Das Grab - Richard Laymon - E-Book

Das Grab E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

Kompromisslos, schockierend, brillant

Alle machten sich über Melvin lustig. Nur Vicki hatte den Mut, sich für den Außenseiter einzusetzen. Das änderte sich schlagartig, als er auf die Idee kam, eine Leiche auszugraben und mit Hilfe einer Autobatterie zum Leben zu erwecken. Jahre später wird Vicki immer noch von Alpträumen gequält. Als sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, wird Melvin gerade aus einer Anstalt entlassen. Er ist verrückter als je zuvor – und hat bei seinen Experimenten gewaltige Fortschritte gemacht.

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Seitenzahl: 589

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Zum Buch

Melvin war mit Abstand der schrägste Typ der Ellsworth Highschool. Gnadenlos wurde er von seinen Mitschülern wegen seines komischen Aussehens und seines seltsamen Verhaltens verspottet und gequält. Nur Vicki hatte den Mut, sich für ihn einzusetzen. Doch dann wollte er es allen zeigen: Er stahl eine Leiche aus einem Grab und versuchte, sie vor aller Augen mit einer Autobatterie zum Leben zu erwecken – ein spektakulärer Fehlschlag.

Diesen grässlichen Vorfall hat Vicki nie vergessen. Obwohl sie deshalb immer noch von Alpträumen heimgesucht wird, entschließt sich die frischgebackene Ärztin dazu, in ihren Heimatort zurückzukehren – obwohl sie dort auch Melvin wiederbegegnen wird. Der wurde vor kurzem aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen und widmet sich wieder mit Feuereifer seinen Experimenten. Und natürlich würde er seine neu erworbenen Kenntnisse nur zu gern an Vicki ausprobieren …

Zum Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird. Richard Laymon im Internet: www.rlk.cjb.net

Lieferbare Titel

Rache – Die Insel – Das Spiel – Nacht – Das Treffen – Der Keller – Die Show – Die Jagd – Der Regen – Der Ripper – Der Pfahl – Das Inferno

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorInschriftDAS LETZTE SCHULJAHR
Kapitel EinsKapitel ZweiKapitel Drei
HEIMKEHR
Kapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnKapitel ZwanzigKapitel EinundzwanzigKapitel ZweiundzwanzigKapitel DreiundzwanzigKapitel VierundzwanzigKapitel FünfundzwanzigKapitel SechsundzwanzigKapitel SiebenundzwanzigKapitel AchtundzwanzigKapitel NeunundzwanzigKapitel DreißigKapitel EinunddreißigKapitel ZweiunddreißigKapitel Dreiunddreißig
EIN JAHR SPÄTER
Kapitel Vierunddreißig
Copyright

»Lass dir sagen, Jerry, du kämest in eine verzweifelt schlechte Karriere, wenn das Ins-Leben-Zurückrufen Mode würde.«

– Charles Dickens, Eine Geschichte aus zwei Städten

DAS LETZTE SCHULJAHR

Kapitel Eins

Das musste Steve Kraft sein. Es war Krafts blauer Trans Am, den sein Dad ihm geschenkt hatte, als er im letzten Herbst gegen die Bay sechs Touchdown-Pässe geworfen hatte.

So wie sein Kopf aussah, erinnerte er Wes an ein Marshmallow, das man auf einen Stock gespießt hat, um es schön goldbraun zu rösten, und das plötzlich in Flammen aufgeht.

Man bläst das Feuer aus. Dann zieht man das Marshmallow vom Stock. Die harte Kruste löst sich so leicht, als wäre sie eine Schale, und das weiche, pappige Innere bleibt am Stock kleben.

Vielleicht würde sich Steves Gesicht genau so leicht ablösen lassen, wenn man …

Wes wandte sich von dem brennenden Wrack des Wagens ab und krümmte sich. »Vorsicht!« Manny tänzelte zurück, um seine Schuhe in Sicherheit zu bringen, als Wes anfing zu würgen.

»Was soll denn das werden?«, fragte Manny. »Willst du, dass es mir auch noch hochkommt?«

Wes hörte ihn lachen und fragte sich, wie es jemand – selbst Manny – lustig finden konnte, dass Steve Kraft in die Mauer der Brücke gekracht und wie ein Marshmallow verbrannt war.

Dann klopfte Manny ihm auf den Rücken. »Du hättest dir wegen Kraft keinen Kopf zu machen brauchen, Alter. Hat sich von selbst erledigt, die Geschichte.«

Wes richtete sich auf. »Das ist wirklich krank«, murmelte er.

»Hey, der Typ war ein Arschloch.« Manny nahm einen Schluck von dem Old Milwaukee, den er geöffnet hatte, als sie angehalten hatten, um zu sehen, was es mit dem Feuer auf sich hatte. Er reichte Wes die Flasche.

Wes trank ein paar Schlucke, um den sauren Geschmack des Erbrochenen aus seinem Mund zu spülen. »Vielleicht sollten wir besser verschwinden«, sagte er. »Wenn die Cops hier auftauchen, kriegen sie doch sofort mit, dass wir Alkohol getrunken haben. Ganz besonders Pollock. Der macht uns garantiert Ärger.«

»Scheiß auf Dexter Pollock«, knurrte Manny. Er stand mitten auf der Straße und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, als hielte er nach dem Polizeichef Ausschau. »Wenn irgendein Auto auftaucht, dann …« Sein Kopf ruckte nach rechts. Sein Mund klappte auf.

Wes starrte in die gleiche Richtung.

Das Mädchen lag über der niedrigen Betonbrüstung in der Mitte der Brücke.

Wes glaubte zumindest, dass es ein Mädchen war. Er war sich jedoch nicht sicher, denn ihr Kopf war nicht zu sehen. Andererseits sah es aus, als ob sie nackt wäre, und Steve Kraft hatte sicherlich keinen nackten Mann in seinen Wagen gelassen.

»Ich glaube, sie hat gar nichts an«, sagte Manny. Seine Stimme klang gedämpft und irgendwie verschwörerisch. »Komm mit.«

Sie gingen langsam auf sie zu. Wes fühlte, wie sein Herz hämmerte. Sein Mund war trocken. Er nahm noch einen Schluck Bier.

»Wette, es ist Darlene«, sagte Manny.

»Ja.«

Manny rieb sich mit der Hand über den Mund. »Die hat nicht einen Faden am Leib. Kein Wunder, dass Kraft gegen die Mauer gedonnert ist.«

Der Schein des Feuers flackerte über die nackte Haut ihres Rückens, ihres Hinterns und ihrer Beine. Ihr linkes Bein hing auf den Gehweg herab. Das andere lag angewinkelt auf der Mauer, als hätte sie versucht, darüber zu klettern und in den Fluss zu springen.

»Was macht sie da?«, flüsterte Wes.

»Vielleicht hat sie ’ne Kontaktlinse verloren«, sagte Manny und stieß ein kurzes, nervöses Lachen hervor. »Nicht einen Faden am Leib«, murmelte er erneut.

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, stellte Wes fest. Jetzt, da sie näher bei dem Mädchen waren, konnte er sehen, dass sie weiße Socken und weiße Tennisschuhe trug. An ihrem linken Knöchel baumelte ein Höschen, das im rötlichen Schein der Flammen zu glänzen schien.

»Glaubst du, sie ist froh, uns zu sehen?«, fragte Manny.

Wes fand es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten. Er hatte den starken Verdacht, dass Darlene so ziemlich jeden anderen lieber sehen wollte als Manny. Sie und all die übrigen eingebildeten Cheerleader und die meisten anderen Kids in der Oberstufe der Ellsworth High hielten Manny für den Abschaum des Planeten.

»Hey, Darlene, nicht springen! So schlimm ist es doch gar nicht. Stevie ist hinüber, aber wir sind ja hier.«

Sie bewegte sich nicht.

»Vielleicht ist sie verletzt«, sagte Wes.

»So schlimm kann sie nicht verletzt sein, wenn sie so weit gekommen ist. Darle-e-ene.«

Als sie näher kamen, sah sich Wes nach dem brennenden Wagen um. Flammen loderten durch das Loch, wo einmal die Frontscheibe gewesen war. Er blickte wieder nach vorn. Manny stand bereits neben dem reglos auf der Brüstung liegenden Mädchen. »Hey, glaubst du, sie ist so weit rausgeschleudert worden?«

»Ganz sicher nicht.« Er gab ihr einen Klaps auf den nackten Hintern. Die Pobacken bebten ganz leicht, doch sie zuckte nicht und schrie auch nicht auf. Er beugte sich über sie. »Hey, Wes«, sagte er. »Ich glaube, ich weiß, was sie verloren hat.«

Wes gefiel der hohe, merkwürdig schrille Ton in Mannys Stimme überhaupt nicht. »Was denn?«

»Ihren Kopf.«

»Lass die Witze.«

»Schau doch selbst nach.«

Wes schob sich seitlich an Manny vorbei und beugte sich vor.

Ihre linke Schulter lag auf der Mauer. Die rechte ragte über den Rand der Brüstung hinaus. Ihr Arm hing schlaff herab und schien auf den Fluss zu deuten.

Wes wusste, dass ihr Kopf direkt zwischen den Schultern sein hätte sollen, doch er konnte ihn tatsächlich nicht entdecken.

»Nein«, sagte er. »Er muss doch da sein.« Diese Seite der Mauer wurde nicht vom Lichtschein des Feuers erhellt. Deshalb konnte er Darlenes Kopf nicht sehen.

»Die Schlampe wurde glatt enthauptet.« Um zu beweisen, dass er Recht hatte, zog Manny an einem der nackten Beine der Toten.

