Das Ufer - Richard Laymon - E-Book

Das Ufer E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

Der dunkle See … Das einsame Haus am Ufer … Zwei junge Menschen, die dort eine Liebesnacht verbringen wollen … Doch einer von ihnen wird den nächsten Morgen nicht mehr erleben … 18 Jahre später wird die Kleinstadt Tiburon von einem Serienkiller heimgesucht. Angst und Wahnsinn greifen um sich, und das Haus am Ufer wird wieder zum Ort unvorstellbaren Grauens!

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Seitenzahl: 639

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Das Buch

1969: Das Teenagermädchen Leigh verbringt den Sommer in Lake Wahconda. In einem verlassenen Haus trifft sie sich heimlich mit dem jungen Charlie, in den sie sich verliebt hat. Doch dann passiert etwas Schreckliches: Bei einem Unfall stirbt Charlie. Leigh wird angeklagt, aber freigesprochen. Viele Jahre später: Ein Serienkiller sucht das beschauliche Städtchen Tiburon heim, in dem Leigh mittlerweile lebt. Als sie bei dem sadistischen Cop Mace Fotos von den Mordopfern sowie einen Brief ihrer Mutter findet, beginnt Leigh zu ahnen, dass der Schlüssel zu dem Grauen von Tiburon in ihrer Vergangenheit liegt …

Mit einem ausführlichen Verzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Werke von Richard Laymon.

Der Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com

RICHARD LAYMON

DAS UFER

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Kristof Hahn

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

THE LAKE

erschien 2009 bei Leisure Books, New York

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie alles rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter www.heyne-hardcore.de/facebook

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2016

Copyright © 2004 by Richard Laymon

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published in arrangement with Lennart Sane Agency AB

Redaktion: Catherine Beck

Umschlagillustration: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-15925-2V001

www.heyne-hardcore.de

1

Dienstag, 27. April

Verna Lavette klatschte in die Hände.

»Meine Lieblingssüßigkeiten!«, quiekte sie.

Mandelmarzipan, Walnuss-Nougat und dazu noch die superleckeren Butterkaramellbonbons …

»Tausend Dank«, sagte sie, und ihr pausbackiges Gesicht strahlte bis über beide Ohren.

»Keine Ursache, Süße«, sagte der Mann. »Ist mir wie immer ein Vergnügen.«

Verna schaute ihn mit großen Augen an. »Kann ich jetzt schon mal eins haben? Bevor wir …«

»Klar doch, greif zu. Nimm dir ruhig zwei oder drei, aber …« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Mach halt schnell. Wir sollten keine Zeit verlieren.«

Sie nahm ein Butterkaramelltoffee, nuckelte daran und betrachtete ihren Wohltäter. Na ja, überlegte sie, so ein großer Wohltäter ist er auch wieder nicht. Schließlich bekommt er von mir einiges für sein Geld – und die Süßigkeiten. Nicht zu vergessen die Süßigkeiten.

Sie verzog das Gesicht.

Dafür musste sie ganz schön rackern.

Und trug dabei jede Menge Schrammen davon.

Genau. Wenn man es so betrachtete, kam der Candyman bei der Sache ganz gut weg.

Anscheinend gefällt es ihm, was ich mache. Und wie ich es mache, dachte sie. Schließlich kommt er immer wieder.

Wie zum Beispiel jetzt.

Der Raum war dunkel. Das einzige Licht kam von dem Scheinwerfer auf einem Stativ neben ihrem Bett. Er sagte, sie solle ihren Slip ausziehen, ganz langsam und sexy, so wie Marilyn Monroe.

So fing es jedes Mal an.

Dann ging es weiter mit … anderen Sachen …

Manche Typen hatten merkwürdige Vorlieben. Und Mr. Candyman war da keine Ausnahme. Manchmal fragte sie sich, ob es das Ganze wirklich wert war. All die Sachen, die er von ihr verlangte.

Sie seufzte. In ihrem Job und vor allem bei ihrem Aussehen konnte man nicht groß wählerisch sein. Da musste man für jeden Cent hart rackern.

Wobei der Candyman gut zahlte.

Sie schaute zu, wie er den Scheinwerfer so ausrichtete, dass er ihre linke Seite beleuchtete. Dann tastete er in seiner Reisetasche herum und brachte eine Polaroidkamera zum Vorschein.

Er kniff ein Auge zu, schaute durch den Sucher und drückte zweimal auf den Auslöser. Probeaufnahmen, um die Lichtverhältnisse zu testen. Verna kannte die Prozedur in- und auswendig.

Er wartete einen Augenblick, während der Kameramechanismus sirrend die Polaroids ausspuckte.

Dann nahm er eines der Bilder zur Hand und schaute zu, wie die Farben zum Vorschein kamen.

»Scheiße«, murmelte er und verzog das Gesicht. Er warf das Foto auf das Bett.

Anscheinend gefiel ihm das Ergebnis nicht.

Das zweite Foto war offensichtlich besser gelungen.

Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein zufriedenes Lächeln ab. Seine Zähne schimmerten im Scheinwerferlicht.

Das ist mein Baby.

Dann also ran an die Arbeit.

Schweißperlen sammelten sich auf seiner Oberlippe.

Er legte die Polaroidkamera auf Vernas Nachttisch und nahm eine kleine silberfarbene Kamera aus seiner Tasche.

Verna lächelte. Einer von diesen kleinen japanischen Apparaten – der Kerl spart jedenfalls nicht am falschen Ende.

Vor ihren Augen begannen Dollarzeichen zu tanzen.

Der Candyman war nackt.

Verna betrachtete seine Erektion. Sein Schwanz war leicht zur Seite geneigt, ansonsten aber hart und kräftig und eingerahmt von dichten, gekräuselten schwarzen Haaren.

Nicht übel, dachte sie, und ein heftiges Kribbeln der Begierde durchzuckte ihren Körper.

Mach beim ersten Mal alles richtig, und vielleicht, aber nur vielleicht, kann Verna ja mal davon kosten.

Sie seufzte. Der Candyman war an Sex nicht interessiert. Das Einzige, was ihn interessierte, waren seine verdammten Fotos. Dabei hatte sie sich alle Mühe gegeben, ihn zum Sex zu bewegen. Aber er war nur sauer geworden und hatte ihr einen ordentlichen Satz Backpfeifen verpasst.

Wenn er nicht so gut aussehen würde, wäre er einfach nur ein Perversling wie all die anderen. Allerdings ein mächtig gut aussehender Perversling. Das musste man ihm lassen. Einer von der stillen Sorte, die nicht viel redet.

Mit der Kamera umgehen kann er allerdings.

Verna fröstelte. Irgendwann ging’s mit jeder Frau bergab – alles nur eine Frage der Zeit. Eingehend betrachtete sie sein Gesicht. Es wirkte völlig ausdruckslos und konzentriert. Vielleicht ist er aus der Pornobranche, dachte sie. Verdient sich dumm und dusselig mit dem Verkauf von schweinischen Fotos. Sie hatte früher mal in ein paar Pornos mitgespielt, sie kannte sich aus in dem Geschäft und wusste, dass da massenhaft Kohle rauszuholen war.

Andererseits konnte es auch sein, dass der Typ die Bilder einfach nur zu Hause in seinem Kabuff betrachtete und sich einen drauf runterholte …

Wen kümmert’s! Ich mach meine Arbeit und lass mich ordentlich dafür bezahlen …

Sie schob ihre blonde Mähne in den Nacken und legte los.

Fertig für die Nahaufnahmen, Mr. DeMille.

Sie warf sich in Pose. Machte einen Schmollmund. Zog ihre Schulter hoch, schaute in die Kamera und lächelte kokett. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog spielerisch einen Träger ihres BH herunter.

Der Candyman stellte die Entfernung scharf.

»Lass ihn langsam runterrutschen. Leg deine Hände auf deine Brüste, Süße. Spiel an ihnen rum … als ob du es dir selbst besorgst … genau so. Und jetzt für die nächste Aufnahme …«

Verna wusste Bescheid. Es war nicht ihr erstes Mal. Ganz im Gegenteil. Wie oft hatte sie schon ausgestreckt auf dem Bett gelegen wie eine von diesen Jungfrauen, die in irgendwelchen Zeremonien geopfert werden, von denen man immer in irgendwelchen Geschichtsbüchern las.

