Das Glück kam immer zu mir - Alexander Zinn - E-Book

Das Glück kam immer zu mir E-Book

Alexander Zinn

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Beschreibung

Rudolf Brazda, geboren 1913, ist vermutlich der letzte noch lebende Zeitzeuge, der wegen Homosexualität in einem Konzentrationslager inhaftiert war. Seine Lebensgeschichte ist ebenso erschütternd wie erstaunlich. Kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung erlebte der junge Brazda sein Coming-out als Homosexueller. Für kurze Zeit genießt er seine erste große Liebe, dann schlagen die Nationalsozialisten zu. Nach zwei Verhaftungen wird Brazda 1942 in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Dort überlebt er durch viel Glück und dank seines ungebrochenen Humors und Optimismus. Alexander Zinn verbindet die persönliche Biografie mit der Geschichte der Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus – eine Geschichte, die 1945 noch nicht zu Ende war und die bis heute viele blinde Flecken hat. Der Paragraf 175 blieb bis 1969 in der durch die Nationalsozialisten verschärften Fassung bestehen, Homosexuelle wurden erst spät als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.

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Information zum Buch

Rudolf Brazda, geboren 1913, ist vermutlich der letzte noch lebende Zeitzeuge, der wegen Homosexualität in einem Konzentrationslager inhaftiert war. Seine Lebensgeschichte ist ebenso erschütternd wie erstaunlich. Kurz nach der Machtergreifung lernt er seine erste große Liebe kennen und lebt mit seinem Freund offen zusammen – sogar eine Hochzeit feiern sie. Bald jedoch werden sie verhaftet und Brazda wird schließlich nach Buchenwald verschleppt. Optimismus, Humor und viel Glück ermöglichen es ihm, Verfolgung und Terror zu überleben und das Grauen immer wieder auszublenden. Alexander Zinn verbindet die persönliche Biografie mit der Geschichte der Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus – eine Geschichte, die 1945 noch nicht zu Ende war. Der Paragraf 175 blieb bis 1969 in der durch die Nationalsozialisten verschärften Fassung bestehen, Homosexuelle wurden erst spät als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Eine Entschädigung hat auch Rudolf Brazda bis heute nicht erhalten.

Informationen zum Autor

Alexander Zinn ist Diplom-Soziologe, Journalist und PR-Berater. Als Pressesprecher des Berliner Lesben- und Schwulenverbandeslernte er im Mai 2008 Rudolf Brazda kennen, anlässlich der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Er führte lange, intensive Gespräche mit Brazda, reiste mit ihm an die verschiedenen Stationen seines Lebens undergänzte die persönlichen Erinnerungen durch Archivmaterial wie z. B. Akten aus Strafprozessen.

Alexander Zinn

»Das Glück kam immer zu mir«

Rudolf Brazda - Das Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Copyright © 2011 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainUmschlaggestaltung: Guido Klütsch, KölnUmschlagmotiv: Rudolf Brazda 1939. Foto: PrivatbesitzISBN der Printausgabe: 978-3-593-39435-0E-Book ISBN: 978-3-593-41096-8Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

|5|Für Lukas

|11|Rudolf Brazda: Ein deutsches Schicksal

Geleitwort von Klaus Wowereit

Rudolf Brazda: ein deutsches Schicksal, der Lebens- und Leidensweg eines Homosexuellen im 20. Jahrhundert. »Das Glück kam immer zu mir«, lautet seine Lebensbilanz, die diesem Buch den Titel gibt. Ja, Rudolf Brazda war ein Glückskind. Das Glück war auf seiner Seite, als er die Nazi-Verfolgungen überlebte. Mehr als einmal hing sein Schicksal am seidenen Faden.

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten war ein unbeschwertes und selbstbestimmtes Leben angesichts der schon bald einsetzenden Homosexuellenverfolgung kaum mehr möglich. Doch Rudolf Brazda und sein Freundeskreis ließen sich nicht einschüchtern. Noch bis 1937 führten sie ein relativ offenes Leben. Dann jedoch gerieten auch sie in die Verfolgungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Rudolf Brazda wurde schließlich ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er das unfassbare Grauen des NS-Terrors fast drei Jahre lang überlebte.

Rudolf Brazda ist der vermutlich letzte Überlebende, der berichten kann, was es bedeutete, aufgrund seiner homosexuellen Lebensweise von den Nationalsozialisten verfolgt zu werden. Viele Homosexuelle haben nach 1945 über ihr Schicksal schamvoll geschwiegen. Die Befreiung vom Nationalsozialismus erlebten sie nur bedingt als neue Freiheit. Gewiss, um Leib und Leben mussten sie nicht mehr fürchten. Aber die junge Bundesrepublik bot kein Klima der Toleranz gegenüber Homosexuellen. Im Gegenteil: Die von den Nationalsozialisten geschaffene, äußerst repressive Fassung und Auslegung des Paragraphen 175 blieb bis 1969 unverändert bestehen – die homosexuelle Lebensweise wurde weiterhin geächtet und strafrechtlich verfolgt. Jahr für Jahr wurden mehrere Tausend Männer wegen ihrer Homosexualität verurteilt. Ihre Rehabilitation steht noch aus. Während der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 die nach Paragraph 175 gefällten Urteile aus der Zeit zwischen 1935 und 1945 aufgehoben |12|hat und inzwischen am Rande des Regierungsviertels ein offizielles, von der Bundesrepublik Deutschland errichtetes Denkmal an die im Nationalsozialismus verfolgen Homosexuellen erinnert, sind die nach 1945 gefällten Urteile noch immer gültig. Sie aufzuheben und den von ihnen betroffenen Homosexuellen ein Zeichen der Anerkennung des an ihnen begangenen Unrechts zukommen zu lassen, wäre kein Gesichtsverlust für den demokratischen Rechtsstaat. Im Gegenteil: Es würde auch der Bundesrepublik Deutschland zur Ehre gereichen.

Mit Rudolf Brazda habe ich im Juni 2008 gemeinsam das Denkmal besucht und dabei eine eindrucksvolle Persönlichkeit voller Charme und Lebensmut kennengelernt. Sein fast schon romanhaftes Leben, das dieses Buch dokumentiert, steht beispielhaft für die Verfolgungen, denen Homosexuelle in der Nazi-Zeit ausgesetzt waren, aber auch für den erfolgreichen Kampf um ein freies, selbstbestimmtes und glückliches Leben.

Möge Alexander Zinns Biographie von Rudolf Brazda viele Leser und Leserinnen finden.

Klaus Wowereit

Regierender Bürgermeister von Berlin

|13|Vorhang auf – für Rudolf Brazda!

»Ich hatte immer wieder Glück, der Lebenslauf,

das Schicksal, das hat so sein sollen.

Wahrscheinlich, weil ich verständnisvoll bin und sehe,

was andere an Bösartigkeit in sich tragen.

Da schaue ich drüber weg.«

Rudolf Brazda, 4. Dezember 2008

Schüchtern und verlegen schaut er in die Kameras. Ein kleiner, zerbrechlicher Mann mit dünnem, schlohweißem Haar, das zerzaust im Wind steht. Er hat sich in Schale geworfen: schwarze Hose, violettes Hemd, an der rechten Hand einen Bernsteinring, in der linken hält er eine Rose. Doch er wirkt unsicher. Neben ihm steht, zwei Köpfe größer, Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin. Der Bürgermeister streicht ihm über das zerzauste Haar und ein erstes Lächeln huscht über sein Gesicht. Die Kameras klicken, die Fotografen rufen ihre Anweisungen und Rudolf Brazda beginnt, mit ihnen zu spielen. Kokett winkt er mit der Rose, tänzelt herum, scherzt mit Wowereit, lächelt verschmitzt in die Objektive. Es ist sein Tag. Heute ist die ganze Welt sein Publikum.

Es ist der 27. Juni 2008. Rudolf Brazda, der wohl letzte noch lebende Zeitzeuge, der wegen Homosexualität in einem Konzentrationslager inhaftiert war, besichtigt das vier Wochen zuvor eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Im Fernsehen hatte er einen Bericht über die bevorstehende Einweihung gesehen. Sofort stand sein Entschluss fest: Da muss ich hin, da muss ich dabei sein.

Auf sein Drängen hin hatte sich Brazdas Nichte Elvira durch halb Berlin telefoniert, um irgendwann beim Lesben- und Schwulenverband zu landen. Als ich mit ihr sprach, glaubte ich, nicht richtig zu hören: Drei Jahre sei ihr Onkel wegen seiner Homosexualität in Buchenwald gewesen. Jetzt wolle er unbedingt zur Einweihung des neuen Denkmals kommen. Das war tatsächlich eine kleine Sensation. Denn seit Jahren war man allgemein davon ausgegangen, dass kein Homosexueller mehr am Leben ist, der den NS-Terror am eigenen Leib erfahren hat.

Zur Einweihung des Denkmals, die einen Tag nach Elviras Anruf stattfand, konnten wir Rudolf Brazda nicht mehr nach Berlin holen. Doch vier Wochen später, zum Christopher Street Day, machte er sich |14|auf die Reise. Zuvor besuchte ich ihn an seinem heutigen Wohnort in Frankreich. Vor dieser ersten Begegnung hatte ich großen Respekt. Doch der 95-Jährige erwies sich als eine äußerst charmante, humorvolle, von Offenheit und Optimismus geprägte Persönlichkeit. Trotz des ganzen Leids, das er erfahren musste, sagte er mir damals: »Das Glück kam immer zu mir.« Und im Gegensatz zu vielen seiner Leidensgenossen war er bereit, über sein Schicksal Auskunft zu geben.

Was lag da näher, als seine Geschichte in einer Biographie festzuhalten? Rudolf Brazda war von der Idee begeistert und stand mir in zahlreichen Interviews Rede und Antwort. Gemeinsam haben wir die Orte seiner Jugend und Verfolgung besucht. Brazdas Gedächtnis erwies sich dabei als so präzise, seine Erzählungen als so anschaulich, dass die Vergangenheit oft unerbittlich nahe rückte. Doch bei all dem Schrecken bewahrte er stets eine gesunde Portion Humor, die uns die »Erinnerungsarbeit« erträglicher machte.