Wes stieß einen erschreckten Schrei aus und machte einen Satz rückwärts, als der Körper sich auf ihn zubewegte, von der Brüstung rollte und vor seinen Füßen auf den Gehsteig fiel.

»Siehst du?«, sagte Manny und machte einen Schritt zur Seite, damit sein Schatten sie nicht mehr verdeckte.

Wes sah es jetzt auch. Er sah den Stumpf ihres Halses zwischen den Schultern.

»Das ist tatsächlich Darlene«, brummte Manny. »Sonst hat keine solche Titten.«

»Ich finde, wir sollten sie nicht so angaffen«, sagte Wes. »Schließlich ist sie tot.«

»Ja, sieht ganz so aus.« Manny ging in die Hocke, um alles besser in Augenschein nehmen zu können.

Wes war wütend auf Manny und angewidert von sich selbst. Er wusste, es war nicht richtig, sie anzustarren, doch er konnte nicht damit aufhören.

»Hast du schon mal eine gesehen?«, fragte Manny.

»Nur Steve.«

»Keine Leiche, Mann. Ich rede von einer nackten Frau.«

»Klar«, log er.

Manny strich mit der Hand über ihren Schenkel.

»Hey, lass das!«

»Greif zu, Mann. Anders kommt ein Loser wie du an so eine Klassefrau nicht ran.«

»Nimm die Finger von ihr, verdammt.«

»Es könnte ruhig ein bisschen heller sein.« Manny fing an, ihr Bein zur Seite zu ziehen.

Wes versetzte ihm einen Tritt gegen die Schulter, und er fiel vornüber.

»Hey!«

»Fummel nicht an ihr rum. Lass sie in Ruhe!«

»Arschloch!« Manny sprang auf und wirbelte zu Wes herum. Er ballte die Fäuste.

Wes registrierte, dass er noch immer die Bierflasche in der Hand hielt. »Bleib, wo du bist!«, zischte er warnend. »Ich schlag zu. Ich schwör dir, ich schlag dir den Schädel ein.«

Er hob die Flasche wie einen Knüppel über den Kopf, und kaltes Bier floss seinen Arm hinab.

»Glaubst du, du kannst es mit mir aufnehmen? Ich schieb dir die Flasche in deinen jungfräulichen Arsch.«

»Ich will mich nicht mit dir prügeln«, sagte Wes.

»Das ist auch besser für dich. Lass es lieber.«

Wes warf die Flasche weg. Sie flog über die niedrige Mauer, auf der Darlene gelegen hatte. Ein paar Sekunden später landete sie mit einem leisen Klatschen im Fluss.

»Okay?«, fragte er. »Okay?«

»Okay.« Mit einem Grinsen schlug Manny Wes auf die Schulter. Dann rammte er ihm sein Knie in den Bauch. Wes klappte zusammen. »Jetzt sind wir quitt«, sagte Manny, nahm Wes’ Arm und half ihm hoch. »Ich weiß nicht, warum du immer das Arschloch markieren musst. Los, wir checken sie aus. So ’ne Gelegenheit bekommt man nicht alle Tage.«

Wes krümmte sich vornüber und hielt sich den Bauch, während er nach Luft schnappte und den Kopf schüttelte.

»Wie du meinst, aber leg dich nicht mit mir an.«

Manny drehte sich um und beugte sich über die Leiche. Und fuhr kerzengerade hoch, als in der Ferne Scheinwerfer auftauchten.

Sie rannten. Weg von der toten Darlene und durch die Hitze des brennenden Wagens in die kühlere Nachtluft dahinter. Dann stiegen sie in Mannys Wagen.

Manny ließ den Motor an, warf Wes einen Blick zu und grinste. »Pech gehabt«, sagte er. »Hätte ein echter Kick werden können.« Dann wendete er den Wagen in einer engen Kurve, und sie bretterten in Richtung Stadt.

Kapitel Zwei

Als am Montagmorgen ihr Wecker plärrte, drückte Vicki die Schlummertaste, um sich zehn weitere Minuten zu gönnen. Sie streckte sich, rollte herum und vergrub das Gesicht in der warmen Mulde ihres Kissens.

Eigentlich liebte sie diesen Moment, wenn sie sich in die wohlige Wärme ihres Betts kuscheln und die Gedanken schweifen lassen konnte.

Heute jedoch fühlte sie sich unbehaglich und verängstigt.

Sie wusste, dass Steve und Darlene der Grund dafür waren.

Es ließ sie innerlich frösteln.

Sie hatte eigentlich kein Mitleid mit den beiden. Schließlich hatten sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn es stimmte, was Cynthia erzählt hatte. Niemand raste mit siebzig über die River Road. Und wenn sie tatsächlich nackt gewesen waren, als sie gegen die Brücke knallten, umso schlimmer. Sie waren gerast und hatten es miteinander getrieben. Das war praktisch Selbstmord.

Außerdem war es um die beiden nicht wirklich schade. Steve sah vielleicht blendend aus und gab einen ziemlich guten Quarterback ab, war aber derart eingebildet, dass einem das Kotzen kam. Und Darlene war nicht nur eingebildet, sondern setzte ihr Aussehen als Folterinstrument ein, um die Hälfte der Jungs in der Schule zu quälen.

Vicki wusste, dass sie keinen der beiden vermissen würde.

Aber sie waren tot.

Tot.

Die Kälte in ihrem Inneren nahm zu.

Rumliegen und Rumgrübeln machten es nicht gerade besser.

Sie stand auf und stellte die Weckwiederholung aus, streckte sich, zog ihre Pyjamahose hoch und trat ans Schlafzimmerfenster.

Draußen war es wunderschön. Der Himmel war wolkenlos und blassblau. In der Ferne ging Mr. Blain auf seinem Dock in die Hocke, um die Leine seines Außenborders zu lösen.

Die warme Morgenbrise zupfte an Vickis Pyjama, so dass der leichte Stoff ihre Haut streichelte.

Sie hörte das Summen von Insekten, das Zwitschern der Vögel und das Schnattern eines Seetauchers. Ein Schmetterling flatterte an ihrem Fenster vorüber.

Sie dachte, wie schön dies alles war, und dann dachte sie, dass Darlene und Steve nie wieder einen neuen Morgen erleben würden.

Sie stellte sich Darlene in einem dunklen, engen Sarg vor, begraben unter sechs Fuß Erde. Das schien ihr irgendwie schlimmer als verbrannt zu werden wie Steve.

Fröstelnd wandte sie sich vom Fenster ab. Sie ging zum Schrank und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Während sie aus dem Zimmer lief, beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass beide im Himmel waren. Sie war sich nicht sicher, ob es einen Himmel gab, aber der Gedanke daran war besser als die Vorstellung, dass sie einfach nur für immer tot waren.

Im Korridor roch sie Kaffee. Sie fragte sich, wie etwas, das so köstlich roch, so bitter schmecken konnte.

Dad saß mit seinem Kaffee am Frühstückstisch. Mom stand am Herd und sah über die Schulter, als Vicki hereinkam. »Willst du Spiegelei oder Rührei?«, fragte sie.

»Spiegelei, glaube ich.«

Es schien alles so normal.

»Morgen, Pops.«

Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er hatte sich noch nicht rasiert.

Irgendwo hatte sie gehört, dass der Bart nach dem Tod eines Mannes noch eine Weile weiterwächst.

Er tätschelte Vickis Hüfte.

Er wird irgendwann sterben, dachte sie. Und Mom auch.

Hör auf damit, sagte sie sich. Sie sind erst achtunddreißig, Herrgott nochmal.

Sie drückte ihn noch einmal ganz besonders fest, richtete sich auf und sah ihre Mutter an. Mom schlug gerade ein Ei in die Pfanne. Sie trug das blaue Kleid, das Dad ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.

Wenn ich jetzt rumlaufe und jeden umarme, dachte Vicki, werden sie mich für gestört halten.

Also setzte sie sich auf den Stuhl, auf dem sie immer saß, und trank einen Schluck Orangensaft. Dad sah ihr dabei zu.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte er.

»Klar.«

»Schlecht geträumt?«

Sie zuckte die Achseln.

»Wir haben dich heute Nacht im Schlaf reden hören«, sagte Mom vom Herd herüber.

»Wirklich? Hab ich irgendwas Interessantes gesagt?«

»Nur unverständliches Gebrabbel«, erwiderte ihr Dad.

»Es klang jedenfalls ziemlich aufgebracht.«

»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht.«

»Wenn dich irgendwas bedrückt …«

»Ich bin okay, Mom. Wirklich.«

»Wie zum Beispiel, dass deine Periode ausbleibt«, sagte Dad.

Vicki merkte, wie sie rot wurde. »Sehr witzig.«

»Das ist es also nicht?«

»Wohl kaum.«

Mom brachte den Teller. Das Spiegelei lag auf einer Scheibe Toast, wie Vicki es mochte, mit zwei Streifen gebratenem Speck. Während sie ihr Frühstück zerschnitt und alles durcheinandermischte, goss Mom Dad und sich selbst Kaffee nach und setzte sich.

»Es war eine wunderschöne Totenmesse gestern. Du hättest wirklich mitkommen sollen.«

»Hätte dir geholfen, die Sache aus dem Kopf zu kriegen«, fügte Dad hinzu.

»Mein Kopf ist in Ordnung, vielen Dank.«

»Dein Wissenschaftsprojekt hätte warten können«, sagte Mom. »Du hast noch die ganze Woche Zeit bis zur Ausstellung.«

»Ich wollte es hinter mir haben. Außerdem sind Darlenes Eltern eure Freunde, nicht meine.«

»Sie haben nach dir gefragt«, sagte Mom.

