Das Handbuch ME/CFS - Lotte Habermann-Horstmeier - E-Book

Das Handbuch ME/CFS E-Book

Lotte Habermann-Horstmeier

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Beschreibung

ME/CFS verstehen und eine patientenzentrierte Versorgung sicherstellen Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung mit einer vielfältigen Symptomatik, die oft zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung führt und für die es bislang keine kausale Therapie gibt. In der Regel dauert es noch immer Jahre, bis die korrekte Diagnose gestellt wird. In den meisten Fällen wird ME/CFS durch eine Infektionskrankheit ausgelöst. Die Coronavirus-Pandemie führte daher zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Betroffenen. In diesem Buch werden die wichtigsten Grundlagen einer patientenzentrierten Behandlung und Versorgung von ME/CFS-Erkrankten - basierend auf dem aktuellen Forschungsstand - vermittelt. Dabei werden folgende Inhalte näher betrachtet: - Symptomatik der Erkrankung - Diagnostische Kriterien - Epidemiologie - Neue Erkenntnisse zur Krankheitsentstehung - Herausforderungen bei der Diagnostik von ME/CFS (Differentialdiagnosen, Komorbiditäten) - Sicht der ME/CFS-Erkrankten auf ihre gesundheitliche und soziale Situation - Grundlagen einer interdisziplinären, patientenzentrierten Versorgung bei ME/CFS -einschl. der Möglichkeiten einer symptomatischen Therapie - Unterstützungs- und Hilfsangebote für ME/CFS-Erkrankte - Leben mit ME/CFS

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Seitenzahl: 716

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Patientenzentrierte Versorgung und interprofessionelle Handlungsempfehlungen

Unter Mitarbeit von Herbert Renz-Polster

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Lotte Habermann-Horstmeier

Programmbereich Medizin

Dr. med. Lotte Habermann-Horstmeier, MPH, MSc

Villingen Institute of Public Health (VIPH)

Klosterring 5

D-78050 Villingen-Schwenningen

[email protected]

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Lektorat Medizin

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

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Tel. +41 31 300 45 00

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www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Ristea, Wiebke Erchinger

Redaktionelle Bearbeitung: Susanne Hahn, Meckenheim

Herstellung: René Tschirren

Umschlaggestaltung: Hogrefe Verlag AG, Bern

Umschlagabbildung: Foto Person, anonym

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2025

© 2025 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96282-5)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76282-1)

