Das Graue Haus - Herman Bang - E-Book

Das Graue Haus E-Book

Herman Bang

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Beschreibung

Im Haus Seiner Exzellenz in Kopenhagen wird die Zeit nicht mehr gemessen. Zwischen Morgen und Abend eines kurzen Wintertages läuft scheinbar Alltägliches ab: Besucher kommen, ein Empfang findet statt, und nur halb im Verborgenen vollziehen sich die Ereignisse, die für die Familie der Hvides von lebenswichtiger Bedeutung sind.Anders als im weißen Haus seiner Kindheit, dessen sich Herman Bang als einer ländlich-geborgenen Welt erinnert, geht es in diesem 1801 entstandenen Roman um Abrechnung mit einer Bürgerlichkeit, die sich Selbst überlebt hat.REZENSIOIN"'Das weiße Haus' von 1898 und 'Das Graue Haus"' von 1901, Pendantromane, wie die Titel erkennen lassen, zeigen Herman Bang als einen Autor von düsterer Komik, mit einem starken Sinn fürs Szenische und einer Erzähltechnik, die weit über die Jahrhundertwende vorausweist." - Michael Maar, Frankfurter AllgemeineAUTORENPORTRÄTHerman Bang, geboren 1857 auf Alsen, Nordschleswig, wuchs als Pfarrerssohn in der dänischen Provinz auf und versuchte sich als Schauspieler, Regisseur und Feuilletonist, ehe er sich der Literatur zuwandte. Lesereisen führten ihn durch ganz Europa. Bang gilt als der bedeutendste dänische Vertreter des literarischen Impressionismus. Seine Schriftstellerkollegen in Deutschland erkannten Bang früh als einen der bedeutendsten Prosaautoren der skandinavischen Moderne. Und 100 Jahre nach seinem Tod zieht Herman Bang immer mehr Leser in seinem Bann. Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse und Thomas Mann empfahlen seine Bücher, Klaus Mann machte ihn zum Helden einer Erzählung.-

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Herman Bang

Das Graue Haus

 

 

 

Saga

I

Seine Exzellenz richtete sich in dem Bett aus Kiefernholz auf und zündete Licht an. Dann stand er auf. Während er sich mit Wasser übergoß, betrachtete er sich im Spiegel: sein Körper war knorrig und stark wie ein alter Baumstamm.

Über die weiße Wand glitt es wie der Schatten eines Riesen.

Er zog sich an, und er verließ den Raum.

Er ging, das Licht in der Hand, durch die vielen Zimmer. Bronzen, Piedestale und Ehrengaben standen in Laken eingehüllt da. Sie ragten so seltsam aus der Dunkelheit auf, daß es schien, als ginge die Exzellenz, auf dem Weg durch die Räume, zwischen Gespenstern.

Vor der letzten Tür zögerte er einen Augenblick und horchte. Im Zimmer wurde gesprochen. Das war Ihre Gnaden, sie redete im Schlaf. Im Schlaf glaubte Ihre Gnaden sich stets auf vergangenen Bällen und tanzte mit Durchlauchten, die indessen gestorben waren.

Seine Exzellenz blieb stehen, und seine erhobene Hand umklammerte die Portiere wie eine Klaue: horchen, wenn Ihre Gnaden im Schlaf redete, war eine seiner Schwächen.

Plötzlich setzte er das Licht ab, und er öffnete die Tür. Im Dunkel ging er auf das Bett Ihrer Gnaden zu.

Ihre Gnaden sprach weiter – und lauter, während Seine Exzellenz horchte.

„Weimar, Weimar“, wiederholte Ihre Gnaden.

Seine Exzellenz stand noch immer da, wie eine Säule.

„Ja, Hoheit“, sagte Ihre Gnaden.

Die Exzellenz drehte sich um und schloß die Tür und ging weiter.

Als er die eiskalte Lampe nahm und sie anzündete, zitterten ihm die Hände, dann setzte er sich an seinen Tisch. Er zog Schubladen auf und schloß sie wieder, und er holte die großen blauen Bogen hervor, kniffte Ränder ein und begann zu schreiben.