»Na toll«, murmelte sie. Sie spießte ein Stück Speck, Weißes vom Ei und dotterdurchweichten Toast auf ihre Gabel und schob sie in ihren Mund. Es schmeckte nicht so gut wie sonst.

Vielen Dank, dass ihr mir das Frühstück vermiest habt, Leute.

»Tja«, sagte Dad, »es war deine Entscheidung.«

»Meine Entscheidung, aber anscheinend die falsche.«

»Es wäre nett gewesen, wenn du hingegangen wärst«, sagte Mom.

»Okay. Das nächste Mal, wenn sich ein paar Kids umbringen, weil sie mit siebzig durch die Gegend rasen und dabei vögeln, gehe ich bestimmt zu ihrer Beerdigung.«

Moms Gesicht lief dunkelrot an.

Dad zog die Augenbrauen hoch und schien irgendwie amüsiert.

»Wie kannst du nur so was Schreckliches sagen?«

»Tut mir leid, Mom.«

»Wenn du ihre Eltern gesehen hättest …« Mom biss sich auf die Unterlippe. In ihren Augen schimmerten

Tränen. »Ihre einzige Tochter …«

»Ich weiß. Tut mir leid.«

»Ich musste immer nur denken, wie ich mich fühlen würde, wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst.«

Jetzt wurden auch Dads Augen feucht.

»War ich aber nicht.«

»Du hättest es sein können.«

»Klar hätte ich es sein können. Auf jeden Fall. Wenn ich so aussähe wie Darlene und die Anführerin der Cheerleadertruppe wäre und alle Jungs zu sabbern anfingen, wenn sie mir auf die Bluse glotzen, und einen superscharfen Freund hätte, der es cool findet, auszuprobieren, wie schnell er auf einer schmalen Straße fahren kann, während ich weiß Gott was mit ihm mache. Hätte genauso gut ich sein können. Ganz bestimmt! Aber ich bin nun mal keine atemberaubende Schönheit, und Typen wie Steve Kraft ist es egal, dass ich existiere, und der Einzige, dem ich nicht egal bin, ist zu schüchtern und viel zu schlau, um wie ein Verrückter zu fahren, und wenn er es täte, würde ich den verdammten Zündschlüssel rausziehen und ihn zwingen, ihn zu schlucken.«

Sie hielt inne, nickte einmal mit dem Kopf, kurz und heftig, und schob sich eine weitere Gabel vom Frühstück in den Mund.

»Na, na«, sagte Dad. Er hatte noch immer feuchte Augen, doch um seinen Mund zuckte ein schiefes Grinsen.

Moms Mund stand offen. Sie wirkte perplex, hatte aber immerhin aufgehört zu weinen.

Dad stand vom Tisch auf. »Leider muss ich jetzt gehen und unseren Lebensunterhalt verdienen. Und ich hoffe, ihr Damen verfallt ohne mich nicht in irgendwelche üblen Tiraden, okay?«

Er trat hinter Vickis Stuhl und legte die Hände auf ihre Schultern. »Du bist ebenfalls eine atemberaubende Schönheit«, sagte er.

Mom nickte zustimmend. »Du solltest dich nicht immer kleiner machen als du bist, Liebling. Du bist eine sehr attraktive junge Frau – und sehr klug. Dein Vater und ich sind sehr stolz auf dich. Es gibt keinen Grund, warum du auf jemanden wie Darlene eifersüchtig oder neidisch sein solltest.«

»Ich beneide sie nicht, das ist mal sicher.«

»Gut«, sagte Mom. Sie hatte ihre Bemerkung nicht kapiert.

Dad schon. Er küsste Vicki auf den Kopf. »Biest«, murmelte er und ging.

Der Rest des Frühstücks schmeckte ausgezeichnet.

Sich die Dinge von der Seele zu reden, dachte sie, steigert anscheinend den Appetit.

»Alice ist da«, rief Mom, kurz nachdem Vicki die Türglocke hatte läuten hören.

»Komme sofort.« Sie band sich ihre weißen Nikes zu, sprang vom Bett auf und warf sich ihre Büchertasche um, während sie aus dem Zimmer eilte.

Es tat ihr gut, Ace zu sehen. An diesem Morgen ganz besonders.

»Ich weiß«, sagte Ace zu Mom. »Es ist eine schreckliche Tragödie.« Sie nickte Vicki zu. Ihr Gesicht wirkte ernst. »Besonders für ihre Eltern.«

»Furchtbar«, sagte Mom. Obwohl sie genauso groß war wie Vicki, die man nicht gerade als halbe Portion bezeichnen konnte, wirkte sie neben Ace klein und zerbrechlich.

Wie fast jeder.

Alice »Ace« Mason war das größte Mädchen in der Abschlussklasse, und viele der Jungs schienen, auch wenn sie eigentlich größer waren, in ihrer Gegenwart zu schrumpfen.

Imposant, dachte Vicki. Genau das ist sie.

Ebenso imponierend war die teilnahmsvolle Pose, mit der sie Vicki einen gekonnt traurigen Dackelblick zuwarf.

»Wir sollten langsam los«, sagte sie. »Schönen Tag noch, Mrs. Chandler.«

Vicki gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und folgte Ace nach draußen. Einen halben Block weiter sah Ace Vicki mit hellen schlitzohrig funkelnden Augen an.

»Trägst du kein Trauerschwarz, Vicks?«, fragte sie in gewohnt barscher Art.

»Und du?«

Ace schnaubte verächtlich. »Ein schwarzes Höschen reicht doch wohl, Schätzchen.« Sie streckte ihren Hintern in Vickis Richtung.

Sie trug knallenge weiße Shorts, durch deren Stoff sich ein dunkles Dreieck und ein schmales Hüftband abzeichneten.

»Ganz schön schwarz.«

»Kann man es sehen?« Sie drehte sich herum und sah selbst nach. »Scheiß drauf.«

»Sehr sexy.«

»Hab ich extra bestellt. Soll ich dir auch einen besorgen? «

»Bestimmt nicht. Was, wenn Mom die Wäsche macht?«

»Wir bestellen ihr einen mit. Wird deinen Dad glatt die Wände hochgehen lassen.«

»Bitte nicht.«

»Wenn wir jetzt bestellen, kriegst du ihn noch rechtzeitig zum Abschlussball.«

»Trotzdem vielen Dank.«

»Gönn Henry doch mal ein bisschen Spaß.«

»Ich könnte genauso gut getupfte Boxershorts tragen. Henry wird meine Unterwäsche nämlich sowieso nicht sehen.«

»Armer Kerl. Da wird er sicher einen unvergesslichen Abend erleben.«

»Wie war dein Wochenende?«, fragte Vicki in der Hoffnung, damit vom Thema Henry abzulenken.

»Hab ein bisschen Sonne getankt. Tante Lucy war die übliche Nervensäge. Ich wünschte, ich wär hier gewesen. Hab die ganze Aufregung verpasst. Deine Mom sagt, du hättest dir die Chance entgehen lassen, mitzuerleben, wie Darlene eingebuddelt wird.«

»Ich konnte nicht hingehen. Hatte kein schwarzes Höschen.«

»Darum werden wir uns kümmern. Weißt du eigentlich, dass sie gerade dabei war, ihm einen zu blasen, als es die beiden erwischt hat?«

»Du machst Witze. Von wem hast du das gehört?«

»Ich dachte, das wüssten alle.«

»Mir hat es niemand erzählt.«

Ace blieb auf dem menschenleeren Gehweg stehen, sah sich nach allen Seiten um, wie um sich zu vergewissern, dass niemand sie hören konnte, und beugte den Kopf zu Vicki herab. »Hast du gehört, dass sie splitternackt war?«

»Ja. Cynthia hat mich am Samstagmorgen angerufen. Sie hat ein Telefongespräch ihrer Mutter mit Thelma Clemens belauscht. Sie sagte, Steve sei verbrannt wie Grillkohle und Darlene durch die Frontscheibe geschleudert worden – und dass sie nackt war und dass ihr Kopf … abgetrennt wurde.«

»Das ist alles?«, fragte Ace.

Dem genüsslichen Funkeln in Aces Augen nach wusste Vicki, dass ein wesentliches Detail in Cynthias Version der Geschehnisse gefehlt hatte. »Was war noch?«, fragte sie.

»Tja, ich hab gestern Abend mit Roger gesprochen. Sein Bruder ist ein guter Freund von Joey Milbourne. Joey war wohl derjenige, der ihren Kopf gefunden hat. Er lag weit drüben auf der anderen Seite der Brücke unter ein paar Büschen. Der Typ ist neben Pollock der größte Wichser, der es je zum Polizisten gebracht hat, und vielleicht hat er das alles nur erfunden, um ordentlich angeben zu können, aber er hat Rogers Bruder erzählt, dass er Darlenes Kopf mit …«

Ace verstummte und blickte erneut um sich.

»Nun sag schon.«

»Bist du sicher, dass du das noch nicht gehört hast?«

»Hör auf, rumzulabern und rück raus damit.«

»Sie hatte Steves Schwanz im Mund.«

»Was?«

Ace bleckte die Zähne und biss geräuschvoll zu.

»Heilige Scheiße«, murmelte Vicki.

»Sie hat zugebissen, als sie ins Gras biss.«

Vicki prustete los und schubste Ace von sich weg.

»Was für ein Abgang!«, wieherte Ace, als sie sich wieder einigermaßen von ihrem Lachanfall erholt hatte.

»Autsch! Es tut mir schon weh, wenn ich das bloß höre«, ächzte Vicki.