ISBN 978-3-456-86282-8

https://doi.org/10.1024/86282-000

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Inhaltsverzeichnis

1. Geleitwort

2. Geleitwort

Vorwort

1 Einführung

1.1 Das integrative Modell der Patientenzentrierung

1.2 Einblick in die Themen des Buches

2 ME/CFS – die Krankheit

2.1 Entwicklung der Terminologie/Definition

2.2 Symptomatik

2.2.1 Kernmerkmale

2.2.2 Weitere Symptome

2.2.3 Auslöser, Eintrittszeitpunkt und Dauer einer Symptomenverschlechterung

2.2.4 Intra- und interindividuelle Unterschiede in der Symptomatik

2.2.5 Symptomatik im Krankheitsverlauf

2.2.6 Schweregrade der Erkrankung

2.3 Diagnostische Kriterien

2.3.1 Canadian Consensus Criteria (CCC von 2003)

2.3.2 International Consensus Criteria (ICC von 2011)

2.3.3 IOM-Kriterien von 2015

2.3.4 NICE-Kriterien von 2022

2.3.5 EUROMENE-Vorschläge zur Diagnosefindung von 2021

2.3.6 Konstruktiv-kritische Zusammenfassung

2.4 Epidemiologie

2.4.1 Prävalenz

2.4.2 Inzidenz

2.4.3 Allgemeine Mortalität und Suizidalität

2.4.4 Soziale Situation, Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und wirtschaftliche Auswirkungen

2.4.5 Prognose und Burden of Disease

3 Die biologischen Grundlagen von ME/CFS: Ätiologie und Pathogenese

3.1 Ätiologie

3.1.1 Genetische Prädisposition

3.1.2 Änderungen im Genom

3.1.3 Infektionen als Auslöser

3.2 Pathogenese

3.2.1 Die epigenetische Ebene

3.2.2 Viruspersistenz

3.2.3 Virusreaktivierung

3.2.4 Immunsystem und Autoimmunität

3.2.5 Dysfunktion des zentralen und des peripheren Nervensystems

3.2.6 Vaskuläre Dysfunktion

3.2.7 Störung des (Energie-)Stoffwechsels

3.2.8 Fazit: Immer mehr Evidenz für ME/CFS als eigenständige neuroimmunologische Multisystemerkrankung

4 ME/CFS-Erkrankte und ihre Erfahrungen innerhalb des Gesundheitssystems

4.1 Diagnosestellung aus Sicht der Erkrankten

4.1.1 Fehlendes Wissen der Ärzt:innen

4.1.2 Ärztliches Vorgehen

4.1.3 Unterschied zu einer „normalen“ Erkrankung

4.1.4 Psychiatrische/psychosomatische Fehldiagnose

4.1.5 Gründe für das Stellen einer Fehldiagnose aus Sicht der Erkrankten

4.2 Auftreten und Verhalten der Ärzt:innen aus Sicht der Erkrankten

4.2.1 Beschreibung von Auftreten und Verhalten der konsultierten Ärzt:innen

4.2.2 Gründe für das Auftreten und Verhalten der konsultierten Ärzt:innen aus Sicht der Erkrankten

4.2.3 Kommunikations- und Interaktionsprobleme

4.2.4 Genderbezogene Verhaltensweisen der konsultierten Ärzt:innen aus Sicht der Erkrankten

4.3 Folgen einer belasteten Arzt-Patient-Beziehung aus Sicht der Erkrankten

4.3.1 Negative Emotionen

4.3.2 Verschlechterung der gesundheitlichen Situation

4.3.3 Vertrauensverlust und Einschränkung der Arztkontakte

4.4 Handelt es sich bei diesen Erfahrungen um Einzelfälle oder sind sie repräsentativ?

5 ME/CFS: Ärzte als erste Ansprechpartner

5.1 Die Arzt-Patient-Beziehung aus Sicht der Patient:innen sehen

5.2 Interaktionelle Grundbedürfnisse und die Rolle des ärztlichen Selbstverständnisses

5.2.1 Das ärztliche Selbstverständnis

5.2.2 Interaktionelle Grundbedürfnisse

5.2.3 Die asymmetrische Arzt-Patient-Beziehung

5.2.4 Der „schwierige“ Patient

5.3 Genderaspekte bei der Arzt-Patient-Interaktion

5.3.1 Kommunikation

5.3.2 „Unspezifische“ Symptome

5.4 Die Rolle der Anamnese

5.4.1 Diagnostische Schubladen

5.4.2 Die Unterscheidung zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Befunden und die Bedeutung von „Biomarkern“

5.5 Der Weg zu einem guten Arzt-Patient-Verhältnis

5.5.1 Die Basis eines guten Arzt-Patient-Verhältnisses

5.5.2 Die Anamnese als Schlüssel zur ME/CFS-Diagnostik

6 Herausforderungen bei der Diagnostik von ME/CFS

6.1 ME/CFS: Eine schwer zu diagnostizierende Erkrankung?

6.2 Die Suche nach Biomarkern bei ME/CFS

6.2.1 Zweitägiger kardiopulmonaler Belastungstest und Handkraftmessung

6.2.2 Aktuelle Forschungsansätze

6.3 Das differentialdiagnostische Vorgehen

6.3.1 Allgemeinzustand und körperliche Untersuchung

6.3.2 Routinelabor-Untersuchungen und bildgebende Verfahren

6.3.3 Differentialdiagnostisch erforderliche Untersuchungen

6.3.4 Differenatialdiagnose: Long-COVID, Post-COVID-Syndrom

6.3.5 Differenatialdiagnose: Psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen

6.3.6 ME/CFS bei Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen mit geistiger Behinderung

6.4 Komorbiditäten

7 Präventive und therapeutische Ansatzpunkte bei ME/CFS

7.1 Prävention und Therapie im Rahmen des Lebenslauf-Ansatzes

7.2 Prävention

7.2.1 Primärprävention (z. B. Impfung)

7.2.2 Sekundärprävention (z. B. Pacing)

7.2.3 Tertiärprävention (Reha-Maßnahmen)

7.3 Therapie

7.3.1 Kausale Therapien

7.3.2 Symptomatische Therapien

8 Die Grundlagen einer interdisziplinären, patientenzentrierten Versorgung von ME/CFS-Patient:innen im Verlauf ihres Lebens

8.1 Die Bedeutsamkeit eines patientenzentrierten Ansatzes

8.2 Die Relevanz der interdisziplinären Zusammenarbeit

8.3 Aufklärung und Sensibilisierung für ME/CFS im Rahmen der ärztlichen Aus- und Fortbildung

8.3.1 Die Rolle der eigenen Erfahrung

8.3.2 Bestätigung durch erfahrene Ärzt:innen

8.3.3 Fachrichtungen der anzusprechenden Ärzt:innen

8.3.4 Orte der ärztlichen Aus- und Fortbildung

8.3.5 Inhalte, Didaktik und Form der ärztlichen Aus- und Fortbildung

8.3.6 Aufklärung relevanter Gruppen

8.3.7 Aufklärung der Bevölkerung

8.4 Verbesserungen im Gesundheits- und Sozialsystem

8.4.1 Der Nationale Aktionsplan für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom

8.4.2 Leitfaden für Vorhaben zur Erforschung und Versorgung von ME/CFS und Post-COVID-Syndrom

8.4.3 Patienten-Vorschläge aus der APAV-ME/CFS-Studie

8.5 Case-Management und Patientenlotsen

8.5.1 Patientenlotsen

8.5.2 Selbstmanagement und das LoChro-Projekt

8.5.3 Unterstützungs- und Umfeldprozesse nach den Vorstellungen der Bundesärztekammer

8.5.4 Homecare und Care-Manager

8.6 Welche Unterstützungs- und Hilfsangebote brauchen Menschen mit ME/CFS?

8.7 Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Versorgung von Long-COVID und ME/CFS

