sie dreht sich zu ihm um und … lächelt!

Dieses makellose Lächeln, bei ernstem Blick. Wer kann dem widerstehen?

Freddie beugt sich zu der Dame, die ihn etwas fragt, entschuldigt sich und folgt Alba.

Im Esszimmer sind die Kronleuchter an, der Tisch ist gedeckt. Wo ist sie hin, die Fantoni?

Freddie schaut durch den Saal, doch seine Alba ist nirgends zu sehen. Bei Doktor Hines ist sie nicht mehr, auch der blickt nur umher, will sie rufen, doch als er sich umdreht, ist Meister Peters vor ihm aufgestanden und übergibt dem Hausherrn zeremoniös das enorme Präsent, das zuvor auf seinen Knien lag.

Es ist größer als Doktor Hines und so schwer, dass der ins Trippeln kommt, als er es halten soll. Er legt es ab. Die Gäste lachen, was wohl drin ist?

Doktor Hines reißt das Papier auf. Meister Peters mahnt zur Vorsicht, der Inhalt sei kostbar.

Papierbahn um Papierbahn fällt ab, die Gäste machen schon Witze, denn das Geschenk wird kleiner und kleiner, so klein wie Doktor Hines.

Das Auspacken dauert, auf dem Grammofon läuft der Tonarm in der letzten Rille.

Die letzten Bahnen fallen von selbst ab, wie schwere Bandagen.

Das Geschenk!

Die Gäste machen große Augen, auch Doktor Hines, der die Hand auf den Mund legt.

Freddie drängelt sich vor und sieht es auch. Es ist Alba Fantoni, zur zierlichen Statuette versteinert, in dunkel glänzendem Onyx. Sie steht auf Zehenspitzen, die Arme dicht am Körper, das Köpfchen im Nacken, einem emporschießenden Vogel gleich. Ihr Mund ist aufgerissen, zum Himmel hin, als würde sie verzückt rufen: »Damenwahl!«

1

Als der Zug aus Mailand um 16.34 Uhr mit zweistündiger Verspätung in Santa Margherita Ligure einfuhr, an den hohen Palmen und Zedern vorbei, nahmen sie lebhaft Abschied von ihrer zeitweiligen Reisegefährtin. Die elegante Signora mit der grauen Föhnfrisur zog eine Bonbondose hervor, zeigte sie Loris und dem Kindermädchen, rief dann mit Pathos und lang gezogenen Vokalen »la Mama!« und steckte sie Dora zu.

La Mama – von der Melodie dieser Worte getragen, fuhr Dora ihrem Sohn durch die Haare, was dieser verärgert abwehrte, so wie immer.

Es war im menschenleeren Bahnhof viel wärmer als im Abteil, und das im Februar. In der Ankunftshalle erschallte das Gezwitscher der Schwalben. Als die singende Frauenstimme mit »gentili signore e signori« zur Ankündigung einer weiteren Zugverspätung ansetzte, hörten sie noch ein letztes Mal die Signora dagegenhalten: »Ma vaffanculo, leckt mich doch am Arsch!«

Auch das hatte seine Melodie, eine, paradoxal zum Inhalt, aufstrebende. Das passte zu Doras Auffassung von Sprache und Literatur.

Sie war am richtigen Ort!

Hier an der ligurischen Küste würde sie die Damenwahl-Geschichte endlich aufschreiben können. Schon der Anblick der Dattelpalmen vor der Aussichtsterrasse des Bahnhofs versetzte sie in Hochstimmung: die erstarrten kleinen Feuerwerke mit dem schlanken Schweif und der symmetrischen Lichtsprenkelung. Alles war bereit, üppig vorhanden. Ja, das war der Ort, an dem sie die Geschichte um Constantin Avis’ Statuette aufschreiben würde.

Jahre schon trug sie diese Geschichte mit sich, in allen Details. Jedes ihrer Bücher hätte dieses werden müssen – und war dann doch ein anderes geworden. Der zeitweilige Publikumserfolg konnte sie das nicht vergessen lassen, im Gegenteil, er beunruhigte sie.

Diese kleine Statuette – rufende Frau, aufschießender Vogel, was immer es war – stand vor ihr, so greifbar, und entglitt ihr doch ein jedes Mal. Warum nur?

