Das Glück riecht nach Sommer - Meike Werkmeister - E-Book
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Das Glück riecht nach Sommer E-Book

Meike Werkmeister

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Beschreibung

Für das große Glück ist Platz in der kleinsten Laube ...

Die große weite Welt muss es für die Ärztin Ina gar nicht sein. Nach dem Studium zog sie zurück in ihre alte Heimat an der Küste – zurück zu einem Mann, von dem sie dachte, er wäre ihre Zukunft. Doch der Mann ist längst Vergangenheit, und die Stelle im Husumer Krankenhaus ist Ina auch los. Kurzerhand folgt sie einem Jugendtraum und zieht nach Hamburg, wo sie in einer kleinen Laube am Alsterfleet unterschlüpft. Während sich das verwilderte Gartenstück unter ihren Händen in ein Blütenmeer verwandelt, blüht auch Ina wieder auf. Und sie erkennt: Nur, wenn sie auf ihr Herz hört, kann aus alten Träumen etwas ganz Neues entstehen ...

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Seitenzahl: 512

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Buch

Die große weite Welt muss es für die Ärztin Ina gar nicht sein. Nach dem Studium zog sie zurück in ihre alte Heimat an der Küste – zurück zu einem Mann, von dem sie dachte, er wäre ihre Zukunft. Doch der Mann ist längst Vergangenheit, und die Stelle im Husumer Krankenhaus ist Ina auch los. Kurzerhand folgt sie einem Jugendtraum und zieht nach Hamburg, wo sie in einer kleinen Laube am Alsterfleet unterschlüpft. Während sich das verwilderte Gartenstück unter ihren Händen in ein Blütenmeer verwandelt, blüht auch Ina wieder auf. Und sie erkennt: Nur wenn sie auf ihr Herz hört, kann aus alten Träumen etwas ganz Neues entstehen …

Autorin

Meike Werkmeister ist Buchautorin und Journalistin. Ihre Romane stehen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Wann immer sie Zeit hat, fährt sie an die Nordsee, wo sie oft auch die Ideen für ihre Geschichten findet.

Weitere Informationen unter www.meikewerkmeister.de

Meike Werkmeister

_____________________________

Das Glück riecht nach Sommer

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Liedzeilen aus »Meine Stadt« der Münchener Sängerin und Songschreiberin Julia Kautz werden mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin abgedruckt. Alle Infos zu Julia Kautz sowie ihre Musik findet man unter: www.juliakautz.com

Originalausgabe April 2022

Copyright © 2022 by Meike Werkmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Karte und Anhang: FinePic®, München

Autorenfoto: Ulrike Schacht

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

An · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28644-6V002

www.goldmann-verlag.de

Egal wo ich auch hingeh, ich bin immer noch ein Teil von dir und du von mir

Julia Kautz

1

»Hier bin ich.« Filiz’ Stimme hallte durchs angenehm kühle Treppenhaus. »Du musst nach ganz oben.«

Es fiel kaum Licht auf die ausgetretenen Holzstufen. Wer die wohl schon alles erklommen hatte in den bestimmt hundert Jahren, die das Haus alt war? Ich sah mich nach einem Aufzug um und musste über mich selbst lachen. Natürlich hatte ein so altes Haus keinen Aufzug, es sei denn, es war luxussaniert worden, doch so wirkte es nicht. Immerhin fand ich den leicht klebrigen Lichtschalter. Eine Neonröhre sprang flackernd an und beleuchtete eine Nische voller Kinderwagen und Laufräder unter dem Treppenaufgang. Na, dann los, dachte ich und zerrte den schweren Koffer Stufe für Stufe nach oben, wobei er mir bei jedem Schritt schmerzhaft gegen den Unterschenkel stieß.

»Brauchst du Hilfe beim Tragen?«, hörte ich Filiz, die weit weg klang.

»Geht schon«, rief ich schnaufend durch den länglichen Lichtspalt zwischen den lackierten Holzgeländern nach oben. Beim Hinaufsteigen entdeckte ich überall Sachen, für die mein Vater schnell seinen Akkuschrauber geholt hätte. In jeder Zwischenetage hingen schiefe Bilderrahmen mit Aquarellzeichnungen an wackeligen Nägeln. Ein gekipptes Fenster hatte einen kaputten Griff. Neben einem Schuhregal lehnten die ausgehängten Türen. Was man beim Anblick eines Treppenhauses alles über seine Nachbarn lernen konnte! Vor einer Tür stand ein Eimer mit Bioabfällen, eine Kartoffelschale war auf die Fußmatte gefallen. Aus der Wohnung gegenüber drang leise orientalische Musik. Räucherstäbchenaroma lag in der Luft. Ich erinnerte mich daran, dass Filiz neulich am Telefon geschwärmt hatte, in ihrem Mietshaus wohne eine so interessante Mischung: ältere Leute, die schon in diesem Viertel geboren wurden, junge Familien aus verschiedenen Kulturen und Studenten, die oft nur ein paar Monate blieben, bis sie in eine andere WG weiterzogen.

Im nächsten Stock lehnte eine kleine Puppe an einer Tür. Auf ihren Bauch hatte jemand ein Post-it geklebt. »Lag im Hof. Fines?«, stand etwas krakelig darauf geschrieben.

Gerade als ich mich fragte, wie viele Stockwerke dieses Haus eigentlich besaß, tauchte über mir am Geländer der dunkle Lockenkopf meiner Freundin im Gegenlicht auf. »Ina!« Sie stieß einen kleinen Jubelschrei aus, und ich beschleunigte meine Schritte, hastete mit letzter Kraft die übrigen Stufen hoch und ließ den Koffer auf den Boden plumpsen. »Meine Ina!« Filiz drückte mich fest an ihren sehnigen Körper. Hinter ihr sah ich die offen stehende Wohnungstür, vor der ein Haufen Stiefeletten, Sneakers und Sandalen lag. »Ich freue mich so, dass du da bist!«

»Ich mich auch«, brachte ich keuchend hervor. Ich sollte wirklich anfangen, Sport zu machen.

Filiz löste sich von mir und strahlte mich an. »Komm rein, Süße!«

Von drinnen drangen Stimmen zu uns heraus. Schon im Türrahmen roch ich, dass Zwiebeln angebraten wurden. Filiz schob mich vor sich her durch einen düsteren Flur, der voller Jacken hing und in dem sich weitere Schuhe türmten.

»Hat alles gut geklappt mit der Bahn?« Sie nahm mir meinen Koffer ab und ließ ihn hinter einer Tür verschwinden. Dann lief sie mir voran an zwei weiteren Türen vorbei, von denen eine geöffnet war und den Blick auf eine Matratze am Boden und einige Staffeleien mit Leinwänden freigab.

»Ja, hat alles gut geklappt, top Wegbeschreibung.«

Der Flur mündete zu meiner Überraschung in einen großen, lichtdurchfluteten Raum.

»Willkommen in unserem Reich«, Filiz breitete die Arme aus und führte ein kleines Tänzchen auf. Ihr ausgestellter Rock flog dabei in die Luft. Ich musste die Augen zusammenkneifen, so hell war es hier drin. Erstaunt sah ich mich um. Der Raum war größer als meine gesamte letzte Wohnung. Der Boden war aus Sichtbeton gegossen, der hier und da so aussah, als hätte er schon einige Partys erlebt. Er hatte zu zwei Seiten bodentiefe Fenster, hinter denen die Dächer der Stadt zu sehen waren. Offenbar war dies eine Art nachträglich ausgebauter Dachboden. Also doch ein wenig Luxussanierung. Verständlich, in dieser Lage in Hamburg versuchten die Vermieter vermutlich, so viel wie möglich aus jedem bewohnbaren Quadratmeter herauszuholen.

In einer Ecke gab es eine Sofalandschaft aus verschiedenen Couches und Sesseln, die überhaupt nicht zueinander passten. In der Mitte des Raumes lag eine lange Tischplatte auf zwei Metallböcken. Davor standen ebenfalls offensichtlich zufällig zusammengewürfelte Stühle. In der schlichten weißen Küchenzeile waren jede Menge verschiedene Teller, Tassen und Schalen in offene Wandregale sortiert. An der aus Beton gegossenen Arbeitsplatte schnitt eine kurvige Frau mit blond gesträhnter Turmfrisur etwas auf einem Brettchen. Neben ihr lehnte eine große Kurzhaarige in einem zeltartigen asymmetrischen Kleid und redete auf sie ein. Als sie uns bemerkte, verstummte sie und wandte uns das schmale, ungeschminkte Gesicht zu.

»Girls, wir haben Besuch«, sagte Filiz und schob mich vor sich her auf die beiden zu.

Die Kurzhaarige kam auf uns zu und hielt mir mit schmalem Lächeln ihre schlaffe Hand hin.

»Das ist Esther«, plapperte Filiz munter weiter, »sie wohnt im Zimmer am Ende des Flurs und schreibt gerade ihre Doktorarbeit zum Thema ›Emanzipation im Wandel der Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts‹.«

Esther winkte mit einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz ab. Dann musterte sie mich. »Und wer bist du?«

»Das ist meine berühmte Studienfreundin Ina«, antwortete Filiz, ehe ich es konnte.

Die kleinere Frau kam einen Schritt näher und lächelte mich offen an. Alles an ihr wirkte irgendwie geschwungen, die langen Strähnen, die sich aus ihrer Turmfrisur um ihr pausbäckiges Gesicht kringelten, der Schmollmund, die mit viel Wimperntusche betonten Augen.