»Und du hast nicht mal einen.«

»Aber wenn ich einen hätte …«

»Er kam und ging.«

»Ace, Ace!« Sie rieb sich die Tränen aus den Augen. »Hör auf!«

»Wenigstens hat Darlene ihr letztes Abendmahl bekommen. «

»Eine Knackwurst!«, kreischte Vicki. »Ohne Sauerkraut! «

»Eher einen Hot Dog, nach dem, was ich gehört habe. Eher ein Cocktail-Würstchen.«

»O Gott! Hör auf, Ace!«

»Wieso ich?« Später hatte Vicki ein schlechtes Gewissen. Als ob es nicht schon schlimm genug gewesen wäre, dass sie über den Tod ihrer Klassenkameraden nicht besonders traurig war – sie hatte auch noch darüber Witze gemacht und hysterisch gelacht. Das kam ihr unfassbar grausam vor.

In der vierten Stunde im Lesesaal steckte Vicki Ace einen Zettel zu. »Er ging ohne seinen Johannes zum heiligen Petrus«, stand darauf.

Ace las und prustete los.

Mr. Silverstein, der Klausuren korrigierte, hob mit einem Ruck den Kopf.

»Miss Mason, würden Sie uns alle an dem teilhaben lassen, was Sie so erheitert?«

»Nein, lieber nicht.«

»Ist das ein Zettel, den ich da in Ihrer Hand sehe?«

»Ich hab nichts in der Hand«, versicherte ihm Ace. »Sehen Sie?« Sie stopfte sich den Zettel unverhohlen in den Mund, hielt beide Hände in die Höhe und begann zu kauen.

Ungefähr die Hälfte der Anwesenden applaudierte. Mr. Silverstein schüttelte den Kopf. Er musterte Ace mit gerunzelter Stirn, als überlegte er, der Sache nachzugehen, entschied sich aber augenscheinlich, es dabei zu belassen und behalf sich stattdessen mit einem lahmen »Nun, jetzt wieder in Ruhe an die Arbeit, das hier ist ein Lesesaal und kein Zirkus«, und fuhr mit Korrigieren fort.

Ace nahm das durchweichte Papierknäuel aus dem Mund und warf es auf Melvin Dobbs, der zwei Tische vor ihr saß. Es blieb an seinem Nacken kleben. Vicki versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.

Normalerweise empfand sie für Melvin so etwas wie Mitleid. Er war ein seltsamer Junge, schräg genug, um als Zielscheibe für jeden zu taugen, der Lust auf Krawall verspürte. Vicki wünschte, Ace hätte die Rotzkugel auf jemand anderen geworfen, doch sie musste einfach lachen.

Melvin zuckte zusammen, als das nasse Papierknäuel gegen seinen Nacken klatschte. Er setzte sich kerzengerade auf, pflückte es von seinem Hals, faltete es behutsam auf und las.

Na super, dachte Vicki.

Melvin drehte sich um. Er starrte Ace aus seinen halb geschlossenen Glubschaugen an. Dann knüllte er den Zettel zusammen. Er roch daran, leckte sich seine dicken Lippen und stopfte das Papier in seinen Mund. Er kaute es langsam, grinste ein bisschen und rollte genießerisch mit den Augen. Schließlich schluckte er.

Vicki kam es beinahe hoch.

Als die Klingel schrillte, gesellte sie sich zu Ace.

Ace verdrehte wie Melvin die Augen. »Hast du ihn kauen sehen?«

»Hätte fast mein Frühstück von mir gegeben.«

»Der Typ ist echt merkwürdig.«

Auf dem Weg in die Cafeteria sahen sie Melvin vor sich. Er ging vornübergebeugt, einen Arm wild vor und zurück schwingend, während sein anderer durch das Gewicht seiner Büchermappe gerade herabhing. Sein rosafarbenes Hemd hing ihm hinten aus der Hose. Es verdeckte den Hosenboden seiner grauenvollen karierten Shorts.

»Hast du noch ein Stück Papier?«, fragte Ace.

»Wozu?«

»Vielleicht möchte er einen Nachschlag.«

Im selben Augenblick machte Randy Montclair direkt vor Ace einen langen Schritt seitwärts und gab Melvin einen Schlag auf den Hinterkopf. »Du hast mir den Appetit verdorben, du Schwein«, sagte er und versetzte Melvin einen weiteren Schlag. Melvin zog den Kopf ein, ging jedoch weiter.

Randy war ebenfalls im Lesesaal gewesen. Anscheinend hatte er gesehen, wie Melvin die Rotzkugel geschluckt hatte.

Doug, sein Kumpel, schob sich lachend neben ihn. »Dafür hat er noch eine verdient!«

»Drecksau.« Randy verabreichte Melvin erneut einen Schlag.

»Lass das!«, fauchte Vicki.

Ohne von Melvin abzulassen, warf er einen Blick über die Schulter. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Halt dich da raus.«

»Lass ihn in Ruhe.«

Er ignorierte sie und versetzte Melvin einen weiteren Schlag mit dem Handrücken gegen den Hinterkopf.

Vicki nahm ihren Bücherranzen ab, packte ihn bei den Schulterriemen und schwang ihn Richtung Randy. Der schwere Rucksack krachte gegen seine Schulter. Er taumelte seitwärts und stieß gegen Doug. Sie gingen beide fast zu Boden, aber nur fast.

Dann wirbelten sie zu Vicki herum.

Sie sahen nicht sonderlich erfreut aus.

»Lasst ihn einfach in Ruhe«, sagte sie. »Okay?«

Wütend fuchtelte Randy mit der Faust vor ihrer Nase herum.

»Oh, ich hab ja solche Angst.«

Die hatte sie nicht wirklich. Nicht mit Ace an ihrer Seite.

»Wenn du kein Mädchen wärst, würde ich dir die Fresse polieren.«

Doug sah aus, als wollte er dasselbe wiederholen, warf jedoch einen Blick auf Ace und hielt den Mund.

»Verzieht euch, Jungs«, sagte Ace.

Die Zornesfalten auf Randys Stirn verschwanden. Er sah zu Ace auf. »Sag Vicki, sie soll ihre Nase aus meinen Angelegenheiten raushalten.«

Ace zog die Augenbrauen hoch. »Ich hab das magische Wort nicht gehört.«

Randy murmelte etwas Unverständliches und machte einen Schritt zur Seite, wobei er Doug einen Stoß versetzte, als sei alles irgendwie seine Schuld.

Vicki und Ace gingen weiter und ließen die beiden einfach stehen.

»Danke«, sagte Vicki.

»Du schuldest mir ein Ding-dong.«

»Heute gibt’s nur Twinkies.«

»Ein Twinkie ist auch okay. Bist du plötzlich Melvins Bodyguard oder was?«

»Es war mein Zettel, den er gegessen hat.«

»Es war meine Spucke.«

»Das macht ihn zu deinem Blutsbruder«, erklärte Vicki.

»Igitt! Ich glaub, du brauchst ’ne Lobotomie, Mädchen!«

Kapitel Drei

Am Samstagmorgen half Vickis Vater ihr, alles, was sie für ihr Wissenschaftsprojekt brauchte, im Kofferraum zu verstauen, und fuhr sie zum Gemeindezentrum.

Der Frühlingsmarkt der Wissenschaft war eine der städtischen Standardveranstaltungen, die ebenso wie die Antiquitätenmesse, die Waffenschau und die Handwerksmesse vor allem dazu dienten, den Einwohnern von Ellsworth an den Wochenenden die Zeit zu vertreiben.

Die meisten anderen Ausstellungen brachten Händler und Besucher von außerhalb in die Stadt, was gut für die Motels und Restaurants war. Die Wissenschaftsmesse nicht. Sie war das Vorzeigeprojekt der einheimischen Schüler, die teilnehmen und ihre Werke vorführen mussten, um ihre Abschlussnoten in den naturwissenschaftlichen Kursen zu bekommen. Schüler und Lehrer kamen umsonst rein. Für alle anderen kostete es zwei Dollar Eintritt, und es schien, als wollte niemand in der ganzen Stadt dieses Ereignis versäumen.

Nicht nur, weil die meisten der Kids, die daran teilnahmen, eine ganze Schar von Verwandten hatten, sondern auch weil bei der Demonstration der Exponate zuverlässig irgendetwas schiefging und daher die Leute mit Stoff für Klatsch versorgte – und Klatsch und Tratsch waren ihre liebste Freizeitbeschäftigung.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte Dad, »dass das deine letzte Wissenschaftsausstellung ist.«

»Und sie kommt keinen Augenblick zu früh.«

Es würde ihre zwölfte sein – eine jedes Jahr seit der ersten Klasse. In früheren Jahren hatten ihr die Wissenschaftsausstellungen großen Spaß gemacht. Ihr erstes Projekt waren ein Hühnerei und eine 100-Watt-Glühbirne gewesen, die das Ei erwärmte. Später hatte sie aus einem Nagel und einer Trockenbatterie einen Elektromagneten gebaut.

»Erinnerst du dich noch an deinen Vulkan?«, fragte Dad. Offenbar dachte auch er an die guten, alten Zeiten.

