Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit - Dana Grigorcea - E-Book

Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit E-Book

Dana Grigorcea

4,6

Beschreibung

Eine Bank wird überfallen und in der Folge die Angestellte Victoria vom Dienst beurlaubt, um ihr traumatisches Erlebnis zu verarbeiten. Eben erst in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, nutzt sie die Zeit, um das Bukarest ihrer Kindheit, aber auch der Gegenwart zu erkunden. Sie begegnet der alten Näherin auf ihrem Podest, dem Bankräuber, ihrem ehemaligen Liebhaber und dem Sohn der ermordeten Nachbarn wieder, während sie im heißesten Sommer seit Jahren im Cabrio durch die Stadt fährt mit ihrem Freund, der ihr einen Heiratsantrag macht.

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Dana Grigorcea

Das primäre GefühlderSchuldlosigkeit

Roman

DÖRLEMANN

Die Arbeit an diesem Roman und die Publikation wurden von Stadt und Kanton Zürich großzügig unterstützt. Autorin und Verlag danken herzlich. eBook-Ausgabe 2015 Alle Rechte vorbehalten © 2015 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-921-8www.doerlemann.com

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumWidmung123456789101112131415161718192021222324Text zum BuchText zur Autorin

1

Ein metallenes Schimmern, von dem anstehenden Gewitter herrührend, tilgt das Relief der Stadt und lässt sie zu einer gemalten Kulisse werden, so wie jene im Fotostudio Diamandi, in dem meine mondäne Großmutter die ominöse Aufnahme von sich als erster Bukaresterin in kurzem Rock machen ließ, am Arm meines Großvaters, der, ungeduldig, samt Spazierstock und Gangsterhut, in die Unschärfe der Zeit hinaustritt.

Jetzt, im aufziehenden Sturm, erscheint Bukarest ohnehin wie eine Nostalgie-Kulisse, eine, vor der keine Pose unpassend wirkt – ganz im Gegenteil, würde ich sagen.

Ich setze mich auf die marmorne Treppe vor der Nationalen Spar- und Anlagebank und rauche die allerletzte Zigarette, bevor ich definitiv mit dem Rauchen aufhören werde – ganz bewusst die Tatsache missachtend, dass dabei zwei weitere Zigaretten übrig bleiben werden im Päckchen und mich aber die in meinem Beruf unabdingbare Disziplin zwingt, angefangene Sachen immer schön abzuschließen. Die Ruhe für eine letzte Zigarette ist mir aber nicht vergönnt. »Küss die Hand, Fräulein Direktorin, mit ihrer Erlaubnis gehen wir jetzt, bevor es stürmt. Ihre Kollegen gehen auch.«

Unser Chef-Sicherheitsmann nennt fast alle Kollegen Direktor oder Direktorin. Das ärgert nicht einmal die, die es tatsächlich sind und die sich, laut unserer Direktorin für Teambildung und Angleichung an Europäische Standards, vom Rest der Angestellten wenn, dann nur durch die Tatsache unterscheiden sollten, dass sie auf Betriebsausflügen den Fisch mit der Hand essen dürfen.

Den Chef-Sicherheitsmann selbst nennen wir nur »Chef«. Schließlich streben wir eine flache Hierarchie an.

War ich es, die den Sicherheitsleuten die Erlaubnis gab zu gehen? Die Polizeiakte wird das offenlassen.

Ich stehe draußen vor der großen Schiebetür, abgewendet von den in den Feierabend hinausziehenden Kollegen, atme den Rauch tief ein und wieder aus, sehe der bläulichen Wolke nach, einen halben Meter hoch, sehe darin das Museum für Nationalgeschichte gegenüber; ein Schritt nach hinten würde den Rauchalarm auslösen.

Vorbeifliegende Blätter und Äste scheinen die Distanz zur weiter unten liegenden Passage in immer kleinere Segmente teilen zu wollen. Flavian wartet dort auf mich. Vergangene Woche ist er zum Vorsitzenden des Rumänischen Instituts für Urbanistik ernannt worden – eine kleine Sensation. »Weil es niemand sonst übernehmen wollte«, sagte mir Flavian am Telefon. Wie dem auch sei, wir wollen es feiern.

Das gelbe Licht des geschwungenen Deckenfensters füllt die Passage Macca-Villacrosse mit einer trüben Viskosität, in der sich die Bewegungen der Passanten entschleunigen. Ich kann von den paar zerbrochenen Fenstern absehen, unter die der ägyptische Wirt Joghurteimer stellt, hoffe nur, dass es vom Taubenschlag nicht allzu schlimm nach nassem Hund riechen wird.