Dieses Buch basiert jedoch nicht allein auf den Erinnerungen Rudolf Brazdas. Denn in zwei Archiven fand sich auch umfangreiches Aktenmaterial zu Strafverfahren aus der NS-Zeit. Weil er mit einem Mann zusammenlebte, wurde Brazda gleich zweimal wegen »widernatürlicher Unzucht« nach Paragraph 175 RStGB zu Gefängnisstrafen verurteilt. Als die Nazis die Macht übernahmen, war Rudolf Brazda 20 Jahre alt und erlebte gerade sein homosexuelles Coming-out. Im Sommer 1933 lernte er den 19-jährigen Werner kennen – für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Fortan lebten sie gemeinsam in der thüringischen Kleinstadt Meuselwitz, versteckten ihre Homosexualität kaum, gingen Hand in Hand spazieren, selbst Küsse tauschten sie in aller Öffentlichkeit aus. Diese glücklichen Jahre fanden ein jähes Ende, als es im Frühjahr 1937 im nahegelegenen Altenburg zu einer beispiellosen Verhaftungswelle kam. 44 homosexuelle Männer wurden vor Gericht gestellt, Brazda musste für sechs Monate ins Gefängnis. Nach seiner Freilassung wurde er, dessen Eltern tschechische Einwanderer waren, aus Deutschland ausgewiesen. Brazda ging nach Karlsbad, schlug sich als Josephine-Baker-Imitator durch und zog mit einer jüdischen Theatertruppe übers Land. Doch auch hier holten ihn die Nazis ein: Nach der Annektion des Sudetenlands wurde er 1941 erneut verurteilt. Im August 1942 verschleppte man ihn dann ins Konzentrationslager Buchenwald.

|15|Rudolf Brazdas Geschichte ist erschütternd. Sein Optimismus, sein Humor und sein Charme, mit dem er andere Menschen schnell für sich einnimmt, haben es ihm jedoch möglich gemacht, sich durch Verfolgung und Terror »hindurchzuschlawinern« und all das Grauen »wegzustecken«. Rudolf Brazda hat auch im »Dritten Reich« ein erstaunlich selbstbewusstes und offen homosexuelles Leben geführt. Im Gegensatz zu vielen anderen hat er sich von Verfolgung und Terror nicht einschüchtern lassen. Er hat sich nie verbogen und, sieht man von Verhören der Kripo ab, seine Homosexualität auch nie verleugnet. Auch dieses bemerkenswerte Selbstbewusstsein hat ihm dabei geholfen, zwei Jahre Gefängnis und fast drei Jahre Konzentrationslager zu überleben.

Brazdas Schicksal steht exemplarisch für das tausender Homosexueller, die nach dem 1935 von den Nationalsozialisten verschärften Paragraphen 175 abgeurteilt und später in Konzentrationslager deportiert wurden. Sechs der 44 Homosexuellen, die man bei den Altenburger Homosexuellenprozessen anklagte, wurden schließlich nach Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt.1 Außer Brazda überlebte den KZ-Terror nur einer, der allerdings so entkräftet war, dass er schon bald nach der Befreiung, im Februar 1946, starb. Zwei der Altenburger Homosexuellen hatten bereits 1937 Selbstmord begangen. Andere wurden später in Himmelfahrtskommandos der Wehrmacht verheizt. Und auch viele derjenigen, die Terror und Krieg überlebten, wurden ihres Lebens nicht mehr froh. Denn nach 1945 blieb ihnen jede Anerkennung versagt, Homosexualität wurde weiterhin stigmatisiert und kriminalisiert. Viele Homosexuelle lebten versteckt, verfolgt, vereinsamt und verbittert und starben in viel zu jungen Jahren.

Anders erging es Rudolf Brazda. Nach seiner Befreiung zog er nach Frankreich, wo Homosexualität zumindest strafrechtlich nicht verfolgt wurde. Er baute sich eine neue Existenz auf und fand schließlich wieder einen Freund, mit dem er 50 Jahre zusammenlebte. Eine Entschädigung für seine KZ-Haft hat aber auch er nicht erhalten.

Rudolf Brazdas Lebensgeschichte steht für eine Verfolgtengruppe, deren Schicksal fast ein halbes Jahrhundert ignoriert wurde. Erst seit Ende der 80er Jahre rückte das Schicksal der »Männer mit dem rosa Winkel« langsam ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Es spricht für sich, dass Rudolf Brazda 65 Jahre nach der Befreiung der erste homosexuelle KZ-Überlebende ist, in dessen Fall persönliche Erinnerungen und |16|Archivmaterial zu einer umfassenden Biographie zusammengeführt werden.

Dieses Buch soll dazu beitragen, die Lebensbedingungen und die Verfolgung Homosexueller im »Dritten Reich« weiter aufzuklären. Es soll all jenen ein Denkmal setzen, die im Rahmen der Altenburger Verfolgungswelle verhaftet und verurteilt, in Zeitungen öffentlich angeprangert und über Monate und Jahre einsperrt wurden. Nicht zuletzt soll es die Homosexuellen dem Vergessen entreißen und rehabilitieren, die später in die Mühlen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie gerieten. Auf dass Rudolf Brazdas Wunsch in Erfüllung gehe und »die Nazibande, die Dreckhunde«, nie wieder auferstehen.

Alexander Zinn, 12. Januar 2011

Anmerkung

1

Mindestens zwei weitere Homosexuelle kamen in Konzentrationslager, weil sie im Gefolge der Altenburger Prozesse in anderen Städten verhaftet und verurteilt wurden. Beide überlebten die KZ-Haft.

|17|Zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung

Die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung ist bislang nur lückenhaft aufgearbeitet. Das gilt insbesondere für das Schicksal einzelner Verfolgter. Es gibt nur wenige Zeugnisse homosexueller NS-Opfer. Viele konnten oder wollten über ihre Erlebnisse keine Auskunft geben – auch, weil Homosexuelle bis Ende der sechziger Jahre strafrechtlich verfolgt und lange Zeit nicht als NS-Opfer anerkannt wurden.

Rund 100.000 homosexuelle Männer wurden zwischen 1933 und 1945 von der »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung« registriert. Während des »Dritten Reiches« hat es etwa 46.000 Urteile nach dem antihomosexuellen Strafparagraphen 175 gegeben, den die Nationalsozialisten 1935 erheblich verschärften.1 In der Bundesrepublik blieb die Nazi-Fassung des Paragraphen bis 1969 unverändert bestehen. Eine Anerkennung als Verfolgte blieb den Homosexuellen ebenso versagt wie eine angemessene Entschädigung. Völlig ausgeschlossen erschien es in dieser Situation, sich öffentlich zu seinem Schicksal zu bekennen und über seine Erfahrungen zu berichten. Auch gegenüber Freunden, Eltern und Geschwistern wurden die grausamen Erinnerungen oft unter einem Mantel des Schweigens begraben. Viele Verfolgte hatten keine Möglichkeit, ihre traumatisierenden Erlebnisse in den Konzentrationslagern aufzuarbeiten.

Auch die Historikerzunft zeigte an einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung kein Interesse. Lange Zeit war das Thema tabuisiert, als ernstzunehmender Forschungsgegenstand wird es erst seit wenigen Jahren anerkannt. Bis heute ist die »deutschsprachige Historiographie noch weit davon entfernt, das Thema Homosexualitäten als gleichberechtigten und notwendigen Bestandteil des Wissenschaftskanons wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu institutionalisieren«.2

|18|Die historische Aufarbeitung des »Dritten Reiches« konzentrierte sich zunächst auf die nationalsozialistische Ideologie, das Führungspersonal und herausragende Ereignisse wie den Reichstagsbrand oder den Zweiten Weltkrieg. Bei den Verfolgtengruppen überblendete die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Antisemitismus und der »Endlösung der Judenfrage« die meisten anderen Aspekte. Wenn Homosexualität eine Rolle spielte, dann lediglich bei den Ereignissen, bei denen sie von den Nationalsozialisten propagandistisch genutzt wurde, um politische Gegner auszuschalten: beim »Röhm-Putsch« 1934, bei den Sittlichkeitsprozessen gegen katholische Ordensangehörige 1936/37 und beim Fall Fritsch 1938. Die hier zumindest teilweise zutreffende Interpretation, die NS-Machthaber hätten Homosexualität als Vorwand genutzt, um politische Gegner auszuschalten, verstellte lange Zeit den Blick auf die breit angelegte Homosexuellenverfolgung und prägt bis heute einige zweifelhafte Interpretationen historischer Vorgänge. Dass Himmler und die Geheime Staatspolizei in der Homosexualität tatsächlich eine »Staatsgefahr mindestens vom gleichen Umfange wie der Kommunismus« gesehen haben könnten, wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.3

Erschwert wurde die Forschung auch dadurch, dass wichtige historische Quellen vernichtet wurden oder lange Zeit nicht zugänglich waren. Die umfangreichen überregionalen Aktenbestände zur Homosexuellenverfolgung, die vom Geheimen Staatspolizeiamt und dem Reichskriminalpolizeiamt in Berlin angelegt worden waren, sind von der SS und durch Kriegseinwirkungen fast vollständig vernichtet worden. Darunter auch die Akten der beim Reichskriminalpolizeiamt angesiedelten »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung«.4