8.7.1 Inhalte der Richtlinie

8.7.2 Entsprechen die Inhalte der Richtlinie den Bedürfnissen der ME/CFS-Erkrankten?

9 Leben mit ME/CFS

9.1 Leben mit unzureichender Versorgung

9.2 Beruf und finanzielle Absicherung

9.2.1 Von der Berufstätigkeit zur Rente

9.2.2 Ökonomische Folgen der Erkrankung

9.3 Wohnen

9.4 Aktivitäten des täglichen Lebens und Freizeitgestaltung

9.5 Mobilität

9.6 Partnerschaft, Sexualität und Familiengründung

9.6.1 Partnerschaft und Familiengründung

9.6.2 Sexualität

9.6.3 Familienleben

9.7 Soziales Netzwerk und soziale Isolation

9.8 Pflegebedürftigkeit, Abhängigkeit und Scham

9.8.1 Pflegebedürftigkeit

9.8.2 Soziale Abhängigkeit

9.8.3 Scham

9.9 Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl

9.10 Einsamkeit, Ängste, Verlustempfinden, Depression und Suizidalität

9.10.1 Einsamkeit

9.10.2 Verlustempfinden, Ängste und Depressivität

9.10.3 Suizidalität

9.11 Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter

9.11.1 Schulzeit

9.11.2 Die Rolle der Eltern

9.11.3 Berufliche Ausbildung und Studium

9.12 Die Rolle der Selbsthilfe

9.13 Leben mit ME/CFS in Zeiten großer ökologischer und gesellschaftlicher Umbrüche

9.13.1 Hitzewellen

9.13.2 Neuartige Krankheitserreger und neue Umwelt-Chemikalien

9.13.3 Notfallsituationen

Materialien

Glossar

Die Autorin

Sachwortverzeichnis

Hinweise zum Zusatzmaterial

|11|1. Geleitwort

ME/CFS ist eine schwer zu ertragende, aber auch schwer zu fassende Erkrankung. Das weiß ich aus meinen eigenen „Begegnungen“ mit dieser Erkrankung. Zum einen bin ich als Patient betroffen – nicht so schwer wie viele andere, aber bei dieser Erkrankung greifen selbst moderate Verläufe existenziell ins Leben ein. Zum anderen beschäftige ich mich wissenschaftlich mit dieser Erkrankung – eben weil es schier nicht auszuhalten ist, dass diese so einschneidende Erkrankung in ihrer kausalen Tiefe noch immer nicht verstanden ist.

Das schwer zu Fassende geht schon los mit dem Namen: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Ein viel zu langer, aber nun einmal historisch gewachsener Begriff. Und der passt einerseits – und andererseits nicht. Ja, viele Verläufe sind „myalgisch“, gehen also mit Muskelschmerzen einher – manche tun das aber auch nicht, oder nur zeitweise. Handelt es sich um eine Enzephalomyelitis? Es gibt tatsächlich immer mehr Befunde einer entzündlichen Beteiligung von Gehirn und möglicherweise auch Rückenmark – also tatsächlich einer Enzephalomyelitis – aber sie sind mit den in der klinischen Alltagspraxis verfügbaren Methoden nicht zu erkennen.

Und was ist mit dem chronischen „Fatigue“-Syndrom? Auch diese Bezeichnung ist unscharf, denn das spezifische Kernmerkmal der Erkrankung ist nicht die – auch bei vielen anderen Erkrankungen auftretende – Fatigue, sondern die Verschlechterung aller Krankheitssymptome nach Belastung – ein Phänomen, das diese Erkrankung von praktisch allen anderen Krankheiten abgrenzt. Und die „Fatigue“? Auch sie wird oft missverstanden und etwa mit „Müdigkeit“ gleichgesetzt. Aus der Erkrankung ME/CFS wird deshalb in vielen Presseberichten und sogar in Lehrbüchern ein geradezu heimelig klingendes „Chronisches Müdigkeitssyndrom“? Nur, Fatigue bei ME/CFS kann sich anfühlen wie ein totales Ausgelöscht-Sein bei dem gleichzeitig der Körper in einem Alarmzustand ist, alle Sinne überreizt sind und alles erreichbar ist, nur nicht Ruhe, Entspannung und ja: Müdigkeit. Schön wär’s!

Soviel zu den Missverständnissen allein um einen Namen aus fünf Wörtern.

Dann ist da die Herausforderung der Diagnose. Es gibt keinen Biomarker, also keinen spezifischen Labor- oder Messwert, der nur bei dieser Erkrankung spezifisch vorhanden wäre. Sehr wohl lassen sich in Studien Dutzende und vielleicht Hunderte von nachgewiesenen Abweichungen vom Normalzustand finden, aber sie fallen in kein spezifisches, einmaliges Raster.

Nun gibt es in der Medizin größere Herausforderungen als eine Krankheit allein aufgrund ihrer klinischen Merkmale zu diagnostizieren. Man denke nur an die Migräne, die Alzheimer-Erkrankung, ADHS oder Autismus. Und doch lassen sich viel zu viele Kolleg:innen dadurch entmutigen, dass diese Erkrankung eben nicht durch einen einfachen Test zu sichern ist. Manche nehmen dann bei dieser komplexen Erkrankung den Weg des geringsten Widerstandes und ordnen die Krankheit einfach einmal als psychisch bedingt ein – ein Irrtum, der viele Krankheiten betroffen hat, solange ihre Pathogenese noch unklar war, man denke nur an das Magengeschwür, die Neurodermitis oder Mor|12|bus Crohn. Wie oft habe ich selbst die Vorurteile von Kolleg:innen gegen meine Erkrankung erlebt, dieses Nicht-ernst-genommen-Werden und dieses „sind wir nicht alle manchmal müde“, das einen Betroffenen nur wortlos zurücklässt, verletzt und einsam.

Und genau deshalb – eben weil ME/CFS noch immer vielfach verkannt wird, eben weil diese Erkrankung nur über eine genaue Anamnese zu diagnostizieren ist, eben weil die Begleitung der Betroffenen eine Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung auf Augenhöhe erfordert – ist der Ansatz dieses Buches so wichtig. Nämlich, dass die Patient:innensicht systematisch und konsequent mit einbezogen wird und dass die Patient:innen als Expert:innen wahrgenommen und begleitet werden.

Die Autorin schöpft bei ihren Darstellungen aus dem reichen Fundus ihrer wissenschaftlichen Studien mit ME/CFS-Patient:innen, bei denen sie deren eigene Beschreibungen der Erkrankung, deren eigene Erfahrungen im Medizinsystem und deren eigene Enttäuschungen und Hoffnungen kennenlernen und beschreiben konnte. Dieses Buch greift diese Erfahrungen auf, und macht daraus einen klaren und mit allen aktuell verfügbaren Fakten zu dieser Erkrankung begründeten Leitfaden für alle, die Patient:innen mit dieser zum Verzweifeln komplexen und oft grausamen Erkrankung begleiten.