»O Gott, das war eine Katastrophe.«

In der sechsten Klasse hatte Vicki einen spektakulär aussehenden Vulkan aus Gips modelliert, den sie auf einen Sockel stellte, unter welchem ein chemischer Feuerlöscher verborgen war. Ab und zu drückte sie leicht auf den Hebel des Feuerlöschers, worauf eine Sirene jaulte und eine weiße Wolke aus dem Krater des Vulkans quoll. Der Vulkan bebte sogar jedes Mal, wenn sie eine Eruption auslöste. Als jedoch die Preisrichter auftauchten, wollte sie ihnen einen Vulkanausbruch vorführen, den sie nicht so schnell vergessen würden, und hielt den Hebel heruntergedrückt. Die Sirene jaulte schauerlich. Die Leute um sie herum duckten sich, pressten die Hände auf ihre Ohren – und verschwanden dann in dem weißen Nebel, den der Feuerlöscher verströmte. Der Vulkan bebte. Es sah alles bestens aus, soweit Vicki es durch den dichten Nebel sehen konnte, bis ihre Hand abglitt, der Schlauch des Feuerlöschers aus seiner perfekten Position unter dem Krater rutschte, das mit großem Druck hervorzischende Pulver die Front ihres Vulkans wegsprengte und den Preisrichtern die Gipsbrocken wie Granatsplitter um die Ohren flogen.

»Du warst der Hit der Ausstellung«, sagte Dad.

»Gott sei Dank hab ich niemanden umgebracht.«

»Ich hätte den Vulkan gerne noch einmal gesehen. Du hättest ihn für dein letztes Projekt wiederbeleben können. «

»Jetzt, wo ich ein großes Mädchen bin, hab ich nicht mehr ganz so viel Spaß daran, mich zum Affen zu machen. «

Von wegen Spaß. Sie wusste noch, wie sie danach geheult hatte. Der heftige Applaus war kein Trost gewesen.

»Die Teile einer ausgeweideten und zerlegten Ratte auszustellen«, sagte Dad, »hat nicht halb so viel Flair wie ein Vulkanausbruch. Obwohl man einen gewissen Gruseleffekt nicht leugnen kann.«

»Ich dachte, ich sollte dieses Jahr vielleicht etwas Nützliches machen.«

»Lass dir mit dem Aufschneiden von Leichen noch ein paar Jahre Zeit.«

»Erinner mich nicht daran.«

»Vielleicht solltest du besser Jura studieren.«

»Ich möchte die Menschen lieber heilen als abzocken.«

Mit einem Lachen lenkte Dad den Wagen auf den Parkplatz des Gemeindezentrums. Obwohl es noch früh war, waren die meisten der Parkbuchten in der Nähe der offenen Türen der Halle bereits besetzt. Eltern und Kinder luden Klapptische und Exponate aus Pkws, Lieferwagen und Pick-up-Trucks. Dad fuhr so nah an den Eingang wie möglich, was immer noch ein ziemliches Stück entfernt war, und parkte.

Sie stiegen aus und gingen zum Kofferraum. Als Dad ihn öffnete, schwappte ihnen der beißende Geruch von Formaldehyd entgegen. Vicki beugte sich hinein und nahm die Sezierschale heraus. Die sterilen Latexhandschuhe und das Präparierbesteck, das sie für das Sezieren der Ratte brauchte, lagen in der Wanne. Sie reichte sie ihrem Vater und hob vorsichtig das Einmachglas mit der Ratte heraus, die sie während der Ausstellung sezieren würde. Sie klemmte das Glas unter ihren Arm und nahm den Schaukasten aus Holz aus dem Kofferraum, in dem sie die Teile einer bereits »zerlegten« Ratte sorgfältig fixiert und etikettiert hatte.

»Hi, Vicki.«

Die Stimme kam ihr bekannt vor, doch sie konnte sie nicht zuordnen. Sie drehte sich um.

»Melvin.«

Er hielt seinen großen, runden Kopf zur Seite geneigt, und er blinzelte und grinste, während er die Hände aneinanderrieb. »Brauchst du Hilfe?«, fragte er.

»Guter Mann«, sagte Dad. »Sie haben dir einen Tag frei gegeben, wie?«

»Ja.«

»Glaubst du, sie kommen ohne dich zurecht?«

Er rollte den Kopf hin und her.

»Schätze, dein Vater muss das Benzin heute selber pumpen, wie?«

»Und die Windschutzscheiben putzen«, fügte Melvin hinzu.

Dad zog den Klapptisch aus dem Kofferraum und reichte ihn Melvin.

»Musst du nicht dein eigenes Projekt aufbauen?«, fragte Vicki.

»Hab ich schon.«

Dad schloss den Kofferraum, und die drei bewegten sich über den Parkplatz Richtung Halle. Melvin ging, den Tisch auf seinem Kopf balancierend, voran.

Er hatte nach dem Zwischenfall mit Randy Montclair am Montag kein Wort mit Vicki gesprochen. Obwohl sie nicht unbedingt erpicht auf ein Gespräch mit ihm war, hätte sie von ihm zumindest ein Wort des Dankes erwartet. Letztlich war sie zu dem Schluss gelangt, dass er wahrscheinlich gar nicht mitbekommen hatte, was sie getan hatte. Das erschien ihr jetzt nicht mehr so wahrscheinlich. Ihr zu helfen, ihr Projekt in die Halle zu tragen, war offenbar seine Art, seine Dankbarkeit zu zeigen.

Als er die Tür erreichte, ließ er den Tisch von seinem Kopf rutschen, hielt ihn mit beiden Händen vor der Brust und schob sich seitlich durch die Tür.

Vicki und ihr Vater folgten ihm. Das Areal, das für die Abschlussklasse der High School reserviert war, befand sich auf der anderen Seite der Halle. Sie entdeckte Ace, die damit beschäftigt war, den Inhalt eines Kartons auf einen Tisch zu räumen. Ohne Zögern steuerte Melvin auf das großgewachsene Mädchen zu. Er ließ den Kartentisch auf die leere Fläche neben Aces Exponaten sinken. Als sie etwas zu ihm sagte, deutete er mit dem Daumen über seine Schulter. Ace erblickte die näherkommende Vicki und nickte.

Melvin klappte die Beine des Tischs aus und stellte ihn auf.

»Vielen Dank für deine Hilfe«, sagte Vicki.

Ein Winkel seines Munds kroch nach oben. Er nickte, wurde rot und wandte sich ab. Mit ein paar watschelnden Schritten überquerte er die freie Fläche, die als Durchgang zwischen den beiden Reihen der ausgestellten Projekte diente. Er zog ein zerfleddertes Taschenbuch aus der Gesäßtasche seiner ausgebeulten Shorts, dann setzte er sich, das Gesicht den Mädchen zugewandt, auf einen Stuhl und begann zu lesen. Das Buch war Frankenstein.

»Soll ich dir beim Aufbauen helfen?«, fragte Dad.

»Nein, das mach ich schon. Danke.«

»Okay. Wir kommen später wieder. Viel Spaß.«

Er sagte Ace auf Wiedersehen und ging dann.

Vicki stellte die eingelegte Ratte auf den Tisch.

»Wie ich sehe, hast du an das Mittagessen gedacht«, bemerkte Ace.

»Und du an das Brot, den Käse und die Getränke. Das wird ein Festschmaus.«

Aces Brot und Käse, säuberlich auf ihrem Tisch aufgereiht, waren von Schimmel überzogen. Sie hatte auch Einmachgläser mit Kaffee, Rotwein und Apfelsaft dabei, die alle aussahen, als hätte jemand eine Handvoll Staubsaugerbeutelinhalt hineingeworfen. Auf zwei handgeschriebenen Plakaten, die mit Tesafilm aneinandergeklebt waren, fanden sich die nützlichen Eigenschaften von Schimmel aufgelistet.

»Du kriegst sicher die Ehrenmedaille«, sagte Vicki.

»Friss mein Höschen.«

Vicki begann mit ihren Vorbereitungen. Sie öffnete ihren hölzernen Schaukasten und stellte ihn aufrecht an den hinteren Rand ihres Tischs. Dann legte sie die Instrumente aus der Sezierschale in einer exakten Reihe davor aus und zog die Latexhandschuhe an. Sie war im Begriff, das Glas mit dem Formaldehyd und der Ratte zu öffnen.

»Verschon mich damit, okay?«, ächzte Ace. »Die Sache fängt erst in einer halben Stunde an. Warte um Himmels willen, bis dir jemand zusieht.«

Vicki zuckte mit den Schultern. »Also gut.« Sie stellte das Glas wieder hin und zog die Handschuhe aus.

Ace war damit beschäftigt, zwei Stühle aufzuklappen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie stellte sie nebeneinander mit den Rücken zu den Tischen auf. Die beiden Mädchen setzten sich.

Melvin, ihnen gegenüber, sah kurz von seinem Buch auf und las dann weiter.

»Was, glaubst du, hat er?«, fragte Ace leise.

»Vielleicht hat er das Megafon da gebaut.«

Das Megafon lag auf dem Boden neben Melvins Stuhl. Es sah ganz und gar nicht selbst gebaut aus.

Hinter ihm ragte ein quaderförmiges Gebilde von der Größe eines Plumpsklos auf: ein Holzgerüst, das mit blauen Betttüchern verhängt war.

»Was ist da drin?«, rief Ace ihm zu.

Er hob den Kopf und grinste. »Überraschung.«

»Hast du dieses Jahr wieder einen Automotor dabei?«

»Vielleicht.«

»Komm schon, jetzt hab dich nicht so und lass uns reinschauen.«

»Ihr werdet es schon noch sehen. Ich muss auf den richtigen Moment warten.«

»Und wann ist der?«

»Nicht bevor die Preisrichter kommen.«

»Du machst Witze.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es kann nur einmal gezeigt werden«, sagte er und vertiefte sich wieder in Frankenstein.

»Blindgänger«, murmelte Ace.