»Ich bin Vicky, freut mich.« Sie widmete sich wieder den Lauchzwiebeln auf ihrem Brettchen. »Fühl dich wie zu Hause!«

Neben ihr blubberte etwas in einem großen Topf. Hinter dem Brettchen stand eine riesige Butterbrotdose Hummus neben einer Papiertüte voller ovaler Fladenbrote. Bestimmt hatte Filiz’ Mutter Ayda ihr die Sachen für mich mitgegeben. Sie war mein Fan, seit ich bei meinem ersten Besuch bei Filiz’ Familie vor vielen Jahren durch meinen gesunden Appetit aufgefallen war. Wie lieb von Filiz, dass sie mir eine Art Willkommensdinner organisiert hatte, dachte ich, als es klingelte.

»Ich geh schnell.« Filiz verschwand in Richtung Tür.

Etwas verloren stand ich neben Vicky und Esther, die weiterkochten und dabei, so viel glaubte ich zu verstehen, über die Textnachrichten eines Mannes diskutierten. Filiz hatte mir schon am Telefon von ihren beiden Mitbewohnerinnen erzählt, mit denen sie seit ein paar Monaten in dieser Wohngemeinschaft lebte. Beide waren offenbar ein paar Jahre jünger als wir und – wie Filiz es genannt hatte – etwas »speziell«. Esther war offensichtlich die ein wenig verspannte Juristin mit dem Putzfimmel, mit der sie nächtelang über Sinn und Unsinn gendergerechter Sprache diskutieren konnte. Vicky musste folglich die chaotische Malerin sein, die mit ihrem Freund eine offene Beziehung führte, weswegen es regelmäßig zu melodramatischen Szenen kam. Als sie die gehackten Lauchzwiebeln in eine Pfanne kippte, bemerkte ich die Farbe unter ihren kurzen Fingernägeln. War das ein Nachthemd, das sie da trug?

»Kann ich euch irgendwie helfen?«, traute ich mich dazwischenzuquatschen, als Vicky gerade darüber sinnierte, wie ein Kuss-Emoji in einem bestimmten Kontext zu interpretieren sei. Esther überlegte kurz und zeigte dann auf einen großen Einkaufskorb, der an einer Wand lehnte. »Da sind Knabbersachen, magst du die in Schalen verteilen? Nimm dir einfach welche aus dem Regal.« Ihrem Tonfall konnte ich entnehmen, dass sie es gewohnt war, anderen Anweisungen zu geben.

Ich hob einen Stapel bunte Schüsseln vom Regalbrett und stellte sie nebeneinander auf die lange Tafel. Als ich die ersten Chipstüten aus der Einkaufstasche zog und mich langsam wunderte, wer heute noch alles zu uns stoßen würde, kam Filiz mit zwei Frauen in Hippie-Rüschenkleidern und zwei Männern in Jeans und weißen Turnschuhen zurück. Sie wurden überschwänglich von Esther und Vicky begrüßt, die alle vier auf den Mund küsste. Ich wurde beiläufig vorgestellt, dann begannen die anderen, Gläser aus einem Küchenschrank zu nehmen und mitgebrachte Miniwraps auf Tabletts anzurichten.

Filiz holte zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank und reichte mir eine. »Tut mir leid, morgen haben wir mehr Ruhe.«

»Du?«, raunte ich ihr zu, während Meersalz-Ofenchips aus der Tüte in meiner Hand knisternd in eine der Schalen fielen. »Wer sind die alle?«

»Ach«, Filiz wuschelte sich durch die Locken. »Die sind wegen der Party hier und helfen bei den Vorbereitungen.«

»Party?«

Sie zwirbelte eine wilde Strähne von ihrer Stirn. »Hab ich dir doch erzählt.«

Noch ehe ich widersprechen konnte, klingelte es, und wieder entwischte meine Freundin mir.

Als ich alle Snacks auf sämtlichen Tischen im Raum verteilt hatte, waren bereits an die dreißig Leute anwesend. Ich stand etwas ratlos am Rand und sah ihnen zu, wie sie kichernd miteinander anstießen und Eiswürfel aus dem amerikanischen Kühlschrank in Salatschüsseln und Eimern in Richtung Badewanne trugen. Vicky war nun offenbar mit Kochen fertig, verschwand in ihrem Zimmer und kam in einem knappen Overall und mit schimmerndem Lipgloss zurück. Esther zupfte an Vickys Hosensaum, als sei sie ihre Mutter und nicht einverstanden, dass er im oberen Drittel ihrer braungebrannten Oberschenkel endete.

Von irgendwoher kam Filiz herbeigestürmt. Sie hatte ihren Rock gegen eins ihrer umgenähten Vintage-Kleider getauscht und etwas Rouge aufgelegt. »Willst du dich auch noch frisch machen? Das Bad ist am Ende des Ganges, dein Koffer steht in meinem Zimmer, ist die dritte Tür mit dem Girl-Power-Sticker drauf.«

Ich sah an meinem Jersey-Jumpsuit hinunter, den ich den ganzen Tag getragen hatte und der in Husum als modern durchging. Hier sah man mir bestimmt auf den ersten Blick an, dass ich vom Land kam. Ich nickte und machte mich auf den Weg. Als ich Filiz’ Zimmer fand, war ich erstaunt, wie klein es war im Vergleich zum riesigen Wohnzimmer. Und wie leer. Im Haus ihrer Eltern auf der anderen Elbseite hatte man sich in ihrem Reich kaum umdrehen können vor lauter Secondhandklamotten, Stoffballen und Garnrollen. In ihrem WG-Zimmer war nichts außer einem Baumarktregal mit ein paar Büchern, Aktenordnern und Klamottenstapeln. Daneben standen lediglich noch eine Kleiderstange und ein französisches Bett, auf dem bereits ein Berg Jacken der anderen Gäste lag. Würde ich hier übernachten, wenn der Berg kleiner wurde, fragte ich mich, oder gab es ein Gästezimmer? Schließlich hatte Filiz am Telefon gesagt, sie hätte jetzt viel Platz und ich könnte erst mal bei ihr unterkommen. Ich öffnete meinen Koffer in einer Ecke neben einem Korb mit Taschen, fischte eines der weiten Männerhemden heraus, die ich gern mit viel Kajal und Doc Martens kombinierte. Boyfriend-Style trug ich schon seit fast zwanzig Jahren, glücklicherweise war er gerade wieder angesagt, weshalb ich hier hoffentlich nicht negativ auffallen würde.

Das Bad war mit flaschengrünen Mosaiksteinchen gefliest und stand voller Tuben und Cremedosen. Ich blickte in den von Retro-Glühbirnen umrandeten Spiegel auf meine sommersprossige Nase, die fast durchsichtige Haut an den Augenlidern, unter denen sich Krümel von Wimperntusche gesammelt hatten, mein kupferrotes Haar, das über meine blassen Schultern fiel. Wie immer, wenn ich aufgeregt war, zierten meinen Hals rötliche Flecken. Wie war ich nur in diese Situation geraten? Da macht man sich auf den Weg zu einer Freundin, die man viel zu lange nicht gesehen und der man einiges zu erzählen hat – und findet sich dann auf einer Hausparty voller Fremder wieder.

Mein Handy summte in meiner Tasche. Eine Nachricht von meiner Freundin Toni.

Bist du gut in Hamburg angekommen? Können wir noch mal über meine Idee sprechen? Pablo hat nach dir gefragt.

Ich steckte das Telefon wieder weg. Über die Antwort musste ich noch nachdenken.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, waren weitere Gäste angekommen. Ich stellte mich dazwischen und musterte sie unauffällig. Die anderen wirkten durchweg modebewusst und irgendwie großstädtisch auf mich. Sicher alles Werber und Medienleute und Künstler und Craftbeer-Brauer und Specialty-Coffeeshop-Besitzer. Sicher alles Leute, die viel zu erzählen hatten. Ich wollte nur einer hier etwas erzählen, und die fand ich gerade nicht.

Ein Luftzug wehte mir ins Gesicht, und mir fiel auf, dass eins der bodentiefen Fenster beiseitegeschoben worden war und sich zu einer Dachterrasse öffnete, die ich bisher gar nicht bemerkt hatte. Ich folgte dem Luftzug nach draußen, wo sich weitere Gäste auf geflochtenen Loungesesseln niedergelassen hatten. Erleichtert sog ich die milde Abendluft ein. Verständlich, warum Filiz so von dieser Wohnung geschwärmt hatte. Sie war nicht nur alles andere als das, was ich mir unter einer WG vorgestellt hatte, sie hatte noch dazu diese Dachterrasse, die größer war als manches Apartment. Lichterketten baumelten von der Regenrinne, Windlichter flackerten vor Bambusmatten, mit denen das Geländer verkleidet war, an das ich mich lehnte. Dahinter erstreckten sich weitere Dächer, so viele, dass mir bei ihrem Anblick ganz schwindelig wurde. Manche von ihnen waren höher als unseres, manche niedriger, manche hatten Dachluken und Schornsteine, andere begrünte Dachterrassen, auf denen ich winzig klein andere Menschen erkennen konnte.

Ich spürte, wie jemand seinen Ellenbogen gegen meinen drückte, und drehte mich um. Filiz grinste mich an. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen glitzerten vergnügt. »Kein übler Ausblick, oder?«

»Allerdings.« Ich hakte mich bei ihr unter, damit sie mir nicht sofort wieder entkam.