Er schrieb, den Kopf gebeugt und die Augen zusammengekniffen, als wolle er ihre Sehkraft erzwingen, während seine linke Hand auf dem Papier lag, blauweiß und schwer, wie von Blei; und er schrieb und schrieb, ohne Unterlaß, mit einer zornigen oder erbitterten Feder, Seite um Seite, Blatt um Blatt, und schleuderte sie weg.

Kein Laut war zu hören, nur das Sieden der Petroleumlampe.

In dem matten Licht erschienen die Ørsteds und Mynsters und Hvides so sonderbar ausgelöscht – wie sie da ringsum an den Wänden des Zimmers hingen, als blasse Lithographien, in ihren Goldrahmen, ordengeschmückt, in Ornaten, offiziell – gestorben und still.

Die Exzellenz hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt.

„Ach ja, ach ja.

Ach ja, ach ja“, klang es durch das Zimmer.

Und er schrieb weiter.

Der Tag dämmerte herauf, und sein kaltes Licht vermischte sich mit dem spärlichen Schein der Lampe. Immer noch ragte der große Kopf Seiner Exzellenz über den Tisch.

Der Diener kam herein, beugte seine schmerzenden Knie vor dem Kachelofen und zündete die großen Scheite an. Die Flammen warfen ihren Schimmer über seine bräunliche Perücke – die hatte so merkwürdig hochstehende Ränder – und über sein Gesicht, wo der Mund zwischen hundert Falten einem zusammengeklappten Messer glich.

Die Exzellenz hörte ihn nicht. Der Diener brachte den Tee und die Morgenzeitung, und mit einemmal drehte die Exzellenz sich um.

„Laß sie das zusammenheften“, sagte er und reichte dem Diener die blauen Blätter.

Der Diener Georg verschwand, und die Exzellenz stürzte den kochendheißen Tee in einem Zug hinunter – sein uralter Körper schien Kälte oder Wärme nicht mehr zu empfinden.

Draußen in der Küche war Sofie, die Magd, beim Nähen. Vor der Lampe sitzend, heftete sie mit einem langen schwarzen Faden die beschriebenen Blätter zusammen, und ihre Hand glich einem Bündel roter Knochen.

„Schreibt er?“ fragte sie.

Der Diener nickte.

„Ach so.“

Die Bornholmer Uhr neben dem Küchentisch pochte langsam und schwer. Es war, als schöpfte sie jede zögernde Sekunde mühsam und stöhnend aus einem unendlich tiefen Brunnen. Die Bornholmer Uhr war die einzige Uhr im Haus, die noch ging. Die anderen waren stehengeblieben.

Georg brachte die zusammengehefteten Blätter zurück, und die Exzellenz zog Schubladen auf und schloß sie wieder. Alle waren sie mit Heften derselben Art gefüllt. Die Morgenzeitung ließ er liegen. Zeitungen las er nicht mehr.

„Passiert denn etwas?“ sagte er.

„Was passiert denn?“ sagte Seine Exzellenz.

„Sie bauen ein paar Häuser mehr, in denen sie gegen sich selber sündigen können.“

„Nimm sie weg“, sagte er.

Der Diener nahm die Zeitung weg, um sie für Ihre Gnaden aufzubewahren. Ihre Gnaden ließ sich von ihrer Gesellschaftsdame täglich die Rubrik „Wohnungsangebote“ vorlesen.

Punkt neun Uhr wurde geläutet, und der Klang der Eisenglocke drang so seltsam tief in das Haus. Das war der Enkel.

„Ist die Exzellenz zu Hause?“ fragte er.

„Ja“, antwortete Georg, und er hängte den Mantel des jungen Manns an denselben Kleiderhaken wie den Tag zuvor.

„Du hast geschrieben“, sagte der junge Mann und neigte den Kopf.

Der Alte drehte sich um.

„Ja.“ Und seine Stimme klang böse.

„Wie es meine Art ist. Wenn man nicht mehr leben kann, dann schreibt man und vergießt Tinte. Schwarz auf weiß kann man mit den Menschen tun, was man will. Da machen sie nicht mehr Dummheiten, als man ihnen erlaubt.