Andere Aktenbestände wurden nach dem Krieg vernichtet, so zum Beispiel zahlreiche Strafakten zu Verfahren nach Paragraph 175 RStGB. Meist waren es die Justizbehörden, die die Akten vernichten ließen. Mitunter waren es aber auch Archive, die die ihnen angebotenen Bestände »kassierten«. So vernichtete das Hamburger Staatsarchiv noch bis in die 90er Jahre hinein umfangreiches Aktenmaterial aus den Jahren 1933 bis 1945 zu Verfahren nach den Paragraphen 175 und 175a – und das, obwohl die Hamburger Justizbehörde 1988 angeordnet hatte, alle Akten, die im Nationalsozialismus verfolgte Minderheiten betreffen, zu archivieren.5

|19|Wenn Quellen nicht vernichtet wurden, so blieben sie meist unerschlossen und damit faktisch unzugänglich für die historische Forschung. Die Düsseldorfer Gestapo-Akten etwa, der in der Bundesrepublik umfangreichste Bestand dieser Art, wurden vom Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv zwar schon in den sechziger Jahren in ihrer Bedeutung erkannt und für die wissenschaftliche Forschung über eine Verschlagwortung erschlossen. Die homosexuellen NS-Opfer wurden dabei aber entsprechend der weiterhin gültigen Gesetzeslage als Kriminelle betrachtet, deren »Akten ohne politisches Interesse« gewesen seien, so die damalige Leiterin des Archivs Gisela Vollmer. Entsprechend wurden in das Schlagwortregister nur solche Fälle aufgenommen, in denen unter dem »Vorwand« (sic!) Homosexualität »politisch missliebige Personen bekämpft« worden seien.6

Erst Mitte der siebziger Jahre begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung. Es waren einige wenige Wissenschaftler, vor allem aber die »Betroffenen« selbst, Vertreter der neuen deutschen Schwulenbewegung, die sie in Gang setzten. Als Standardwerk gilt nach wie vor der von Rüdiger Lautmann 1977 veröffentlichte, gerade einmal 40 Druckseiten umfassende Beitrag zum »rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern«.7 Tatsächlich war Lautmanns Untersuchung bahnbrechend, hatten er und seine Forscherkollegen doch erstmals Zugang zum Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen bekommen und dessen Daten über KZ-Häftlinge stichprobenartig auswerten können. Auf dieser Basis konnte eine erste realistisch erscheinende Schätzung zur Verfolgtengruppe der Homosexuellen vorgelegt werden. Demnach waren in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern etwa 10.000 homosexuelle Männer inhaftiert. Ihr sozialer Status und ihre Überlebenschancen waren im Vergleich zu anderen Häftlingsgruppen schlecht. Lautmann hat eine Todesrate von 60 Prozent errechnet, bei der Vergleichsgruppe der politischen Häftlinge lag sie bei 42 Prozent, bei den sogenannten Bibelforschern bei 35 Prozent.8

Dennoch blieben Lautmanns Ergebnisse teilweise recht vage. Die Schätzung von 10.000 Rosa-Winkel-Häftlingen ist mit einem großen Unsicherheitsfaktor verknüpft, denn nach Lautmann könnten es ebenso »5.000, aber auch an die 15.000 gewesen sein«.9 Es sagt viel über den Forschungsstand zur NS-Homosexuellenverfolgung, dass diese grobe |20|Schätzung bislang nicht weiter präzisiert wurde und als das einzig seriöse Ergebnis gilt.

Seit Lautmanns Studie ist eine ganze Reihe von Publikationen zu diversen Aspekten der NS-Homosexuellenverfolgung erschienen. Viele Hobbyhistoriker haben an dem Thema gearbeitet. Ganz erheblich haben Geschichtsinitiativen, die aus der Schwulenbewegung entstanden sind, so zum Beispiel das Schwule Museum in Berlin, zur Aufarbeitung beigetragen. Nicht alle Publikationen genügen jedoch wissenschaftlichen Anforderungen. Der dürftige Forschungsstand führte mitunter auch zu starken Übertreibungen. In den siebziger und frühen achtziger Jahren wurde in einigen Büchern die hanebüchene Legende von einem schwulen »Homocaust« mit hunderttausenden KZ-Opfern verbreitet.10 Einige der Publikationen zur Situation lesbischer Frauen kolportierten die nicht zu belegende Legende über lesbische Frauen als Verfolgtengruppe in NS-Konzentrationslagern.11

Eine seriöse Überblicksdarstellung über »Homosexuelle unter dem Hakenkreuz« publizierte im Jahre 1990 der Historiker Burkhard Jellonnek.12 Er konnte erstmals einen vergleichenden Überblick über die Gestapo-Ermittlungsmethoden gegen Homosexuelle geben, ebenso wie über die Lebenssituation männlicher Homosexueller im »Dritten Reich«. Seitdem sind weitere ernstzunehmende Forschungsarbeiten veröffentlicht worden, vor allem zur Verfolgungsgeschichte in bestimmten Städten und Regionen und zur Situation homosexueller Häftlinge in einzelnen Konzentrationslagern.

Erinnerungsberichte homosexueller KZ-Überlebender erschienen aufgrund der andauernden Verfolgung und Stigmatisierung bis in die 80er Jahre nur unter Pseudonym.13 Später wurden Kurzportraits und Interviews mit homosexuellen KZ-Überlebenden teilweise auch mit Klarnamen der Betroffenen veröffentlicht.14 Internationale Aufmerksamkeit erregte der 1994 publizierte Bericht von Pierre Seel, der 1941 für sechs Monate in dem elsässischen »Sicherungslager« Schirmeck-Vorbruck inhaftiert war.15 Alle bislang vorliegenden (auto-)biographischen Publikationen basieren entweder ausschließlich auf den Erinnerungen der Betroffenen, oder es handelt sich um biographische Portraits, die allein aufgrund von Archivmaterial, vor allem auf der Basis von Strafprozessakten, recherchiert wurden. In keinem einzigen Fall war es bislang möglich, |21|persönliche Erinnerungen und Archivmaterial zu einem umfassenden biographischen Portrait zusammenzuführen.

Im Falle Rudolf Brazdas bestand nun erstmals eine derartige Gelegenheit, sodass sich ein äußerst detailliertes Bild seiner Lebenssituation und der gegen ihn eingeleiteten Verfolgungsmaßnahmen nachzeichnen lässt. Das Erinnerungsvermögen des inzwischen 97 Jahre alten Rudolf Brazda ist beeindruckend. Und auch die Quellenlage ist so umfangreich wie in kaum einem anderen Fall. In zwei Archiven fanden sich die Akten der beiden Strafverfahren gegen ihn. Ebenso sind Dokumente zu seiner Zeit im Konzentrationslager Buchenwald erhalten.

In den vergangenen Jahren hat sich einiges getan. Die historische Forschung ist an vielen Punkten vorangekommen. Und auch bei der Rehabilitierung der homosexuellen NS-Opfer hat es deutliche Fortschritte gegeben. Im Jahr 2002 hob der Bundestag alle zwischen 1935 und 1945 nach Paragraph 175 gefällten Urteile auf. Am 27. Mai 2008 wurde in Berlin ein offizielles, von der Bundesrepublik Deutschland errichtetes Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen eingeweiht. Und im November 2010 beschloss der Deutsche Bundestag schließlich auch die Einrichtung einer Stiftung, die die Erforschung und Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung fördern soll.

Doch bis heute sind die Rosa-Winkel-Häftlinge nicht als NS-Verfolgte im Sinne des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung anerkannt. Für eine individuelle Entschädigung ist es jetzt ohnehin zu spät, denn außer Rudolf Brazda lebt heute wohl kein Betroffener mehr. In einigen Fällen gibt es allerdings Hinterbliebene, die unter der Ermordung oder den körperlichen und psychischen Spätfolgen der KZ-Haft ihres Bruders, Vaters, Onkels oder sonstigen Verwandten zu leiden hatten. Und es gibt noch eine andere, sehr große Gruppe von Opfern, bei der eine Chance besteht, erlittenes Unrecht mit einer individuellen Entschädigung anzuerkennen. Es sind mehrere zehntausend homosexuelle Männer, die nach 1945 von (bundes-) deutschen Gerichten nach dem fortbestehenden Paragraphen 175 verurteilt wurden.16 Auch die jüngsten unter ihnen sind inzwischen über 60 Jahre alt. Doch ein beträchtlicher Teil dieser Männer ist noch am Leben. Es ist höchste Zeit, die gegen sie ergangenen Urteile aufzuheben und ihnen zumindest eine symbolische Entschädigung zukommen zu lassen.

|22|Neben der Rehabilitierung und Entschädigung sind aber auch politische Konsequenzen zu ziehen, die einen dauerhaften Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung garantieren. Denn die Mütter und Väter des Grundgesetzes vergaßen die Homosexuellen, als sie 1949 ihre Lehren aus dem »Dritten Reich« in Verfassungsrecht gossen. Der Gleichheitsgrundsatz von Artikel 3 schützt seither zwar vor Benachteiligung aufgrund des Geschlechtes, der Abstammung und Rasse sowie der religiösen oder politischen Anschauungen, Homosexuelle hingegen hatten über Jahrzehnte keine Chance, sich auf diesen Diskriminierungsschutz zu berufen. 1957 lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Klage gegen den Paragraphen 175 ab und berief sich dabei ausdrücklich auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes: »Bei der Schaffung der Absätze 2 und 3 des Art. 3 GG wurde nicht daran gedacht, dass diese Bestimmung in das geltende Sexualstrafrecht […] eingreifen könne.«17 Heute gehen zwar die meisten Juristen davon aus, dass Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes auch Schwule und Lesben schützen. Doch nur eine Ergänzung von Artikel 3, Absatz 3 um das Merkmal der sexuellen Identität wird einen dauerhaften Schutz Homosexueller garantieren und als ein Bollwerk gegen neue Verfolgung und Diskriminierung wirken können.

Anmerkungen

1

In dieser Zahl sind die Urteile nach dem 1935 geschaffenen Paragraphen 175a enthalten. Vgl. Kapitel 2.11 und Tabelle 1 im Anhang.

2

Hergemöller: Einführung. S. 10.

3

So der Gestapo-Mitarbeiter Gerhart Kanthack 1935. Zitiert nach: Hockerts: Sittlichkeitsprozesse. S. 20 und S. 12.

4

Vgl. Jellonnek: Homosexuelle. S. 15.

5

Vgl. Micheler/Terfloth: Aus den Mühlen der Justiz in den Reißwolf des Archivs. S. 383 f.

6

Vgl. Jellonnek: Homosexuelle. S. 275.

7

Lautmann/Grikschat/Schmidt: Der rosa Winkel.

8

Lautmann: Seminar. S. 350.

9

Lautmann: Seminar. S. 333.

10

Grün (Pseud.): Zur Situation der Homosexuellen. S. 15.