Sie beugte sich mit mir übers Geländer. »Deine neue Heimat, Süße. Gewöhn dich schon mal dran.«

»Ich kann es noch nicht ganz glauben.«

Sie lehnte ihre Schulter gegen meine. »Morgen zeige ich dir das ganze Viertel und meinen neuen Nähraum, ich bin so froh, dass ich endlich was Passendes gefunden habe.« Sie sprach derart schnell, dass ihre Stimme sich fast überschlug.

»Ich bin schon sehr gespannt.« Ich sah sie von der Seite an, ihre geschwungene Nase, den dichten dunklen Wimpernkranz, das wilde Haar. Sie sah im Grunde immer noch aus wie das neunzehnjährige Mädchen, das sich im Audimax der Uni Kiel bei der Erstsemesterbegrüßung neben mich gesetzt hatte. Vom ersten Moment an hatte sie mich fasziniert. Weil sie so anders war als ich, weil sie aus der Großstadt kam und nicht wie ich vom Land. Weil ihre Eltern mit ihren Feinkost-Foodtrucks in ganz Hamburg bekannt waren, was mir als Kind von Landwirten wahnsinnig modern erschien. Weil ich bei uns zu Hause in Nordfriesland mit meinen übergroßen Sweatshirts und Chucks als cool galt – und Filiz es wirklich war. Lustigerweise sah sie offenbar auch etwas in mir. Denn vom ersten Tag an wich sie mir nicht mehr von der Seite, begleitete mich zu jeder Vorlesung, jedem Mensaessen, jeder Semesterparty. Je besser ich Filiz kennenlernte, desto klarer wurde mir, dass wir doch einiges gemeinsam hatten. Dass wir beide auf der Suche waren nach etwas Eigenem, das nur uns gehörte. Wir wollten nicht nur studieren und irgendeinen Job, mit dem wir die Miete bestreiten konnten. Wir suchten nach etwas, das uns glücklich machte, das unsere Bestimmung war. Und das unsere Eltern stolz machen würde. Und obwohl ich nach unserem gemeinsamen Studium in Kiel zumindest vierzig Kilometer weg von zu Hause nach Husum gezogen war, hatte Filiz bis vor Kurzem in ihrem alten Kinderzimmer im Einfamilienhaus der Familie gewohnt, weil es so praktisch und so günstig war – und weil sie die wahrscheinlich lässigsten Eltern der Welt hatte. Wenn ich sie mir jetzt so ansah, wie sie neben mir auf die Dächer schaute, frei und erwachsen und selbstsicher in dieser neuen Umgebung, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Sie hatte den Absprung also tatsächlich geschafft. Und ich nahm gerade erst Anlauf.

Sie bemerkte meinen Blick und stupste wieder mit ihrem Ellenbogen gegen meinen. »Ich hoffe, du bist nicht überfordert von dem Trubel hier.«

»Ach.« Ich verzog das Gesicht, und sie kicherte.

Sie kannte mich gut. Sie wusste, wie ich mich fühlte. Entschuldigend zuckte sie mit den Achseln. »Es wird lustiger, je mehr Leute du hier kennst, glaub mir. Das ist einer der Vorteile, wenn man zwei crazy Mitbewohnerinnen hat. Eine hat immer einen Grund zu feiern, und wenn es nur ihr dreimonatiges Jubiläum veganer Ernährung ist.«

Und dann kam auch schon der nächste Gast von hinten, der Filiz um die Taille fasste und sie mir entriss. Ehe ich michs versah, war ich wieder allein. Allein unter mittlerweile ziemlich vielen Partygästen.

In den Räumen der Loftwohnung drängten sich gegen einundzwanzig Uhr unzählige Leute. Sie standen in Grüppchen beieinander und stießen mit fancy Drinks an, entspannten auf einem der vielen Sofas und warfen sich die Reste der Chips in den Mund, die ich vor einigen Stunden verteilt hatte. Im Flur reichten die Glücklichen, die es endlich an den Anfang der Toilettenschlange geschafft hatten, Flaschen aus der Wanne voller Eiswasser. Ich fragte mich, wie die Nachbarn das wohl so fanden, vor allem die mit den kleinen Kindern, deren Sachen ich im Treppenhaus gesehen hatte. Die Antwort erhielt ich, als Filiz mir ein junges Pärchen in Filzpantoffeln vorstellte, das sich abwechselnd ein Babyphone ans Ohr presste: Sie feierten mit. Überhaupt stellte Filiz mich so einigen vor, von denen ich mir keinen Namen merkte. Mehrmals stand ich bei Gesprächsrunden dabei und versuchte, irgendetwas Interessantes beizutragen. Nach den ersten zwei Flaschen Bier war ich zum Glück deutlich entspannter. Hatte mir nicht genau das in Husum gefehlt? Ein bisschen Abwechslung vom Klinikalltag, feiern, neue Leute treffen, nicht die ewig gleichen, die ich schon seit Jahrzehnten kannte? Hatte ich nicht endlich mal wieder andere Abende erleben wollen als die für mich typischen, die nach Feierabend mit einer halben Tafel Schokolade begannen und damit endeten, dass mir vor Müdigkeit die Fernbedienung aus der Hand rutschte? Immerhin war das hier wirklich etwas ganz anderes, dachte ich und trank noch einen großen Schluck von dem Biermixgetränk, das ich versehentlich erwischt hatte. Dabei musste ich plötzlich ein Gähnen unterdrücken, und ich fragte mich, in welchem der Räume ich wohl schlafen würde. In welcher Besetzung? Und dürfte ich überhaupt jemals ins Bett gehen?

Gegen Mitternacht hatte ich mich gerade aus einer hitzigen Diskussion über die neuesten Streamingserien geschlichen und stand allein am Rand der Dachterrasse. Bei Dunkelheit sahen die Umrisse der Stadt noch malerischer aus als im Hellen. Über allem ragte in der Ferne der Fernsehturm auf. Irgendwo zwischen Turm und uns musste die Außenalster liegen. Ja, hier könnte ich mich zu Hause fühlen, beschloss ich. Hier könnte ich vielleicht tatsächlich neu anfangen. Hier könnte auch ich schaffen, was Filiz bereits gelungen war.

Und dann platzte eine laute Stimme in meine gerade gefundene innere Ruhe. »Gibt es hier einen Arzt?«, hörte ich drinnen einen Mann rufen. Nicht hektisch oder panisch – offenbar kein Notfall auf Leben und Tod. Und trotzdem: »Hallo, gibt es hier einen Arzt?«

Ich kannte diese Situation von zwei Mittelstreckenflügen und einer Zugfahrt. Jedes Mal hatte ich innerlich bis drei gezählt, in der Hoffnung, irgendein breitschultriger Mann würde laut »Hier!« rufen und mit bedeutungsschwerem Gesichtsausdruck zum Ort des Geschehens eilen. Eins, zwei … drei. Heute erlöste mich niemand.

Ich räusperte mich. »Hier«, sagte ich viel zu leise. Dann noch einmal etwas lauter: »Hier, wer braucht ärztliche Hilfe?« Ich lief zur Terrassentür. Ein paar Leute um mich herum wandten mir erwartungsvoll die Gesichter zu. Genau meine Art von Situation. Meine mühsam angetrunkene Partylaune verpuffte wie ein defektes Tischfeuerwerk.

Ich drückte die Schultern zurück, trat ein und sah mich um. Der Mann, der offenbar gerufen hatte, schaute mich an, doch noch bevor er etwas sagen konnte, drängte mich ein schmächtiger Kerl mit Harry-Potter-Brille beiseite und schob die Hemdsärmel nach oben. »Was ist passiert?«, fragte er laut.

»Betty übergibt sich ständig, ich bin nicht sicher, ob das eine Alkoholvergiftung sein könnte«, erklärte der andere Mann. »Ich hab sie in Vickys Zimmer …« Dann verschwamm seine Stimme im Gedränge, das auch meinen jungen Kollegen verschluckte.

Ein Glück, dass ich das nicht übernehmen musste, dachte ich, als ich mit leicht schlechtem Gewissen auf die Dachterrasse zurückkehrte. Was bist du nur für eine miese Ärztin, zischte es mir zu, woraufhin ich versuchte, es mit einem großen Schluck von meinem Biermix zum Schweigen zu bringen. Immerhin hatte offenbar niemand weiter Notiz von der absurden Szene genommen, dachte ich erleichtert und lehnte mich wieder ans Geländer.

»Ina?« Ein Mann tauchte neben mir auf, ein gutes Stück größer als ich, volles dunkles Haar, enge Shirtärmel über definierten Armen, kritisch zusammengekniffene Augen. »Ina Petersen, bist du das wirklich?« Er beugte sich zu mir vor.

Die Lichterkette warf einen Kreisel auf sein kantiges Kinn und die dichten Augenbrauen, die ihm etwas Düsteres verliehen. Er kam mir entfernt bekannt vor.

»Du erkennst mich nicht, oder?« Seine Gesichtszüge entspannten sich, wodurch er noch ein kleines bisschen besser aussah als ohnehin schon. »Sebastian. Basti. Ahrens. Aus Westerhever.«

Überrascht sah ich ihn an. Im gleichen Moment wurde mir bewusst, dass ich bereits deutlich mehr getrunken hatte, als gut für mich war. Plötzlich musste ich so heftig lachen, dass es mich schüttelte. Da rang ich mich endlich dazu durch, nach Hamburg zu ziehen, wie ich es schon so oft insgeheim geplant und dann doch wieder verworfen hatte. Weil ich endlich mal raus wollte aus der Heimat, in der jeder jeden kannte. Und gleich an meinem ersten Abend – der Koffer war noch nicht ausgepackt – begegnete mir jemand aus meiner früheren Parallelklasse.