Hast du gefochten?“ fragte er unvermittelt.

„Ja.“

Mit einem Blick, in dem eine besondere und plötzliche Stärke aufblitzte, sagte Seine Exzellenz: „Du bist ein Nachgeborener. Du mußt auf dich selbst achtgeben.“

Er sah dem Enkel, dessen Lippen sich von der Blässe rot wie Blut abhoben, unverwandt ins Gesicht und sagte mit derselben Stimme wie zuvor: „Ich weiß auch nicht, wie uns diese Rasse in die Familie gekommen ist.“

Der Enkel, der seinen sehr schlanken Körper sehr gerade hielt, hob ein wenig die dunklen Lider.

„Hat Großpapa an der Komödie geschrieben?“ sagte er.

„Ja. Lies es vor.“

Der Enkel setzte sich auf den großen Stuhl am Fenster und begann zu lesen – sehr laut, damit Seine Exzellenz ihn hören konnte.

„Was sagst du, was steht da?“ rief Seine Exzellenz.

Der Enkel las lauter und strengte sich an, die unleserliche Schrift zu entziffern, in der Buchstaben vergessen und Sätze herausgefallen waren.

„Was soll da stehn?“

Der Enkel las weiter.

„Nein“, rief Seine Exzellenz, „laß mich selbst.“

Er packte die Bogen. Und zornig und zum Licht vorgebeugt, versuchte er selbst all die Sätze zu lesen, die er längst schon vergessen hatte.

„Nein“, sagte er plötzlich, „ich kann nicht. Das sind die Augen. Die Augen wollen nicht.“

Er ließ das Manuskript fallen.

„Die Augen wollen nicht mehr. – Leg es weg.“

Der junge Mann nahm die blauen Bogen und legte sie in eine Schublade, zu den anderen.

Die Augen der Exzellenz folgten seinen Händen.

„Da liegen viele“, sagte er.

„Ja, Großpapa.“

Die Exzellenz hatte die Augen geschlossen: die Zeit, da Seine Exzellenz noch zu Verlegern fuhr, war vorbei. Jahrelang war er von Tür zu Tür gefahren, hatte Manuskripte abgeschickt und sie zurückbekommen. Nun hatte er aufgehört.

„Das Papier ist zu teuer geworden, mein Guter“, sagte er.

Seine Dichtwerke wurden nicht mehr gedruckt. Da mußte es schon ein Grabspruch für ein Enkelkind oder für einen Freund sein, der einst berühmt und jetzt vergessen war. Das Regierungsblatt druckte gelegentlich einen solchen Vers auf der hinteren Seite ab, mit sehr kleinen Buchstaben.

„Großpapa sollte seine Erinnerungen schreiben“, sagte der Enkel – wenn er auf seine Stimme nicht achthatte, war sie fast beängstigend weich –, und er schloß die Schublade.

Seine Exzellenz lachte.

„Erinnerungen“, sagte er, „Erinnerungen – wir haben genug Hirngespinste. Erinnerungen – hm, seine Erinnerungen hat keiner aufgeschrieben. Über die andern lügen sie, und über sich selber reden sie nicht ... Sie schreiben von dem Lumpenpack, das sie erlebt haben, und was sie gelebt haben, nehmen sie mit ins Grab.“

Seine Exzellenz lachte wieder, und seine Stimme hatte einen eigentümlichen, rauhen Klang.

„Und sie tun recht daran, mein Lieber“, sagte er, „würde sich nämlich ein einziger Mensch selbst beschreiben und sich nach seinem Tod gedruckt herausgeben lassen – man würde ihn noch in seinem Grab zu Zuchthaus verurteilen, denn Gerechtigkeit gibt es im Himmel wie auf Erden ...

Nein, es lohnt sich nicht, jemandem Auskunft zu geben.“

Seine Exzellenz schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Laß mich die Zeit hinbringen, wie ich’s kann. Das letzte Stück Weg ist am schwersten, und denken ist dumm. Ein Loch in der Erde ist so viele Gedanken nicht wert.“

Ein wenig später sagte der Enkel: „Du hast ja uns.“

„Ja“, sagte die Exzellenz, „ihr müßt ja ernährt und gekleidet werden.“

Der Mund des jungen Mannes zitterte, fast unmerklich.