Mit diesem Gedanken war Doras Blick aus dem Zugfenster den Berglinien gefolgt, bis das Bild unverhofft verschwunden war in der dunklen Schraffur des Gotthardtunnels, auf der blinden Scheibe ihr Spiegelbild – mit ernstem Blick, fast schon böse, die Hände im Schoß gefaltet, während daneben ihr Sohn mit dem Kindermädchen Uno spielte.

»Male color«, rief das Kindermädchen und legte eine rote Karte.

Was meinte sie mit »male color«?

»Male color«, rief auch ihr Sohn, »male color«.

Nein, so durfte sie nicht in die Welt schauen, mit diesem finsteren Blick! Denn wozu noch Kunst, wenn nicht, um die Sinne zu schärfen für ein gutes und schönes Leben?

Aus dem Tunnel war der Zug durch das lichte Dorf Airolo gefahren – Frühling, mitten im Februar. Bald schon Sommer … Auf dem Fenster ein kleiner Staubfleck, der über die Bergkuppen zog, nein, tatsächlich eine Alpendohle. Dora schaute dem Vogel nach, war neugierig, wie weit dieser kunstvolle Segler ihr folgen würde, verlor sich in Gedanken an Constantin Avis und seine berühmte Vogelstatuette, die er in Amerika nicht zollfrei über die Grenze führen durfte, an verstorbene Kunstmäzene und das liebe Geld, das ihr immerzu fehlte, und an die kleine Damenwahl-Statuette, die Avis genötigt wurde zu erschaffen …

Nun hatte sie sich endlich zu diesem Buch verpflichtet, eigens ein Schreibstipendium der Adolph-Wehrli-Stiftung, die heute im Besitz der Statuette war, angenommen.

»Wenn Sie wüssten, wie viele Sie um dieses Stipendium beneiden«, hatte der mondgesichtige Stiftungsdirektor, Herr Dr. Christoph Wehrli, gesagt. »Sie haben nun die Damenwahl!«

»Und ich habe mich gerne für Constantin Avis entschieden«, hatte Dora geantwortet, »er war bestimmt ein passabler Tänzer.«

Sie hatte sich vorgenommen, Herrn Dr. Wehrli aus Ligurien eine Ansichtskarte zu schicken und sich nochmals für die großzügige Unterstützung ihrer Arbeit zu bedanken, denn hier würde sie in Ruhe schreiben können und ihrem Sohn derweil den Ferienort am Meer angedeihen lassen.

In ihrer Tasche fühlte sie das Mobiltelefon vibrieren. Auf dem Display erschien wie erwartet Regis. Sie strich mit dem Daumen über seinen Namen, als könne sie durch das Glas eine Brailleschrift abtasten, ließ das Telefon zurück in die Tasche gleiten.

»2 : 0 für Bergamo«, kommentierte ihr Sohn in der Tür des Bahnhofcafés, aus dem es grün schimmerte.

»Prima!«, sagte Dora. »Freut dich das, ja?«

Der Junge überlegte, kräuselte seine Stirn, während die beiden Frauen mit dem Gepäck vor ihm standen. Dann sagte er: »Ja … doch, das freut mich.«

Und Dora hielt sich zurück, ihm über die Haare zu streichen oder die Stirn zu küssen und sagte nur: »Mich auch, Loris.«

Da in den beiden Taxis vor dem Bahnhof keine Fahrer zu sehen waren, liefen sie zu Fuß die nächste Gasse hinunter, vornweg Dora mit dem größten Rollkoffer, ihr achtjähriger Junge in der Mitte, dahinter das Kindermädchen mit dem weißen Hütchen und dem hellen Namen Macedonia.

Es roch nach Jasmin und verbranntem Laub, beunruhigend heiter nach dem vorrückenden Frühling. Motorroller bretterten an ihnen vorüber, viel zu nahe, und die zwei Frauen riefen Loris zu, dichter an der Mauer zu gehen. Zur Sicherheit ging Dora neben ihm, sie selbst auf der Fahrbahn. Am Ende der Gasse öffnete sich vor ihnen jedoch schon die Via Pagana mit ihren Palazzi. Gleich hinter der Straße ragte zwischen den hohen Palmen in blassem Gelb und mit dunkelgrünen Fensterläden das Hotel Metropole empor. Der Schatten einer Palme lag ungerührt auf der Hotelfront, wie gemalt.