Ich danke der Autorin Lotte Habermann-Horstmeier von Herzen für dieses unglaublich faktenreiche und mit wissenschaftlicher Leidenschaft geschriebene Buch.

Dr. med. Herbert Renz-Polster

Ravensburg, im Frühjahr 2025

|13|2. Geleitwort

Mit großer Dankbarkeit und Zuversicht begrüßen wir die Veröffentlichung dieses umfassenden Fachbuches über Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Die Herausgabe eines solchen Werkes ist lange überfällig, denn ME/CFS ist eine schwerwiegende, lebensverändernde organische Erkrankung, die immer noch viel zu wenig verstanden wird und häufig, sowohl von der Öffentlichkeit als auch von Teilen des medizinischen Fachpersonals nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erhält.

Das Buch leistet einen wertvollen Beitrag zur Schließung dieser Lücke. Die fachliche Kompetenz der Autorin, die in den Kapiteln über die medizinischen Grundlagen, die Diagnostik und die Therapie von ME/CFS zum Ausdruck kommt, zeugt von einer tiefen Sachkenntnis und einem umfassenden Verständnis der Krankheit. Sie setzt sich fundiert mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinander und präsentiert den aktuellen Stand der Forschung auf eine Weise, die sowohl für Fachleute als auch für betroffene Laien zugänglich und verständlich ist. Dies ist von besonderer Bedeutung, da ME/CFS eine komplexe und oft missverstandene Erkrankung ist, die eine differenzierte und präzise Diagnostik erfordert, um angemessen versorgt zu werden und um weiterführende Therapieansätze entwickeln zu können.

Das vorliegende Werk kann dabei sowohl als Instrument in der studentischen Ausbildung und der ärztlichen Weiterbildung zum Einsatz kommen, als auch erfahrenen Kliniker:innen den Einstieg in die Thematik ermöglichen oder der Vertiefung der eigenen Kenntnisse dienen. Besonders hervorzuheben ist dabei die Einbindung der Erfahrungsberichte von Patient:innen. Das ist einzigartig für ein solches Werk – und wohl auch für eine Erkrankung. Die persönlichen Schilderungen geben ME/CFS ein Gesicht und zeigen die vielfältigen Herausforderungen, denen sich Betroffene täglich stellen müssen. Sie beleuchten die eklatanten Mängel in der Versorgung, den Unglauben, den viele Patient:innen erleben, sowie die nach wie vor erschreckend unzureichende Forschungslage zu dem Krankheitsbild. Diese Aspekte sind in der wissenschaftlichen Literatur häufig unterrepräsentiert, das Buch stellt sie jedoch in den Mittelpunkt und schafft damit ein Bewusstsein für die dringend notwendigen Verbesserungen bei der Versorgung und Erforschung von ME/CFS. Die in jüngster Zeit beginnende wissenschaftliche Auseinandersetzung zum Thema Stigmatisierung – mit den wichtigen Dimensionen Fremd- und Selbststigmatisierung – zeigt, welche Folgen Versorgungsmängel und die Ablehnung einer tieferen Auseinandersetzung mit einer Erkrankung durch Fachpersonal haben können.

Als Patientenorganisationen ist es uns ein zentrales Anliegen, dass die Bedürfnisse der Betroffenen ernstgenommen werden und daraus konkrete Maßnahmen resultieren, die zu einer spürbaren Verbesserung ihrer Gesamtversorgung führen. Wir unterstützen sie auf ihrem meist sehr mühsamen Weg bei der Bewältigung der Krankheit, der damit verbundenen Herausforderungen sowie der sozialen Folgen durch konkrete Hilfestellung. Dazu verfassen wir unter anderem fachspezifische Schriften, um so|14|wohl den Erkrankten als auch den verschiedenen Berufsgruppen in der Medizin fundiertes Informationsmaterial zur Verfügung stellen. Durch die Einwerbung von Fördermitteln und Spenden sowie durch Mitwirkung der Betroffenen in der Studienplanung- und -organisation leisten wir darüber hinaus unseren Beitrag, hochwertige wissenschaftliche Arbeiten zu ME/CFS voranzubringen.

Aus unserer Sicht ist die Integration der Erfahrungen Betroffener und ihrer Familien ein wichtiges Instrument, um eine umfassende Sichtweise auf pathophysiologische Zusammenhänge und das konkrete Krankheitserleben zu verbessern. Deshalb sollte dieses Beispiel auch eine Inspiration für Autor:innen von Fachbüchern auf anderen medizinischen Gebieten sein, da diese Aspekte in der Ausbildung junger Mediziner:innen und in der täglichen Routine erfahrener und in der Medizin Tätiger häufig unterrepräsentiert sind.

Auf Grundlage unserer langjährigen Erfahrung mit ME/CFS halten wir dieses Fachbuch für eine hervorragend geeignete Ressource.

Wir sind sehr stolz darauf, das Geleitwort für ein Buch verfassen zu dürfen, das einen so enorm wichtigen Beitrag zur Aufklärung und zum Verständnis von ME/CFS leistet. In der Hoffnung, dass dieses Werk zu einer besseren Versorgung und einem erhöhten Bewusstsein für die Bedürfnisse der Patient:innen beiträgt, empfehlen wir es allen, die sich über ME/CFS informieren und die Situation der Betroffenen verstehen und verändern möchten.

Fatigatio e. V., Bundesverband ME/CFS, & Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V.