Auf keinen Fall will ich stundenlang in Flavians Geländewagen hocken müssen und über die alten Tanten seines Instituts reden, unsere Blicke starr auf die rot aufblitzenden Regentropfen gerichtet, dahinter der Bukarester Stau. Dinu, mein früherer Freund, hatte sich für diese Fälle noch ein Blaulicht besorgt gehabt; sobald er es auf dem Autodach ansetzte, zog sich durch den Verkehrswirrwarr ein Scheitel, aber auch der nicht so sauber, wie er hätte sein können. Also wurde ein Hupen nötig und ein aus dem Fenster geschriener Satz: »Und wenn es wirklich ein Notfall wäre, ihr Arschlöcher?«

Nun, da ich nach dem Vorfall beurlaubt bin, lese ich ein Buch über Bukarest um 1800, darin schreibt ein Kapitän der englischen Marine, Charles Colville Frankland, der sich auf dem Rückweg aus Konstantinopel befand, dass er in Bukarest eine Stadt voller goldener Kaleschen vorgefunden hat, darin die Bojaren in feuerroten Gewändern und Pelz. Auch ein französischer Generalkonsul ist äußerst angetan von den vielen Kutschen, den neumodischen Equipagen mit den livrierten Kutschern, allerdings bemängelt er den stockenden Verkehr, denn »da gab es noch die transsilvanischen Karren, in denen die ganze Sippe Noahs mitfuhr, gezogen von je acht, zehn oder gar zwanzig Pferden, deren Fohlen frei herumtrabten«. Den Pferdemist soll man an den Stadtrand gebracht haben, ganze Hügel entstanden daraus. Sobald sie trocken waren, wurden sie angezündet.

Ich überlege, ob es sich schickt, die Zigarette bis zum Filter zu rauchen, als letzte Extravaganz einer Suchtgeschichte.

Es blitzt wie aus einem Stroboskop. Grellweiße Möwen werden die neoklassizistischen Prachtbauten der Siegesstraße entlang zur Dambovita hinuntergeweht. Jemand, der wahrscheinlich schon die ganze Zeit gerufen hat, ruft nun noch lauter einen Frauennamen, Stanca oder Bianca. Ob Flavian schon da ist, damit er ein bisschen auf mich warten kann?

Ich drücke die Zigarette aus und will zurück zur Bank; die Tür ist verschlossen. Ich schaue durch die Fenster. Sind alle Kollegen gegangen und haben mich ausgesperrt? Es macht den Anschein. Trotzdem klopfe ich weiter an die Scheibe, koste die Erniedrigung, die ich mir mit meiner einzigen Sucht eingetragen habe, ein Weilchen aus, denn sie würde mich, die junge, so erfolgreiche Bankangestellte, vor einem Rückfall feien. Die Seitentür, durch die nur die Sicherheitsleute gehen dürfen, öffnet sich, ein junger Sicherheitsmann lässt mich herein, damit ich meine Tasche holen kann.

Warum ich dafür ganze fünfundzwanzig Minuten brauche, kann ich nicht überzeugend erläutern. Der Polizeibeamte stellt die Vermutung in den Raum, dass ich es nicht eingesehen habe, wegen einem neu eingestellten Burschen vom Land früher Feierabend machen zu müssen, als mein Angestelltengewissen es zugelassen hat, und so ein ganzes Weilchen in der kalten Passage Macca-Villacrosse hätte herumsitzen müssen. Ich lasse es damit bewenden.

Auf der Polizeistation ist mein Kostüm zerknittert und die Schminke, die mich wie eine fröhliche Stewardess wirken läßt, zerflossen. Kein Wunder, dass sich die Beamten nicht, wie andere so oft, von meinem Vornamen Victoria verleiten lassen, mich als Wendekind und damit zehn Jahre jünger einzuschätzen.

Der Streit mit dem jungen Sicherheitsmann ist harmlos.

»Wo ist die Spendenbox der Tierschützer?«, frage ich.

»Dort vorn, in der Abstellkammer«, antwortet er, ohne sich umzudrehen.

»Sie müsste doch in der Eingangshalle stehen.«

»Der Chef hat sie weggetragen.«

»Tagsüber war sie auch nicht da.«

Der Sicherheitsmann dreht sich um, irgendwie amüsiert, und mir wird schlagartig klar, dass ich an Respekt eingebüßt habe.

»Sie war in der Abstellkammer.«

»In der Abstellkammer?«

Ich lächle zurück. Er erinnert mich an jemanden; die Erinnerung ist nicht etwa schlecht. Würde ich einen Schritt auf ihn zu machen, wir würden übereinander herfallen.