Vicki und Ace quatschten eine Weile über andere Dinge. Als Aces Freund Rob auftauchte, stand Vicki auf und schlenderte zu Henrys Projekt hinüber. Nicht, weil sie ihn unbedingt sehen wollte. Aber er kam dem, was man als Vickis Freund bezeichnen konnte, am nächsten, und schließlich würde er sie in der kommenden Woche zum Abschlussball ausführen, weshalb es unhöflich gewesen wäre, ihn zu ignorieren.

Er saß an seinem Computer und tippte eifrig Befehlsketten ein, die Humphrey tanzen und winken ließen, obwohl niemand die Vorstellung zu würdigen schien.

Humphrey war eine Marionette, einen Meter groß und in Frack und Zylinder gekleidet. Er vollführte seine Kunststücke neben Henrys Computer und sah ein bisschen aus, als sei er auf den Plastikschlauch gepfählt worden, der sich von der Steuereinheit zu seinem Hinterteil schlängelte.

»Hallo, Humphrey«, sagte Vicki.

Die Marionette winkte ihr zu und schleuderte spastisch die Beine zur Seite.

Henry, der auf einem Drehstuhl saß, schwang herum und sah zu Vicki auf. Seine Augen hinter den Brillengläsern waren groß vor Eifer und Begeisterung. Sie wirkten immer so, als sei Henry gerade im Begriff, eine sensationelle Nachricht zu verkünden.

»Wie läuft’s?«, fragte Vicki.

»Oh, alles bestens.«

»Schickes Outfit«, bemerkte sie. Henry trug eine Fliege und ein schwarzes Dinnerjackett. Sein Outfit war identisch mit Humphreys, allerdings trug Henry seinen Zylinder nicht auf dem Kopf, sondern hatte ihn auf den Tisch neben dem Keyboard gelegt, griffbereit für den Höhepunkt der Schau, wenn die Besucher vorüberschlendern würden.

»Du siehst sehr hübsch aus heute«, sagte er.

»Danke.« Vicki war von seinem Kompliment nicht sonderlich geschmeichelt. Es verging kaum ein Tag, an dem Henry nicht eine ähnliche Bemerkung machte. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass er sie dabei wirklich angesehen hatte. Die Worte kamen aus ihm heraus wie eine programmierte Reaktion auf ihr Erscheinen – als würde ihm plötzlich bewusst werden, dass er irgendein Interesse an ihrem Äußeren vortäuschen müsste.

Da haben wir echt eine heiße Romanze am Kochen, dachte sie.

Doch eigentlich lag es ebenso an ihr wie an Henry. Ihre Beziehung hatte auf intellektueller Ebene begonnen, als sie letztes Jahr in Physiologie als Laborteam eingeteilt wurden, und keiner von beiden hatte je den geringsten Versuch unternommen, ein bisschen etwas Physisches ins Spiel zu bringen. Sie waren mindestens ein Dutzend Mal miteinander ausgegangen und hatten sich nicht einmal geküsst. Es war, als besäße keiner von ihnen einen Körper.

Vicki fragte sich manchmal, was passieren würde, wenn sie ihn umarmen und küssen und sich an ihn pressen würde, ihn so richtig spüren lassen würde, dass sie eine Frau war, nicht nur jemand zum Quatschen. Henry würde sich vielleicht in einen brünstigen Hengst verwandeln.

Die Vorstellung war nicht gerade verlockend.

Deshalb hatte sie nichts unternommen, die Art ihrer Beziehung zu ändern. Sie mochte Henry, und er machte sich so lange ganz gut in der Rolle des Freundes, bis vielleicht etwas Besseres kam.

Was in nächster Zeit nicht sehr wahrscheinlich war.

Unter all den Jungs, die sie kannte, gab es nicht einen, der sie wirklich interessierte.

Das hatte sie Paul zu verdanken. Als er weggezogen war, war eine Welt für sie zusammengebrochen.

Sie bemerkte, dass Henry etwas zu ihr gesagt hatte. »Was?«, fragte sie. »Ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.«

»War es dort wenigstens interessant?«

Nur leer, sonst nichts, dachte sie.

»Nein«, sagte sie. »Was hast du gesagt?«

»Ich hab überlegt, ob wir uns vielleicht in der Mittagspause treffen könnten. Wir sollten unsere Pläne für kommenden Freitag besprechen.«

»Klar. Das wäre gut.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Der Spaß beginnt gleich. Ich geh mal lieber wieder zu meinen Ratten zurück.«

»Ciao«, sagte Henry und schwang mit seinem Drehstuhl herum, den Blick wieder auf seinen Monitor gerichtet. Seine Finger flogen über die Tastatur, und Humphrey winkte und zwinkerte ihr zu.

Vicki ging an ihren Tisch zurück. Ace und Rob standen vor den Stühlen, hielten sich bei den Händen und sahen einander an. Ace nickte, als Rob etwas sagte. Obwohl sie fast zehn Zentimeter größer war als Rob, wirkte sie neben ihm immer irgendwie nicht so imposant wie sonst, als würde seine Gegenwart ihre weibliche und verletzliche Seite zum Vorschein bringen.

Vicki wollte die intime Zweisamkeit nicht stören. Sie wandte sich ihrem Tisch zu und griff nach den Latexhandschuhen.

Sie wünschte, sie hätte nicht an Paul gedacht.

Manchmal dachte sie tagelang nicht an ihn.

Ihre Eltern hatten es »Jugendliebe« genannt, was ihr wie ein armseliger Versuch vorkam, ihre Gefühle für Paul herunterzuspielen. Für Vicki war es schlicht Liebe gewesen – und war es noch immer. Die Momente mit Paul waren etwas Besonderes gewesen, schön und erfüllend. Egal, ob sie nur zusammen im Unterricht gesessen oder in einem Kino Händchen gehalten hatten, den ganzen Tag im Wald herumgestromert oder im Fluss geschwommen waren, jeder Augenblick schien einmalig und wertvoll.

Doch sein Vater war Hauptfeldwebel bei den Marines. Paul war im Herbst von Vickis zweitem Studienjahr an die Ellsworth High gekommen. Sie hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt, ohne zu ahnen, dass ihnen nur dieses eine Schuljahr und der folgende Sommer blieb. Dann erhielt sein Vater neue Befehle, und Paul zog mit seiner Familie auf eine Militärbasis in South Carolina.

Sie waren fast genau ein Jahr zusammen gewesen. Es war so schnell vergangen.

Es schien ihr, als wäre die schönste Zeit ihres Lebens vorbei, als Paul fortging. »Du wirst schon darüber hinwegkommen«, hatten ihre Eltern gesagt. Und irgendwie war sie darüber hinweggekommen. In gewisser Weise wenigstens. Es war eher ein daran Gewöhnen als darüber Hinwegkommen. Der Verlust war immer da, tief drinnen, ein Schatten, der jeden Tag etwas weniger hell machte – ein Verlust, der immer dann in ihr Bewusstsein drang, wenn sie an Paul erinnert wurde.

So wie jetzt.

Sie fühlte einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust, als sie die Handschuhe anzog.

Es bringt nichts, wenn du dich jetzt darüber aufregst, dachte sie. Verdammt, wahrscheinlich werde ich im Herbst am College einen sagenhaften Typen kennenlernen.

Sicher doch.

Sie schraubte den Deckel des Einmachglases auf, zog mit einer Zange die Ratte heraus und legte sie in die Sezierschale.

»Das ist wirklich ekelhaft«, sagte Ace. »Jenseits der Kotzgrenze.«

»Und dein Schimmel ist appetitanregender?«

Ace sah ihr über die Schulter, als sie die Pfoten der Ratte auf dem Boden der Schale fixierte.

»Was wollte Rob?«, fragte Vicki.

»Er fährt mit mir heute Abend ins Drive-in.«

»Was läuft?«

»Wen interessiert’s?«, sagte Ace und prustete vergnügt los.

Vicki beschäftigte sich abwechselnd damit, die Innereien ihrer Ratte freizulegen und auf dem Stuhl sitzend mit Ace zu quatschen, für deren Projekt keine praktische Demonstration nötig war. Sie vertrieben sich die Zeit damit, zuzusehen, wie Melvin neugierige Besucher abwimmelte, die wissen wollten, was hinter den Bettlaken verborgen war.

Er erklärte, dass sein Projekt nur ein einziges Mal gezeigt werden könne und dass sie schnell zurückkommen sollten, wenn er über das Megafon seine Ansage machte.

»Allmählich werde ich neugierig«, sagte Vicki.

» Vielleicht hat er eine Guillotine da drin versteckt und tut uns allen einen Gefallen und hackt sich seinen hässlichen Kopf ab.«

»Glaubst du, er hat genug Grips, eine Guillotine zu bauen?«

»Wenn er überhaupt Grips hätte, wäre er gefährlich.« Vickis Gedanken kreisten bereits um die Lunchpause, als die vier Preisrichter das Projekt neben Melvin erreichten. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Viertel vor zwölf. Um zwölf würde eine Stunde Pause sein. Einige der Eltern, das wusste sie von früheren Wissenschaftsausstellungen, hatten draußen vor den Türen Tische aufgestellt mit Bier und Wein für die Erwachsenen, Softdrinks, Hotdogs, Pizza und Tacos und allen möglichen anderen leckeren Sachen. Obwohl sie nicht besonders erpicht darauf war, die Mittagspause mit Henry zu verbringen, war sie definitiv hungrig. Ihr war schon den ganzen Morgen von dem Formaldehyd das Wasser im Mund zusammengelaufen, was einem unweigerlich passiert, selbst wenn man sich über eine tote Ratte beugt und sie zerschnippelt.