Berlin, Hamburg, im Frühjahr 2025

|15|Vorwort

„Wenn mich jemand nach meinen Wünschen fragt, kann ich nur sagen: Ich will mein Leben zurück. Einfach wieder ganz normal leben.“

(ME/CFS-Patientin P9)

Schon bald nach Beginn der COVID-19-Pandemie zeichnete sich ab, dass es Menschen gab, die an SARS-CoV-2 erkrankt waren, bei denen die Symptome jedoch deutlich länger als bei anderen Betroffenen anhielten oder gar nicht mehr verschwinden wollten. Bereits Ende 2020 benannte das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) alle gesundheitlichen Beschwerden, die auch nach der akuten Krankheitsphase einer SARS-CoV-2-Infektion fortbestanden oder danach neu aufgetreten waren, als Long COVID. Parallel dazu gab es schon sehr früh immer wieder Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Symptomatik eines Teils der Long-COVID-Patient:innen der der postinfektiösen ME/CFS entsprach. Obwohl ME/CFS bereits seit den 1960er-Jahren in der ICD-10-GM bzw. ICD-11 unter G93.3 als Erkrankung des Nervensystems aufgeführt wird, konnten zu diesem Zeitpunkt nur wenige Ärzt:innen etwas mit diesem Begriff anfangen. ME/CFS ist die Abkürzung des etwas sperrigen Namens Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Dass es sich hierbei keineswegs um eine neue Erkrankung handelt, wurde spätestens dann klar, als sich immer mehr Patient:innen in der Öffentlichkeit zu Wort meldeten, die z. T. schon seit Jahrzehnten an einer postinfektiösen ME/CFS als Folge einer anderen Infektionskrankheit – wie etwa dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder einer Influenza – litten, und von einer identischen Symptomatik berichteten. Sie gingen – vielleicht etwas blauäugig – davon aus, dass es nun, da weltweit vieltausendfach Fälle von postinfektiösem ME/CFS nach einer SARS-CoV-2-Erkrankung beschrieben wurden, ja offensichtlich sein müsse, dass ME/CFS-Erkrankungen gleich welcher Genese nun auch in den deutschsprachigen Ländern allgemein als postinfektiöse Erkrankungen anerkannt würden.

Umso enttäuschter waren sie darüber, dass ein Teil der Ärzt:innen die Krankheit auch weiterhin negierte oder sie als psychosomatische Erkrankung einordnete, wie sie das zuvor schon über viele Jahre bei ME/CFS-Erkrankten getan hatten, deren Leiden durch eine andere Infektionskrankheit ausgelöst worden war. Dies hatte zur Folge, dass die betroffenen Erkrankten entweder keine Therapie erhielten, was an sich schon schlecht genug war, oder aber eine falsche Therapie, die bei vielen Erkrankten noch zusätzlichen, irreversiblen Schaden anrichtete. Inzwischen weiß man, wie außerordentlich wichtig es ist, die Erkrankung möglichst frühzeitig zu diagnostizieren, um über das Pacing als zentrale Maßnahme des Krankheitsmanagements und über eine umfassende symptomatische Therapie zu vermeiden, dass das Vollbild der Erkrankung entsteht bzw. um zu erreichen, dass es bei den betroffenen Erkrankten nicht zu schweren oder schwersten Einschränkungen kommt.

|16|Die Ergebnisse der APAV-ME/CFS-Studie1, bei der im Jahr 2022 in Deutschland mehr als 1.200 ME/CFS-Erkrankte bzw. deren Angehörige zum Arzt-Patienten-Verhältnis bei ME/CFS befragt wurden, machen deutlich, wie schwer die Betroffenen erkrankt sind und welchen immensen Einfluss die Krankheit auf alle Bereiche ihres Lebens hat. Sie zeigen jedoch vor allem, wie wichtig es für die Erkrankten ist, von ihren Ärzt:innen ernst genommen, als Patient:innen mit einer neuroimmunologischen Krankheit anerkannt und entsprechend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen behandelt zu werden.

Bei den in diesem Buch zitierten Schilderungen der Erkrankten handelt es sich keineswegs um Einzelfälle. Berichte von selbst an ME/CFS erkrankten Ärzt:innen zeigen, dass es auch ihnen in dieser Situation meist nicht anders ergeht als ihren Leidensgenoss:innen ohne medizinische Vorbildung. Die z. T. sehr drastischen, das Erleben und das Leid der Betroffenen widerspiegelnden Schilderungen, wurden in das Buch aufgenommen, um aufzuzeigen, wie wichtig es gerade bei Erkrankungen wie ME/CFS ist, die Aussagen und Wahrnehmungen der Patient:innen in den Mittelpunkt des ärztlichen Denkens und Handelns zu stellen. Keineswegs war es das Ziel, hiermit die von den Patient:innen konsultierten Ärzt:innen oder die Ärzteschaft insgesamt zu verunglimpfen oder in Misskredit zu bringen. Die Schilderungen sollen deutlich machen, wie wichtig eine umfassende Anamnese als Schlüssel eines patientenzentrierten Vorgehens für eine korrekte Diagnosestellung und Therapie ist. Nur so ist es möglich, die gesundheitliche und soziale Situation der ME/CFS-Erkrankten besser zu verstehen und hierauf aufbauend geeignete unterstützende Maßnahmen einzuleiten sowie gesundheitliche und soziale Versorgungsstrukturen aufzubauen. Das patientenzentrierte Vorgehen hilft darüber hinaus, die Erkrankung selbst besser zu verstehen und auf dieser Basis ggf. neue Forschungsansätze zu entwickeln.