11

Kuckuc (Pseud.): Der Kampf gegen Unterdrückung. S. 127–128. Sowie: Stümke/Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen. S. 274–276.

12

Jellonnek: Homosexuelle.

13

|23|Den ersten Bericht eines ehemaligen Rosa-Winkel-Häftlings mit dem Titel »Versuchsobjekt Mensch« veröffentlichte Leo Clasen 1954 unter dem Pseudonym L.D. Classen von Neudegg in der Homosexuellenzeitschrift Humanitas. Ein umfassenderer Bericht erschien erst im Jahre 1972 unter dem Pseudonym Heinz Heger: Die Männer mit dem Rosa Winkel.

14

Anonymisierte Kurzportraits veröffentlichten zum Beispiel Stümke und Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen. S. 301–338. 1992 erschien in Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte ein Interview mit dem Schauspieler Kurt von Ruffin: Als schwuler Häftling in den KZs Columbiahaus und Lichtenburg.

15

Pierre Seel hatte seine Erinnerungen gemeinsam mit dem Journalisten Jean Le Bitoux niedergeschrieben. Der (auto-)biographische Bericht wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. Die deutsche Ausgabe erschien 1996 unter dem Titel Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen.

16

Von 1946 bis 1969 hat es fast 60.000 Verurteilungen nach den NS-Paragraphen 175 und 175a gegeben (vgl. Tabelle 1 im Anhang). Wie viele Männer davon betroffen waren, kann man nur schätzen.

17

1 BvR 550/52. Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. Mai 1957.

|25|1. Kindheit und Jugend 1913–1933

1.1 Kindheit in Brossen

Rudolf Brazda wird am 26. Juni 1913 als Sohn tschechischer Einwanderer im damals preußischen Brossen geboren.1 Brossen, ein kleines Dorf im Altenburger Land, das heute zu Thüringen gehört, ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Braunkohlenabbau geprägt. In die hügelige Landschaft werden Schächte getrieben. Zahlreiche Gruben und Brikettfabriken entstehen und ziehen neue Arbeitskräfte an. Schnell verändert die Gegend ihr Gesicht. Viele Bauern können ihre Felder nicht mehr bewirtschaften, weil der Boden wegsackt, die Grubengesellschaften kaufen ihnen Land und Höfe ab. Mit der Grube Phönix entsteht im Nachbarort Mumsdorf seit 1906 eines der größten Braunkohlenwerke Deutschlands, das täglich 2.200 Tonnen Briketts herstellt. Mit einer Seilbahn wird die Kohle hierher gebracht und verarbeitet. Der Bedarf an Arbeitskräften ist |26|groß, die Grube beschäftigt zu ihren Hochzeiten etwa 1.500 Arbeiter und Angestellte. Die Arbeiter kommen vor allem aus Nordbayern, Polen und Böhmen. So wie Rudolf Brazdas Eltern. Sein Vater Adam stammt aus der westböhmischen Kleinstadt Schwihau, die Mutter Anna ist in Konopist, 37 Kilometer südlich von Prag, aufgewachsen.2 Auf der Suche nach Arbeit waren beide Ende des 19. Jahrhunderts ins Vogtland ausgewandert, wo sie sich in der Nähe von Plauen niederließen. 1899 heirateten sie, in den folgenden Jahren kamen hier fünf Kinder zu Welt. Als Adam von der Möglichkeit hört, bei Phönix zu arbeiten, bewirbt er sich und wird als Schachtmeister eingestellt. Auch als Lokomotivführer der Grubenbahn arbeitet er.

|25|
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Rudolf Brazdas Eltern Anna und Adam

|26|Die Familie wird in einem Bauernhof in Brossen einquartiert, den Phönix zur Unterbringung der Grubenarbeiter angekauft hat. Das alte Fachwerkgehöft wird aufgeteilt. Brazdas beziehen eine kleine Wohnung im ersten Stock. Über eine steile Stiege erreicht man zwei Zimmer und zwei kleine Kammern, die Eltern schlafen in einem der Zimmer, die fünf Kinder in den Kammern. Und noch weitere drei Kinder werden hier geboren. Zwei Mädchen und Rudolf. Er ist das jüngste der acht Geschwister.

Der erste Weltkrieg bringt auch für die Familie Brazda große Veränderungen. Als Staatsbürger Österreich-Ungarns wird der Vater am 28. August 1914 zum Militär der Donaumonarchie eingezogen. Doch bereits am 4. Dezember gerät er in serbische Gefangenschaft. Fast vier Jahre ist er in Kriegsgefangenenlagern, zuletzt in Mimizan Bourg an der französischen Atlantikküste. Von dort meldet er sich am 25. Oktober 1918, als der Krieg schon fast zu Ende ist, zur neu gegründeten tschechoslowakischen Armee, bei der er dann ein weiteres Jahr Dienst versehen muss.3 Erst Mitte September 1919 kehrt er schließlich, geschwächt und kränkelnd, nach Meuselwitz zurück. Rudolf erinnert sich an die erste bewusste Begegnung mit seinem Vater folgendermaßen:

»Unterdessen bin ich dann schon sechs Jahre alt geworden, ich hatte meinen Vater nie gesehen. Und da ist auf einmal plötzlich mein Vater erschienen, der war entlassen worden von Sizilien, von den Italienern. Aber mein Vater war irgendwie krank gewesen, denn da gab es nichts zu essen, die war’n ja immer so verhungert, die haben Wurzeln sich ausgegraben und sogar Blätter von den Bäumen gerissen vor lauter Hunger und mit dem war der dann kaputt gewesen mit dem Magen. Da hat er nicht mehr lang gelebt, wie er zuhause war, da hat er dann nur noch drei Monate gelebt, dann ist er gestorben. Meine Mutter war dann angewiesen, für uns zu arbeiten. Um |27|uns zu beköstigen, hat sie Arbeit annehmen müssen und hat acht Kinder ernähren müssen.«4

Tatsächlich stirbt der Vater nur vier Monate nach seiner Rückkehr am 21. Januar 1920.5 Anna Brazda ist jetzt auf sich alleine gestellt.6 Der Direktor der Grube Phönix bietet ihr die Möglichkeit, als Putzhilfe in den Büros der Grubengesellschaft zu arbeiten. Einige der Kinder sind bereits aus dem Haus. Rudolf dagegen wird gerade erst eingeschult, in die Volksschule von Brossen. Viel lernt er hier nicht. Nach Rudolfs Erinnerung ist der Lehrer mehr an den Schülerinnen interessiert als an ihrer Bildung. Die Unterrichtsmethoden sind antiquiert. Rudolf ist kein guter Schüler, einmal bleibt er sitzen. Es ist auch seine Herkunft, die ihn behindert, Sprachprobleme und Vorbehalte des Lehrers: »Ich war ein mittelmäßiger Schüler, weil, das ist zu verstehen, weil ich Ausländer war. Zuhause ist auch nur so gebrochen deutsch gesprochen worden. Mein Schullehrer war auch net besonders eingestellt auf Ausländer, sehr herablassend hat er mit mir geredet. Aber das war ich ja gewohnt gewesen, da hab ich mir nix draus gemacht.«7

Seine Mutter versucht ihr Bestes. Doch Anna Brazda hat selbst kaum Bildung genossen, ihre Möglichkeiten, den Kindern zu helfen, sind beschränkt. Rudolf erinnert sich, dass er »zuhause keinen richtigen Halt hatte. Meine Geschwister haben sich nicht um mich gekümmert, die haben nur an sich gedacht. Da war ich ganz allein. Und meine Mutter war den ganzen Tag auf der Arbeit, da bin ich so herumgeschwänzelt.«8

Dennoch ist die Mutter eine starke und geradlinige Persönlichkeit, sie hat klare Vorstellungen, was akzeptabel ist und was nicht hingenommen werden kann. Die Kinder werden zunächst katholisch erzogen. Doch als Rudolfs Schwester im Kommunionsunterricht geschlagen wird, nimmt sie die Kinder nicht nur aus dem Unterricht, sondern tritt auch gleich aus der Kirche aus: »Meine Mutter war auch nicht gläubig, sie hat uns nicht gezwungen, in die Kirche zu gehen. Eben weil sie meine Schwester geschlagen haben, sie hat manches Mal Backpfeifen bekommen. Ich war zu klein, ich wurde nicht geschlagen. Aber wegen dem sind wir ja aus der Kirche ausgetreten. Weil die Pfarrer so blöd waren.«9 Dass man sich von der Obrigkeit nicht alles gefallen lassen muss, ist ein prägendes Element in Rudolfs Erziehung.

|28|Auch in anderen Punkten verläuft Rudolfs Kindheit eher ungewöhnlich. Schon früh bringt ihm die Mutter das Kochen bei, fortan bereitet er für sich und seine Geschwister das Mittagessen zu: »Meine Mutter ist arbeiten gegangen und hat uns den ganzen Tag alleine gelassen, ich war 7 oder 8 Jahre alt, da hat sie mich schon das Essen kochen lassen, Kartoffeln schälen und schnippeln, Rüben, Kohlrüben oder Möhren zusammen kochen.«10 Von seiner Schwester, die in Heimarbeit Hemden und Blusen anfertigt, lernt Rudolf das Nähen und beginnt schon bald, sich eigene Kleider zu schneidern. Und auch sonst sind es die traditionell »weiblichen« Beschäftigungen, die er den Wettkämpfen der Jungen vorzieht. So entwickelt Rudolf schon früh tänzerisches Talent: »Einmal, das muss ich jetzt so sagen, da bin ich vielleicht so zwei Jahre alt gewesen, da hat meine Mutter Besuch gehabt und die Sensation war, dass man den Tisch abgeräumt hat und mich darauf gestellt hat und da hab ich schon getanzt wie verrückt und die Leute haben geklatscht.«11 Das Tanzen betreibt Rudolf später auch in einem Verein: »Ich war dann in einem Tanzverein und deshalb war ich auch wahrscheinlich ein bisschen feminin gewesen und die Mädels haben sich immer um mich rumgeschart, sie waren interessiert für mich. Einmal haben sie mich auf die Seite gezogen und haben mich gefragt: ›Bist du ein Mädel?‹«

Am wohlsten fühlt er sich tatsächlich unter Mädchen, die ihn wie ihresgleichen behandeln. Und manchmal probiert er auch Frauenkleider an: »Zuhause schon, da hab ich Mädel-Kleider anprobiert, schon wegen dem Tanzen, ich hab doch wie ein Mädel getanzt. Ja ich habe mir nix draus gemacht, ich bin so!«12

1.2 Lehrzeit und Pubertät

Als Rudolf 1927 von der Volksschule abgeht, hat er bereits eine klare Vorstellung über seine berufliche Zukunft: »Einen Posten in einem Konfektionsgeschäft, als Dekorateur«, möchte er gerne haben. Doch eine Lehrstelle ist in diesem Beruf nicht zu finden. Als Ausländerkind wird er mit den Vorurteilen und der Ablehnung vieler Einheimischer konfrontiert. Eine Ausnahme ist der Dachdeckermeister Gustav Menzel aus der nahegelegenen Kleinstadt Meuselwitz. Er bietet Rudolf eine Lehrstelle |29|an. Und so erlernt er statt kunstvollem Dekorieren das robuste Dachdeckerhandwerk.