Doch der Alte sprach weiter.

„Haben – haben?“ sagte er, „die Menschen, Fritz, haben einander nicht. Sie brauchen einander und sind allein. Wenn man alt geworden ist, weiß man das und mag die vielen Worte, die niemand hört, nicht mehr reden. Wer hört denn?

Die meisten reden, ohne es selbst zu hören.

Die Tiere, mein Guter, kommen ohne Worte aus, und trotzdem können sie ihre Bestimmung erfüllen.“

Der Enkel saß zusammengesunken da, seine Schultern waren merkwürdig eingefallen.

„Sitz gerade“, sagte der Alte.

„Ja.“ Der junge Mann fuhr so hastig auf, daß sein Nacken gegen das Wappenschild des Stuhlrückens stieß.

„Nein“, führte die Exzellenz den Gedanken weiter, „der Fortpflanzung ist zu dienen. Sollen sie zeugen und sterben.

Das haben sie jahrtausendelang getan. Sollen sie’s weitertreiben und sich nichts einbilden. Sie erfinden und denken sich etwas aus und bauen Städte und schaffen sich Ruhm ... Der Natur ist das gleich. Die Erde wird einmal kalt – wie der Mensch auch.

Oder was haben sie davon?“ sagte er und sah plötzlich zu den vielen Bildern an den Wänden auf. „Da hängen sie mit ihren Ketten, ihren Mänteln, als die Akteure, die sie waren, und“ – die Exzellenz machte eine Bewegung mit den Füßen, als wische er seine Schuhsohlen ab – „was sie wollten, verkehrte sich ins Gegenteil, und ihre Werke sind so tot wie sie selbst.

Was ist das Ganze?“ fuhr er fort, „es macht nicht satt ... Hm, ich entsinne mich an einen Tag, als Thorvaldsen ..., er war wohl der größte, auch als Komödiant, denn das gehört zusammen ... Er ging herum, als trüge er selbst ein Ornat und sollte vor seinem eignen Marmor Weihrauch brennen. Aber dann kam ein Tag, da war er wach, sonst schlief er viel, Fritz, schlief auf seinem weltberühmten Namen. Aber an diesem Tag war er wach – das war in seiner Werkstatt –, da zeigte er mit einer kleinen Handbewegung auf all die weißen Figuren und all den Ton, und dann sagte er: ‚Ja, das ist ja ganz hübsch.‘ Und das war alles, wenn man es kannte.“

Die Exzellenz lachte kurz auf, wie im Genuß seiner eignen Erinnerung.

„Und als Oehlenschläger starb, heulte er, weil keiner seinen ‚Sokrates‘ lesen mochte, und Heiberg sah nach den Sternen – falls es jemand glaubt. Laß die Sterne gehn, wie sie wollen. Mir ist nie zu Ohren gekommen, daß sie uns eine Botschaft geschickt hätten.“

Er strich sich über die Augen, und in einem veränderten Ton sagte er: „Aber alte Leute sollten nicht zuviel Verstand haben, sonst wissen sie zuviel ... Sie sollten abstumpfen. Wer es nicht tut, der hat Zeit zu sehen, und das sollte den Menschen erspart bleiben ... Man sollte niemals sehen, nie sich selbst und nie die andern ... Da gibt es ein dummes Wort: Wer Jehovah sieht“, und die Exzellenz lachte über dieses Wort, „der muß des Todes sterben. Aber ich sage dir, wenn ein einziger Mensch einem andern ganz bis auf den Grund seiner Seele sehen könnte, so würde er sterben. Und wenn es vorstellbar wäre – aber das ist unmöglich, denn man belügt sich selbst zu sehr –, daß man sich selbst bis auf den Grund seiner Seele sähe, dann, mein Guter, würde man es für eine geringe, jedoch notwendige Strafe halten, selbst und ohne mit der Wimper zu zucken, seinen Kopf auf den Block zu legen ...