Das Buch richtet sich daher an Ärzt:innen aller Fachrichtungen, die offen dafür sind, ein solches patientenzentriertes Vorgehen bei ihren ME/CFS-Patient:innen umzusetzen. Als Basis dieses patientenzentrierten Vorgehens bietet es nicht nur Informationen zur gesundheitlichen und sozialen Situation der an ME/CFS erkrankten Patient:innen, sondern auch das aktuelle Wissen zur Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese sowie zur Diagnostik, Prävention und Therapie von ME/CFS. Es richtet sich aber auch an Vertreter:innen anderer Gesundheitsberufe, die mit ME/CFS-Erkrankten in Kontakt kommen (z. B. aus der Physio- und Ergotherapie, dem Reha-Bereich, der Pflege, dem Beratungsbereich, den sozialpädagogischen Zentren, den Krankenkassen, Rentenversicherungen, Sozialämtern, Schulen, Firmen, Gerichten etc.). Nicht zuletzt ist dies jedoch auch ein Buch für die ME/CFS-Erkrankten selbst sowie für ihre Angehörigen, die es u. a. auch als Nachschlagewerk nutzen können.

Die Kapitel des Buches bauen sukzessive aufeinander auf, die Inhalte der einzelnen Kapitel lassen sich jedoch auch verstehen, wenn die vorherigen Kapitel nicht gelesen wurden. Kapitel 3 geht bewusst sehr in die Tiefe, um zu zeigen, wie viel an biophysiologischem Grundwissen über die Erkrankung ME/CFS bereits vorliegt. Nicht-Mediziner:innen können dieses Kapitel gerne überspringen oder sich auf das Lesen der abschnittbezogenen Zusammenfassungen beschränken. Für Leser:innen ohne medizinischen Hintergrund wurde zum besseren Verständnis ein Glossar erstellt, das die verwendeten Fachbegriffe erläutert.

Bereits während des Schreibens haben mich Dr. med. Herbert Renz-Polster, Ärztlicher Bei|17|rat der Dt. Gesellschaft für ME/CFS, und Daniel Hattesohl, Vorsitzender der Dt. Gesellschaft für ME/CFS, bei meiner Arbeit beraten und unterstützt. Herzlichen Dank v. a für das Gegenlesen der Manuskriptseiten und die zahlreichen wertvollen Anregungen! Ganz herzlichen Dank auch an Frau Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Charité Berlin, und Frau Prof. Dr. Uta Behrends, TU München, dafür, dass Sie meine Fragen während des Schreibprozesses stets umgehend und umfassend beantwortet haben. Ein ganz besonderes Dankeschön geht an den Fatigatio e. V. Bundesverband ME/CFS und an die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V., die es durch ihren Zuschuss zu den Druckkosten erst möglich gemacht haben, dass das Buch in dieser Form erscheinen konnte. Ich danke auch den vielen Teilnehmenden der APAV-ME/CFS-Studie, die über ihre Antworten mein Wissen über ME/CFS deutlich erweitert haben und auch nach Beendigung der Studie bereit waren, Materialien und Fotos für das Buch bereitzustellen. Dies gilt insbesondere für das Titelfoto. Ich weiß, dass es der hierauf abgebildeten ME/CFS-Patientin sehr schwerfiel, den Abdruck zu gestatten und sich damit so präsent in der Öffentlichkeit zu zeigen. Umso größer ist mein Dank an sie. Danke auch noch einmal an den Landtag Baden-Württemberg, der die Durchführung der APAV-ME/CFS-Studie mit einem Zuschuss unterstützt hat. Ein besonderer Dank geht darüber hinaus natürlich an meine Familie, die während des gesamten Schreibprozesses hinter mir stand und mir das Schreiben des Buches so erst ermöglicht hat. Vielen Dank auch an Gerrit und Lukas, dass ihr immer ein offenes Ohr hattet, wenn es um einen Austausch zum Thema ME/CFS ging.

Villingen, im November 2024

L. Habermann-Horstmeier

Anmerkungen

Die Dosisangaben im gesamten Text beziehen sich jeweils auf erwachsene Personen.

Die Zitate der ME/CFS-Erkrankten wurden behutsam an die gültigen Regeln für Rechtschreibung und Zeichensetzung angepasst.

1

Bei der APAV-ME/CFS-Studie handelt es sich um eine Studie, die sich in erster Linie mit dem Arzt-Patient-Verhältnis von ME/CFS-Erkrankten beschäftigt. Die auf der Basis der APAV-ME/CFS-Daten bereits erschienenen Publikationen finden Sie unter https://www.viph-public-health.de/forschungsprojekte/forschungsprojekt-me-cfs-2022/forschungsergebnisse/. Die Liste wird fortlaufend aktualisiert.

|19|1  Einführung

Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie geriet weltweit eine Erkrankung in das Blickfeld der Öffentlichkeit, die bis dahin selbst innerhalb der Ärzteschaft nur wenige kannten bzw. als Krankheit anerkannten: ME/CFS, die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom. Immer mehr Erkrankte berichteten in Internetforen, in Filmen (z. B. SRF, 2022) oder in Büchern (z. B. Krapf, 2022), dass sie nach einer Infektion nicht wieder genasen und unter einer Vielzahl von Symptomen litten, denen die behandelnden Ärzt:innen meist ratlos gegenüberstanden. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es sich bei dieser Erkrankung nicht um eine spezifische Folge einer SARS-CoV-2-Infektion handelte, sondern dass es bereits eine große Anzahl an ME/CFS-Erkrankten gab, bei denen in den meisten Fällen andere Infektionskrankheiten wie etwa Herpesvirus-Infekte (z. B. durch das Epstein-Barr-Virus, Herpes-simplex-Viren oder das Varizella-Zoster-Virus) als Auslöser vermutet wurden. Viele berichteten, dass sie lange Zeit keine oder falsche Diagnosen erhalten hatten und eine korrekte Diagnosestellung erst nach einer Jahre dauernden Ärzte-Odyssee erfolgte (Bateman et al., 2021). Sie beschrieben ablehnende Reaktionen der konsultierten Ärzt:innen, wenn sie selbst den Verdacht äußerten, dass es sich um ME/CFS handeln könnte, und beklagten immer wieder das fehlende Fachwissen der behandelnden Ärzt:innen. Die meisten waren mit der medizinischen Versorgung unzufrieden, fühlten sich falsch behandelt und berichteten darüber hinaus von einer mangelnden Unterstützung durch die Sozialsysteme (Froehlich et al., 2021; Tidmore et al., 2015; Vink & Vink-Niese, 2022).