Rudolf ist froh, endlich eigenes Geld zu verdienen. Die Arbeit macht ihm Spaß und von seinem ersten Lehrgeld kauft er sich ein Fahrrad. Gleichwohl ist die Lehre eine große Umstellung. Seine weiblichen Seiten, das ist Rudolf klar, sind hier nicht gefragt. Vor den Kollegen verbirgt er sie lieber. Das erscheint ihm um so wichtiger, weil er mit seinen 1,64 Metern ein recht kleiner und zarter Junge ist: »Ich bin so froh, dass ich das Feminine so perfekt weggestoßen habe, dass ich mich mehr als Kerl benehmen konnte. Schon allein wegen meiner Arbeitskollegen, die hätten ja über mich gelacht!«13

Die Lehrjahre erweitern Rudolfs Horizont. Auf den Dächern schnuppert er Stadtluft. In seinem Innern regen sich unbekannte Gefühle. Kurz: Rudolf steckt mitten in der Pubertät. Langsam schwant ihm, dass etwas mit ihm »nicht in Ordnung« ist. In erotischer Hinsicht interessiert er sich mehr für Jungs als für Mädchen, das lässt sich bald nicht mehr leugnen: »Einmal bin ich mit Mädels spazieren gegangen, aber lieber bin ich mit jungen Burschen spazieren gegangen und bei Jungen, die so waren wie ich, da hab ich irgendwas gespürt. Mein Ziel ist nicht nach den Mädels gegangen, mein Ziel ist nach den Burschen gegangen, nach meinen Arbeitskollegen oder dergleichen, das ist doch komisch gewesen.«14

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Rudolf (sitzend) im Alter von etwa 14 Jahren mit seinem Bruder Karl

Weil es normal ist, versucht Rudolf dennoch, mit Mädchen zu schlafen: »Wenn ich zum Beispiel mit einem Mädel im Bett war, bin ich doch immer so steif gewesen, da habe ich sie nicht in die Arme genommen, wie sie das vielleicht gewollt hat. Da sind Mädels gewesen, die haben an mir rumgeschmust, aber ich habe keine Erregung dabei empfunden, ich hatte |30|einfach keinen Gefallen daran. Ich habe ihnen nur den Gefallen getan.«

Bewusst wird Rudolf seine Neigung zu Männern, als er eines Abends durch Brossen spaziert: »Ich bin da eine enge Dorfstraße durchgelaufen, auf einmal sehe ich von weitem Licht in einem Fenster, das war ganz niedrig das Fenster und wie ich vorbeigehe, sehe ich da einen nackigen Jungen herumlaufen, der war schon mehr in den 30er Jahren, der Mann. Da schaue ich, da baumelte sein Dings herum, da bin ich so erregt gewesen und habe mich selber fertiggemacht. Im Kopf ihn zu sehen! Wie ich gegangen bin, habe ich mich geschämt, und doch hatte ich die Genugtuung, mit einem Mann etwas gemacht zu haben, das war für mich eine Wonne.«15

Rudolfs Gefühle sind mit Angst und Scham verknüpft. Oft denkt er, dass er »von der Natur verhunzt« wurde. Was genau mit ihm los ist, das kann er lange Zeit nicht benennen. Der Begriff »Homosexualität« ist ihm nicht bekannt. Ganz zu schweigen davon, dass er jemals von schwulen Kneipen, Vereinen oder Zeitschriften gehört hätte.

Dabei hat das homosexuelle Leben in jenen Jahren seine Blütezeit. In vielen deutschen Großstädten sind seit 1919 sogenannte »Freundschaftsvereine« entstanden, die Tanzveranstaltungen und andere Freizeitaktivitäten für Schwule und Lesben organisieren. Homosexualität wird ein Thema für Presse und Literatur, Theater und Kunst. 1919 findet im Berliner Apollo-Theater die Uraufführung von Richard Oswalds Spielfilm »Anders als die Anderen« statt, des ersten Filmes überhaupt, der Homosexualität offen thematisiert. Der 1920 gegründete Bund für Menschenrecht (BfM) hat in seinen Höchstzeiten 48.000 Mitglieder. Sein Vorsitzender, der Verleger Friedrich Radszuweit, gibt Zeitungen und Zeitschriften für homosexuelle Frauen und Männer heraus, die teilweise, wie die Insel 1930, Rekordauflagen von 150.000 Exemplaren erreichen.16

In Brossen hört man von all dem nur wenig. Rudolf weiß lange nicht, wie er seine Gefühle einordnen soll. Es gibt niemanden, der ihm erklärt, was Homosexualität ist, dass es viele andere schwule Männer gibt, wo man sie treffen kann. Um so wilder experimentiert er und erprobt die Möglichkeiten, sich dem Objekt seiner Begierde zu nähern. Und was liegt da näher, als das Geschlecht zu wechseln? Heimlich zieht er Kleider seiner Schwester an, schminkt sich und stiehlt sich vom Brossener Hof. So aufgemacht zieht er in die Nachbarorte, nach Mumsdorf und Zipsendorf, um dort mit Männern anzubändeln. Diese sprechen auf das fesche Mädel an, auf die Idee, dass es nicht echt sein könnte, kommen sie nicht. Rudolf lässt sich ins Gasthaus einladen, flirtet und kokettiert, mehr jedoch darf nicht passieren, damit der Schwindel nicht auffliegt.

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Rudolf Brazda mit seiner Mutter

Die ersten sexuellen Erfahrungen macht Rudolf schließlich mit Jungs aus der Nachbarschaft. Vorne auf dem Hof wohnen die Langheinrichs, der Vater arbeitet ebenfalls für die Grube Phönix, die zwei Söhne sind hübsche Kerle, besonders der Ältere gefällt Rudolf sehr. Einmal spielen sie auf dem Hof, landen zu dritt in einem alten Waschzuber und erkunden ihre Körper. Auch ein anderer Junge aus der Nachbarschaft hat es ihm angetan, der »Kurzig Alfred«, wie er ihn nennt. Mit ihm entwickelt sich eine Freundschaft, die auch sexuelle Experimente einschließt. Alfred ist oft bei Rudolf zu Besuch. Die Mutter denkt sich nichts dabei, wenn die beiden zusammen in seinem Bett liegen.

Alfred ist auch oft dabei, wenn Rudolf als Mädchen unterwegs ist. Staffage und Vorgehen werden immer perfekter. Rudolf näht sich eigene Kleider, die ihn noch verführerischer erscheinen lassen. Gemeinsam mit Alfred lässt er sich von älteren Herren zu Speis und Trank einladen. Doch die Ausflüge bleiben riskant. Als einer der Verehrer nicht an sich halten |32|kann und zudringlich wird, flüchten die beiden überstürzt aus dem Gasthaus. Nur knapp entgehen sie der Enttarnung.

Dabei ist es allenfalls ein gesellschaftlicher Skandal, der droht. Moralisch mögen die Abenteuer von Rudolf und Alfred einigen Zeitgenossen verwerflich erscheinen, juristisch sind sie kaum zu beanstanden. Zwar gibt es den Paragraphen 175, mit dem homosexuelle Männer verfolgt werden. Strafbar sind aber nur »beischlafähnliche Handlungen«, insbesondere der Analverkehr. Gegenseitige Masturbation wird ebenso wenig verfolgt wie Zärtlichkeiten, Küsse oder Travestie.

Zudem ist der Paragraph 175 nicht unumstritten. Erst nach der Reichsgründung wurde dieses Strafgesetz 1872 in ganz Deutschland eingeführt. Zuvor waren homosexuelle Handlungen in einigen Ländern gar nicht verfolgt worden.17 Der Streit über die Verfolgung Homosexueller währt schon lange. Bereits 1867 hatte der Jurist Karl Heinrich Ulrichs auf dem Deutschen Juristentag in München die Abschaffung aller gegen die Homosexuellen gerichteten Paragraphen gefordert. Allerdings war er damals durch den lauten Protest der übrigen Juristen daran gehindert worden, seine Rede zu beenden.18

Seit 1897 kämpfte der jüdische Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld mit dem von ihm gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) gegen den Paragraphen 175. Mit Reichstagspetitionen und Aufklärungsschriften fand das WhK zunehmend Gehör.19 Doch auch die konservativen Befürworter der Verfolgung Homosexueller rüsteten auf. Immer wieder reichten sie Gesetzentwürfe ein, die eine erhebliche Verschärfung und Ausweitung der Strafbestimmungen gegen Homosexuelle vorsahen.