Ace schlug sich aufs Knie. »Der große Augenblick ist gekommen, meine Damen und Herren.«

Die Preisrichter blieben vor Melvin stehen. Er stemmte sich von seinem Stuhl hoch, hob das Megafon auf und legte den Schalter um. Ein hohes, jaulendes Pfeifen stach in Vickis Ohren und verklang.

»Achtung, Herrschaften«, verkündete Melvin ins Megafon; seine Stimme klang laut und blechern. »Kommen Sie, kommen Sie. Kommen Sie und bestaunen Sie Melvins unglaubliche Wundermaschine.« Während er sprach, schwankte er von einem Bein aufs andere und rollte mit dem Kopf. »Das dürfen Sie nicht verpassen.«

»Was für ein Vollidiot«, flüsterte Ace.

Auf seinem Gesicht lag tatsächlich ein ziemlich idiotischer Ausdruck, was für Melvin allerdings nichts Außergewöhnliches war.

Die Besucher strömten näher.

»Kommen und schauen Sie. Die unglaubliche Wundermaschine. Schnell, schnell. Treten Sie näher. So etwas haben Sie noch nie gesehen. Das müssen Sie gesehen haben. Kommen Sie alle.«

Mr. Peters, der Direktor und oberste Preisrichter, trat dicht an Melvin heran und sagte etwas zu ihm – wahrscheinlich, dass er voranmachen sollte.

Melvin nickte, hob das Megafon an seinen Mund und sagte: »Die Show beginnt!«

Inzwischen hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge vor Melvins Projekt versammelt. Vicki folgte Aces Beispiel und stieg auf ihren Stuhl. Von dort konnte sie alles genau sehen.

Melvin legte das Megafon neben seinem Stuhl auf den Boden. Er ging zu einer Ecke seiner Lattenkonstruktion, zog das Bettlaken ein Stück zur Seite, schlüpfte durch den Spalt und verschwand.

Nichts geschah.

Alle warteten. Noch mehr Leute strömten herbei. Fragendes Gemurmel, Kopfschütteln hier und dort.

Mr. Peters sah auf seine Armbanduhr. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Melvin«, sagte er.

»Sind alle bereit?«, rief Melvin schließlich. Seine Stimme klang dünn ohne das Megafon.

»Mach schon, Dumpfbacke«, rief Ace.

Ein paar Leute drehten sich um und sahen sie an, einige lachend, andere stirnrunzelnd.

»Hier ist – Melvins unglaubliche Wundermaschine!«

Das Betttuch an der Vorderseite des Gerüsts fiel zu Boden.

Leute keuchten und wurden still.

Vicki starrte ungläubig darauf. Einen Moment lang verstand sie nicht, was sie sah. Als sie es verstand, konnte sie es nicht glauben.

Um Melvin und sein »Projekt« herum lagen Rollen rasiermesserscharfen Stacheldrahts. Ein Plakat im Hintergrund verkündete: »ICH BIN DIE AUFERSTEHUNG UND DAS LEBEN.« In der Mitte, auf einer etwa kniehohen Plattform, stand ein Rollstuhl.

In dem Rollstuhl saß die Leiche von Darlene Morgan. Sie trug das Cheerleader-Outfit, in dem sie beerdigt worden war: einen grünen Faltenrock und einen goldfarbenen Pullover mit einem erhabenen grünen E für Ellsworth High auf der Brust.

Ihr Hals war mit Mullbinden umwickelt, um ihren Kopf auf dem Rumpf zu halten. Der Kopf selbst war nach hinten gesackt, ihr Mund stand offen. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht war grau.

Zwischen ihren Füßen stand eine Autobatterie, an deren Pole Überbrückungskabel geklemmt waren. Melvin hob die anderen Enden der Kabel über den Kopf und hakte die beiden Klammern zusammen. Strom blitzte und knisterte.

Vicki, wie betäubt, fühlte, dass sie schwankte. Sie packte Aces Arm, um nicht umzufallen.

Jemand fing an zu schreien. Dann schienen alle zu schreien oder zu kreischen.

»Großer Gott!«

»Haltet ihn auf!«

»Was macht er?«

»Um Himmels willen, Melvin!«

»Tut doch etwas!«

Doch statt zu versuchen, Melvin aufzuhalten, wichen die Leute in den ersten Reihen zurück.

Melvin fuhr mit seinem Tun fort, als sei er allein im Raum.

Er klemmte die Überbrückungskabel an Darlenes beide Daumen, sprang zur Seite und brüllte: »ERHEBE DICH! ERHEBE DICH! MACH SCHON, DU SCHLAMPE, STEH AUF!«

Darlene erhob sich nicht. Sie saß einfach nur da. Die Batterieladung schien keinerlei Wirkung zu haben.

»ICH BEFEHLE DIR, AUFZUERSTEHEN!«, schrie Melvin. Er rannte hinter den Rollstuhl, packte die Griffe und schüttelte ihn, als wollte er die Tote wachrütteln. »MACH SCHON! STEH AUF!«

Darlene wippte und schaukelte. Ihr Kopf wackelte. Sie stand nicht auf.

»HOCH MIT DIR! ICH BEFEHLE ES DIR!«

Mr. Peters sprang über das Stacheldrahtgewirr.

Melvin riss die Griffe hoch. Der Rollstuhl kippte nach vorn, Darlene rutschte vom Sitz. Mr. Peters schrie auf, als die Leiche auf ihn herabstürzte und duckte sich.

Darlene plumpste auf ihn. Ihr Kopf löste sich, rollte über seinen Rücken und fiel mit dem Gesicht voran in den Stacheldraht.

Melvin schenkte dem kreischenden Publikum ein breites blödes Grinsen.

HEIMKEHR

Kapitel Vier

Du lebst hier, dachte Vicki. Du kannst ihm nicht ewig aus dem Weg gehen, also bring es am besten gleich hinter dich.

Sie hatte noch genug Benzin, um bis zu Ace zu kommen, und musste nicht unbedingt anhalten. Doch dann würde der Tank des kleinen Möbellasters, den sie bei U-Haul gemietet hatte, so ziemlich leer sein, und sie musste morgen, sobald bei der neuen Wohnung, die Ace für sie gefunden hatte, alles ausgeladen war, vierzig Meilen nach Blayton fahren.

Vielleicht war die Arco-Tankstelle am anderen Ende der Stadt noch geöffnet. Sie hatte immer früh zugemacht, aber vielleicht hatten sich die Öffnungszeiten geändert.

Fahr einfach weiter und tank bei Melvin, dachte sie.

Obwohl sie noch mehr als eine Meile von der Stadtgrenze Ellsworths entfernt war, ließ die Entscheidung ihr Herz schneller schlagen. Das Lenkrad fühlte sich glitschig an. Kalte Schweißperlen sickerten unter ihren Achseln hervor und rannen bis zum Bund ihrer Shorts hinab. Sie wischte eine Hand an ihrer Bluse ab, dann schloss sie die beiden Knöpfe, die sie geöffnet hatte, um etwas Luft an ihre Haut zu lassen.

Vielleicht ist er gar nicht in der Tankstelle, dachte sie. Vielleicht hatte er jemanden eingestellt, der die Schicht für ihn schob. Leisten konnte er es sich allemal.

Er hätte nicht nach Ellsworth zurückkommen sollen. Oder war er ein Masochist? Er war schon ein Außenseiter gewesen, bevor er damals bei der Wissenschaftsausstellung ausgeflippt war, und niemand in Ellsworth würde ihn die Geschichte mit Darlene Morgan je vergessen lassen.

Als Ace ihr letztes Jahr am Telefon erzählt hatte, dass Melvin zurückgekommen war, war sie so entsetzt gewesen, dass sie ernsthaft überlegt hatte, ihre Pläne für die Zukunft zu ändern. Sosehr sie sich darauf freute, nach Ellsworth zurückzukehren, sobald sie ihre Assistenzarztzeit beendet hatte – die Vorstellung, in derselben Stadt wie Melvin zu leben, verursachte ihr Übelkeit. Vielleicht war sein Zustand »stabil«, vielleicht würde er nie wieder etwas so Wahnsinniges tun, aber dennoch würde sie jedes Mal, wenn sie ihn sah, an seine unglaubliche Wundermaschine denken.

Trotzdem, Ellsworth war ihre Heimat. Obwohl ihre Eltern während des ersten Semesters ihres Medizinstudiums nach Blayton gezogen waren, war es Ellsworth, wonach sie sich sehnte: die ruhigen, vertrauten Straßen ihrer Kindheit, die Läden, in denen sie eingekauft hatte, die Wälder und der Fluss, die sie für ihre Freunde hielt. Der Ort, an dem sie unbekümmert und glücklich gewesen war, der Ort, an dem sie sich verliebt hatte.

Zu wissen, dass Melvin Dobbs nach seiner Entlassung aus der Anstalt dorthin zurückgekehrt war, nahm der Stadt etwas von ihrem nostalgischen Glanz.

Dies allein wäre für Vicki möglicherweise Grund genug gewesen, ihre Pläne zu ändern, wäre da nicht die andere Sache gewesen.

Ein 25 000-Dollar-Darlehen von Dr. Gaines, das er Vicki unter der Bedingung angeboten hatte, dass sie nach Ellsworth zurückkam und ihm in seiner Familienpraxis half, bis das Darlehen abbezahlt war. Ein fantastisches Angebot, vor allem, weil Vicki immer davon geträumt hatte, in Ellsworth zu praktizieren. Und sie freute sich darauf, mit Charlie Gaines zu arbeiten, einem liebenswerten, charmanten alten Herrn, den sie sehr gernhatte.

Ihre Verpflichtungen dem Doktor gegenüber bildeten die endgültige Entscheidung für Ellsworth, wo sie ohnehin leben wollte, also hatte sie sich damit abgefunden, Melvin möglicherweise über den Weg zu laufen.