Na ...“, und Seine Exzellenz brach unvermittelt ab, „ich rede ... Aber“ (plötzlich sah er den Enkel an, und für weniger als den Bruchteil einer Sekunde lag in seinem Auge etwas, das fast dem Blick des Schützen glich, der prüft, ob ein Pfeil getroffen hat) „das macht wohl nichts, du hörst ja doch nicht zu. Deine Ohren brausen von einer andren Weisheit.“

Der junge Mensch stand auf.

„Leb wohl, Großpapa“, sagte er nur.

„Sonst hast du nichts auf dem Herzen?“

Seine Exzellenz erhob sich und ging zum Sekretär und schloß ihn auf. Er schob einen Briefbeschwerer beiseite, und er nahm einige Geldscheine, ohne sie zu zählen.

„Die Jugend muß Geld haben“, sagte er.

„Leb wohl.“

„Leb wohl, Großpapa.“

Der junge Mann ging.

Im Flur wartete Georg und nahm seinen Überzieher vom Haken und half ihm hinein.

„Leben Sie wohl“, sagte der junge Mann und neigte den Kopf.

Georg hängte den „Zettel“ außen an die Tür. Auf einem Stück Pappe stand in Buchstaben, die kaum noch zu lesen waren, das Wort „Sprechstunde“.

Dann öffnete er den Briefkasten und holte die Post heraus.

Die Briefe legte er auf die Konsole. Doch kaum hatte er das getan, da nahm er sie plötzlich wieder in die Hand und las die Aufschrift des einen Umschlags, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse – dann legte er ihn wieder auf die Konsole, doch weiter zurück, in das Dunkel.

„Ist Ihre Gnaden wach?“ fragte die Exzellenz, als Georg ins Zimmer kam.

„Ihre Gnaden hat geläutet.“

„Und mein Sohn?“

„Herr Fritz Hvide ist ausgegangen.“

„Hm. – Bring mir das Journal.“

Georg brachte das schwere Buch und schlug es auf.

„Welches Datum ist heute?“

„Der achtundzwanzigste, Euer Exzellenz.“

„Die Karnevalszeit geht zu Ende“, sagte Seine Exzellenz.

Über eine große Rubrik unter den anderen Rubriken, die leer waren, schrieb Seine Exzellenz das Datum.

„Danke“, sagte er, „du kannst gehn.“

Georg ging. Draußen im Flur setzte er sich auf den Stuhl dicht neben der Tür. Er hielt sich sehr gerade. Er wartete, um den Patienten Seiner Exzellenz zu öffnen. Langsam sank sein Kopf über den hohen Kragen der Livree, und seine Schultern fielen ein. Es war, als säße ein bekleidetes, jedoch lebloses Gestell am Paneel.

„Ach ja, ach ja“, klang es durch die Tür der Exzellenz.

Georg rührte sich nicht.

Es läutete. Das war ein Diener in Georgs Alter, sehr groß, in einem sehr langen Mantel. Er hatte einen Kopf, der ihm gleichsam nicht recht fest auf dem Körper saß. Er sollte einen Brief abgeben. Er gelangte in das Zimmer der Exzellenz, und sein Brief wurde gelesen. Es war eine Mittagseinladung von Baronin Brahe.

„Richten Sie der Baronin meinen Dank aus“, sagte Seine Exzellenz. „Aber ich lasse mich nicht auf Tierschauen ausstellen ... Wie geht es ihr?“

„Danke, gut, Euer Exzellenz.“

„Und Ihm selbst?“

Der Diener, der an der Tür stand, nahm Haltung an. Nur Kopf und Schultern bewegten sich. Die übrige Figur erinnerte an ein Gebäude, das von Stützbalken gehalten wird.

„Danke, Euer Exzellenz ..., da ist nur dieses Zittern ..., aber ich nehm das ‚Stärkende‘, Euer Exzellenz.“

„Ja, stärk Er sich“, sagte Seine Exzellenz und wandte ihm plötzlich sein Gesicht zu, mit einem Ausdruck, als betrachte er einen alten Hund.