In den zwanziger Jahren spitzt sich diese Auseinandersetzung weiter zu. Die neuen demokratischen Freiheiten, insbesondere die Pressefreiheit, sind konservativen Parteien und Sittlichkeitsvereinen ein Dorn im Auge. 1926 erreicht der evangelische Theologe und DNVP-Abgeordnete Reinhard Mumm, dass der Reichstag ein »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« verabschiedet. Seit dem 19. Juni 1928 fällt ein großer Teil der homosexuellen Presse dieser Zensur zum Opfer. Der öffentliche Verkauf der Zeitschriften ist nunmehr verboten, was für einige Publikationen das wirtschaftliche Aus bedeutet.20

Trotz dieser Abwehrkämpfe sind die »wilden Zwanziger« das Jahrzehnt bislang unbekannter Freiheiten. In Kunst und Kultur werden vollkommen |33|neue Stilrichtungen kreiert, Körper und Sexualität von alten Zwängen befreit. Auch an Meuselwitz geht diese Entwicklung nicht spurlos vorüber. Und Rudolf Brazda gehört zu jenen, die die neuen Freiheiten in vollen Zügen auskosten. Vor allem beim Tanzen lässt er sich anstecken von den neuen Trends – sein großes Vorbild ist Josephine Baker. Seit Oktober 1925 tritt die »schwarze Perle«, die nach einem rassistischen Pogrom aus den USA nach Europa emigriert ist, mit erotischen Tänzen in Paris auf. Im Januar 1926 tanzt sie erstmals in Deutschland, im Nelson-Theater am Kurfürstendamm. Noch im selben Jahr macht Josephine Baker mit einem Auftritt im Pariser Varieté Folies Bergère Furore: Im Stück »La Folie du Jour« trägt sie nicht mehr als ein Röckchen aus Bananen. Und die Art, wie sie die Hüften schwingt, hat die Welt noch nicht gesehen. Der Auftritt wird 1927 aufgenommen und in den Film »La revue des revues« geschnitten. Kurz darauf spielt Baker dann die Hauptrolle im Film »La sirène des tropiques«.21 Ihre Filme gehen um die Welt, und irgendwann sind sie auch im Kino »Zur Silbernen Wand« in Meuselwitz zu sehen. Rudolf Brazda ist hin und weg. Für ihn ist Josephine der Inbegriff von Freiheit und Erotik, von sexueller Freizügigkeit und Toleranz.

Das Kinoerlebnis wühlt Rudolf so auf, dass er die ganze folgende Nacht von der Baker träumt. Und am nächsten Morgen ist er wild entschlossen, der berühmten Tänzerin nachzueifern: »Aus dem Bett bin ich aufgesprungen, direkt in die Grätsche. Mit Gewalt habe ich den Spagat gelernt.«22 Seither trainiert er den erotischen Hüfttanz Tag für Tag. Und schon bald präsentiert er seine Künste in den Tanzsälen von Mumsdorf, Zipsendorf und Meuselwitz. Rudolfs Tanz ist so neu und ungewöhnlich, dass ihm die Leute staunend zuschauen und schließlich sogar Beifall klatschen.

Das Tanzen macht Rudolf nicht nur Spaß, es hat auch einen weiteren großen Vorzug: Man kann Kontakte anbahnen. In den großen Tanzsälen wie dem »Weinberg« oder dem »Lindenhof« feiern Jung und Alt, Frauen und Männer wild durcheinander. Anders als heute erregt es kein großes Aufsehen, wenn zwei junge Männer zusammen tanzen: »Ich habe mir die Freiheit genommen und habe auch mit jungen Burschen getanzt. Wenn mir einer gefallen hat, hab ich ihn zum Tanzen aufgefordert. Das war bei uns nicht verboten, Burschen, wenn sie kein Mädel zum Tanzen gefunden haben, haben sie auch miteinander getanzt.«23 Rudolf übernimmt |34|dann den »weiblichen« Part. Und er genießt es: »Ich weiß net warum. Einer hat gesagt, du tanzt wie ein Mädel. Da habe ich mich gut gefühlt, dass er das zu mir gesagt hat.«

Nicht immer bleibt es beim Tanzen: »Manche Mädels haben mich schief angeschaut, weil ich sie nicht gefragt habe, ob ich sie nach Hause begleite, dabei waren meine Gedanken immer nur bei jungen Burschen gewesen. Und wenn es gegangen ist, habe ich mir einen aufgegabelt und habe mit ihm gesprochen, habe gesagt: Komm doch mit zu mir, wir unterhalten uns ein bisschen noch bei mir in der Wohnung, also bei uns zuhause. Meine Mutter hat ja seinerzeit noch gelebt und dann bin ich einfach mit dem Burschen in mein Schlafzimmer gegangen und habe mit ihm zusammen geschlafen.«24

Die Mutter nimmt Rudolf, wie er ist. Ob sie etwas von seiner Veranlagung ahnt, ja, ob sie damals überhaupt genau wusste, was Homosexualität ist, das weiß Rudolf bis heute nicht. Gesprochen wurde über das Thema nie: »Meine Mutter war so tolerant, die hat nie etwas gesagt. Sie hat sich nur gewundert: Immer wieder andere Burschen. Wenn meine Geschwister mal irgendetwas sagten, meinte sie: ›Der Rudi‹, hat meine Mutter dann gesagt, ›der Rudi ist schon richtig, den könnt ihr in Ruhe lassen. Der ist schon intakt.‹«25

Ob Rudolf Brazda damals etwas von der strafrechtlichen Bedrohung seines Liebeslebens weiß, ist nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren, aber eher unwahrscheinlich. Er erfährt davon wohl erst später, als er Anschluss bei Männern findet, die sich selbst als Homosexuelle definieren und über den Paragraphen 175 und mögliche Schutzmaßnahmen gegen eine strafrechtliche Verfolgung Auskunft geben können. Die Bedrohung, die von dem Paragraphen ausgeht, wird in jenen Jahren allerdings oft unterschätzt. Rudolf Brazda erzählt auch heute noch, Homosexualität habe man in den zwanziger Jahren gar nicht verfolgt, den Paragraphen 175 hätte es zwar noch gegeben, er sei aber nicht mehr angewendet worden. Dies entspricht jedoch keineswegs der Realität. Im Gegenteil: Seit 1924 steigen die Verurteilungen homosexueller Männer deutlich an. Hintergrund ist der spektakuläre Prozess gegen den homosexuellen Serienmörder Fritz Haarmann, der den Verfolgungsdruck erheblich erhöht. Hatte es 1923 nur 416 Urteile gegeben, so verdoppelt sich ihre Zahl in den Jahren 1925 und 1926 auf etwa tausend und hält sich auch danach bei über 600 Verurteilungen jährlich.26

|35|Und es droht sogar eine Ausweitung der Verfolgung: 1925 legt die neue konservative Reichsregierung einen Entwurf zur Reform des Strafgesetzbuches vor, der abermals eine Verschärfung des Paragraphen 175 vorsieht. Zur Begründung werden Formulierungen benutzt, die bereits stark nach der Terminologie der Nationalsozialisten klingen. So sei »davon auszugehen, dass der deutschen Auffassung die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft.«27

Magnus Hirschfeld und das WhK gründen nun ein »Kartell zur Reform des Sexualstrafrechts«, das Organisationen wie den »Bund für Mutterschutz« und den »Verband Eherechtsreform« vereint und eine Modernisierung des Sexualstrafrechts anstrebt. Im Jahr 1929 erreicht das Kartell schließlich, dass der Strafrechtsausschuss des Reichstages gegen eine Bestrafung der Homosexualität entscheidet. Ausschlaggebend ist neben den Stimmen von DDP, SPD und KPD die des nationalliberalen Ausschussvorsitzenden Wilhelm Kahl von der Deutschen Volkspartei.28

Die Gegner, vor allem die Nationalsozialisten, schäumen vor Wut. Das NSDAP-Parteiorgan Völkischer Beobachter kommentiert die Entscheidung zynisch: »Wir gratulieren zu diesem Erfolg, Herr Kahl und Herr Hirschfeld. Aber glauben Sie ja nicht, dass wir Deutschen solche Gesetze auch nur einen Tag gelten lassen, wenn wir zur Macht gelangt sein werden.« Hirschfeld ist für die Nazis die Inkarnation aller »boshaften Triebe der Judenseele«.29 Regelmäßig hetzt der Völkische Beobachter gegen die Aufklärungsarbeit des WhK. Schon 1920 war Hirschfeld nach einem Vortrag in München von Rechtsradikalen angegriffen und schwer verletzt worden. Adolf Hitler rechtfertigte den Angriff mit den Worten: »Wäre ich hier in München gewesen, so hätte ich ihm einige Ohrfeigen gegeben, denn das, was dieser Schweinejude feilbietet, bedeutet gemeinste Verhöhnung des Volkes.«30

Der Erfolg im Strafrechtsausschuss bleibt ohne Folgen. Zu einer Abstimmung im Reichstagsplenum kommt es infolge von Wirtschaftskrise und Notverordnungskabinetten nicht mehr. Der alte Paragraph 175 bleibt unverändert bestehen.

|36|1.3 Weltwirtschaftskrise und politische Radikalisierung

Von den Auseinandersetzungen um den Paragraphen bekommt Rudolf damals vermutlich nichts mit. Die Weltwirtschaftskrise trifft jedoch auch ihn. Als er seine Gesellenprüfung 1930 mit einem »genügend« besteht, ist das der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um Arbeit zu finden.31 Im Laufe des Jahres steigt die Zahl der Arbeitslosen auf fünf Millionen, 1929 hatte sie noch bei 1,4 Millionen gelegen. Noch dramatischer ist die Lage in Meuselwitz, wo die Grube Heureka im selben Jahr den Betrieb einstellt. Bis 1932 steigt die Arbeitslosigkeit auf 70,4 Prozent. Eine höchst brisante Situation für eine Stadt, deren Einwohnerzahl sich infolge der Zuwanderung seit der Jahrhundertwende von 5.000 auf rund 11.000 mehr als verdoppelt hat.32 Dachdeckermeister Gustav Menzel kann Rudolf unter diesen Bedingungen nicht übernehmen. Und auch anderswo findet er keine Stelle. Gelegentlich hilft er im Betrieb des Meisters aus. Ansonsten ist Rudolf wieder auf die Unterstützung seiner Mutter angewiesen.