Vor einem Jahr wäre diese Begegnung eher unwahrscheinlich gewesen.

Jetzt stand sie unmittelbar bevor.

Vicki fühlte sich alles andere als wohl.

Beruhige dich, dachte sie. Das ist keine große Sache. Er wird mir nichts tun.

Als sie die Kurve in der River Road hinter sich gelassen hatte, sah sie die beleuchtete Tankstelle vor sich. Und dort war Melvin, der gebückt vor einem Wagen stand und offenbar das Kennzeichen auf eine Kreditkartenquittung schrieb.

So wie er gekleidet war, hätte er lächerlich wirken können. Er trug ein schreiend buntes Hawaiihemd, karierte Bermudashorts und dunkle Socken, die auf seine Knöchel herabgerutscht waren. Doch er wirkte keineswegs lächerlich; es war absolut nichts Lustiges an ihm. Vicki bezweifelte, dass sie irgendetwas an Melvin – wie seltsam und verschroben auch immer – jemals amüsant finden könnte.

Ihr Mut sank.

Fahr morgen zur Arco, dachte sie.

Doch das würde das Unvermeidliche nur hinauszögern. Besser, sich dem Unangenehmen zu stellen, statt es vor sich her zu schieben und ständig darüber nachzudenken.

Sie bremste, seufzte schwer und bog ab. Sie steuerte die Zapfsäulen für Selbstbedienung an, überlegte es sich dann jedoch anders. Es würde auch ohne dass sie ausstieg unangenehm genug werden. Besonders in ihrem Aufzug. Daher fuhr sie zum Servicebereich und stellte den Motor ab.

Melvin watschelte zu ihrer Seitenscheibe, starrte hinein und neigte seinen Kopf. Sein unteres Auge wurde schmal. Aus der Nähe sah sein Gesicht noch breiter aus, als sie es in Erinnerung hatte. Und hässlicher. Seine Augen schienen größer und weiter auseinander zu stehen, seine schwarzen Augenbrauen waren buschiger, seine Lippen wulstiger als früher. Sein langes Haar war glatt nach hinten gekämmt und mit Gel an den Schädel geklatscht.

»Ich kenne Sie«, sagte er.

»Vicki Chandler. Wie geht es dir, Melvin?«

Er beugte sich näher. Er hatte Knoblauch gegessen. »Vicki. Donnerwetter.« Sein Kopf wackelte, und er grinste. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du mit grünem Gesicht auf einem Stuhl gestanden.« Er gluckste und blies ihr seine Knoblauchfahne ins Gesicht.

Sie fragte sich, ob es ein gutes Zeichen war, dass er über diesen Tag reden und darüber lachen konnte.

»Na ja«, sagte sie. »Ich war ein bisschen geschockt.«

»Ich schätze, du warst nicht die Einzige.« Er zwinkerte ihr zu. »Das war ja der Witz an der Sache.«

»Der Witz?«

»Darlene ein bisschen Starthilfe zu geben. Verdammt, du glaubst doch nicht, ich hätte ernsthaft gedacht, dass es funktioniert? Nie im Leben. Nur ein Verrückter würde glauben, dass so etwas funktioniert. Tot ist tot, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Sah jedenfalls ganz so aus, als würdest du es ernst meinen«, sagte Vicki, erstaunt, dass er mit ihr darüber redete und das Bedürfnis hatte, sich zu erklären.

»Hab ’ne tolle Show geliefert, oder?«

»Warum hast du es getan?«

»Hatte es satt, dauernd rumgeschubst zu werden. Du weißt doch, wie die anderen mich ständig rumgeschubst haben. Du warst immer nett. Du warst so ziemlich die Einzige, die mich nicht ausgelacht oder rumgeschubst hat. So war’s doch. Und irgendwann hab ich begriffen, dass sie ständig auf mir rumhackten, weil ich irgendwie anders bin, also hab ich mir gedacht, ich jag ihnen einen solchen Schock ein, dass sie so große Angst vor mir kriegen, dass sie mich in Ruhe lassen.« Er schniefte und rieb sich die Nase. »Natürlich hab ich meine Lektion gelernt. Ich hätte das nicht tun sollen. Es ließ mich wie einen Irren dastehen.«

Du bist ein Irrer, dachte Vicki. Oder warst es zumindest.

»Das mit deinen Eltern tut mir leid«, sagte Vicki.

»Danke. Sie waren Schweinekotze.«

»Kannst du mal volltanken, Melvin? Bleifrei.«

»Sie haben mich nicht gerade arm zurückgelassen, das ist so ziemlich das einzig Gute, das ich über sie sagen kann. Soll ich einen Blick unter die Haube werfen?«

»Nein, alles okay.«

Er verschwand vom Fenster, und Vicki holte tief Luft.

Was immer sie in der Anstalt mit ihm gemacht hatten, es hatte ihn nicht sonderlich verändert.

Im Seitenspiegel sah sie, wie er den Tankdeckel abschraubte und den Füllstutzen der Zapfpistole in die Öffnung schob. Dann kam er wieder an ihre Scheibe zurück.

»Bist auf Besuch hier, oder was?«, fragte er.

Sie war überrascht, dass er es nicht wusste. Andererseits plauderten die Leute vermutlich nicht sonderlich viel mit ihm. »Ich werde in Dr. Gaines’ Praxis arbeiten.«

»Was machst du dort?«

»Ich bin jetzt Ärztin.«

»Ein Doktor?«

»Ja.«

»Ernsthaft? Ich brauch keine Ärzte. Die pfuschen an Menschen rum, oder nicht?«

»Ich kann mir vorstellen, dass du mehr von ihnen gesehen hast, als dir lieb ist.«

»Auf jeden Fall keinen so Hübschen wie dich.«

»Danke«, murmelte sie.

»Bist du verheiratet?«

»Noch nicht.«

»Sparst du dich für mich auf?« Er lachte und rieb sich die Nase. »Nur ein Scherz. Ich mach gern Scherze – manchmal. Ich konnte die Schwestern und Pfleger dazu bringen, dass sie sich vor Lachen die Bäuche hielten. Die Patienten haben kaum gelacht; dafür waren sie zu vollgedröhnt. Sie konnten eigentlich nur sabbern.« Er lachte.

Vicki hörte, wie der Zapfhahn klickte.

»Zahlst du bar oder mit Karte?«, fragte er.

»Bar.«

Er entfernte sich. Sobald er weg war, nahm Vicki ihre Handtasche vom Beifahrersitz und holte zwei Zwanziger heraus. Ihre Hand zitterte und die Scheine ebenfalls, als sie sie Melvin durch die Scheibe reichte. Er schlurfte davon, um das Wechselgeld zu holen.

Fast überstanden, dachte sie. War doch gar nicht so schlimm.

Aber besonders angenehm auch nicht.

Als er zurückkam, legte Vicki den Unterarm auf den Türholm, um zu verhindern, dass die Hand zitterte, in die Melvin Münzen und Scheine hinein zählte.

»Ich bin wirklich froh, dass du wieder da bist«, sagte er.

»Danke.« Sie schob das Geld in die Tasche ihrer Bluse und sah, wie Melvin sie dabei beobachtete.

»Hoffe, du kommst wieder, wenn du Benzin brauchst.«

Sie nickte.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Okay?«

»Ich hab keine Angst vor dir, Melvin.«

»Natürlich hast du Angst. Sie haben alle Angst. Verdammt, ich würde keinen Liter Benzin verkaufen, wenn nicht ab und zu Fremde durchkämen. So wie die Leute hier drauf sind, könnte man glauben, ich wär derjenige, der Darlene umgebracht hat. Ich hab ihr nie was getan. Hab sie nur ausgegraben und mir einen kleinen Scherz mit ihr erlaubt. Aber ich will nicht, dass du vor mir Angst hast. Okay?«

»Schön«, erwiderte sie und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Bis bald. Wir sehen uns.«

Er trat einen Schritt vom Laster zurück. Vicki startete den Motor und fuhr los. Sie bog auf die River Road.

Man konnte beinahe Mitleid mit dem armen Kerl haben, dachte sie.

So wie man beinahe über sein komisches Aussehen und seine merkwürdige Art lachen konnte.

Doch sie fand ihn weder amüsant noch bemitleidenswert.

Schweinekotze. So hatte er seine toten Eltern genannt. Man kann für einen Typen, der so etwas sagt, kein Mitleid empfinden. Oder für einen Typen, der eine derart kranke Nummer mit Darlene abzieht.

Klar, die Kids hatten ihm das Leben schwer gemacht. Aber das war keine Entschuldigung. Eine Menge Leute werden von anderen rumgeschubst und gehen trotzdem nicht los und graben ein totes Mädchen aus und machen aus ihrer Leiche eine Bühnenattraktion.

Und er hat gefragt, ob ich mich für ihn aufspare.

Ace kam in einem knallgelben Minnie-Maus-Nachthemd zur Tür und umarmte Vicki stürmisch. Sie machte einen Schritt zurück und sagte: »Gott, ist das lange her!«

»Nächsten Monat sind es drei Jahre seit meinem letzten Besuch.«

»Es ist ein Elend, wie sehr du gealtert bist.«

»Leck mich.«

Sie schnappte sich Vickis Koffer und ging ihr durchs Haus voran. »Wie war die Fahrt?«

»Endlos.«

»Wir zwitschern gleich einen zum Runterkommen.«

»Klingt gut.«

Ace wuchtete den Koffer auf das Bett im Gästezimmer. Dann gingen sie in die Küche. »Wodka Tonic?«