Sebastian wartete mit unergründlicher Miene, bis ich mich wieder gefangen hatte.

»Entschuldige.« Ich gluckste in meine Handfläche. »Es ist nur so absurd. Ich bin heute erst angekommen. Ich will hier eine Wohnung suchen und stolpere mitten in diese Party, und … und dann steht auch noch jemand aus Nordfriesland vor mir. Ist doch schräg, oder?«

Sebastian grinste verhalten und nahm einen Schluck aus seinem Longdrinkglas. »Du willst nach Hamburg ziehen, ja?«

Ich wischte mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Ja, wird Zeit, dass ich auch mal rauskomme. Du bist schon lange hier, oder?«

Er ließ die Eiswürfel in seinem Glas klimpern. »Ich bin direkt nach der Schule her. Hätte bei dir auch gedacht, dass du längst weg bist.«

Unauffällig wischte ich mir eine weitere Lachträne von der Nasenspitze. »Tja, manchmal kommen die Dinge anders als geplant.«

Sebastian nickte wissend. »Ich setz mich mal.« Er deutete auf zwei bunte Loungesessel, von denen sich gerade Frauen erhoben, die beide lange glänzende Haare hatten und gemusterte Leggings trugen. Ich stürzte mich so schnell auf einen der frei gewordenen Plätze, dass ich an einem Sesselbein hängen blieb und einen unfreiwilligen kleinen Hüpfer machte. Leise glucksend unterdrückte ich einen erneuten albernen Lachanfall, den Sebastian höflich ignorierte.

»Wie geht es deiner Familie?«, erkundigte ich mich, als ich sicher saß.

»Gut.« Er gab einen Seufzer von sich, und ich fragte mich, ob er dem Gedanken an seine Familie geschuldet war oder meiner einfallslosen Gesprächseröffnung.

Eine Zeit lang schwiegen wir uns an. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich mich jemals zuvor mit ihm unterhalten hatte, in unserer Kindheit und Jugend, in der wir bestimmt ständig gemeinsam auf irgendwelchen Heuboden getobt und später auf Stallpartys herumgehangen hatten. Einige seiner Freunde waren damals auch meine gewesen, aber mit Sebastian hatte ich nie viel zu tun gehabt, auch später nicht, bei irgendwelchen Festen von gemeinsamen Bekannten oder Nachbarn. Vielleicht lag es daran, dass es nicht so einfach war, mit Sebastian ins Gespräch zu kommen, dachte ich nun. Er sah mich an und zog die Mundwinkel nach oben, dann schaute er wieder aufs nächtliche Hamburg. Nun ja, zumindest hatte er mich angesprochen und gefragt, ob wir uns setzen wollten. Oder hatte ich ihn missverstanden? Als ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr aushielt, redete ich einfach drauflos. Ich berichtete von meinem Medizinstudium in Kiel, meiner Stelle am Krankenhaus in Husum, meinen Eltern, die unseren Hof noch nicht so recht loslassen konnten. Ab und an nickte er wissend und sagte: »Ist bei uns auch so.« Oder: »Übernimmt bei uns auch mein älterer Bruder.« Oder: »Data Management in einem Softwareunternehmen.« Zwischendurch stand einer von uns auf, holte neue Getränke, während der andere mit vollem Einsatz den freien Platz verteidigte. Und dann sah ich irgendwann auf die Uhr. Drei Uhr nachts.

»Müde?« Sebastian war meinem Blick gefolgt.

»Eher erstaunt, wie spät es mittlerweile ist.« Und wie lange ich geredet hatte. Ich streckte mich ein bisschen. »Doch, ehrlich gesagt schon ein wenig. Normalerweise schlafe ich längst.«

Wieder ließ er die Eiswürfelreste in seinem Glas klimpern, diesmal betrachtete er sie lange und nachdenklich. »Meine Wohnung ist gleich hier um die Ecke. Ich habe ein bequemes Schlafsofa, hat meine Mama gesponsert, weil sie früher immer dachte, sie besucht ihren Jungen jedes zweite Wochenende.« Er lachte, was mich fast noch mehr verblüffte als die Tatsache, dass er mehr als drei Wörter am Stück von sich gegeben hatte. »Wenn du magst, kann ich dir das schnell beziehen. Wie das hier aussieht, geht die Party mindestens bis zum Morgengrauen.«

Nach Worten suchend sah ich ihn an und spürte, wie die Flecken an meinem Hals aufblühten. »Ähm … Das ist total lieb, aber … Ich hab ehrlich gesagt Schiss, dass Filiz enttäuscht ist, wenn ich schon am ersten Abend schlappmache. Trotzdem: Danke!«

Sebastian massierte bedächtig seine Schläfen. »Kein Ding.« Eine Zeit lang blickten wir beide still in den dunklen Himmel, an dem wegen der Lichter der Stadt nicht viele Sterne zu sehen waren, dann gähnte er in seine hohle Hand. »Ich mach mich mal auf den Weg. Ich will morgen unbedingt laufen gehen und …«

»Alles klar«, unterbrach ich ihn etwas zu schnell. »Mach dir um mich keinen Kopf, zur Not lege ich mich unter die Mäntel und penne schon mal.«

Er nickte leicht, und wieder wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ihn auf irgendeine Art irritierte.

»Na dann.« Er stand auf und rieb die langen Finger an seinen Jeans, die so gekrempelt waren, dass die nackten Knöchel über den Sneakers hervorschauten wie bei den meisten Männern hier. Schöne Knöchel, dachte ich in meinem erschöpften Bierkopf. »Tja, dann …« Ich rappelte mich ebenfalls hoch, und wir umarmten uns etwas linkisch. Er steckte die Hände in seine locker hängenden Gesäßtaschen und schenkte mir ein letztes müdes Lächeln. »Viel Spaß noch.«

»Danke.«

Weg war er. Ich wollte mich wieder auf meinen Sessel setzen, aber auf dem hockte bereits ein bärtiger Typ mit Männerdutt und rauchte etwas, was nicht nach Zigarette roch. Mittlerweile war es ein wenig frisch hier draußen, deshalb beschloss ich reinzugehen. Das Wohnzimmer, das nur noch durch Kerzen und eine Art Discokugel beleuchtet wurde, war noch immer halb voll. Vicky knutschte mit einem ziemlich tätowierten Kerl auf einem der Sofas, und ich fragte mich, ob er ihr Freund war. Esther saß halb auf dem Tisch, eine Hand nachdenklich am Kinn, und diskutierte mit einem Mann, der noch länger und schlaksiger war als sie. Ihr Haar klebte nass geschwitzt an ihrer Stirn, und sie wirkte nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Filiz suchte ich vergeblich zwischen den Gästen, von denen niemand wirklich nüchtern wirkte.

Was mache ich hier?, schoss es mir durch den Kopf. Ich bin Anfang dreißig, ich sollte ein Zuhause haben, in das ich gehen kann. Oder zumindest einen richtig guten Plan.

Gerade als ich etwas ratlos beschloss, mich in einen der Sessel ganz in der Ecke zu setzen, stellte jemand die Musikanlage lauter. Kreischender Technobeat schallte aus den Boxen, woraufhin Esther vom Tisch rutschte und mit etwas ungelenken Bewegungen anfing zu tanzen. Die Nachbarin streifte begeistert die Pantoffeln ab, drückte ihrem Mann das Babyphone in die Hand und warf ebenfalls die Arme in die Luft.

Und dann machte ich doch kehrt.

So schnell es mir in meinem Zustand möglich war, eilte ich in Richtung Flur. Quetschte mich vorbei an den Gesprächsgrüppchen und der kürzer gewordenen Toilettenschlange, bis ich die Tür von Filiz’ Zimmer fand. Ein paar Leute wühlten gerade im Jackenberg, darunter der hilfsbereite Arzt von vorhin. Sein markantes Aftershave stieg mir in die Nase. »So, war nicht ganz einfach, aber Taxi sollte jetzt in sieben Minuten kommen, musst du zufällig in Richtung Hamburger Westen?« Er strich sich die kinnlangen Haare aus dem Gesicht und griente mich verschwommen durch seine runde Brille an.

»Nein, danke, nicht nötig«, antwortete ich knapp, schnappte mir meinen Koffer und machte mich auf den Weg zur Wohnungstür.

Im Treppenhaus lehnte ich mich über das Geländer, in der Hoffnung, dass Sebastian noch nicht ganz unten angekommen war. »Sebastian?«, rief ich hinunter, ohne Rücksicht auf die vermutlich ohnehin schon genervten Nachbarn zu nehmen. Dann noch einmal. »Sebastian?«

Alles blieb ruhig. Ich hörte nur den Technobeat und die Stimmen von drinnen. Dann hallten leise Schritte zu mir herauf. Jemand trat langsam in den Lichtspalt unten und sah hinauf. »Ina?«

»Ich dachte schon, ich hätte dich verpasst«, schallte meine Antwort durchs Treppenhaus.

»Alles okay?« Sebastian reckte das Gesicht mit zusammengekniffenen Augen ins Neonröhrenlicht.