Fallvignette

„Ich bin P5, 45 Jahre, zweifache Mutter mit zwei abgeschlossenen Studiengängen und seit 19 Jahren unbehandelt mit ME/CFS in Deutschland. Bis 2005 war ich eine sehr sportliche Führungskraft voller Pläne und Optimismus. Nach einem banalen Infekt schleppe ich mich seit dem 21.01.2005 mit diversen täglichen Symptomen wie Brainfog, Muskelschwäche, Gliederschmerzen, Erschöpfung, bleierner Müdigkeit, Nervenschmerzen, Magen-Darm-Problemen und Kreislaufschwäche unbehandelt durch mein Leben. Mein Ärztemarathon umfasst ganz Europa, und ich habe unendlich viel Verspottung, Ignoranz, Entwürdigung und Demütigung erfahren, bis ich 2017 endlich die Diagnose ME/CFS erhalten habe […]. Täglich muss ich spüren, wie mein Körper immer weiter abbaut. Ich bekam bis 2022 weder Pflegegeld noch einen Schwerbehindertenausweis, da meine Krankheit keiner kannte, obwohl sie von der WHO seit 1969 als schwere Multisystemerkrankung aufgenommen wurde (G93.3).“

(ME/CFS-Patientin P5, Teilnehmerin der APAV-ME/CFS-Studie zum Arzt-Patient-Verhältnis von ME/CFS-Erkrankten zu ihren Ärzt:innen. Näheres zur Studie finden Sie in Kap. 4.)

|20|1.1  Das integrative Modell der Patientenzentrierung

Jüngste Untersuchungen zeigen, wie wichtig die Einbeziehung der Patient:innen als Expert:innen ihrer eigenen gesundheitlichen und sozialen Situation ist, um die meist prekäre Lage der ME/CFS-Erkrankten besser zu verstehen und hierauf aufbauend geeignete gesundheitliche und soziale Versorgungsstrukturen zu etablieren (z. B. Habermann-Horstmeier & Horstmeier, 2024). Dies kann jedoch nur dann gelingen, wenn die Patient:innen in den Mittelpunkt des ärztlichen Handelns gestellt werden. Nur so kann der Vertrauensverlust in die behandelnden Ärzt:innen bzw. die Ärzteschaft insgesamt behoben werden, von dem die Erkrankten immer wieder berichten und der oftmals einen teilweisen oder völligen Verzicht auf Arztkontakte zur Folge hat. Zudem kann hierdurch die häufig beschriebene deutliche Verschlechterung der gesundheitlichen Situation und der Lebensqualität der Betroffenen durch die stark belastete Arzt-Patient-Beziehung vermieden werden (Habermann-Horstmeier & Horstmeier, 2023).

Abbildung 1-1:  Integratives Modell der Patientenzentrierung nach Scholl, Zill, Härter und Dirmaier (2014) und Zeh, Christalle, Hahlweg, Härter und Scholl (2019). Quelle: Zill, Zeh und Scholl (2021). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft (MWV).

Nach Zill, Zeh und Scholl (2021) legt ein solcher patientenzentrierter Ansatz den Fokus auf die therapeutische Beziehung zwischen Behandelnden und Patient:innen und bezieht dabei die gesamte Person und deren Lebensbedingungen mit ein. Die Autor:innen dieses Modells sprechen von „Behandelnden“, wenn sie die im Bereich der gesundheitlichen Versorgung agierenden Ärzt:innen und andere Vertreter:innen |21|von Gesundheitsberufen meinen. Das dort beschriebene Modell umfasst drei Bereiche mit jeweils mehreren Dimensionen: Grundhaltung/Grundprinzipien, Rahmenbedingungen und Handlungen/Maßnahmen. Zu den Grundprinzipien gehören hiernach die elementaren Eigenschaften der Behandelnden, die Behandler-Patient-Beziehung, die Sicht auf die Patientin/den Patienten als Individuum sowie eine biopsychosoziale Perspektive, verstanden als Anerkennung der Patientin/des Patienten als ganze Person in ihrem biologischen, psychologischen und sozialen Kontext (Zill, Scholl, Härter & Dirmaier, 2015). Diese Perspektive geht davon aus, dass der Mensch als biologisches Wesen ständig in vielfältiger Weise mit seiner ökologischen, anthropogenen und sozialen Umwelt interagiert. Die Basis dieser Betrachtung ist dabei immer der biologische Körper, der nicht nur (epi-)genetische und physiologische Vorgänge steuert und umsetzt, sondern diese auch mit Emotionen und Gefühlen verknüpft, Bewusstsein erzeugt und Gedanken etc. hervorruft (Damasio, 2021). Gemeint ist hier ausdrücklich nicht das im Zusammenhang mit ME/CFS immer wieder als „biopsychosoziales Modell“ bezeichnete Leitbild im Bereich der Psychosomatik, bei dem die Psyche jeweils im Zentrum der Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung steht (s. Kap. 4.1.5).