»Ja?«

Beinahe hätte sie laut gelacht.

Mit dem einen Unterschied, dass die gute Verna garantiert keine Jungfrau war.

Der Candyman machte ein paar Aufnahmen. Dann erhob er sich und legte die Kamera auf den Nachttisch, griff nach seiner Reisetasche und steckte die Polaroids hinein. Seine Hose und sein T-Shirt hatte er schon vorher dort hineingepackt.

Nachdem er sie ordentlich zusammengefaltet hatte.

So waren sie aus dem Weg.

Er brachte ein Messer zum Vorschein.

Verna zuckte zusammen. Eine falsche Bewegung mit dem Ding, und ich kann mir die Toffees in die Haare schmieren.

Er beugte sich über das Bett. Sein Körper verdeckte den Scheinwerfer.

Ihr Herz schlug schneller.

Sie betrachtete die Klinge und spürte ein stechendes Kribbeln der Erregung zwischen ihren Beinen, das sie ziemlich scharf machte. Aber irgendwie war es auch gruselig.

Eigentlich zu gruselig für ihren Geschmack. Nicht zu wissen, was der Typ als Nächstes anstellen würde.

Er strich mit der Kuppe eines seiner Finger von ihrer Kehle hinunter zu ihrem Schambein. Seine Berührung war sanft, sanft wie eine Feder, ganz anders, als man es bei einem Mann seiner Größe erwartet hätte.

Sie zuckte ein wenig hin und her.

»Ohh, das kitzelt …«

»Psst. Ganz ruhig, Süße. Sei ganz still. Mr. Candyman wird hier gleich ein Meisterwerk kreieren.«

Verna schloss die Augen.

Soll der doch seinen Spaß haben, wenn er so drauf steht.

Schließlich zahlt er ja dafür. Da hat er auch das Sagen …

»Heyyyyy, wassolldas …? Aaaahhhgggg …«

Blut spritzte über das Gesicht des Candyman.

Er stieß ein Grunzen aus, öffnete den Mund und leckte sich die Lippen.

Sein Messer glitt über Vernas Oberkörper und zuckte ein wenig am Ende des Brustbeins. Er wurde etwas langsamer, stieß es dann tief in ihren Unterleib und brach die Bauchhöhle auf wie bei einem Schaf im Schlachthaus.

Vernas roter Mund klappte auf. Sie sah aus, als sei sie völlig überrascht.

Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und wurden allmählich glasig.

Fasziniert betrachte der Candyman das Schauspiel. Er mochte die Art, wie Verna ihre Augen schminkte. Schwarzer Kajalstift. Und diese langen schwarzen Wimpern. Sie hatte ihm irgendwann erzählt, dass sie früher mal als Nachtclubsängerin in einem Laden in Frisco gearbeitet hatte. Gut möglich, dachte er. In dem Geschäft verstanden sie was von Make-up.

Er stand auf und neigte den Kopf ein wenig zur Seite.

Ein Künstler, der sein Werk betrachtete.

Was er sah, gefiel ihm. Verna war ein richtiges Kunstwerk.

Picassos »Rote Periode«.

Er starrte auf seine Schöpfung.

Durch den Längsschnitt waren ihre Brüste seitlich nach außen weggekippt wie zwei Felsen beiderseits eines blutigen Abgrunds. Groß und weiß und rot gesprenkelt lagen sie vor ihm.

Ganz ausgezeichnet.

Die »Rote Periode« von Candyman.

Seine Lippen verzogen sich zu einem verkniffenen Lächeln.

Das ganze Blut …

Es wirkte wie eine exotische Blume, eine seltene Orchidee.

Eine schwarze Strähne schaute unter ihrer blonden Perücke hervor. Er zog ihr die Perücke vom Kopf und betrachtete, wie ihr Schädel dabei hin und her wackelte. Ganz locker, wie bei einer Stoffpuppe. Ihre Lider schlossen sich. Sie hätte auch lebendig sein können. Eingeschlafen.

Er schleuderte die Perücke auf den Boden.

Dann strich er ihr sacht die langen schwarzen Haare zurecht und drapierte sie über ihre Schultern.

Er arrangierte ihre Arme so, dass sie ausgestreckt neben ihrem Körper abstanden, und war so in seine Arbeit vertieft, dass er gar nicht merkte, dass sein Mund leicht offen stand.

Vernas Beine waren gespreizt.

In pumpendem Rhythmus quoll das Blut nach wie vor aus ihrem Bauch.

Könnte allmählich mal aufhören …

Hmm. Sie sah aus wie ein fünfzackiger Stern.

Interessant.

»Eigentlich tu ich der Schlampe noch einen Gefallen«, murmelte er, »indem ich sie so auf dem Bett drapiere. Jetzt ist sie wenigstens einmal ein ›Star‹ – anders hätte sie das nie geschafft!«

Hübsch, oder?

Er rammte Verna das Messer in den Bauch. Ihr Körper wurde von einem Zittern geschüttelt, ihre Brüste wackelten hin und her.

In seinem Kopf erhob sich ein Rauschen und Summen wie von einem Bienenschwarm.

Er wurde von Zorn gepackt und konnte nicht aufhören, auf sie einzustechen …

»Du elende Dreckschlampe. Du Hexe! In der HÖLLE sollst du verrotten. Hörst du mich?!«

Schweißperlen bildeten sich auf seinen Augenbrauen und kullerten ihm in die Augen, dass sie brannten. Sein Atem war ein röchelndes Keuchen.

Doch nach ein paar Sekunden hatte er sich wieder beruhigt.

Er wischte seine Hände an Vernas Bettlaken ab, nahm seine Kamera zur Hand und schoss ein Foto nach dem anderen.

2

Mittwoch, 30 Juni

Die Schritte kamen näher.

Er, es, hatte sie fast erreicht.

Ihre Beine leisteten Schwerstarbeit. Ihre Lunge japste nach Luft.

Dieses Wesen folgte ihr mit einer Geschwindigkeit, die übermenschlich war.

Herrgott. Ich bin nicht schnell genug! Ich komme einfach nicht weg!

Ächzend und keuchend blieb sie stehen …

Eine knochige Hand krallte sich in ihre Schulter.

Umklammerte ihre Kehle.

NEIN. Mein Gott. NEIN … BITTE!

Ruckartig wachte Deana auf. Ihr Herz pochte, ihr Nachthemd war nach oben gerutscht und klebte an ihrer schweißnassen Haut wie eine lebendige Kreatur.

Allmählich ließ ihr Keuchen nach, und ihr Atem wurde ruhiger.

Sie stöhnte laut auf und entspannte sich ein wenig.

Es war nur ein Traum.

Ein Traum?

Ein verdammter, beschissener Albtraum war das!

Sie stöhnte erneut, diesmal vor Erleichterung, und drehte den Kopf auf dem schweißgetränkten Kissen herum. Als sie die Umrisse vertrauter Gegenstände in dem merkwürdigen Halbdunkel um sie herum erkannte, wurde sie etwas ruhiger.

Dann …

Was war das?

Ihr Herz begann erneut zu rasen.

Sie hörte Geräusche da draußen.

Schritte.

Leise knirschende Geräusche auf dem Kies vor dem Haus.

Aufgeschreckt starrte sie in Richtung Fenster. Die dünnen Gardinen wehten im Wind … Fahles Mondlicht drang herein und warf graue Streifen auf ihr Bett.

Sie betrachtete das Fenster. Sah eine groß gewachsene, zusammengekrümmte Gestalt, die daran vorbeistrich, und struppige schwarze Haare, die unter einem großen Schlapphut hervorlugten.

Das hier ist echt.

Das ist kein Traum.

Der Schatten verharrte einen Augenblick, richtete sich auf und drehte sich um, wobei er über die Schulter schaute, als wollte er sichergehen, dass ihm niemand gefolgt war.

Dann wandte sich die große Hakennase wieder nach vorn.

Wie ein riesiger Raubvogel …

Er hielt ein Beil in der Hand, das auf seiner Schulter ruhte.

O mein Gott!