Heraneilende Portiers nahmen ihnen das Gepäck ab. Macedonia flüsterte Dora zu, auf dem Namensschild des einen stehe Gigi Amoroso, ganz so wie in dem alten Schlager. Ob es wirklich möglich sei, dass der so heiße?

»L’Amoroso«, sagte Dora, »›Gigi l’amoroso‹, heißt das Lied, mit dem bestimmten Artikel davor: Gigi der Verliebte.«

Sie füllte das Empfangsformular für alle aus. Die allerbeste Suite warte auf die drei, verkündete der Rezeptionist mit lauter Stimme, als gelte es, auch die Gäste auf der Terrasse darüber zu informieren. Und im Vertrauen beglückwünschte er die Damen zu ihrem Weitblick, in der Nebensaison anzureisen, jetzt, da alles eher noch erschwinglich sei.

Ich sehe also nicht aus wie ein üblicher Gast dieses Hotels, dachte Dora. Sie, die muffig anmutende Künstlerin? Mit brüsker Geste nahm sie den Hotelschlüssel mit dem schweren Anhänger entgegen, den sie gleich Loris gab. Man könne Ende Februar noch nicht im Meer baden, dafür auf den Hügeln wandern, durch Olivenhaine und Pinienwälder die Küste entlang nach Paraggi, Portofino oder bis zum Kloster San Fruttuoso, sagte der Rezeptionist. Wieder spürte sie das Mobiltelefon in der Tasche vibrieren. Sie ließ sich Prospekte geben und bedankte sich fahrig, auch für den Hinweis auf den Pingpongtisch im Garten. Als ein weißer Pudel durch die Lobby rannte, einen Tennisball in der Schnauze, wurde sie sich ihrer Ungeduld bewusst. Den Willkommenstrunk auf der Terrasse lehnte sie dankend ab, was die beiden kartenspielenden alten Damen am weiß gedeckten Tisch zu Kommentaren veranlasste. Dass sie nach ihrem Sohn schauen musste, verstanden sie aber sofort. Sie lächelten ihr zu und spielten weiter.

Drei Zimmer hatte ihre Suite, ganz oben im vierten Stock, beste Aussicht auf die Promenade; zwei Schlafzimmer, verbunden durch ein geräumiges Wohnzimmer, und kaum dass sie ausgepackt hatten, lagen überall Loris’ Kleider, Spielsachen und Bücher über Piraten herum. Macedonia brachte die Blumenvase vom Wohnzimmer in Doras Zimmer – vielleicht auf den Tisch am Fenster?

»Bitte nichts auf meinen Schreibtisch stellen!«, rief Dora.

Bevor sie hinausgingen, um etwas zu essen, packte Dora ihre Hefte aus und die Kopien der Briefe, Tagebücher und Arbeitsskizzen von Avis, die man ihr von der Stiftung mitgegeben hatte – als ob sie das gebraucht hätte. Sie blickte auf die säuberlichen Zurichtungen eines Menschen, der zum Schreiben und Nachdenken beträchtlich viel Zeit und eine sichtbare Freude an der eigenen Handschrift gehabt hatte: Constantin Avis’ lange, nach rechts geneigten Buchstaben, mit großem Abstand zwischen den Wörtern, die i-Punkte hoch aufgeworfen.

Sie unterließ es, auf ihr Mobiltelefon zu schauen. Regis hatte ihr geschrieben. Aber sie würde ihn warten lassen, das Telefon im Zimmersafe einsperren.

Nur gelegentlich würde sie an ihn denken, beim Schreiben, sehnsüchtig.

2

Als am späten Vormittag des 12. Mai 1926 die RMS Mauretania, ausgezeichnet mit dem Blauen Band für die Höchstgeschwindigkeit, nach nur sechseinhalb Tagen Überseefahrt aus Liverpool kommend an den Chelsea Piers anlegte, wartete im New Yorker Hafen eine aufgeregte Gruppe von Journalisten und Fotografen – nicht auf den jungen Bildhauer Constantin Avis, sondern auf eine amerikanische Schauspielerin, die aus Europa heimkehrte.