Ganz kurz fragte ich mich, ob ich das wirklich bringen konnte, dann nahm ich beherzt meinen Koffer und rief schon im Hinabsteigen: »Steht dein Angebot noch?«

2

Am nächsten Morgen erwachte ich von den Geräuschen der Stadt. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Nur langsam gewöhnten sie sich an das Licht, das durch die hohen Sprossenfenster fiel. Ich lag auf einem ausgezogenen Sofa, auf mir weiche, gestärkte Baumwollbettwäsche, wie ich sie aus Hotels kannte. Mein Kopf schmerzte, und mein Mund fühlte sich trocken an. Richtig, ich hatte gestern zu viel getrunken. Richtig, ich lag bei einem entfernten Bekannten aus Schultagen auf dem Schlafsofa. Weil bei Filiz eine wilde Party gestiegen war, von der niemand wusste, wann sie endete. Ich angelte nach meinem Handy, das vor dem Sofa auf einem eierschalenfarbenen Kunstfellteppich lag. Keine Nachricht von Filiz. Na, Hauptsache, sie hatte meine noch gelesen und sich keine Sorgen gemacht. Ich blickte mich gähnend um. Gestern Nacht hatte ich nur schnell mein Nachthemd und meine Zahnbürste aus dem Koffer genommen, der aufgeklappt auf dem Boden lag, dann war ich vor Müdigkeit in mich zusammengesunken und tief und fest eingeschlafen. Erst jetzt fielen mir die hohen stuckverzierten Decken auf. Der Boden mit den alten Holzdielen. Die Erker an den Fenstern. Vor dem Schlafsofa, das ebenfalls einen hellen Beigeton hatte, stand ein schlichter Metall-Couchtisch. Ansonsten war der Raum bis auf ein paar Bücherstapel in der Ecke leer. Von der Decke baumelte eine einsame Glühbirne an ihrem Kabel. Könnte eine Designerlampe sein. Oder noch provisorisch. Ich setzte mich auf und kreiste meine verspannten Schultern. An den Wänden hingen keine Bilder. Nur direkt über der Sofalehne waren einige kleine Schwarz-Weiß-Fotos mit neongelbem Tape an der Tapete befestigt. Zwei davon mussten Sebastians Großeltern sein, auf einem erkannte ich seine Schwester, die mit meinem großen Bruder in eine Klasse gegangen war. Die Bilder waren alle im gleichen Stil gehalten, schlicht und vor verschwommenem Hintergrund. Die Porträtierten schauten direkt in die Kamera, alle mit nachdenklichem Blick. Hatte Sebastian diese Aufnahmen gemacht?

Von der Straße her drang Lachen hinauf. Ich stand auf und ging zum Fenster. Die Holzdielen fühlten sich angenehm kühl unter meinen nackten Fußsohlen an. Die Wohnung lag im ersten Stock. Hinter den Scheiben sah ich eine schmale Straße, in der eng die Autos parkten. Gegenüber reihten sich Jahrhundertwende-Altbauten aneinander, alle mit diesen typischen weiß lackierten Holzfensterrahmen und Ornamenten an der Fassade. Sie waren so nah, dass ich die Blumenvasen auf dem Esstisch sehen konnte, die Nachbarin in Unterwäsche, die sich, das Telefon zwischen Kinn und Schulter geklemmt, ein T-Shirt aus dem Kleiderschrank nahm, die Katze, die auf einer Fensterbank balancierte. Auf dem Gehweg spazierten Leute mit großen Sonnenbrillen durch die Vormittagssonne. Vor einem Kaffeeladen im Erdgeschoss hatte sich eine Schlange gebildet. Was für ein freundlicher Tag zum Ankommen! Mein Blick fiel auf einen Mann in engen Laufshorts, der mit zwei To-go-Bechern aus dem Laden trat. Sportliche Beine, dachte ich. Als er den Blick hob, sprang ich reflexartig einen Schritt zurück. Es war Sebastian! Und ich dachte, er schliefe noch nebenan. Verlegen sah ich an meinem Snoopy-Nachthemd hinunter, das nur knapp über meinem Po endete. Etwas hektisch schnappte ich mir ein langes Jeanshemd aus dem Koffer und warf es mir über. Schon hörte ich Schritte im Treppenhaus. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die verknoteten Haare. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Sebastian kam gerade in den Flur, als ich die Wohnzimmertür einen Spaltbreit öffnete.

»Guten Morgen«, sagte er mit einem reduzierten Lächeln, das offenbar typisch für ihn war.

»Guten Morgen!« Ich ließ die Hände in den langen Ärmeln meines Jeanshemds verschwinden. Sebastian hielt mir die beiden Kaffeebecher hin.

Ich ließ meine Hände wieder aus den Ärmeln gleiten, schob die Tür weiter auf und nahm sie entgegen. »Oh, danke.«

Er streifte die Joggingschuhe auf der Bastmatte ab. »Einer ist mit Hafermilch, der andere normal, ich wusste nicht, was du magst.«

Ich zog die Nase kraus. »Ich komme vom Bauernhof, ich bin da unkompliziert.«

Er schmunzelte.

Ich schnupperte an den Bechern. Schon der Geruch des Espressos darin machte mich etwas wacher. »Welchen magst du lieber?«

»Keinen, danke, ich mache gerade eine Koffeinpause.« Sebastian strich sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Ich geh schnell duschen, war schon ’ne Stunde laufen.«

Ich nickte anerkennend. »Kein Kaffee, Sport statt Schlaf, schätze, du duschst kalt?«

Er schnaubte nur und verschwand im Bad.

Ich suchte im Koffer nach etwas zum Anziehen, nippte am Kaffee, der in beiden Varianten wirklich gut schmeckte, und hörte das Plätschern der Dusche. Minuten später rief Sebastian: »Bad ist frei!«

Ich lief mit meinen Klamotten auf dem Arm durch den Flur, in den dampfend feuchte Luft strömte, die nach Kernseife roch. In der Küche klapperte Geschirr. Der Duft von frischem Toast stieg mir in die Nase. Sebastian würde doch nicht etwa noch Frühstück für uns machen? Ich hatte eigentlich genug davon, mich zu fragen, was er dachte oder warum er kaum sprach. Außerdem wollte ich endlich zu Filiz, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob sie bereits oder noch wach war.

»Rührei?«, hörte ich Sebastians Stimme.

»Gern«, antwortete ich und zog die Badezimmertür hinter mir zu.

Etwa zehn Minuten später kam ich frisch geduscht in einem zitronengelben Oversize-Shirt in die Küche. Sebastian stellte gerade ein Marmeladenglas und ein Butterfässchen auf den hohen Esstisch. Darauf wartete bereits ein Teller mit goldgebräunten Toastscheiben. Mein Gastgeber rührte noch einmal in einer Pfanne und platzierte sie dann auf einem Korkuntersetzer neben dem Toast. Er trug Jeansshorts und ein weißes T-Shirt, das am Kragen ein paar dunkle Flecken zierten, wo noch etwas Wasser aus seinen Haaren tropfte. Ich kletterte auf einen der zwei Barhocker. »Mir war nicht bewusst, dass das Frühstück inbegriffen ist.«

Er setzte sich mir gegenüber. »Na ja, ist es eigentlich nicht, aber als du nach meinem Lauf immer noch hier warst, blieb mir quasi keine Wahl.« Erleichtert sah ich, dass er grinste. Er hatte tatsächlich einen Scherz gemacht.

Sebastian lud sich Rührei auf den Teller und verputzte es, als ob er seit Tagen nichts gegessen hätte. Kein Wunder nach seiner Sporteinheit.

Etwas zögerlich nahm ich mir einen Toast und begann, ihn mit Butter und Marmelade zu bestreichen. Dabei sah ich mich in der Küche um. Die matten Schrankfronten waren so eierschalenfarben wie alles hier, auf der Arbeitsplatte stand nichts außer einer Edelstahl-Küchenmaschine und einer Basilikumpflanze in einem Steintopf. Die Wand dahinter war mit klein gemusterten Fliesen gekachelt. Was für eine schmucke Altbauwohnung – und wie unglaublich aufgeräumt. Ich spürte, dass Sebastian mich über sein Rührei hinweg musterte.

»Bist du gerade erst eingezogen oder einfach wahnsinnig ordentlich?«, fragte ich ertappt und biss geräuschvoll in meinen Toast.

»Wieso?« Er spießte sein letztes bisschen Rührei mit der Gabel auf.

»Nun, es ist hier irgendwie … leer.«

»Ich habe nur nicht so viel Kram.« Er lud sich weiteres Rührei aus der Pfanne auf den Teller. Toast hatte er bisher keinen angerührt. Er bemerkte meinen Blick. »Ich trainiere für den Hamburg-Marathon. Daher esse ich gerade kaum Kohlenhydrate.«

Etwas schuldbewusst sah ich auf meinen dick beschmierten Marmeladentoast.

»Aber hau du bitte rein«, fügte er hinzu und zerpflückte das Rührei auf seinem Teller. »Wäre schade drum.«

Ich kicherte. »Sonst muss alles wieder zurück in deine Schublade, in der du ungesunde Sachen für Frauen lagerst, die du auf Partys einsammelst?«

Sebastian machte schmale Augen. »Immer noch so vorlaut wie eh und je.«

Wie er zu diesem Urteil kam, war mir ein Rätsel, schließlich war ich ihm gegenüber wohl kaum jemals vorlaut gewesen. Vermutlich hatte er es irgendwo aufgeschnappt, zu einer Zeit, in der ich dachte, Angriff sei die beste Verteidigung.

Mein Handy klingelte in meiner Tasche. Ich warf einen Blick darauf und sagte: »Ich muss da kurz drangehen, ist Filiz.« Dann, nachdem ich übers Display gewischt hatte: »Hey, Süße.«

Laut dröhnte ihre Stimme aus dem Hörer: »Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie war er?«

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Sebastian aß ungerührt weiter. Ich hoffte inständig, dass er sie wie durch ein Wunder nicht gehört hatte.