Ist das hier wirklich echt?

Mein Albtraum wird wahr!

Deana presste sich eine Hand auf den Mund, um den Schrei zu ersticken, der in ihrer Kehle aufstieg. Ihr Atem ging stoßweise und schmerzte bei jedem Zug.

»Isch komm und schnapp mir disch, Baby …«

Eine raue, keuchende Stimme. Sie konnte es nicht fassen!

Wenn das hier WIRKLICH ein Albtraum ist, sollte ich mich mit dem Aufwachen besser beeilen.

Sie ließ eine Hand unter das Laken gleiten und kniff sich ins Bein.

Aua! Scheiße! Also gut. Anscheinend ist das kein Traum. Ich bin wach.

Großer Gott. Wenn ich also wach bin … wer ist diese Gestalt da vor meinem Fenster?

Ein Einbrecher?

Der ein Beil mit sich rumschleppt?

Nur Mörder tragen Beile oder Äxte mit sich herum …

Irre, geisteskranke Axtmörder!

Aber weshalb hat er es auf mich abgesehen?

Wer würde mich umbringen wollen?

Mir fällt niemand ein, der mir ans Leben wollen könnte.

Außer vielleicht Nancy Guildenschwartz, die Schlampe. Sie hasst mich, weil Allan sie abgesägt hat, um mit mir zu gehen … Aber selbst wenn, überlegte Deana. Nancy ist eher klein und pummelig – und sie ist ein Mädchen.

Und kein großer, dürrer Mann.

Kann natürlich sein, dass Nancys Familie jemanden angeheuert hat.

Das wäre eine Möglichkeit.

Dieser Mistkröte ist alles zuzutrauen. Schließlich gibt sie immer damit an, dass ihr Vater irgendwelche Verbindungen hat …

Mit einem Namen wie Guildenschwartz auch kein Wunder. Da braucht man Verbindungen.

Wie eine Maus in einem Labyrinth hasteten Deanas Gedanken durch ihre Vergangenheit auf der Suche nach einem hochgewachsenen dürren Mann, der aussah wie eine Vogelscheuche und sie so sehr hasste, dass er mitten in der Nacht vor ihrem Fenster herumschlich.

Mit einem Beil im Gepäck …

Nee. Niemand hasst mich so sehr. Oder etwa doch?

Herrgott, ich hoffe nicht.

Wenn sie nach ihrer Mutter schrie, konnte es sein, dass er das Fenster einschlug und sie in Stücke hackte, bevor ihre Mutter auch nur im Zimmer war.

Am besten ist es, sich ruhig zu verhalten, dachte sie. Einfach so tun, als wäre ich gar nicht da.

Deana schloss die Augen, hielt die Luft an und glitt unter die Bettdecke. Sie zog sich das Laken über den Kopf, lag mit pochendem Herzen da und hielt die Luft an, bis sie fast erstickte.

Schließlich wagte sie es, unter dem Laken hervorzulinsen, und warf einen Blick in Richtung Fenster.

Niemand da. Nur der Mond, der ihr Bett in leichenblasses Licht tauchte.

Vielleicht war die Gestalt mit dem Beil nur Einbildung gewesen?

Ach ja?

Deana wischte sich das Gesicht mit einer Ecke des Lakens ab.

Es war schrecklich heiß.

Heiß und schwül und eklig drückend.

Eine ganz normale Sommernacht in Marin County.

Nur dass es eben keine »ganz normale Sommernacht« war.

Da draußen ist ein irrer Axtmörder, der an meinem Fenster vorbeischleicht.

Und mich beobachtet.

Der hinter mir her ist, weil er mich in Stücke hacken will.

Deana lauschte. Es kostete sie Mühe, ihren Herzschlag zu beruhigen.

Irgendwo kam eine warme Brise auf. Es war wie ein Flüstern in der Nacht, die Blätter des Zitronenbaums vor ihrem Fenster raschelten im Wind – ein Geräusch, das unter normalen Umständen freundlich und friedlich gewirkt hätte.

Doch heute Nacht war alles anders.

Früher hatte sie diesen alten Baum gemocht.

Als sie zehn Jahre alt war und sie und ihre Mutter frisch in dieses Haus eingezogen waren, hatte sie sich vorgestellt, wie dieser alte Baum kleinen pelzigen Tieren Schutz und Zuflucht bot. Wie Vögel in seinen Ästen ihre Nester bauten und brüteten. Morgens lag sie in ihrem Bett und betrachtete ihn, und nachts schlief sie ein, während sie den sanft raschelnden Geräuschen lauschte.

Doch nun zitterte und raschelte dieser Baum wie in einem Horrorfilm.

Es war wirklich gruselig.

Sie ließ den Blick zu der Stelle schweifen, wo sie den Eindringling zum letzten Mal gesehen hatte – in der Hoffnung, ihn nicht noch einmal zu sehen.

Sie versuchte sich einzureden, dass die schattenhafte Gestalt gar nicht existierte – nie existiert hatte.

Sie wartete …

Doch draußen war kein Mister Axtmörder. Nur ihr Baum, dessen Blätter leise im Nachtwind raschelten …

… und der lange, schwarze Schatten an ihre Zimmerdecke warf.

Sie hob den Kopf vom Kissen und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Wecker auf ihrem Nachttisch.

00:10

Kurz nach Mitternacht.

Genau die richtige Zeit für Albträume.

Und sonstige wirre Träume.

Sie rekelte sich. Streckte ihre Glieder, die Sekunden zuvor noch verkrampft und verknäult gewesen waren, und leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Nervös warf sie einen weiteren Blick Richtung Fenster.

Nur um sicherzugehen.

Erfüllt von der Furcht, dass sich die gruselige Szene von eben wiederholen würde.

Mit weit aufgerissenen Augen wartete sie und zählte … zuerst bis dreißig, dann bis vierzig … fünfzig … sechzig.

Keine Spur von Mr. Axtmörder.

Sie schwang sich aus dem Bett und streifte ihr Nachthemd ab. Es war klatschnass von ihrem Schweiß. Sie hängte es über die Lehne ihres Betts, schnappte sich den Morgenmantel und zog ihn über.

Weich und kuschelig schmiegte er sich an ihre feuchte, kalte Haut.

Sie band den Gürtel fest zu.

Die Vorstellung, dass Mr. Axtmörder sie nackt zu sehen bekam, behagte ihr gar nicht.

Mr. Wer?

Das Ganze war ein Albtraum, Kleines. Vergiss das nicht.

Sie keuchte immer noch.

Reg dich ab, sagte sie sich.

Du bist in Sicherheit.

Die Türen sind alle verschlossen.

Mom ist im Zimmer nebenan …

Alles ist in Ordnung. Ehrlich.

In den zitternden Schatten erkannte sie nun vertraute Gegenstände, die sie beinahe wie gute alte Freunde zu begrüßen schienen.

Sie machte sich auf den Weg zur Küche, öffnete die Kühlschranktür und nahm eine Karaffe Limonade heraus.

Das eiskalte Gefäß fühlte sich gut an.

Mom hatte die Limonade erst gestern frisch gemacht. Es war ihr Spezialrezept mit frischen Zitronen. Deana kannte den bittersüßen, herben Geschmack mit einem Hauch Honig nur zu gut.

Genau so, wie ich es mag.

Die Karaffe beschlug. Eiskalt und verheißungsvoll wartete sie in Deanas Händen. Sie leckte sich über die Lippen und betrachtete die trübe Flüssigkeit, die in dem Glasgefäß hin und her schwappte. Sie konnte förmlich spüren, wie der erste Schluck ihre Kehle hinabglitt.

Doch zuerst stellte sie die Karaffe auf den Tisch und ging noch mal zum Spülbecken. Sie drehte das kalte Wasser auf, ließ es in ihre Hände rinnen und benetzte sich das Gesicht.

Dann nahm sie ein Handtuch und trocknete sich ab.

Mit jeder Sekunde fühlte sie sich besser. In Sicherheit.

Es war nur ein Albtraum, sagte sie sich erneut.

Deana hatte bereits zwei Gläser Limonade heruntergekippt, als ihr einfiel, dass sie vermutlich den Rest der Nacht damit beschäftigt sein würde, aufs Klo zu rennen.