Die politische Radikalisierung infolge der Wirtschaftskrise geht auch an Brossen und Meuselwitz nicht vorbei. Allerdings haben es die Nationalsozialisten in der durch die Bergarbeiter überwiegend proletarisch geprägten |37|Stadt, in der SPD und KPD dominieren, schwer.33 Trotzdem wächst die Anhängerschaft der NSDAP in der Wirtschaftskrise auch hier rapide. Hat die Partei 1929 nur 270 Mitglieder, so steigt ihre Zahl 1930 bereits auf 979. Am 1. Juli 1930 wird in Meuselwitz eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet, die anfangs aber nur zwölf Mitglieder zählt.

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Rudolfs Freunde aus dem kommunistischen Turnverein, rechts mit weißer Krawatte Alfred Kurzig

|37|Bei den Wahlen schneidet die NSDAP immer wesentlich schlechter ab als im Reichsdurchschnitt. Auch bei den letzten freien Reichstagswahlen am 6. November 1932 liegen SPD und KPD weit vor der NSDAP. Und noch bei der Wahl vom 5. März 1933, die nach Reichstagsbrand und Massenverhaftungen bereits nicht mehr wirklich frei ist, bekommen die Nationalsozialisten nur 1.919 Stimmen, die Sozialdemokraten dagegen 2.689 und die Kommunisten 1.344 Stimmen. Meuselwitz bleibt auch nach der Machtübernahme der Nazis eine »rote Hochburg«.34

Nicht viel besser sieht es für die NSDAP im Landkreis Altenburger Land aus, wo sie am 5. März 1933 mit 20.774 Stimmen zwar stärkste Kraft wird, aber nur sehr knapp vor der SPD (20.718 Stimmen) liegt. Die KPD ist auch im Landkreis drittstärkste Kraft und liegt mit 7.427 Stimmen deutlich vor der DNVP (Kampffront Schwarz-weiß-rot), die hier auf 4.374 Stimmen kommt.35

Rudolf erlebt die Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme auf der Seite der Nazi-Gegner, in der kommunistischen Jugend. »Ich war bei einer Jugendorganisation, da bin ich viel mit Jungen zusammen gekommen. Wir haben viele Wanderungen gemacht mit Zelten, in den Zelten ist immer viel los gewesen mit den jungen Burschen, da gab es immer was zu lachen.«36 Schon seit früher Jugend ist Rudolf Mitglied in dem Turnverein: »Ja, das waren Kommunisten, weil bei uns in der Gegend die Braunkohlenwerke und alles Arbeiter waren. Wo Arbeiter sind, sind Kommunisten gewesen. Da war kein anderer Verein, nur der von den Kommunisten. Ich bin da einfach mitgegangen, weil das Sitte war.«

Die kommunistische Ideologie bleibt ihm aber ebenso fremd wie die zunehmende Radikalisierung seiner Kameraden, von denen einige »geradezu fanatisch« gewesen seien – so zumindest seine heutige Sichtweise. Dennoch verbringt er mit den Jungkommunisten viel Zeit. Und das liegt nicht nur an den Freizeitaktivitäten, sondern auch an seiner Zuneigung zu Friedrich. Denn der ist nicht nur bei den Kommunisten aktiv, sondern spielt auch in einer Musikkapelle. Nach einem wilden Abend im Meuselwitzer Tanzlokal »Weinberg« begleitet er Rudolf nach Hause: |38|»Der war ein normaler Kerl und der ist zu mir in die Wohnung gekommen. Hat er sich einfach neben mich ins Bett gelegt. Mir ging es gerade nicht so gut und da haben wir geschmust, ganz normal. Aber in mir haben die einfach was anderes gesehen.«37

1.4 Rudolfs erste Begegnung mit einem Homosexuellen

Rudolfs erotische Abenteuer ändern nichts daran, dass er lange nicht weiß, wie er seine Gefühle einordnen, geschweige denn, wie er sie benennen soll. Der Sozialwissenschaftler Rüdiger Lautmann sagt dazu: »Ich [vermag] mich nicht als homosexuell zu identifizieren, wenn ich nicht mit Worten zu mir sprechen kann, die das bezeichnen, was ich bin.«38 Ob sich Rudolf für seine Gefühle damals dennoch eine Erklärung zurechtlegt, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Noch heute allerdings hat er eine Theorie zur Erklärung der Homosexualität parat, die zu seinem damaligen Verhalten des Geschlechtsrollenwechsels passt und die ihm möglicherweise schon in den Jahren der Pubertät, als er den Begriff »Homosexualität« noch nicht kannte, zur Selbstbeschreibung diente. Diese Theorie orientiert sich an den traditionellen Geschlechterrollen von Mann und Frau. Seine Zuneigung zu Männern deutet Rudolf als eine von vielen weiblichen Eigenschaften, die ihm angeboren seien. Ähnlich wie Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld spricht Rudolf auch von einem weiblichen Wesen im männlichen Körper.39

Es ist unverkennbar, dass Rudolf Brazda im Laufe seiner Jugend zahlreiche traditionell als »weiblich« betrachtete Verhaltensweisen adaptiert.40 Handelt es sich bei den weiblichen Seiten aber tatsächlich um angeborene Eigenschaften? Oder sind sie eher als eine soziale Anpassungsleistung an das bipolare Geschlechterrollensystem zu interpretieren, in dem Homosexuellen kein eindeutiger Platz zugewiesen ist? Brazdas heutige Selbstwahrnehmung und -interpretation erinnert deutlich an Magnus Hirschfelds in den 20er Jahren populäre Theorie der »sexuellen Zwischenstufen«, aber zum Beispiel auch an die in den 70er Jahren entwickelte Theorie des Rattenforschers Günter Dörner, derzufolge Homosexualität eine Folge stressbedingter hormoneller Veränderungen während der Schwangerschaft sei:41 »Wie ich gelesen habe, passiert das schon im Mutterleib […] wie das mit der Homosexualität geht, dass sich die Sexualität im Menschen verändert und sich die weiblichen Hormone mehr bestimmen als die männlichen Hormone.«42 Brazda sagt in der Rückschau aber auch etwas, was die damalige Hilflosigkeit, sich im heterosexuellen Kontext zu verorten, deutlich macht: »Wir waren so jung und so flatterhaft und hatten richtig das Gefühl, als ob wir Frauen wären. Wie können wir Männer sein, wenn wir Männer lieben?«43

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Rudolf Brazda als junger Mann

Ein Mann zu sein, obwohl man Männer liebt, war in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts tatsächlich für viele Homosexuelle unvorstellbar. Beispielhaft sei hier ein anderer biographischer Bericht zitiert, von einem Homosexuellen, der ein Jahr älter war als Rudolf |40|Brazda und in derselben Region aufwuchs: »An mir habe ich festgestellt, dass ich vollkommen ›Frau‹ bin. Nur mit dem Unterschied, dass ich äußerlich als Mann entwickelt bin. Ich fühle, denke und handle wie eine Frau. […] Das äußere männliche Wesen ist unecht an mir. Man kann fast bei jedem homosxl. beobachten, dass das Weibische immer in irgend einer Form vorhanden ist.«44

Rudolfs Geschlechtsrollenwechsel, sein »Cross-Dressing«, lässt sich in jedem Fall als eine Verhaltensstrategie interpretieren, das Bedürfnis nach erotischen Kontakten zu Männern in den heterosexuell normierten Rahmen seines sozialen Umfeldes einzupassen, bevor sich dazu andere soziale Verhaltensstrategien und Deutungsmuster darboten. Der Wechsel in die weibliche Rolle könnte einem »angeborenen« Bedürfnis entsprungen sein, wenn man solchen Theorien denn Glauben schenken mag.45 Er hatte aber auch instrumentellen Charakter und kann deswegen nicht gleichgesetzt werden mit einer Identifikation mit dem weiblichen Geschlecht, wie sie etwa bei Transsexuellen gegeben ist.46

Rudolf wurde in einem Umfeld sozialisiert, in dem das moderne, im 19. Jahrhundert entstandene Konzept der homosexuellen Identität noch weitgehend unbekannt war. Vielleicht erklärt sich so, dass sein Verhalten zunächst eher an den aus vielen Kulturkreisen bekannten »intersexuellen Typus« des Homosexuellen erinnerte. Nach seinem Coming out orientierte er sich dann zunehmend am »modernen Typus«.47 Was freilich nicht heißt, dass die Herausforderung der Verortung im bipolaren System der Geschlechterrollen nicht auch für den »modernen Homosexuellen« von Bedeutung war und für Rudolf eine wichtige Frage seines Selbstverständnisses blieb.

Den Begriff Homosexualität lernt Rudolf schließlich bei einem Ausflug in die 16 Kilometer entfernt liegende Stadt Altenburg kennen. Er ist mit dem Nachbarsjungen Alfred Kurzig unterwegs, die beiden wollen tanzen gehen. Altenburg erscheint ihnen damals wie eine Metropole, mit seinen 43.000 Einwohner hat es wesentlich mehr zu bieten als Brossen oder Meuselwitz. Rudolf und Alfred landen schließlich in einer Gaststätte unterhalb des Schlosses, nahe dem Theater. Dort geht es hoch her, es wird viel getrunken und ausgelassen getanzt. Auch Männer tanzen miteinander; das freilich kennt Rudolf schon aus Brossen. Dass ihn einer der Herren ganz dreist umwirbt, ist ihm jedoch neu. Eigentlich gefällt ihm der Mann nicht, zu groß und brutal wirkt er auf ihn. Doch Rudolf ist |41|neugierig geworden und lässt sich überreden, in die gegenüber gelegene Parkanlage am Schlossberg mitzukommen. Im Schutz der Büsche wird sein Verehrer zudringlich. Rudolf wehrt ab. Der Mann ist irritiert. Er will wissen, warum sich Rudolf so ziere, er sei doch auch homosexuell, wie die anderen Männer in der Gaststätte. Was das denn sei, will Rudolf wissen. Na, wenn Männer es mit Männern treiben, erklärt der Mann.

Rudolf ist so perplex, dass er dem Drängen des Unbekannten nachgibt und ihm seine Adresse nennt. Einige Tage später steht dieser vor dem Hof in Brossen. Rudolf spendiert ihm einen Kaffee und lässt sich Geschichten erzählen: über die Altenburger Homosexuellen, über Magnus Hirschfeld und den Bund für Menschenrecht, über Leipzig und Berlin, wo es Bälle und Tanzdielen nur für Herren gäbe. Rudolf weiß nicht, ob er das alles glauben soll. Aber er weiß, dass ihm der grobschlächtige Altenburger nicht gefällt. Als der Kaffee getrunken ist, setzt er ihn vor die Tür.