»Sie muss aber in der Eingangshalle bleiben, sonst können die Leute nicht spenden«, sage ich.

Er wendet sich wieder ab. »Da kann sie geklaut werden, sagte der Chef.«

Das Echo unserer Stimmen in der hohen Glaskuppel verselbständigt sich einen Augenblick lang. Ich rolle die Spendenbox für die Tierschützer zurück in die Eingangshalle, der Sicherheitsmann sagt ein paar Mal: »Das können wir nicht tun«, und es ist ihm anzusehen, dass er Wert darauf legt, meine Unternehmung rückgängig zu machen, ohne mich oder die Box zu berühren. Denn er rollt die Fäuste in der Hosentasche, und als das nichts nützt, setzt er einen Fuß vor die Rädchen der Spendenbox, zieht ihn aber gleich wieder zurück. »Machen Sie das doch morgen, wenn der Chef da ist.«

»Der Chef oder der Direktor?«, donnert es von der Glaskuppel herab.

Wir lachen. Erst jetzt entdecken wir den alten Mann neben uns.

Der Mann wirft eine dieser billigen, ganz klein faltbaren Nylontaschen zwischen uns. »Gestatten die Herrschaften, das ist ein Bankraub!«

So wie er aussieht, scheint er einem Film noir entstiegen, trägt Hut und einen langen Mantel, eine Revolver-Ausbeulung in der linken Tasche; überhaupt sieht er diesem neulich verstorbenen Schauspieler ähnlich – sein Name will mir nicht einfallen, aber er war ein Mythos –, ein Schmierenschauspieler eigentlich, über dessen Beisetzung eine landesweite Debatte entbrannt ist, ob die Kremierung mit der christlich-orthodoxen Tradition Rumäniens überhaupt vereinbar ist.

»Und nun?«

»Das Geld!«

»Welches Geld?«

Der Sicherheitsmann und ich schauen uns an. Der Alte ist senil. Wie ich später auf der Polizeistation erläutern sollte, zwinge ich mich immer wieder, den Alten die nötige Sympathie wenn auch nur für ihre weißen Haare entgegenzubringen, aber es gelingt mir nicht – im Wissen, dass diese Alten keine echten Alten sind, wie es jene vor ihnen noch gewesen sind. Sie tragen vielmehr eine billig patinierte Maske des Alters vor sich her und bleiben dahinter die ewigen Kinder des Kommunismus mit den schnellen Augen, so jung wie ihre umfassende Missgunst.

Ich bleibe höflich, wie ich es mit jedem Kunden bin, egal mit welcher Anfrage er ankommt, und erkläre, warum wir ihm kein Bargeld aushändigen können, erläutere den Devisenverkehr und die Ausländerkonvertibilität, die uns zurzeit lähmt. Der Alte seufzt – oder war das der Sicherheitsmann, bei dem ich mir jetzt sicher den verlorenen Respekt zurückerlangt habe? –, und dann sagt er: »verdammte Spekulanten«, aber ich bleibe bei meinem professionellen Lächeln, etwas abgemildert im Feierabend, und sage ihm, dass das nicht in meine Zuständigkeit falle und keiner anwesend sei, der befugt wäre, Auskünfte zu erteilen.

Als der Alte seinen Revolver auf den Sicherheitsmann richtet, breche ich das Spiel ab und fülle den Nylonsack mit gebündelten Banknoten. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verlässt die Bank durch die große Schiebetür. Wieso ihm der Sicherheitsmann folgt, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall nimmt er die Spendenbox der Tierschützer mit.

Von der Straße dringt ein peitschendes Schussgeräusch zu mir her.

2

In der Halbzeit gehe ich uns Holundersaft holen, wobei Flavian, der mir auf den Balkon gefolgt ist, angesichts der Korbflasche, in der ich nach den Regeln der Kunst – mit getrocknetem Holunder und viel Hefe – mein extrasaisonales Getränk braute, bouche bée bleibt. Das stachelte mich an, zum Holundersaft ein paar Plätzchen mit Rosinen zu backen.

»Ich habe noch Teig im Kühlschrank«, lüge ich und bestehe darauf, dass er im Wohnzimmer bleibt und sich die Wiederholungen im Fernsehen anschaut; ich tue das auch in der Ahnung, dass er heimlich durch die Kanäle zappen will, durch die vielen Nachrichtensendungen, die es jetzt zum Banküberfall geben muss und die sicher auch die trauernde Mutter zeigen, eine einfache Frau mit schwarzem Kopftuch, inmitten anderer Frauen mit schwarzem Kopftuch, alle furchterregend heulend.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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