Was soll’s? Ich bin wach. Ich bin am Leben. Und ich bin an einem Stück.

Als sie wieder in ihr Schlafzimmer kam, sah sie die gleiche seltsame Gestalt wie zuvor an ihrem Fenster vorbeistreifen.

Schon wieder?

Nein!

Stirnrunzelnd schaute sie genauer hin, doch sie konnte nichts erkennen.

Nur den Vorhang, der sich sanft hin und her bewegte.

Wunderbar. Ich drehe durch. Mein Verstand spielt mir üble Streiche …

Sie stellte das volle Glas Limonade auf ihren Nachttisch, zog den Morgenmantel aus und stieg ins Bett.

Sie gähnte – froh darüber, dass der Albtraum zu Ende war.

Sie fühlte sich wieder in Sicherheit.

Und schläfrig.

Auf ihren Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab.

Als sich ihre Lider schlossen, dachte sie an die Party morgen Abend …

Morgen Abend?

Heute Abend, erinnerte sie sich.

Deana gähnte ein weiteres Mal und ging im Geiste noch einmal durch, wie sie Mom erklären würde, dass sie und Allan nach dem Abendessen ins Kino gehen würden. Mom würde sich erst schrecklich aufregen und dann wieder beruhigen. Sie wusste, wie der Hase lief. Schließlich war sie ja selbst mal jung gewesen, oder?

Irgendwann einmal.

Jedenfalls sagte sie das immer.

Deana lächelte schläfrig. Es war ein schönes Gefühl, sich unter dem Laken selbst zu berühren, während eine sanfte Brise vom Fenster her über sie hinwegwehte.

Sie dachte an das Abendessen – und daran, was danach kam. Wenn Allan und sie sich gemeinsam aus dem Staub machen würden.

»Hmm …«, flüsterte sie. »Heute Nacht werden wir so viel Spaß haben wie noch nie!«

3

»Wenn ich ein misstrauischer Mensch wäre«, sagte Deana, »dann würde ich denken, dass uns der Wagen da verfolgt.«

»Bist du aber nicht«, sagte Allan.

»Ein bisschen vielleicht doch.« Sie warf einen Blick über die Schulter. Der andere Wagen hatte die letzte Kurve noch nicht passiert, sein Scheinwerferlicht war nur blass und undeutlich durch das schmale Heckfenster von Allans Mustang zu erkennen. Doch schon Sekunden später tauchten die Scheinwerfer wieder hinter ihnen auf. Einer der beiden war anscheinend verbogen, denn er strahlte in einem merkwürdigen Winkel nach schräg oben. Deana gefiel dieses Schielen überhaupt nicht. Es sah aus, als wäre der Wagen ein bisschen bescheuert.

»Soll ich umdrehen?«, fragte Allan. »Du machst mich ein wenig nervös.«

»Das Auto macht mich nervös.«

»Vermutlich nur irgend so ein Typ, der nach Stinson Beach will. Wenn man erst mal auf dieser Straße ist, kommt so schnell keine Abfahrt.«

Deana sah nach vorne. Ihre Hände waren schweißnass. Sie wischte sie an ihrem Rock ab. »Vielleicht solltest du ein bisschen langsamer machen und ihn vorbeilassen.«

»Du hast zu viele Freitag-der-13.-Filme gesehen.«

»Weil du mich reingeschleppt hast.«

»Weil ich es liebe, wie du kreischst und dir die Augen zuhältst … und dann zwischen den Fingern hindurchlinst, was passiert.«

»Vielleicht hätten wir doch lieber ins Kino gehen sollen«, sagte Deana.

»Hast du auf einmal Schiss?«

»Es ist furchtbar dunkel da draußen.«

»Das ist ja der Sinn der Sache.«

»Wie lange dauert es noch bis zu der Abzweigung?«

»Wir sind gleich da.«

»Na gut. Aber wenn er auch abbiegt, würde ich sagen, wir vergessen die Angelegenheit.«

Allan drehte den Kopf zu ihr. Wegen der Dunkelheit konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er war ganz offensichtlich nicht davon begeistert, die Sache zu vergessen. Sie machte ihm keinen Vorwurf deswegen. Er hatte während des Abendessens mit Deanas Mutter und ihren Großeltern tapfer durchgehalten. Er musste sich zu Tode gelangweilt haben, und das Einzige, was ihn bei Laune gehalten hatte, war vermutlich der Gedanke an das, was sie hinterher noch vorhatten.

»Eine Sache muss ich dir noch sagen«, hatte sie ihm vor der Party am Telefon erklärt.

»Aha«, hatte er gesagt.

»Aha ist hier nicht die richtige Antwort, Kumpel. Oho wäre wesentlich angemessener. Sobald das Essen vorüber ist, können du und ich uns aus dem Staub machen. Ich habe dabei an einen sehr dunklen und sehr abgeschiedenen Ort gedacht, vielleicht in der Gegend von Mount Tamalpias. Du solltest überlegen, eine Decke mitzubringen.«

Vielleicht war das Abendessen doch nicht so eine Qual für ihn gewesen, dachte Deana. Man konnte seine nervösen, aufgeregten Blicke, die er ihr immer wieder zuwarf, auch so deuten, dass er weniger gelangweilt, sondern viel zu sehr damit beschäftigt war, sich auszumalen, was sie hinterher im Wald treiben würden. Es hatte sie selbst einige Mühe gekostet, sich auf die Feierlichkeiten zu konzentrieren. Als es schließlich daran ging, den Tisch abzuräumen, war sie so neben der Spur gewesen, dass ihre Mutter sie fragte, ob alles mit ihr in Ordnung sei.

Nun ja, Mom, die Sache ist die: Allan und ich haben eigentlich gar nicht vor, ins Kino zu gehen. Wir dachten eher, dass wir rüberfahren zum Mount Tam und uns da ein schönes abgeschiedenes Plätzchen suchen. Wir haben das schon mal gemacht, aber nur kurz, und wir waren beide ein bisschen betrunken, sodass es heute eigentlich das erste Mal ist, und deswegen bin ich etwas aufgeregt.

Nur etwas aufgeregt, nichts weiter.

Das klickende Geräusch von Allans Blinker katapultierte sie wieder zurück in die Gegenwart. Sie bemerkte, wie sich ihre Finger in ihre Schenkel krampften und sie am ganzen Leib zitterte. Beruhige dich, sagte sie sich. Es gibt hier nichts, wovor du Angst haben brauchst.

»Er ist geradeaus gefahren«, sagte Allan, nachdem er abgebogen war.

Einen Augenblick lang wusste Deana gar nicht, was er meinte. Dann fiel es ihr wieder ein. Der Wagen, der ihnen gefolgt war.

»Na ja«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig. »Da haben wir wohl noch mal Glück gehabt.«

Allan schaltete einen Gang runter. Der Wagen kroch knurrend wie ein entschlossenes Tier die steile Straße hinauf. Der Lichtkegel der Scheinwerfer schob sich durch die Dunkelheit. Deana hatte das Gefühl, in ihrem Sitz zu versinken.

»Wäre das nicht komisch, wenn jetzt der Wagen den Geist aufgeben würde?«, fragte Allan.

»Saukomisch. Zum Totlachen.«

Vielleicht ist diese Gegend ein bisschen zu abgeschieden, dachte sie. Und zu dunkel – und unheimlich. Sie musste wieder an die letzte Nacht denken. Nightmare on Del Mar, in der Hauptrolle, tada … der Irre mit dem Hackebeil. Ahhh …

Sie zwang sich, auf das grünlich schimmernde Armaturenbrett zu starren, um sich ein wenig zu beruhigen.

»Wir hätten doch ins Holiday Inn gehen sollen«, murmelte sie.