»Ja, ich mache mich bald auf zu dir, okay? Habt ihr noch lang gefeiert?«

Sie prustete. »Liegt er etwa neben dir? Oh Gott, er liegt noch neben dir! Respekt, Petersen, am ersten Abend!«

»Wunderbar, das klingt doch toll«, plapperte ich weiter. »Dann bis gleich.«

Ich hörte sie noch sagen: »Wie oft …«, dann legte ich auf.

Zu meiner Verärgerung spürte ich, dass ich tiefrot geworden war. »Sie haben bis heute früh durchgemacht, gut, dass ich mit dir gegangen bin. Danke noch mal, du hast mich echt gerettet.« Ich schob mir den Rest Toast in den Mund und sah angestrengt auf meinen Teller.

Sebastian holte eine Flasche mit grasgrüner Flüssigkeit aus dem Kühlschrank und kam damit zurück an den Tisch. »Kein Ding.«

Ich wischte mir einen Krümel aus dem Mundwinkel. »Woher kennst du Filiz eigentlich?«

Er schüttelte die Flasche und goss sich etwas davon in ein Glas. »Gar nicht, glaub ich.« Er hielt die Flasche hoch. »Du auch?«

»Nein, danke, das sieht zu gesund aus. Wer hatte dich denn eingeladen? Esther, Vicky?«

»Wer?« Er nippte an seinem dickflüssigen Getränk.

Ich verzog amüsiert das Gesicht. »Okay, bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder du hast einen Kumpel, der dich mitgeschleppt und vorher schlecht gebrieft hat.« Ich stippte mit der Fingerspitze die Toastkrümel von meinem Teller. »Oder du bist ein Partycrasher.«

Er nahm einen weiteren Schluck von dem grünen Zeug, leckte sich die Reste aus dem Mundwinkel und sagte dann: »Jetzt erinnere ich mich. Du warst nicht nur immer schon vorlaut, sondern auch noch ziemlich neugierig.«

Als Filiz mir die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, schlug mir ein wilder Geruchsmix aus Essen, Zigarettenrauch, Schweiß und Alkohol entgegen.

Ich hielt mir die Nase zu. »Alter Schwede.«

»Schlimm, oder?« Filiz war weiß wie die Wand. »Ich muss mich auch gleich wieder hinlegen.«

»Von wegen.« Ich hievte den Koffer über die Schwelle. »Draußen scheint die Sonne, und du wolltest mir doch die Gegend und deinen Nähraum zeigen.«

Stöhnend winkte sie mich durch den Flur. Im Wohnzimmer war es überraschend aufgeräumt. Nur hier und da stand noch eine Flasche am Boden. Esther lief umher, im gleichen asymmetrischen Kleid von gestern Nacht, und wischte gedankenverloren über die Tische.

Vicky lag auf einem der Sessel. »Schnucki, morgen kommt Marzena, lass das doch bitte«, sagte sie mit heiserer Stimme zu Esther, die sie offenbar nicht hören wollte. Unter Vickys Augen waren dicke, verschmierte Wimperntuschebalken, auf ihren Wangen glänzten Rouge-Reste. Ein Bein ihres Overalls war so weit hochgerutscht, dass ein Stück Spitzenunterwäsche hervorschaute. Sie nickte mir müde zu. Wie es aussah, hatte tatsächlich keins der Mädels geschlafen.

»Wo kann ich mit anpacken?«, fragte ich in die Runde.

Esther machte mit der lappenfreien Hand eine Geste, als ob sie eine Fliege verscheuchen wollte. »Nutzt die Zeit lieber, du musst ja bestimmt bald wieder zum Zug.«

Ich sah Filiz fragend an, aber sie schob mich bereits vor sich her aus dem Raum.

Die Sonnenstrahlen schienen bis in den Hinterhof des Klinkerbaus, in dem Filiz mit ihren Mitbewohnerinnen wohnte. Meine Freundin kniff die müden Augen zusammen und schlurfte gähnend neben mir her über den kleinen Weg, neben dem sattgrüner Rasen wuchs. Vor uns tobten Kinder auf einem Spielplatz. Auf den Bänken am Rand saßen die Eltern mit Kaffeebechern in der Hand und hielten die Gesichter ins Licht.

Sie ging zu einem Torbogen, durch den wir in einen weiteren grünen Hinterhof gelangten. Wie unterschiedlich die vielen Balkone aussahen, die offenbar zu jeder Wohnung dieses Komplexes gehörten. Manche waren leer, andere vollgestellt mit Möbeln, Satellitenschüsseln oder Umzugskisten. Wieder andere hatten Katzengitter, auf einigen wuchsen so viele Pflanzen, dass man kaum bis zu den Fenstern dahinter sehen konnte. Filiz fischte eine Sonnenbrille aus ihrer Basttasche. Jetzt erst fiel mir auf, was für ein hinreißendes Lochspitzenkleid sie sich übergeworfen hatte. »So, und jetzt erzähl – wer ist der Typ, mit dem du die Nacht verbracht hast?«

»›Die Nacht verbracht.‹« Ich schnaubte. »Ich hab auf seinem ausziehbaren Designersofa geschlafen.«

Filiz sah mich beeindruckt an. »Bei einem wildfremden Typen?«

»Nein, er ist ein alter Bekannter aus der Heimat. Wir kennen uns lose von früher, er hatte Mitleid mit mir, weil ich so müde war und die Party noch in vollem Gange. So ein Zufall, dass der auch da war.«

»Und da lief wirklich nichts?« Sie grinste mich süffisant an.

Ich gab ihr einen leichten Schubs. »Hab ich doch gesagt, rein gar nichts.«

Filiz setzte sich mit etwas enttäuschter Miene die Brille auf und führte mich in den dritten Hinterhof, in dessen Mitte einige rosenumrankte Bänke im Karree standen. Der Torbogen dieses Hinterhofs führte auf eine kleine Kopfsteinpflasterstraße, an der sich weitere Rotklinkerbauten aneinanderreihten, einer schöner als der andere. Filiz schlenkerte beim Gehen mit den Armen, wie es typisch für sie war. »Wie hieß er denn? Ich frag mich, ob ich ihn kenne …«

Blütenpollen schwebten vor uns in der Luft. »Sebastian. Er meinte, ihr kennt euch nicht.«

Sie zog hinter den Brillengläsern die Augenbrauen hoch. »Mein Ex Sebastian?«

Ich schlug die Hand vor den Mund. »Oh Gott.«

»Klein und hell?«

Ich lachte erleichtert. »Groß und dunkel, also definitiv nein. Hätte mich auch gewundert, wenn er dein Typ wäre.«

»Wieso?«

Ich stieß mit der Spitze meines Chucks gegen einen unebenen Pflasterstein, fing mich aber noch rechtzeitig. »Na ja, er wäre dir vermutlich zu … sauber.«

»Sauber?« Jetzt schubste sie mich, deutlich heftiger als ich sie zuvor.

Ich kicherte. »Ja, er hat, glaub ich, weder zwielichtige Freunde noch Tattoos von Riesenskorpionen, und stell dir vor: Er rennt um die Alster, trinkt grüne Smoothies, und ich befürchte, er rasiert sich täglich.«

Filiz winkte wissend ab. »Ach so einer.« Sie schob die Brille hoch. »Aber du magst sie doch herkömmlicher. Wirst du ihn wiedersehen?«

Ich wusste, dass sie damit auf meinen Exfreund Dirk anspielte, aber ich beschloss, es zu ignorieren. »Er hat mir einen Gefallen getan, mehr nicht. Ehrlich gesagt finde ich ihn ziemlich langweilig.«

Sie nickte ungläubig. »Du siehst ihn eh wieder, ob du willst oder nicht. Hamburg ist ein Dorf. Seine Wohnung ist hier gleich um die Ecke?«

»Ja, wir sind nur über eine große Kreuzung, er wohnt in einer dieser Straßen, in der nur Jugendstilhäuser stehen.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Ah, auf der guten Seite.«

Ich strich im Vorbeigehen mit den Händen über eine akkurat geschnittene Buchenhecke, die einen Vorgarten einhegte. »Es gibt eine schlechte?«

»Komm, ich zeig’s dir.« Sie lief vor mir her, bis die Kopfsteinpflastergasse an einer großen Straße endete, dann drehte sie sich um und deutete hinter sich. »Dies hier ist die Jarrestadt mit ihren berühmten Backsteinkarrees. Die sind einst für Arbeiterfamilien gebaut worden und auch heute noch deutlich günstiger als die richtigen Altbauten im echten Winterhude.« Sie zeigte auf die andere Seite.

Wir überquerten eine Fußgängerampel, und ich sah mich interessiert um. Tatsächlich waren die Altbauten hier heller, verzierter, irgendwie herrschaftlicher. In den Ladenlokalen im Erdgeschoss reihten sich stylische Cafés an Boutiquen, Weinläden und Imbisse mit hawaiianischen Bowls oder veganem Sushi. Ich betrachtete die prachtvollen Fassaden, die Schaufenster, die vorbeischlendernden Leute, die alle modisch angezogen waren, wie die Partybesucher gestern. Gedanklich machte ich mir Notizen, wohin ich bald in Ruhe zurückkommen wollte: zum Shop mit den niedlichen Armbändern in der Auslage oder zum syrischen Bistro, auf dessen Tafel vor der Tür stand, dass es dort hausgemachte Rote-Bete-Falafel gab. Bis Filiz verkündete: »So, jetzt zeige ich dir meinen Nähraum.«

Wir kamen an weiteren hübschen Schaufenstern vorbei, dann wurde es etwas ruhiger. Rotklinkerbauten lösten die Jugendstilhäuser ab. Auch in diesen kleinen Straßen gab es ein paar Ladenlokale. Ich entdeckte mehrere Imbisse, allerdings gänzlich ohne Hipster-Touch, einen Waschsalon, einen Schuster und ein gemütliches Nachbarschaftscafé, auf dessen Terrasse gerade eine Kellnerin Frühstück servierte und Filiz herzlich grüßte.