Anmerkungen

1

Laut Geburtsurkunde wird Rudolf Brazdas Geburt am 1. Juli 1913 im Standesamt des Nachbarortes Wuitz vom Vater Adam angezeigt. Wuitz fiel in den 50er Jahren den Baggern des Tagebaus zum Opfer. Die Geburtsurkunde wird nun beim Standesamt Meuselwitz verwahrt.

2

Adam Brazda wurde vermutlich am 13. November 1874 in Schwihau, Kreis Klattau, heute Švihov (Tschechien) geboren. Die Mutter Anna Erneker kam am 30. März 1878 in Konopist, einem Ortsteil der mittelböhmischen Stadt Beneschau (Benešov) zur Welt. Vgl. Todesurkunden von Adam Brazda und Anna Brazda, geb. Erneker. Standesämter Wuitz und Zipsendorf, jetzt Meuselwitz.

3

Adam Brazdas Militärzeit geht aus einem Dokument über seine Kriegsgefangenschaft in Mimizan Bourg hervor, das im Militärarchiv in Prag überliefert ist. Vgl. Leg. Dok. – A. Brazda. VUA.

4

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 1.

5

Rudolf Brazda erklärt bei seiner Vernehmung am 3. April 1941, sein Vater sei an Grippe gestorben. Akte 4 Kms 5/41, Bd. I, Bl. 34R. SoavP. In den Interviews mit dem Autor nennt er die Folgen der Kriegsgefangenschaft als Todesursache. Auf dem Totenschein beim Standesamt Wuitz, jetzt Meuselwitz, ist keine Todesursache angegeben. Anna Brazda erklärt am 20. Juli 1921 gegenüber dem tschechoslowakischen Konsulat in Berlin, ihr Mann sei an einer Lungenentzündung gestorben. Er habe bereits seit seiner Entlassung vom Militär gehustet. Vgl. Leg. Dok. – A. Brazda. VUA.

6

|42|1921 erhält Anna Brazda eine finanzielle Entschädigung durch den tschechoslowakischen Staat, weil ihr Mann an den Folgen von Kriegsgefangenschaft und Militärdienst starb. Vgl. Leg. Dok. – A. Brazda. VUA.

7

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 3.

8

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 4.

9

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 38.

10

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 6.

11

Eine Erinnerung an ein Erlebnis im Alter von zwei Jahren ist sehr unwahrscheinlich. Vermutlich war Rudolf älter, oder aber seine Mutter hat ihm von dem Ereignis später erzählt.

12

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 3.

13

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 4.

14

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 4–5.

15

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 5–6.

16

Baumgardt: Das Institut. S.  40. Sowie: Stümke/Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen. S. 28.

17

Vgl. Herzer: Deutsches Schwulenstrafrecht. S. 36–40.

18

Karl Heinrich Ulrichs, geb. am 28. August 1825 in Westerfeld (Ostfriesland), veröffentlichte seit 1864 insgesamt 12 Schriften über das »Räthsel der mannmännlichen Liebe«. Mit seiner Idee einer »urnischen Ehe« nahm er eine essentielle Forderung der lesbisch-schwulen Bürgerrechtsbewegung vorweg. Erbittert und resigniert über seine Erfolglosigkeit, vor allem aber wegen der immer mehr um sich greifenden Homosexuellenverfolgung infolge der Einführung des Paragraphen 175, ging Ulrichs 1880 ins Exil nach Italien, wo er am 14. Juli 1895 starb. Vgl. Ulrichs: Forschungen. Zu Ulrichs Auftritt auf dem Juristentag siehe insbesondere Band VI: Gladius furens.

19

Magnus Hirschfeld, geb. am 14. Mai 1868 in Kolberg (Pommern), schloss 1892 sein Medizinstudium ab. Aufgerüttelt durch den Strafprozess gegen den homosexuellen Schriftsteller Oscar Wilde begann er 1895 mit der Erforschung der Homosexualität. 1896 erschien sein erstes Buch zum Thema, die Kampfschrift Sappho und Sokrates. Das WhK gründete Hirschfeld am 15. Mai 1897 gemeinsam mit dem Juristen Eduard Oberg, dem Verleger Max Spohr und dem Schriftsteller Franz Josef von Bülow in seiner Berliner Wohnung. Vgl. Hirschfeld: Von einst bis jetzt. S. 47 f.

20

Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18. Dezember 1926. R.G.Bl. 1926. I. S. 505. Am 19. Juni 1928 wird »ein großer Teil der homosexuellen Zeitschriften« auf die amtliche »Liste der Schmutz- und Schundschriften« gesetzt. Vgl. Stümke: Homosexuelle. S.  68. Sowie: Mühl-Benninghaus: Reinhard Mumm.

21

Vgl. Baker/Sauvage: Ich tue, was mir paßt.

22

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 25.

23

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 7.

24

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 8.

25

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 6.

26

Hoffschildt: 140.000 Verurteilungen. S. 149. Vgl. Tabelle 1 im Anhang.

27

RT III/1924 Drucks. Nr. 3390. Zitiert nach Stümke: Homosexuelle. S. 65 f.

28

|43|Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. S. 207.

29

Die Koalition zum Schutze der Päderastie. Völkischer Beobachter (Bayernausgabe), 43. Jg., 182, vom 2. August 1930. S. 1.

30

Jäckel/Kuhn: Adolf Hitler. S. 248. Zitiert nach Herzer: Hirschfeld. S. 22.

31

Seinen Gesellenbrief versteckt Rudolf später bei einem Verwandten in Brossen auf dem Dachboden. Das alte Haus steht noch, möglicherweise liegt auch der Gesellenbrief noch dort.

32

Vgl. Strassmann: Altenburg. S. 36. Sowie: Nabert: Aus der Geschichte. S. 44.

33

So erhielten die Arbeiterparteien bei den Gemeindewahlen 1925 eine satte Mehrheit: Die SPD bekam 2.389 Stimmen und 6 Sitze, die KPD 1.061 und 4 Sitze, DDP und Zentrum 576 Stimmen (2 Sitze) und die bürgerliche Einheitsliste 1.775 Stimmen (6 Sitze). Vgl. Strassmann: Altenburg. S. 36.

34

Vgl. Strassmann: Altenburg. S. 37. Sowie: Nabert: Aus der Geschichte. S. 45.

35

Vgl. Rademacher: Verwaltungsgeschichte. http://www.verwaltungsgeschichte.de/​altenburg.html

36

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 8.

37

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 26.

38

Lautmann: Der Homosexuelle. S. 120.

39

Ulrichs definiert Homosexuelle bereits in seiner Schrift Vindex 1864 »als ein eigenes Geschlecht, […] als drittes Geschlecht«. In Inclusa schreibt er, bei den männlichen Homosexuellen habe die Natur »körperlich den männlichen Keim« entwickelt, »geistig aber den weiblichen«. Ulrichs: Forschungen. Bd. I, S. 5 und Bd. II, S. 12. Hirschfeld übernimmt den Begriff des »dritten Geschlechts«, unter dem er aber viele »sexuelle Zwischenstufen« fasst. Vgl. unter anderem Hirschfeld: Homosexualität. S. 148–178 und 264–294.

40

Darin unterscheidet sich Brazdas Sozialisation nicht von der zahlreicher anderer, später homosexueller Männer. Thomas Grossmann hat gezeigt, dass viele »prähomosexuelle« Jungen sich als Kind »nicht rollenkonform« verhalten und zum Beispiel geschlechtsneutrale Aktivitäten oder »Mädchenspiele« bevorzugen, häufig auch mit Mädchen oder allein spielen und »weibliche Anteile« bei sich vermuten. Dem steht eine Gruppe prähomosexueller Jungen gegenüber, die ein ausgesprochen rollenkonformes Verhalten an den Tag legt. Bei den nicht rollenkonformen, »weichen« Jungen verringert sich das Interesse für ›mädchentypische‹ Tätigkeiten meist im Laufe der Jugend, ihre Geschlechtsidentität wird deutlicher ›männlich‹. Vgl. Grossmann: Prähomosexuelle Kindheiten. S. 296–303.

41

Der Ost-Berliner Mediziner Günter Dörner experimentierte mit Hormonpräparaten, die er Ratten verabreichte, um ihre sexuelle Orientierung zu beeinflussen. Damit setzte er sich in eine äußerst zweifelhafte Tradition. So hatte der dänische SS-Arzt Carl Værnet in den 40er Jahren im Konzentrationslager Buchenwald Menschenversuche mit künstlichen männlichen Hormondrüsen durchgeführt, die er homosexuellen KZ-Häftlingen einsetzte, um sie zur Heterosexualität umzupolen (vgl. Kapitel 6.6). Zu Dörners Forschung vgl. Dörner: Hormonabhängige Gehirnentwicklung.

42

Zinn: Brazda 5. Dezember 2008. S. 3.

43

Zinn: Brazda 4. Dezember 2008. S. 22.

44

|44|Bericht Erich Karl Rauschenbachs vom 13. April 1937. Akte Rauschenbach, 1 Js 72/37, ThStAA.

45

Die Frage einer möglichen Angeborenheit der Homosexualität ist bis heute unbeantwortet und allein die Fragestellung erscheint problematisch. Denn der Versuch einer Erklärung der Homosexualität birgt fast immer den Wunsch nach ihrer »Therapie« und hat in der Vergangenheit häufig zur Verfolgung Homosexueller beigetragen. Rüdiger Lautmann hat deswegen schon 1977 ein Moratorium gefordert, »um in Selbstdisziplinierung einen Akt wissenschaftlicher Reinigung zu vollziehen: Die Erforschung der Ursachen der Homosexualität könnte für eine gewisse Zeit ausgesetzt werden, um die ständige Intervention der Wissenschaft zu Lasten der gesellschaftlichen Situation der Homosexuellen zu beenden.« Lautmann: Seminar. S. 140.

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