»Ich dachte, du hättest was gegen Motels.«

»Klar, schon, aber ich glaube, ich habe meine Meinung geändert.«

»Hättest du das nicht schon vor einer halben Stunde tun können? Aber wenn du willst, drehe ich um. Soll ich?«

»Nee, schon in Ordnung. Wir sind ja fast da.«

»Macht mir nichts aus. Im Gegenteil. Ein Bett. Eine Dusche. Hey!«

»Vielleicht ein anderes Mal.«

»Ist das ein Versprechen?«

»Eher so ein Gedanke. Wir können es uns ja mal überlegen. Es kommt mir halt irgendwie … verlottert vor.«

»Verlottert?«

»Sieh im Wörterbuch nach, was das heißt.«

»Du bist echt merkwürdig, weißt du das? Im Auto oder im Wald rumzumachen ist in Ordnung. Aber das Gleiche in einem Motelzimmer zu veranstalten ist verlottert. Passt das irgendwie zusammen?«

»Muss es wohl«, sagte Deana. »Sonst würde ich es ja nicht so empfinden.«

»Kann es sein, dass du ein bisschen durchgeknallt bist?«, fragte Allan.

Sie kamen zum Ende des Anstiegs, und die Straße wurde wieder ebener. Vor ihnen lag eine weite, vom Mondlicht erhellte Lichtung – der Parkplatz einer Freilichtbühne. Als Deana und Allan vor einem Monat hier gewesen waren, um sich eine Aufführung von Othello anzuschauen, hatten hier überall Autos herumgestanden.

Nun lag er verlassen da.

»Sieht so aus, als wären wir ganz unter uns«, sagte Allan.

»Damit hatte ich fast gerechnet.«

Allan fuhr zum gegenüberliegenden Ende des Parkplatzes und hielt an der Stelle an, wo ein Fußweg zwischen den Bäumen hindurch zur Freilichtbühne führte. Er schaltete den Motor aus. »Okay, da sind wir«, sagte er und klang selbst ein bisschen nervös. Er schaltete die Scheinwerfer aus, und mit einem Mal war um sie herum alles dunkel. Er zog den Schlüssel ab, steckte den Schlüsselbund in die Vordertasche seiner Cordhosen und rieb seine Hände an den Hosenbeinen. Dann rutschte er auf dem Sitz herum und griff nach der Decke auf der Rückbank.

Deana stieg aus und begann augenblicklich zu frösteln. Die kalte Nachtluft strich über ihre Beine und kroch ihr unter den Pullover. Mit klappernden Zähnen schlang sie ihre Arme um den Oberkörper. Allan kam um den Wagen herum. »Ist dir kalt?«, fragt er.

»Ein bisschen.«

Er faltete die Decke auseinander und legte sie ihr um die Schultern.

»Hier ist Platz genug für zwei«, sagte Deana und hielt einen Zipfel der Decke hoch.

Er nahm den Zipfel, zog ihn über seine Schultern und legte ihr den Arm um die Hüften. Langsam gingen sie den Fußweg entlang. Die Decke hüllte sie in wohlige Wärme. Es war ein angenehmes Gefühl, das durch seine Hand an ihrer Seite noch verstärkt wurde. Sie waren gerade ein paar Schritte den Pfad entlanggelaufen, da glitt seine Hand unter ihren Pullover. Deana stöhnte, als sie ihr über die nackte Haut strich und sich weiter nach oben vortastete.

»Hmm?« Allan klang überrascht.

»Reingelegt«, sagte sie.

»Beim Abendessen hattest du noch einen an.«

»Danach war ich aber noch mal auf dem Klo, bevor wir los sind. Und dabei ist das Ding im Wäschekorb gelandet.«

Er stöhnte kurz auf und ließ seine Hand zärtlich über ihre Brust gleiten.

»Mein Gott«, flüsterte er. Er zog sie zu sich herum, sodass sie vor ihm stand. Die Decke rutschte von ihren Schultern und fiel zu Boden, doch sie kümmerte sich nicht darum, während Allan sie fest an sich drückte und beide Hände unter ihren Pullover gleiten ließ. Er strich ihr über den Rücken und presste seine Lippen auf ihren Mund. Atemlos zerrte Deana ihm das Hemd aus der Hose. Sie saugte an seiner Zunge und strich ihm durch die Haare. Er hatte eine harte Beule in der Hose, die gegen ihren Bauch drückte und ein wohlig warmes Kribbeln in ihrem Unterleib auslöste.

Sacht schob er Deana von sich weg und zog ihren Pullover hoch. Von der kalten Nachtluft bekam sie augenblicklich eine Gänsehaut. Ihre Brustwarzen wurden so hart, dass es wehtat, doch dann glitten seine Hände über ihre Brüste, und sie wurden von wohliger Wärme durchströmt. Er drückte und knetete ihren Busen, und die Wärme wandelte sich zu einer fast schon schmerzhaften Hitze. Sie warf den Kopf in den Nacken und wand sich.

Er löste seinen Griff, als hätte er Angst, ihr wehzutun.

»Ist sonst noch was im Wäschekorb gelandet?«, fragte er keuchend.

»Gut möglich.«

Er tastete nach Deanas Taille, doch sie machte ein paar tänzelnde Schritte rückwärts. »Nicht hier«, sagte sie.

»Wo dann?«

Sie zuckte die Achseln. »Wir sind noch zu nah beim Parkplatz.« Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Man konnte sehen, wie sich das Mondlicht in der Windschutzscheibe von Allans Mustang spiegelte. »Gehen wir ein Stück weiter.«

»Zur Freilichtbühne?«

»Genau.«

»Auf die Bühne?«

Sie streckte die Arme von sich. »Die ganze Welt ist eine Bühne, und sämtliche Männer und Frauen sind nichts weiter als …«

»Statisten«, warf Allan ein.

»An dir ist ein Dichter verloren gegangen.«

»Siehst du’s nicht? Hier sind wir, mitten im Theater, zu allen Seiten umgeben von …«

»Es wird nicht besser.«

»Umgeben von Sitzreihen, Reihen leerer Sitze, während wir …«

»Das Ungetüm mit den zwei Rücken zum Besten geben.«

»Uns das Hirn aus dem Schädel rammeln«, erwiderte er und kraulte Deanas Nacken.

»Genau«, stöhnte Deana.

»Und während wir hier liegen«, flüsterte er ihr ins Ohr, »unsere nackten Körper schweißnass und eng umschlungen …«

»… und im Mondlicht glänzend …«

»… ertönt aus der Ferne, von ganz oben in den Reihen …« Er ließ ihren Nacken los und klatschte langsam in die Hände.

Sie starrte ihn durch die Dunkelheit an.

Er klatschte weiter.

»Herrgott«, flüsterte sie.

Er klatschte munter weiter.

»Hör auf damit. Du machst mir Angst.«

Er hörte auf zu klatschen und lachte leise.

»Gehen wir zurück zum Auto«, sagte Deana.

»Du machst Witze.«

»Nein.«

»Deana. Es war nur ein Scherz.«

Sie drehte sich von ihm weg. Er machte einen Schritt vorwärts und schlang seine Arme um ihren Bauch. Sie lehnte sich zurück und genoss die Wärme, die er ausstrahlte.

»Ich will weg von hier, Allan. Es war sowieso eine bescheuerte Idee.«

»Mann, das ist das letzte Mal, dass ich dir eine Geschichte erzähle.«

»Schon gut. Aber es könnte sich wirklich jemand hier oben herumtreiben. Woher sollen wir das wissen?«

»Können wir nicht.« Seine Hände glitten wieder hinauf zu ihren Brüsten.

Zärtlich strich sie über seine Hände, die auf ihrem Pullover lagen und sacht ihre Brüste kneteten. »Wir gehen woanders hin, okay?«

»Und wohin genau?«

»Irgendwohin, wo es nicht so …« Allan kniff ihr in eine Brustwarze, und sie japste nach Luft. »Irgendwohin, wo es nicht so dunkel ist«, sagte sie mit einem Zittern in der Stimme. »Irgendeine Straße in der Nähe von zu Hause.«

»Auf dem Rücksitz?«

Sie nickte.

»Wäre es nicht besser …« Allan verstummte. Seine Hände ruhten noch immer auf ihren Brüsten, doch er spreizte die Finger und regte sich nicht.

»Allan?«

»Psst.«

»Was ist los?«

Dann hörte Deana es ebenfalls. »Das ist nur der Wind«, flüsterte sie.

»Das ist ein Auto.«

Deana wurde flau im Magen. Sie richtete sich auf.