Im beigefarbenen Anzug stieg Constantin auf das sich schnell leerende Oberdeck, um noch eine letzte Zigarette an Bord zu rauchen, das Gedränge mit den Hüten, Mützen, Schals, winkenden Armen und beladenen Porters im Blick und daneben die hellen Explosionen, die von den Blitzlichtbirnen um ein weißes Hütchen herrührten.

In einer Zeit großer Unrast und extravaganter Atemlosigkeit entdecke ich einen neuen Luxus: mich nicht hetzten zu lassen, hielt Constantin in seinem Notizheft fest und steckte es zurück in die Jacketttasche.

Als auf der Anlegestelle kaum mehr jemand zu sehen war und die Porters zu ihm hinaufstiegen, hielten sie ihn für einen Reisenden aus der ersten Klasse und, obschon sie seinen Schrankkoffer und die klobige Kiste aus einer kleinen Kabine unweit des Motorenraums herantrugen, verlangten sie viel zu viel, was Constantin, nicht ortskundig, für landesüblich hielt.

In Paris hatte er sein kleines Atelier in Montparnasse, Impasse Ronsin, seinem Schriftstellerfreund Jean Cordier überlassen, der ihm eine Mietzahlung aufgedrängt hatte, eine peinliche Angelegenheit. Nun aber befand er sich auf dem Weg zu seinem großzügigen amerikanischen Galeristen Max Milner, der für den 17. Mai die Eröffnung einer großen Einzelausstellung für ihn anberaumt hatte. Alle seine Werke, die sich in Amerika befanden, würden dann beieinanderstehen – und mittendrin sein neustes Werk, das Milner der Welt zeigen und verkaufen wollte, »für einen absoluten Rekordpreis, mein Freund!«. Er hatte ein Hotelzimmer für ihn reserviert, mitten in New York, »über den Wolken«.

Vorerst kamen aber weitere Ausgaben auf den Prince paysan zu – den Bauernprinzen, wie ihn seine Freunde in Paris nannten –, bei der Grenzkontrolle:

»Sie sind von Beruf …«

»Künstler … Artist!«

»Artist?«

»Ja.«

»Sie reisen allein?«

»Ja«, sagte er und zeigte auf die klobige Kiste, »nur mit dem Kind.«

»Mit dem Kind?«

»Dem Kind in der Kiste.«

Das kam nicht gut an.

Drei Zollbeamte standen nun vor der aufgestemmten Kiste und blickten hinein, unschlüssig, wie sie das ganze Verpackungsmaterial, die vielen Tücher, die um etwas doch recht Kleines, wie Constantin ihnen versicherte, geschlagen worden waren, entfernen sollten.

Constantin musste sich eingestehen, dass die Analogie von Kind und Kunst trivial gewesen war, aber die Zollbeamten waren ohnehin nicht bereit, seinen Bronzevogel, den sie aus der Kiste geschält hatten, als Kunstwerk anzuerkennen. Ihr Kunstverständnis war umso rigoroser, als die Kunst an ihrer amerikanischen Grenze zollfrei war, sie aber die polierte Bronzefigur als Manufakturware zu verzollen gedachten. Ihren Preis schätzten sie extra gering ein, als würden sie Constantin damit einen Gefallen tun.

»Mein Vogel ist Kunst!«, insistierte Constantin Avis, den Hut in einer Höflichkeitsgeste an die Brust gepresst. Verzollen wollte er ihn auf keinen Fall.

»Mit Verlaub, Sir. Es hat keinerlei Ähnlichkeiten mit einem Vogel.«

»Das ist auch kein Vogel«, sagte Constantin. »Das ist der Flug eines Vogels.«

Die Zollbeamten schauten sich an und brachen in Gelächter aus, der älteste von ihnen musste sich vor Lachen gar an der Kiste abstützen. Constantin schaute ihm unverwandt ins Gesicht. Und da brach es unverhofft auch aus ihm heraus, ein unbändiges Lachen, er warf den Kopf in den Nacken, mit weit geöffnetem Mund, lachte viel lauter noch als die Zollbeamten, ein sonores Lachen, das zwei junge Männer und eine blonde Frau den Kopf durch die Tür des Verschlags stecken ließ. Er lachte herzhaft, auch deshalb, weil er beim älteren Zollbeamten eine große Ähnlichkeit mit seinem wackeren Onkel Coroi entdeckt hatte, seinem Ziehvater, für den er einst eine Bronzebüste geschaffen und öffentlich errichtet hatte. Tausende Kilometer, einen Ozean und ein Leben entfernt, und doch war es das gleiche Profil, die gleiche Habichtsnase, die tief liegenden Augen, sogar das gleiche Menjou-Bärtchen, bei dem er Haar um Haar sorgfältig ausgearbeitet hatte.