Der alte Mann blieb einen Augenblick stehen, dann sagte er – es war sein ständiger oder einziger Gedanke: „Und mit dem Servieren geht es so schlecht.“

„Dann sollte Er’s bleiben lassen“, sagte Seine Exzellenz. „Es dankt Ihm doch keiner, wenn Er ihm Soße auf die Kleider kleckert.

Auf Wiedersehen.“

Seine Exzellenz drehte sich um, und die Tür glitt zu.

„Was hat er denn gesagt?“ flüsterte Georg draußen im Flur.

„Da gibt’s wohl nichts, was helfen kann“, sagte der andere.

Georg nickte. Doch auf einmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er flüsterte, auf die Tür zeigend: „Ihm geht’s auch mies.“

Es war, als ob sich Georgs Gesichtsausdruck plötzlich in der Miene des Fremden spiegelte.

„Nee wirklich?“ sagte der, und seine Stimme bekam geradezu Klang.

„Unsrer Baronesse geht’s auch verdammt dreckig“, flüsterte er.

„Die Emmely, die ist doch krank, nicht wahr?“ fragte Georg.

„Ja. Es ist das Gichtfieber, wie sie sagen.“

„Ja“, nickte Georg.

„Und das hat sich wohl aufs Herz geschlagen“, flüsterte der Diener der Brahes.

Und während er auf die Tür seiner Exzellenz zeigte, sagte er: „Aber ihn rufen sie ja nicht.“

Mit einemmal wich der neugierige Zug in Georgs Gesicht einer gewissen Verdrießlichkeit.

„Nein“, sagte er, „noch nicht.“

Plötzlich aber, als ein Schlüssel in der Flurtür klirrte, nahmen beide Haltung an. Es war der Vater. Er zog den Mantel aus und fragte: „Ist bei Baron Brahes jemand krank?“

„Ja, das heißt, die Baronin, die wollte Seine Exzellenz gern einladen ..., zum Mittagessen.“

Der Alte hatte dabei gestottert.

„Aha“ – über das Gesicht des Vaters war etwas wie Blässe geglitten –, „guten Morgen.“

Der Vater ging durch die Tür ins Zimmer Seiner Exzellenz.

„Bist du’s?“ sagte die Exzellenz, und beim Anblick des Sohns, der ihn mit einem eigenen liebevollen Lächeln begrüßte, das beinahe weiblich wirkte, leuchteten seine Augen plötzlich auf.

„Wie geht es dir, Papa?“

„Danke. Alte Leute, Junge, sollten nicht klagen, so lange sie nur leidlich atmen können.“

„Es ist rauh draußen“, sagte der Vater, noch immer über Seine Exzellenz gebeugt.

„Das ist unser Klima, mein Guter, das müssen wir halt tragen.“

Der Vater wandte sich zum Fenster.

„Ist Stella auf?“ fragte die Exzellenz.

„Sicher“, sagte der Vater und vermied absichtlich ein Ja. Innerhalb einer Sekunde schien sich das Gesicht der Exzellenz zu verdüstern.

„Es geht ihr diesmal nicht gut“, sagte er nach kurzem Schweigen.

Im Gesicht des Vaters war eine ähnliche Veränderung vorgegangen wie bei der Exzellenz, und seine Antwort kam zögernd: „Sonst freut sie sich immer so, wenn sie bei euch ist“, sagte er, und seine Stimme war so seltsam leise oder tonlos wie immer, wenn er von seiner Gattin sprach.

Die Exzellenz gab keine Antwort, und wieder schwiegen sie beide.

„Gestern abend ist Harriette gekommen“, sagte der Vater, der noch immer am Fenster stand.

„Ja“, sagte Seine Exzellenz, „ich habe sie zum Essen einladen lassen.“

„Ich gehe dann Tee trinken“, sagte der Vater.

„Ja.“

Die Tür fiel zu.

Georg saß unverändert an seinem Platz, als es ein zweites Mal läutete. Vor der Tür stand so ein Würmchen und schaute unter der Krempe eines komischen Tirolerhuts hervor.

„Guten Morgen, Herr Jensen. Ich bin’s nur“, sagte sie.

„Guten Morgen, Jungfer Villadsen“, sagte Georg.