Wenn es ein Auto war, wieso war dann nirgendwo ein Lichtschein zu sehen? Allan nahm eine Hand von ihrer Brust. Augenblicklich verflüchtigte sich die Wärme. Er deutete in die Ferne. Zuerst konnte Deana zwischen den Bäumen hindurch nur schmale Streifen des Parkplatzes erkennen, doch dann glitt ein dunkler Schatten durch einen der Streifen hindurch. Es sah gar nicht aus wie ein Auto, sondern war eher eine schwarze Silhouette.

»Vielleicht jemand, der die gleiche Idee hatte wie wir«, flüsterte Allan.

»Was meinst du damit?«

»Ein Pärchen. Du weißt schon. Die auch einen abgelegenen Ort suchen, um rumzumachen.«

»Mein Gott. Ich hoffe, du hast recht.«

»Gehen wir zurück zum Auto.« Er hob die Decke auf. Deana hielt sich dicht neben ihm, während sie den Fußweg entlanggingen. Sie konnte das Auto immer noch hören, doch es war nirgendwo zu sehen. Als sie fast am Ende des Fußwegs waren, scherte Allan zu einem Baum aus. Sie folgte ihm. Hinter den Baumstamm geduckt, schauten sie auf den Parkplatz.

Allans Mustang stand nur ein paar Meter entfernt. Das andere Auto stand in einigem Abstand dahinter in der Mitte des Parkplatzes. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, der Motor lief im Leerlauf. In seiner Windschutzscheibe spiegelte sich das Mondlicht, sodass Deana nicht erkennen konnte, ob jemand darin saß.

»Was meinst du?«, flüsterte sie.

»Mir gefällt nicht, wie er einfach nur da steht.«

»Glaubst du, er kann uns sehen?«

»Keine Ahnung, aber ich glaube es eher nicht.«

Eine Weile kauerten sie einfach nur schweigend da und beobachteten den anderen Wagen.

»Das ist doch bescheuert«, sagte Deana schließlich. »Warum fährt er nicht weg?«

»Vielleicht ist da ja wirklich jemand am Rummachen.«

»Bei laufendem Motor?«

»Es wirkt fast so, als würde er auf irgendwas warten«, sagte Allan.

»Allerdings. Und zwar auf uns.«

»Mach dir keine Sorgen. Solange er im Wagen bleibt und wir hier, kann nichts passieren.«

»Und was ist, wenn er aussteigt?«

»Und sich auf die Suche nach uns macht?«

»Genau.«

»Dann wäre es kein Problem, sich zu verstecken. Er weiß ja gar nicht, wo er anfangen soll zu suchen. Vielleicht könnten wir uns ganz einfach zum Wagen zurückschleichen.«

»Vielleicht sollten wir jetzt gleich zum Wagen zurückgehen.«

»Meinst du?«, fragte Allan.

Ihr Herz pochte so heftig, dass es wehtat.

»Dann hätten wir es wenigstens hinter uns. Wir können nicht die ganze Nacht hier warten. Und wir wissen nicht, was er da drin anstellt.«

»Vielleicht genießt er einfach nur die Landschaft«, flüsterte Allan nervös. »Sollen wir’s probieren?«

»Ich weiß nicht.«

»Es war deine Idee.«

»Klar. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher.«

»Entweder das, oder wir warten, bis er verschwindet.« Allan schaute über eine Schulter zu Deana. »Vielleicht sollten wir einfach wieder zu unserem ursprünglichen Plan übergehen.«

»Ich bin froh, dass du deinen Sinn für Humor nicht verloren hast.«

»Kann ja sein, dass er sich wieder aus dem Staub gemacht hat, bis wir zurückkommen.«

»Und falls nicht und er uns abmurkst«, sagte Deana, »haben wir zumindest ein paar Augenblicke höchster Wonnen und Glückseligkeit genossen.«

»Wonnen und Glückseligkeit?«

»Scheiß drauf«, flüsterte sie.

»Gleichfalls.«

»Wir werden uns vorkommen wie die letzten Idioten, wenn wir aus dem Wald spaziert kommen und er immer noch da steht.«

»Heißt das, du willst es wirklich durchziehen?«, fragte Allan.

»Nein, will ich nicht, verdammt noch mal. Ich mach mir fast in die Hosen vor Angst, aber wir haben ja keine Wahl.«

»Wir wären nur für ein paar Sekunden zu sehen.«

»Klar. Und was soll er schon groß anstellen? Uns mit Blei vollpumpen?«

Allan stieß sich von dem Baumstamm ab, streckte sich und atmete tief durch. Er hatte die zusammengeknüllte Decke unter seinem linken Arm und kramte mit der rechten Hand in seiner Hosentasche nach seinem Schlüssel. Schließlich zog er den Schlüsselbund heraus und fingerte daran herum, bis er den Wagenschlüssel gefunden hatte.

»Hast du deine Tür verriegelt?«, flüsterte er.

»Ja, mache ich immer.«

»Okay, du nimmst die Schlüssel, und sobald du im Wagen bist, machst du meine Tür auf.«

»Komm mir jetzt nicht mit diesem Ladies-first-Quatsch. Du bist schneller als ich.«

»Deana.« Er klang, als wollte er anfangen zu diskutieren, doch er ließ es bleiben und schwieg stattdessen für ein paar Sekunden. »Ich weiß, was wir machen«, sagte er. »Du wartest hier. Ich gehe zum Wagen, komme hierher und halte seitlich, sodass du gar nicht zu sehen bist. Dann springst du rein, und wir rauschen los.«

»Allan, spiel nicht den …« Sie schüttelte den Kopf. Jetzt mach ihn nicht noch dafür an, dass er das ganze Risiko auf sich nehmen will. Sie beugte sich zu ihm rüber und küsste ihn sanft auf den Mund. »Du bist echt toll«, flüsterte sie.

Sie strich ihm über die Wange. Beinahe hätte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebt, doch dann kam ihr das doch zu schmalzig und melodramatisch vor. Das war’s dann. Hier ist Endstation. Ich liebe dich. Geigenklänge. Hand in Hand schreiten die Liebenden zu ihrem Rendezvous mit dem Tod.

In einer Stunde werden wir über die ganze Geschichte lachen.

Von wegen. Eher in einer Woche.

»Wir gehen zusammen raus«, sagte sie.

»Ich finde wirklich …«

»Du und ich, Partner. Butch und Sundance.«

»Bitte! Nicht Butch und Sundance.«

»Bringen wir’s hinter uns.« Sie nahm ihm die Decke ab.

Er wehrte sich nicht, offensichtlich war auch ihm klar, dass es auf seine Schnelligkeit ankam, falls irgendetwas schiefgehen würde. Sie drückte seine Hand. Sie fühlte sich feucht und kalt an.

Gemeinsam traten beide aus der Deckung hinter dem Baum und gingen durch das hohe Gras auf die Motorhaube des Mustang zu.

Die Scheinwerfer des anderen Wagens leuchteten auf. Deana wurde flau im Magen. Einer der Scheinwerfer strahlte nach schräg oben, so als ob der Wagen schielte. Deana stöhnte auf.

»Tu so, als wäre alles ganz normal«, sagte Allan.

Als sie knapp einen halben Meter von dem Mustang entfernt waren, ließen sie ihre Hände los und trennten sich. Deana ging zur Beifahrertür, während Allan zur Fahrerseite lief. Deana packte den Türgriff und presste den Daumen auf den Drücker. Sie war bereit und zwang sich, nicht in die Richtung des anderen Wagens zu schauen sondern blickte über das Dach des Mustang hinweg zu Allan, der vornübergebeugt war. Sie hörte, wie der Schlüssel leise knirschend in das Schloss glitt und der Knopf der Türverriegelung aufsprang. Allan zog die Tür auf.

Der andere Wagen heulte laut auf und schoss vorwärts. Allans Kopf zuckte in seine Richtung. Er war in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Mit weit aufgerissenem Mund stand er vorgebeugt da.

»Steig ein!«, schrie Deana. Sie ließ die Decke fallen und starrte durch das Wagenfenster. Die Innenbeleuchtung war an.