Meine Freundin ließ die Sonnenbrille in ihrer Tasche verschwinden und steuerte am Haus vorbei. Ein altes Fabrikgebäude mit riesigen schwarzen Sprossenfensterrahmen tauchte im Hinterhof vor uns auf. Filiz ging zwei Treppenstufen hinunter und schloss eine Tür im Souterrain auf.

»Ist das …«, begann ich meinen Satz, als ich das Schild über der Tür entdeckte. In bunten Holzbuchstaben stand da: »Die Kleidermacherin«.

Erstaunt riss ich die Augen auf. »Filiz!«

»Tadaaaa!« Sie schob die Tür auf. »Hier ist es.«

Für ein Souterrain war der Raum erstaunlich hell. Der Boden war aus einem ähnlichen Sichtbeton gegossen wie das WG-Wohnzimmer, nur dass dieser noch abgenutzter wirkte. An den Wänden stand eine Reihe von Kleiderstangen, an denen auf Bügeln Klamotten hingen.

Filiz war neben mich getreten. »Hier vorne hängen die verkaufsfertigen Stücke. Und hier …« Sie schob mich durch einen kleinen Türbogen, und wir gelangten in einen weiteren Raum mit noch mehr Kleiderständern, in dessen Zentrum ein schlichter Schreibtisch mit einer Nähmaschine stand, umgeben von Schachteln voller Garnen, Nadeln und Bordüren. »Hier arbeite ich.«

Staunend sah ich Filiz an. »Und das nennst du Nähraum?«

»Na ja.« Ihre Wangen waren gerötet. »Zu Hause ging es auf Dauer nicht mehr, ich brauchte mehr Platz für die vielen tollen Sachen, die ich überall finde. Und die Kunden haben immer öfter gefragt, ob ich auch einen Showroom habe, wo sie stöbern oder etwas anprobieren können. Ist keine A-Lage, aber hey.«

Ich lief zwischen den Kleiderstangen herum, fasste die Stoffe an und atmete den unverkennbaren Geruch von Secondhandsachen ein. Erinnerungsfetzen tauchten vor meinem inneren Auge auf. Filiz, die schon an der Uni alle ihre Sachen umschneiderte. Die immer das Mädchen mit den coolsten Klamotten war. Ich hatte auch etwas experimentiert, Stoffe eingefärbt, ein paar Nähte aufgetrennt, Löcher in Jeansbeine geschnitten, aber als ich Filiz traf, begriff ich, was kreatives Talent von Experimentierfreude unterschied. Filiz sah ein Kleidungsstück und wusste, was man damit anstellen musste, damit es die Trägerin bestmöglich aussehen ließ.

Wie aufs Stichwort holte sie mich zurück in die Gegenwart. »Das ist zu lang und zu weit.« Sie zupfte an meinem Shirtkleid. »Wieso versteckst du immer deinen wunderbaren Körper? Komm mal her.« Schon hatte sie mehrere Nadeln im Mund, nahm Stoff an meiner Taille zusammen und steckte sie mit flinken Handgriffen hinein. Kniete sich vor mich und faltete den Saum um. Widerstand war zwecklos, ich kannte das schon. Als sie wieder aufstand, sagte sie: »Ausziehen, bitte.«

Vorsichtig schob ich mir mein mit Stecknadeln versehenes Shirt über den Kopf und gab es ihr. Sie reichte mir einen Seidenmorgenmantel, setzte sich mit meinem Kleid an die Nähmaschine und begann, daran herumzunähen. Ich wickelte mich in den Mantel, ließ sie in Ruhe werkeln und ging noch einmal in den Ladenraum.

Die Schatten der Sprossenfensterrahmen warfen ein interessantes Muster auf den Betonboden. Auf einem kleinen Tisch stand eine alte Kaufmannskasse, daneben ein modernes EC-Karten-Lesegerät, davor ein Stapel dicker naturweißer Visitenkarten mit Filiz’ Namen, den Links zu ihrer Website und ihrem Instagram-Account. Über den Kleiderstangen waren längliche Tafeln angebracht. Darauf stand mit bunter Kreide »Für Königinnen der Nacht« über eleganten Abendkleidern oder »Für Chefinnen« über raffinierten Röcken, Hosenanzügen und Blazern. Es gab sogar eine Abteilung »Für Wunderträgerinnen«, unter denen Sachen hingen, die Filiz für Schwangere umgenäht hatte. Wie schon früher, als sie ihr kleines Business noch im Haus ihrer Eltern betrieben hatte, staunte ich darüber, wie meine Freundin die Rohmaterialen für ihre Kreationen fand. Das meiste entstand aus Secondhandklamotten, die irgendwie beschädigt waren und die Filiz auf Onlineforen oder Flohmärkten fand. Sie nähte sie um, zerschnitt sie und kombinierte sie mit anderen, machte aus Hosen Röcke und aus Jacken Kleider und aus dem, was andere aussortierten, wahre Schätze. Bei einem unserer letzten Telefonate hatte sie erzählt, dass sich auf Instagram gerade einige Influencerinnen in ihren Sachen fotografieren ließen, weil sie damit Nachhaltigkeit demonstrieren konnten – und weil sie einfach toll darin aussahen. Manche fragten gezielt nach einem Kleid für ein Event, das Filiz ihnen auf den Leib schneiderte. Dadurch war die Nachfrage so gestiegen, dass sie nach einem kleinen Ladenlokal gesucht hatte. Aber das hier übertraf bei Weitem meine Erwartungen.

Aus dem Nebenzimmer hörte ich die Nähmaschine rattern. Ich ging zurück und fand Filiz noch immer über mein Sommershirt gebeugt, das mitnichten vintage war, sondern von der Stange aus der Fußgängerzone in Husum, spontan mitgenommen, weil es bequem war und mir die Farbe gefiel. Sonnenlicht fiel durchs Fenster auf die versunkene Filiz und ihren Nähtisch und ließ ihre Locken glänzen, als wären sie ein Heiligenschein. Ihr Gesichtsausdruck war beides zugleich: entrückt und aufs Äußerste konzentriert auf das, was sie da tat. So sieht es aus, wenn man seinen Job liebt, dachte ich und spürte Gänsehaut meinen Rücken hinaufwandern. Ich hatte es lange nicht sehen wollen, aber es war Zeit, es sich endlich einzugestehen: Filiz hatte alles richtig gemacht.

Gerade als ich dies dachte, blickte sie auf. Jetzt sah sie nicht mehr blass oder verkatert aus, sondern hellwach. Sie zog das Kleid aus der Maschine, stand auf und hielt es mir hin. Ich schlüpfte aus dem Morgenmantel, gab ihn ihr zurück und zog mein Shirt über den Kopf. Filiz schob mich sanft vor einen der vielen langen Spiegel, die überall im Raum verteilt standen. Gespannt betrachtete ich mich. Sie hatte ein richtiges Kleid daraus genäht, das nun einen feinen Spitzensaum besaß. An einer Seite hing es ein Stück tiefer bis über mein Schlüsselbein, an der Taille war es gerafft. Ich meckerte oft darüber, dass ich Schwimmerinnenschultern hatte, obwohl ich keinen Sport trieb. Dass ich zu knochig und zu groß und nicht feminin genug war. Aber in diesem Kleid fühlte ich mich schön. Ich drehte mich zu meiner Freundin um und sah sie staunend an. Ihr Strahlen sagte alles.

Abends lagen wir zusammen in Filiz’ Bett. Wir hatten noch mit ihren Mitbewohnerinnen Hangover-Grilled-Cheese-Sandwiches gegessen und über die wildesten Vorkommnisse der Party gesprochen, während nebenbei Wonderwoman lief, Esthers Lieblingsfilm. Offensichtlich hatte die Nachbarin mit dem Babyphone zu später Stunde noch eng mit Vickys Freund getanzt, worüber Vicky Tränen gelacht hatte, während der Mann der Nachbarin wohl um ein Haar handgreiflich geworden war. Außerdem machten die Mädels einige Andeutungen, was Esther und ein gewisses Tinder-Date betraf – vermutlich mit dem langen dünnen Mann, mit dem ich sie diskutieren gesehen hatte –, aber sie wurde jedes Mal fuchsig, und schließlich ließen die anderen sie damit in Frieden. Jetzt war ich froh über ein bisschen Ruhe und darüber, noch ein wenig mit meiner Freundin allein zu sein.

»Wo warst du eigentlich gestern Nacht?« Ich kuschelte mich in das fluffige Kissen, das sie mir bezogen hatte. »Ich hab dich nicht mehr gefunden, bevor ich mit zu Sebastian gegangen bin.«

Sie lag auf dem Rücken, und kurz dachte ich, sie sei vielleicht schon eingeschlafen, bis sie mit schwerer Zunge antwortete: »Kann sein, dass ich da gerade bei Moritz unten war.«

»Moritz?«

»Ein Nachbar.«

»Ein Nachbar?«

Sie schmunzelte in Richtung Zimmerdecke. Vor der Tür hörte ich Esther und Vicky reden.