„Danke“, sagte Jungfer Villadsen, deren Finger unablässig mit einer großen Menge verblichenen Flors beschäftigt waren, der ihre Vorderseite bedeckte – ihr Rücken war bucklig.

„Danke.“

„Kommen Sie doch rein“, sagte Georg.

Der Diener öffnete die Tür zum Zimmer der Exzellenz, nur so weit, wie man sie für ein Wesen aufmacht, das durch den schmalsten Türspalt schlüpft, und die Exzellenz wandte sich um.

„Sind Sie’s?“ sagte er. „Setzen Sie sich.“

Und Jungfer Villadsen setzte sich, auf einen Stuhl neben der Tür, gerade so auf eine Kante, daß ihre Füße den Boden erreichten.

„Dann ist es wohl wieder schlimm?“

„Ja, Euer Exzellenz.“

„Ist es das alte?“ fragte die Exzellenz, der seinen Stuhl ganz herumgedreht hatte und sie nicht aus den Augen ließ, und plötzlich machte er sich auf seinem Stuhl gerade.

„Ja.“

Jungfer Villadsen hielt den Kopf nach oben gewandt, und in ihrer Brust, hinter dem Flor, fing es an zu arbeiten.

„Es ist ja immer die Narbe, Euer Exzellenz“, murmelte sie, „es ist ja immer die Narbe, die macht die schlimmen Schmerzen ...“

„Ja“, sagte die Exzellenz, den auf einmal eine grimmige Heiterkeit zu überkommen schien, da gibt’s Nachwehen, Jungfer, nach den Freuden.“

Jungfer Villadsen brach in Tränen aus, und im Weinen verzerrte sich ihr Mund. So wie sie da saß, mit vorgeschobenem Gesicht und aufgeworfenen Lippen, hatte sie Ähnlichkeit mit einer Kröte.

„Ja, man büßt dafür“, murmelte sie, „man wird gequält dafür, man büßt dafür, wenn man ins Unglück gekommen ist ...“ „Es gibt keinen, der ins Unglück kommt, Jungfer“, sagte Seine Exzellenz, „sie wollen alle ihr Vergnügen.“

Jungfer Villadsen weinte und weinte, mit merkwürdigen kurzen Glucksern, die ihren verwachsenen Körper schüttelten.

„Ja, das ist wohl wahr ..., das ist wohl wahr“, sagte sie.

Und zum tausendsten Mal fing sie mit derselben Geschichte und mit derselben Klage an, die er kannte; er hatte sie vom ersten Tage an gehört, als sie ins Krankenhaus gekommen war – und er, der es längst aufgegeben hatte, jene Geburtshilfe zu praktizieren, die zu seinem Ruhm einst beigetragen, er hatte in einem plötzlichen Anfall von sonderbarer und unsinniger Munterkeit beschlossen, daß er selbst, er, der Meister, ein letztes Mal eine Entbindung durchführen wollte – bei diesem Würmchen, über das in einer Nacht im „Dyrehaven“ das männliche Geschlecht dennoch hereingebrochen war, auf daß es einen Menschen in die Welt setzen könne.

„Ja, Villadsen“, sagte Seine Exzellenz, „das kenne ich.“

Jungfer Villadsen, die immer noch schluchzte, sagte: „Ja ..., Exzellenz wissen das ..., Exzellenz wissen das ... Aber (das kam wie in einem Strom von Tränen) man war ja doch ein Mensch.“

Über sein Gesicht glitt unvermittelt ein Lächeln, und mit einer Heftigkeit, die diesem einen Wort einen Klang verlieh, als schleuderte er einen Stein durch das hohe Zimmer, sagte er: „Ja.“

„Der eingerichtet ist wie die anderen“, sagte Jungfer Villadsen, immerfort weinend.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann richtete Seine Exzellenz die Augen erneut auf die Kröte.

„Und wo ist er?“ fragte er.

„Er“ war der Sohn der Jungfer.

„Ja, nun ist er doch seiner Frau weggelaufen.“

„So.“

„Und seine Liebsten holt er sich von der schlimmsten Sorte“, sagte Jungfer Villadsen.

„Wovon lebt er?“ fragte die Exzellenz.