Allan hechtete auf den Fahrersitz, doch der andere Wagen erwischte ihn an den Beinen und zerrte ihn nach draußen. Starr vor Entsetzen, sackte Deana nach hinten, während der andere Wagen in einem Höllentempo vorbeirauschte und die Fahrertür des Mustang abriss.

Es war wie in Zeitlupe.

Es war unfassbar.

Die Tür wurde in die Luft geschleudert, drehte sich im Flug und krachte auf die Motorhaube des Mustang. Funken flogen durch die Luft, während der andere Wagen mit Allan, der irgendwie in der Stoßstange eingeklemmt zu sein schien, vorbeirauschte. Sein Unterkörper war nicht zu sehen, der Rest seines Körpers zappelte seitlich am Wagen, seine Arme flatterten über seinem Kopf.

Bremsen quietschten, doch der Wagen war zu schnell, um noch auf dem Parkplatz zum Stehen zu kommen. Er rumpelte durch das Gras und krachte in einen Baum. Allans Rumpf wurde gegen den Baum gedrückt. Sein Oberkörper wurde nach hinten geschleudert, seine Haare flatterten in der Luft, die Arme ruderten hilflos hin und her.

Die Rückfahrscheinwerfer des Wagens leuchteten auf. Das Auto schoss nach hinten. Allans Körper kam frei, schwebte im Lichtkegel des funktionierenden Scheinwerfers für einen Augenblick in der Luft und sackte dann zu Boden.

Deana war gelähmt vor Schreck, doch irgendwo in ihrem Hirn war etwas, das die Kontrolle übernahm. Sie schaute durch das Seitenfenster, während das andere Auto im Rückwärtsgang auf sie zugerauscht kam. Allans Schlüssel lag auf dem Sitz, wo er ihn hatte fallen lassen, als er von dem Wagen gerammt wurde. Sie wusste, dass die Tür verriegelt war, doch sie drückte dennoch voller Verzweiflung den Türknopf und zerrte am Griff. Die Tür blieb zu. Der andere Wagen hatte mittlerweile kurz vor dem Mustang angehalten. Die Tür ging auf.

Deana rannte los.

Ohne sich noch einmal umzublicken, rannte sie in den Wald.

4

Leighs Vater saß in der Küche, trank Kaffee und paffte an seiner Zigarre, während ihre Mutter ihr mit dem Abwasch nach dem Abendessen half. Die Teller wurden nur kurz abgespült und wanderten dann in die Spülmaschine, die Kristallgläser spülte Leigh lieber von Hand. Ihre Mutter hatte das übernommen, und Leigh trocknete sie nun ab.

Das Ganze dauerte nicht lange, denn um Töpfe und Pfannen brauchten sie sich nicht zu kümmern. Das Essen war vom Koch des Bayside zubereitet und von zwei von Leighs besten Kellnern geliefert und aufgetischt worden, die danach wieder ins Restaurant zurückgekehrt waren.

Als das letzte Kristallglas abgetrocknet war, schlug Leigh einen Verdauungsdrink vor. Ihr Vater drückte seine Zigarre aus und nahm einen Scotch mit Soda, ihre Mutter wollte einen Bailey’s. Also blieb Leigh in der Küche und bereitete die Drinks zu, während ihre Eltern sich ins Wohnzimmer begaben.

Der Abend war ziemlich gut gelaufen, dachte Leigh. Mom und Dad wirkten beide gut gelaunt und völlig unaufgeregt angesichts der Furcht einflößenden Tatsache, dass Dad im nächsten Jahr seinen sechzigsten Geburtstag feierte.

Zum Teufel, die beiden sind ja noch jung. Verdammt jung, wenn man bedenkt, dass sie eine sechsunddreißigjährige Tochter haben und eine Enkelin, die im Herbst aufs College geht. Sie sind beide gesund und haben eine Menge, worüber sie glücklich sein können.

Ich übrigens auch.

Sie ließ sich Zeit mit dem Zubereiten der Drinks.

Ich habe tolle Eltern, eine wunderschöne, intelligente Tochter, ein gut gehendes Restaurant, das in ganz Tiburon als die erste Adresse betrachtet wird. Und darüber hinaus noch dieses fantastische Haus.

Woher kommt also dieses kribbelige Gefühl in meinem Magen, als würde irgendwas nicht stimmen? Alles ist bestens. Liegt vermutlich daran, dass Deana ausgegangen ist. Ich kann mich einfach nicht richtig entspannen, wenn sie spätnachts noch unterwegs ist. Es kann so viel passieren. Eine Panne mit dem Wagen …

Allan machte allerdings einen vertrauenswürdigen Eindruck. Er würde gut auf sie aufpassen.

Bei diesem Gedanken musste Leigh lächeln.

Es war genau andersherum: Deana wäre diejenige, die die Dinge in die Hand nehmen würde, falls etwas schiefging. Aber es würde nichts schiefgehen. Sie würde um ein Uhr zur Tür hereinspaziert kommen, wenn der Film zu Ende war.

Falls sie überhaupt ins Kino gegangen waren.

Leigh stellte die Gläser auf ein Tablett. Sie merkte, dass sie einen kleinen Schwips hatte, und konzentrierte sich darauf, das Tablett gerade zu halten, während sie es am Esstisch vorbei durch den Flur zum Wohnzimmer balancierte. Ihre Mutter saß auf dem Sessel, während ihr Vater an der Glasfront des Zimmers stand und die Aussicht genoss. Er drehte sich um, als Leigh das Tablett auf den niedrigen Tisch vor der Couch stellte.

»Die Aussicht von hier ist fantastisch. Ich kann mich kaum davon losreißen«, sagte er.

»Geht mir genauso«, sagte Leigh. Sie wohnte nun schon seit acht Jahren hier, und es verging kein Tag, an dem sie nicht an der Fensterfront stand und hinausblickte.

»Das war ein wundervolles Abendessen«, sagte ihre Mutter.

Leigh reichte ihr das Glas mit dem Bailey’s. »Beef Willington ist Nelsons Spezialität.«

»Schade nur, dass Deana so früh losmusste.«

Leigh lächelte und kämpfte gegen das Verlangen an, mit den Augen zu rollen. Es war ja klar, dass sie sich daran aufhängen würde. Andererseits gab es immer irgendwas, worüber sie sich irgendwann aufregte – vor allem, wenn sie schon ein paar Drinks intus hatte. »Mom, Deana und Allan hatten extra eine andere Einladung zum Essen abgesagt, nur um heute Abend hier zu sein.«

»Warum mussten sie ausgerechnet für heute eine andere Einladung annehmen? Hattest du ihnen nicht Bescheid gesagt, dass …«

»Wie du dich vielleicht erinnerst, hatten wir euch für gestern eingeladen. Aber da mussten du und Dad ja zum Bankett von eurem Club.«

»Es hätte sie auch nicht umgebracht, wenn sie geblieben wäre.«

»Sie hat ein eigenes Leben«, sagte Leighs Vater. Er nahm seinen Scotch mit Wasser vom Tablett und setzte sich aufs Sofa. Leigh nahm ihr Glas Chablis. Sie hielt es vorsichtig in der Hand, während sie sich neben ihren Vater setzte. »Ich bin sicher, sie hat Besseres zu tun«, fuhr ihr Vater fort, »als den Freitagabend mit einem Haufen alter Knacker zu verbringen.«

»Wir sind ja wohl keine alten Knacker«, protestierte Leighs Mutter. »Es hätte sie wohl kaum umgebracht, wenn sie den Abend mit ihrer Familie verbracht hätte.«

»Sie kann euch doch jederzeit sehen«, sagte Leigh. »Ihr wohnt ja schließlich nicht in Timbuktu.«

»Wo immer das auch sein mag«, antwortete ihr Vater und lächelte, während er einen weiteren Schluck von seinem Drink nahm.

»Was weißt du überhaupt über diesen Allan?«, fragte Mom.