»Nerven die dich nie?«

»Wer, Esther und Vicky?« Filiz gähnte geräuschvoll. »Doch voll, ständig. Aber …« Sie rieb sich über die Augen. »Es ist auch schön, dass immer jemand zu Hause ist. Also jemand, der nicht meine Mutter ist, die mir sagt, dass ich meine Nähsachen von der Couch räumen soll, oder schon vor dem Frühstück wissen will, ob das Baba Ghanoush richtig abgeschmeckt ist. Und auch nicht mein Vater, der mich für jedes Tor von Galatasaray aus dem Zimmer holt, selbst dann, wenn nur eine Wiederholung von 2002 läuft.« Sie warf mir einen Blick zu. »Du weißt, ich liebe meine Eltern.«

Ich nickte. »Wir alle lieben deine Eltern.«

Sie sah wieder in Richtung Zimmerdecke. »Ohne Esther und Vicky hätte ich es vielleicht nie geschafft auszuziehen. Ich bin froh, dass sie eine Mitbewohnerin gesucht und mich gefragt haben. Es wurde wirklich Zeit, Mann, ich bin über dreißig.«

Ich betrachtete ihr unverkennbares Profil. »Und jetzt hast du sogar deinen eigenen Laden. Es hat sich einiges in deinem Leben geändert, seit ich zuletzt hier war.«

Sie drehte sich zu mir und legte das Gesicht in ihre Hand. Nachdenklich sah sie mich aus müden Augen an. »Nicht nur in meinem, oder?«

3

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad an einem Alsterfleet entlang. Filiz und ich hatten es aus dem Kellerabteil der WG geholt, in dem erstaunlich viele alte Räder lagerten, von denen die meisten nicht mehr zu gebrauchen waren. An diesem hier platzte zwar überall der Lack vom Gestell, aber es trat sich wunderbar. Strahlend blau erstreckte sich Hamburgs Himmel über mir. Ein altbekanntes Gefühl breitete sich in mir aus, als der frische Fahrtwind mir die Ponysträhnen aus dem Gesicht blies. Mein Hamburg-Gefühl. Ich hatte es erstmals gespürt, als ich vor vielen Jahren wegen eines Praktikums ein paar Wochen bei Filiz’ Familie auf der anderen Seite der Elbe gewohnt hatte. Jeden Morgen, wenn ich mit der S-Bahn die Elbbrücken überquert hatte und sich die Hafenkräne majestätisch im Gegenlicht abzeichneten, bekam ich eine Gänsehaut. Irgendetwas machte die Weite dieser Stadt mit mir, ihre zurückhaltende Eleganz, die Wasserwege, die sie so hübsch einrahmten. Es war, als würde sich ein bisschen von Hamburgs Schönheit auf mich übertragen, als wäre auch ich hier eine andere – freier, mutiger, glücklicher. Ich kam zur Brücke am nördlichen Ende der Außenalster, wie Filiz es mir vor meiner Abfahrt beschrieben hatte. Als ich die Segelboote vor der Skyline über das glitzernde Wasser gleiten sah, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich war hier. Ich war wirklich hier.

Schwungvoll radelte ich am Wasser entlang und bog in die nächste Straße ab. Nach dem Studium war ich nach Husum und Filiz zurück zu ihrer Familie gezogen. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte und mit ihr durch die Straßen von Hamburg lief, hatte ich gedacht: Eines Tages werde auch ich hier leben. Viel zu viele Jahre waren seitdem vergangen, dachte ich, als ich nun an Ufergrundstücken mit eigenem Wasserzugang vorbeikam. In mein Hamburg-Gefühl mischte sich ein weiteres: Das Gefühl, wenn man ahnt, dass etwas, auf das man lange gewartet hat, endlich so weit ist. Dass etwas wirklich wahr werden könnte. Zugegeben, es gab noch immer ein paar Hindernisse auf diesem Weg. Aber jetzt, in diesem Moment auf dem Rad, während neben mir das Fleetwasser mit der Morgensonne um die Wette funkelte, war ich sicher: Die räume ich beiseite. Ich würde eine eigene Wohnung finden. Und die Sache mit dem Job, die könnte sich schon heute erledigen.

Die ausgestellte Faltenhose, die Filiz mir zusammen mit einer weißen Bluse aus ihrem Fundus rausgesucht hatte, flatterte bei jedem Tritt in die Pedale. Den Weg zu finden war wirklich leicht, sie hatte recht gehabt. Immer nur am Wasser entlang Richtung Westen, einmal unter der U-Bahn hindurch, die Eppendorfer Landstraße überqueren, dann den Schildern folgen.

Je näher ich meinem Ziel kam, umso mehr wich meine innere Leichtigkeit einer angespannten Nervosität. Vielleicht war das alles doch etwas überstürzt gewesen. Aber die Stellenausschreibung hatte zu gut geklungen, wie für mich gemacht. Noch dazu war sie von dem Krankenhaus, das ich von meinem Praktikum kannte. Das konnte kein Zufall sein. Ich musste es versuchen.

Als am Straßenrand das Gelände des Universitätsklinikums auftauchte, war meine Leichtigkeit vollends mit dem Fahrtwind davongeflogen. Was für eine große Klinik, im Vergleich zu meinem letzten Arbeitsplatz! Wie stolz ich schon als Studentin gewesen war, hier arbeiten zu dürfen. Wie klein und unerfahren ich mich anfangs gefühlt hatte und wie ich jeden Tag ein Stück wuchs, weil die Arbeit mit diesem Team und in diesem Umfeld so viel Spaß machte. Damals hatte sich mein Wunsch, Kinderärztin zu werden, verfestigt, und ich hatte fortan davon geträumt, eines Tages als solche an die Uniklinik zurückzukehren. Kinderärztin war ich am Ende nicht geworden. Aber immerhin war ich jetzt hier.

Ich erkannte nicht alles sofort wieder. Viele Gebäudeteile waren erst in den vergangenen Jahren gebaut oder renoviert worden. Das neue Eingangsportal, fast gänzlich aus Glas, wirkte auf mich wie ein Kunstmuseum. Ehrfürchtig fuhr ich die Rolltreppen nach oben und lief durch die scheinbar endlosen Gänge. Den Eingang zur Inneren Medizin fand ich nicht sofort, so viele verschiedene Abzweigungen und Abteilungen gab es.

Schließlich stand ich vor einer großen Schwingtür und fischte in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie. In einem kleinen Sichtfenster steckte das Foto von Merle. Ich hatte es einmal als Jugendliche lose in einem der Alben gefunden, die Mama auf dem Speicher aufbewahrte, und trug es seitdem bei mir. Meine kleine Schwester saß darauf auf dem Fahrersitz unseres alten Treckers. Sie warf lachend den Kopf in den Nacken, sodass man nur ihre kleinen Mäusezähnchen und die Grübchen in ihren Wangen sah. Jedes Mal, wenn ich dieses Foto anschaute, musste ich unweigerlich lächeln. Deswegen war es zu einem Glücksbringer für mich geworden, den ich mir ansah, wenn ich nervös war. Vor meiner Führerscheinprüfung, vor jedem Referat im Studium, jedem Vorstellungsgespräch, bis heute. Stets dachte ich: Merle würde das hier locker meistern. Sie würde mir verschmitzt zuzwinkern, reingehen und ihr Ding durchziehen. Auch dieses Mal würde ich versuchen, mir ein Beispiel an ihr zu nehmen.

Auf geht’s, dachte ich, steckte das Portemonnaie mit dem Foto wieder in meine Tasche, strich noch einmal die schicke Hose von Filiz glatt und ging durch die Tür zum Empfang.

Einige Minuten später begrüßte mich eine Ärztin um die vierzig mit festem Handschlag und den Worten: »Julia Schäfer, Oberärztin.«

Ich stellte mich vor und folgte ihr in ein schlichtes Büro. Enttäuschung keimte in mir auf, denn ich hatte gehofft, dieses Gespräch mit meinem damaligen Kollegen Tim führen zu können, der diese Station mittlerweile leitete. Er hatte einiges damit zu tun, dass ich so positive Erinnerungen mit dieser Klinik verband. Mehr, als mir lieb war.

Seine Stellvertreterin ließ sich Zeit beim Durchsehen meiner Unterlagen. Unauffällig musterte ich sie. Akkurat geschnittener Pagenkopf, eine strenge Falte auf der Stirn, schlichte Lesebrille, kein Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Schon klar, als freundliches Weichei kam man in diesem Job nicht weit.

Sie lehnte sich zurück und nahm die Brille ab. »Also, Frau Petersen, erzählen Sie mal, warum Sie gern bei uns arbeiten wollen.« Hinter ihr sah ich eine Bücherwand mit Fachliteratur. Neben ihrem Rechner standen eine halb volle Kaffeetasse und ein einsamer Bilderrahmen, der so ausgerichtet war, dass ich das Bild darin nicht sehen konnte.

Ich schluckte trocken. »Ich habe hier vor etwa zehn Jahren eine Famulatur absolviert. Seitdem träume ich davon, wieder in dieser Klinik zu arbeiten.«

In meiner Tasche vibrierte mein Handy. Hektisch griff ich hinein und stellte es aus. Was für ein dämlicher Fehler. »Ich bitte um Ent…«

»Da waren Sie aber auf der Kinderstation, richtig?«, unterbrach sie mich, den Handy-Vorfall ignorierend.