»Man soll mich erkennen, Junge!«, hatte der Onkel damals gebeten. »Nicht dass deine andere Kunst nicht wertvoll wäre. Aber ich will, dass jeder Dummkopf im Dorf sieht, dass ich das bin.«

Am Ende hatte er seinen Onkel überzeugt, die Statue patinieren zu lassen, damit sie hochwertig aussehe, so wie die Woiwoden-Statue am Ortseingang.

Gemeinsam hatten sie vor dem Haus eine Grube ausgehoben und sie mit Dünger gefüllt, die Bronzestatue hineingelegt und sie mit einer dünnen Erdschicht bedeckt, die feucht bleiben musste. Constantin hielt die Familie an, ihren Urin dort abzuschlagen.

»Willst du mich veräppeln, Junge?«

»Nein, Onkel, vertrau mir. Das ist Kunst!«

Tante Coroi übernahm anstandslos. Auch am helllichten Tag defilierte sie mit vollen Nachttöpfen zur Grube und rief ihrem Gatten über den Garten hinweg zu: »Nimm’s nicht persönlich!« Sie hielt auch die Enkelkinder und die Verwandtschaft an, sich bei der Grube zu erleichtern.

Und dann kam der Tag, an dem sie die Büste ausgruben und vor dem Wirtshaus auf einem weißen Marmorsockel fixierten. Alle aus dem Dorf waren da und begutachteten die Statue. Das war eindeutig Coroi! Aber so, wie sie ihn erst jetzt wahrlich erkannten: Coroi in großer Pose und in Würde; aus dem Kern, aus dem die Woiwoden sind.

In den Marmorsockel war sein Name und auch der seines Neffen Constantin Avis eingemeißelt, der hier aufgewachsen war und nun als gefeierter Künstler in Frankreich lebte, in Paris, und auf der ganzen Welt. Es war ein sonniger Tag gewesen und um die Bronzestatue her zwei Grad wärmer.

Constantin verabschiedete sich von den Zollbeamten, indem er mehrmals den Hut aufsetzte und wieder lüftete, besonders von dem, der seinem Onkel ähnlich sah, und er ließ alle staunend zurück ob so viel Gelassenheit. Denn er besaß die Gabe, in allen Dingen das ihm zutiefst Vertraute zu erkennen. Diese Gabe gestaltete das Leben behaglicher, sei es bei seinem Onkel im Dorf, wo er jahrelang die Kellertreppe hinabgestiegen war, um Wein für die Gäste zu holen und dabei die Lieder aus dem Wirtshaus im Flüsterton, ganz für sich, hinabgetragen hatte, hinab und immer weiter bis nach Paris; sei es in der Stadt der Lichter, die er nach mehrwöchigem Fußmarsch erreicht hatte und zunächst im Atelier eines geachteten Bildhauers, dann in der Künstlersiedlung von Montparnasse arbeitete; sei es jetzt, zu Füßen der kolossal, aber nicht furchterregenden Wolkenkratzer von New York.

Schon eine größere Pfütze ließ ihn innehalten, das darin gespiegelte Hochhaus betrachten, die Sandkörner auf dem Grund, die schimmernde Benzinspur; und als eine Fußgängerin hinwegsprang, übertrug sich ihr Schwung auch auf ihn und riss ihn mit, zu kühnen, verheißungsvollen Gedanken, zu Visionen von künftiger Größe: zu Blitzlichtbirnen und Fotografen, die ihn, den künftigen Weltstar, den famosen Künstler, vor Milners Galerie abfangen würden, zum Wiedersehen mit seinen Skulpturen aus Atlanta, Washington und Chicago, zu den vielen bedeutenden Kollegen, die ihn mit ihrer Anwesenheit überraschen und beehren, seinen wundersamen Vogel bewundern würden, auch zu jener Schauspielerin, die umjubelt von Bord gegangen war, und mit ihr das weiße Hütchen.