»Die beiden sind seit zwei Monaten zusammen. Sie hat ihn im Schauspielkurs kennengelernt.«

»Er ist Schauspieler?«

»Soweit ich weiß, hat er vor, Anwalt zu werden.«

»Ausgezeichnet«, sagte Leighs Vater, »ein Anwalt in der Familie wäre prima. Du kennst ja das alte Sprichwort – jede Familie braucht einen Anwalt, einen Arzt und einen Klempner.« Er grinste. »Und einen Restaurantbesitzer natürlich.«

»Noch gehört er nicht zur Familie.«

»Ich weiß nicht, Helen. Ich hatte den Eindruck, dass es zwischen den beiden was Ernsthaftes ist.«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Und außerdem ist es möglicherweise kein Zufall, dass sie beide vorhaben, ab Herbst in Berkeley zu studieren.«

»Berkeley«, murmelte Leighs Mutter und rollte mit den Augen. »Lass mich bloß mit Berkeley in Ruhe.«

»Ich glaube, da ist es auch nicht mehr so wie damals, als ich dort war«, sagte Leigh.

»Na, Gott sei Dank.«

Leighs Vater lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Er schaute zu Leigh herüber. »Du hast dich ja ziemlich gut gemacht, wenn man bedenkt, dass du mal ein Hippie-Radikalinski warst.«

»Können wir dieses Thema bitte beenden«, sagte Leighs Mutter. »O Gooott. Du hast uns die Hölle auf Erden bereitet. Hast du dir jemals eine Vorstellung davon gemacht, was wir deinetwegen durchgestanden haben?«

Leigh seufzte. Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte. »Das ist schon lange her«, sagte sie.

»Alles fing mit deinem letzten Jahr an der Highschool an. Du warst damals so alt wie Deana jetzt. Sie ist so eine wohlgeratene junge Dame. Du weißt gar nicht, wie viel Glück du hast.«

»Wir haben alle reichlich Glück gehabt«, sagte Leighs Vater und tätschelte ihr das Knie, wobei er ihr einen Blick zuwarf, der besagte: Tut mir leid, aber du weißt ja, wie Mom sich manchmal aufführt.

»Wie wäre dir wohl zumute, wenn Deana eines Tages nach Hause käme und würde so aussehen wie diese Punks, die man in der Stadt an den Straßenecken herumlungern sieht? Wie würde es dir gehen, wenn sie ihre wunderschönen Haare abschneiden und sie stattdessen in alle Richtungen abstehen lassen würde wie ein Nagelbrett – und dazu noch grün gefärbt? Oder orange! Oder wenn sie eine Irokesenfrisur hätte und aussehen würde wie Mr. T?«

Leigh konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Dein Grinsen würde dir schnell vergehen, mein Frollein. Stell dir vor, sie hätte auch noch eine Sicherheitsnadel in der Wange.«

»So was habe ich nie gemacht«, erklärte Leigh.

»Aber auch nur, weil es damals gerade nicht ›in‹ war.«

»Was für einen Film wollten die beiden sich denn anschauen?«, fragte Leighs Vater.

»Ich weiß nicht genau. Ein Doppelprogramm in San Anselmo, glaube ich.«

»Wir waren vor Kurzem in …«

»Du hättest dich mal sehen sollen«, unterbrach ihre Mutter. »Du hast ausgesehen wie eins von den Manson-Mädels.«

»Mom.«

»Helen.«

»Gott allein weiß, was aus dir geworden wäre, wenn wir dich damals nicht zu Onkel Mike geschickt hätten.« Sie schwieg für einen Augenblick. »Und selbst da ist noch genug passiert.«

Leigh hatte das Gefühl, als würde ihr ein Eiszapfen in die Eingeweide gerammt.

»Helen! Verdammt noch mal!«, blaffte ihr Vater.

»Es ist aber nun mal die Wahrheit. Das weißt du nur zu gut.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Lippen bebten. »Und du schrei mich nicht an!«

»Du legst es ja förmlich drauf an. Kannst du die Sache nicht mal ruhen lassen? Wir sind hier, weil wir uns einen netten Abend machen wollten, und das Letzte, was Leigh braucht, ist, dass du diese alten Kamellen von damals wieder aufwärmst.«

Leighs Mutter nahm einen Schluck von ihrem Bailey’s. Sie starrte in ihr Glas und schluchzte leise. »Ich wollte das nur mal gesagt haben.«

Leigh erhob sich von dem Sofa und kniete sich neben ihre Mutter. »Hey. Ist schon alles wieder gut.« Sie hatte einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen und strich ihrer Mutter über die Haare. »Das ist alles lange her, und jetzt ist ja alles in Ordnung, oder?«

»Du hast uns damals so viel Kummer gemacht. Es war die Hölle.«

»Ich war damals ein ziemlicher Wirrkopf, ich weiß. Aber was zählt, ist doch die Gegenwart, oder? Und in der Zwischenzeit habe ich mich doch ganz gut gemacht?«

»Ach, Schätzchen«, sagte ihre Mutter. »Ich hab dich so lieb.« Sie zog Leighs Kopf zu sich heran und gab ihr einen Kuss.

Leigh blieb neben ihr sitzen, während sie ein Kleenex aus der Tasche zog und sich Augen und Nase abwischte. Ihr Make-up war verschmiert, was ihr ein derangiertes Aussehen verlieh, und Leigh musste an Bette Davis als Charlotte in dem Film Wiegenlied für eine Leiche denken, obwohl ihre Mutter weder so alt noch so fertig aussah. »Das Beef Willington war jedenfalls ausgezeichnet«, erklärte sie schließlich, um zu signalisieren, dass sie sich wieder gefangen hatte.

»Das ist Nelsons Spezialität«, erklärte Leigh. Hatten sie das nicht schon zuvor abgehandelt? Egal. »Ihr beide solltet öfter ins Bayview kommen«, sagte sie, während sie sich wieder auf das Sofa setzte und ihr Weinglas in die Hand nahm.

»Wir wollen dich nicht ausnutzen«, sagte Leighs Vater. Er wirkte erleichtert, doch auch seine Augen waren gerötet. Anscheinend hatte auch er geweint.

»Ihr nutzt mich doch nicht aus«, erwiderte Leigh.

»Wir würden jedenfalls öfter vorbeikommen, wenn du uns wenigstens ab und zu bezahlen lassen würdest.«

»Wenn es nur das ist«, sagte Leigh.

Trotz allem blieb die Atmosphäre angespannt, und es dauerte nicht lange, bis sich ihre Eltern verabschiedeten.

»Ich wollte, wir könnten bleiben, bis Deana zurückkommt«, sagte ihr Vater, »aber das kann bestimmt noch eine Weile dauern, und ich habe morgen früh eine Verabredung zum Golfen.«

Sie gingen zur Tür.

»Warum kommst du nicht mit Deana zusammen nächste Woche mal vorbei?«, schlug ihre Mutter vor. »Wir werfen den Grill an, und der Pool ist nach der ganzen Hitze in den letzten Wochen auch schön warm.«

»Klingt gut.«

»Und sag Deana, sie soll ihren Freund mitbringen.«

»Wird gemacht.«

»Wir haben ja heute Abend kaum etwas von ihr gehabt.«

»Ich weiß, tut mir ja auch leid.«

»Und du kannst ja auch einen Bekannten mitbringen.«

Fang jetzt nicht noch damit an, dachte Leigh, die glücklich gewesen war, dass dieses empfindliche Thema bisher ausgespart geblieben war.

»Wirklich, Liebes. Du bist mittlerweile sechsunddreißig, und du …«

»Wir sollten uns auf den Weg machen«, schaltete sich Leighs Vater ein. Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich fand es ganz toll, Liebes. Danke für das wunderbare Essen und die Geschenke. Und grüß Deana ganz lieb.«

»Mach ich. Alles Gute zum Geburtstag, Dad.«

Er tätschelte ihr den Rücken und wandte sich zur Tür.

»Dann also nächsten Samstag, okay?«, fragte ihre Mutter.

»Abgemacht.«

Sie umarmten und küssten sich zum Abschied.

Leigh ging ihnen bis zur Auffahrt hinterher und wartete, bis ihre Eltern in ihren Mercedes eingestiegen waren, um ihnen dann, während ihr Vater rückwärts die steil ansteigende Zufahrt zur Straße hinaufsteuerte, zum Abschied zuzuwinken.

Wieder zurück im Haus, schloss sie die Tür hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Überstanden.

Wenigstens hatte Deana den Wutausbruch von Leighs Mutter nicht miterlebt.

ENDE DER LESEPROBE