3

Lidy Maenz, die Fotografin der Milner Gallery, sah, wie sich gegen 17 Uhr die helle Silhouette eines Mannes aus dem Gedränge auf der West 57th Street löste. Er kam näher, schaute hinauf zum blinkenden Schriftzug und trat ein.

Lidy stand auf der Klappleiter, umkreist von afrikanischen Speeren, und war dabei, die Glühbirne einer Deckenleuchte zu wechseln. Sie trug ein rückenfreies goldenes Kleid ihrer Freundin Cara Milner, die seit einer Woche nur noch Trauer trug, Schwarz und Mauve bei totenbleich gepudertem Teint, die Pupillen von Belladonna geweitet, auch am Lenkrad ihres offenen schwarzen Packards.

»Die Ausstellungseröffnung ist erst in drei Tagen«, rief Lidy, obwohl sie kurz mutmaßte, bei dem Besucher könnte es sich um einen Freund Caras handeln.

Der Mann hob die Brauen und schaute sich um, mit Kennerblick, als suche er nach einem ganz bestimmten Kunstwerk.

Vielleicht war es seine rätselhafte Bemerkung, wonach er seine Ankunft vom Schiff aus telegrafiert habe, die ihr seine Ähnlichkeit mit Douglas Fairbanks in Seeräuber offenbarte. Sie schätzte ihn als noblen Außenseiter ein.

»Darf ich Sie aus dieser Wildnis retten?«, fragte er Lidy und reichte ihr durch die Speere hindurch die Hand.

»Aber nur, wenn Sie mich auf eine Tasse Tee einladen. Ich habe Feierabend und verdurste.«

»Jetzt gleich?« fragte er überrascht.

»Absolut. In Marnies Teehaus!«

»Wenn Sie noch Kisten auspacken wollen, kann ich Ihnen dabei helfen«, sagte der Mann.

»Nein, danke«, sagte Cara und lachte.

Der Mann lachte mit und zeigte seine weißen Zahnreihen, genau wie Fairbanks, und auch die gleiche Habichtsnase hatte er und trug den gleichen dünnen Schnurrbart; damals noch als Helden-, später als Schurkenschnurrbart bekannt.

»Also, wäre ich Ihr Vater, der ich zum Glück nicht bin«, sagte er galant, »würde ich Sie nicht mit einem Unbekannten ausgehen lassen. Auch nicht zum Tee.«

»Sind Sie denn in der Milner-Galerie ein Fremder?«

»O nein, keineswegs.«

»Na, sehen Sie.«

Er half ihr in Caras Pelzstola – zwei Rotfüchse, die sich über ihrer Brust küssten, die buschigen Schwänze baumelten von ihren Armbeugen herab. Dieses Kitzeln auf den Armen, das leichte Ziehen im Rücken, ließ sie vorpreschen durch die Straßen, wie aufgezogen, eine unbeirrbare Maschine in der modernen Stadt, dicht gefolgt von diesem schneidigen Herrn, der im schnellen Ausweichen und Überholen der Leute auf dem Gehsteig fast schon Quickstepp tanzte.

Im Marnies grüßte sie Ralph, der wahrscheinlich gar nicht Ralph hieß, und ließ sich nicht etwa an eines der runden Tischchen am Fenster platzieren: »Wir wollen den besten Tee, Ralph. Nicht wahr?«

Ihr neuer Bekannter nickte, und Lidy dachte kurzweg, dass man ihn hier kannte. Auf jeden Fall wurden sie an der Vitrine mit dem Glasnippes vorbeigeführt, und da habe sie ihm vertraulich zugezwinkert.

»Ist dieses Chinesen-Grüppchen nicht allerliebst?«

Er schaute sich den Nippes an, die kleine Frau mit dem Mohnblümchenkleid, und sagte: »Werte Dame, das ist nicht einmal harmlos.«

»Das ist Kunst«, kommentierte Ralph, bevor er sie durch die Vitrine hinabsteigen ließ, weichselroten Tapeten entlang, hinein in die ominöse Teestube.