Das Modell des patientenzentrierten Ansatzes weist darüber hinaus Handlungen und Maßnahmen der Behandelnden, wie die Patienteninformation, die Patientenbeteiligung an Versorgungsprozessen, die Beteiligung von Familienangehörigen und Freunden, das Empowerment von Patient:innen sowie die physische und psychische Unterstützung der Patient:innen aus. Unter Empowerment versteht man einerseits den Prozess hin zu mehr „Selbstermächtigung“ oder „Befähigung“, andererseits aber auch die professionelle Unterstützung bei diesem Prozess. Das Ziel von Empowerment ist, dass Menschen ihre eigenen Ressourcen erfahren und diese nutzen lernen (Habermann-Horstmeier & Lippke, 2021). Der dritte Bereich umfasst nach diesem Modell Faktoren, die einer guten Versorgung förderlich sind. Hierzu gehören die Integration von medizinischer und nichtmedizinischer Versorgung, die Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsdienstleister, der Zugang zur Versorgung, die Koordination und Kontinuität der Versorgung sowie die Behandler-Patient-Kommunikation. Später wurde das Modell noch um den Aspekt der Patientensicherheit erweitert (Zeh, Christalle, Hahlweg, Härter & Scholl, 2019). Abbildung 1-1 verdeutlicht die verschiedenen Aspekte dieses integrativen Modells der Patientenzentrierung nach Zill, Zeh und Scholl (2021), bei dem die individuellen Präferenzen, Bedürfnisse und Werte der einzelnen Patientin/des einzelnen Patienten jede Phase der medizinischen Konsultation, Behandlung und Nachsorge lenken (Committee on Quality of Health Care in America, 2001).

1.2  Einblick in die Themen des Buches

Bislang gibt es im deutschsprachigen Raum kein Fachbuch mit einem patientenzentrierten Ansatz, das

die Wissenslücke im Hinblick auf ME/CFS bei den behandelnden Ärzt:innen und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen schließen könnte,

gleichzeitig aber auch durch eine gut verständliche Sprache und die Erläuterung von Fachbegriffen weiteren Personengruppen (Erkrankten, Angehörigen, Beschäftigten in den Sozialsystemen und anderen) die Grundlagen der Erkrankung vermitteln könnte.

Das Buch soll daher diese Lücke schließen und zu einer besseren, patientengerechteren Versorgung von ME/CFS-Patient:innen im deutschsprachigen Raum beitragen. Darüber hinaus soll mit diesem Buch deutlich werden, dass die individuellen Präferenzen, Bedürfnisse und Werte |22|der einzelnen Patientin/des einzelnen Patienten während jeder Phase der medizinischen Versorgung im Mittelpunkt stehen sollten.

Der auf die Einführung folgende Abschnitt geht zunächst auf die Grundlagen der Erkrankung ein. Nach Erläuterungen zur Terminologie und der Definition des Begriffs ME/CFS wird die Symptomatik der Erkrankung (Kap. 2.2) näher beschrieben. Es folgen Erläuterungen zu den Auslösern einer Symptomenverschlechterung, zu intra- und interindividuellen Unterschieden in der Symptomatik und zu den verschiedenen Schweregraden der Erkrankung. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Entwicklung und den Inhalten der wichtigsten Diagnostischen Kriterienkataloge (v. a. den kanadischen und den internationalen Konsensuskriterien, den IOM- und den NICE-Kriterien [IOM: Institute of Medicine in den USA, NICE: National Institute for Health and Care Excellence in Großbritannien]; Kap. 2.3).

Die daran anschließenden Informationen zur Epidemiologie (Kap. 2.4) der Erkrankung ME/CFS liefern u. a. Informationen zur Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) und zur Zahl der Neuerkrankungen in einem bestimmten Zeitraum (Inzidenz) sowie zur allgemeinen Sterblichkeit bei ME/CFS (Mortalität) und zur Suizidalität. Es folgt eine kurze Beschreibung der sozialen Situation der Erkrankten, ihrer Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen Auswirkungen von ME/CFS aus epidemiologischer Sicht. Der Abschnitt schließt mit Informationen zur Krankheitsprognose und zu der durch ME/CFS hervorgerufenen Krankheitslast (Burden of Disease).

Der darauffolgende Abschnitt (Kap. 3.1)beschäftigt sich ausführlich mit den Faktoren, die nach derzeitigem Wissensstand bei der Entstehung der Erkrankung eine Rolle spielen. Zu Beginn werden genetische Aspekte als eine der Grundlagen der Krankheitsentstehung diskutiert. Anschließend wird auf virale Infekte als potenzielle Auslöser näher eingegangen. Es folgt in Kap. 3.2 eine Betrachtung der mit dem Krankheitsgeschehen einhergehenden epigenetischen und autoimmunen Vorgänge. Zu letzterem gehört v. a. die gestörte adrenerge und acetylcholinerge Signalübertragung, aber auch die Rolle, die verschiedene andere Transmitter und immunologische Botenstoffe (Mediatoren) im Rahmen des Krankheitsgeschehens spielen. Der Abschnitt geht dann über in eine Diskussion der Dysfunktion des zentralen und des peripheren Nervensystems bei ME/CFS. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Rolle, die Mikroglia und Blut-Hirn-Schranke bei diesen Prozessen einnehmen. Weitere Themen sind mögliche pathophysiologische Grundlagen der Störungen des Energiestoffwechsels und der vaskulären Dysfunktion. Abschließend wird der Versuch unternommen, ein pathophysiologisches Gesamtkonzept zu beschreiben, das die genannten Aspekte zusammenführt.

Im darauffolgenden Kap. 4 kommen nun im Sinne des patientenzentrierten Ansatzes ME/CFS-Erkrankte mit ihren eigenen Erfahrungen zu Wort, die sie innerhalb des Gesundheitssystems in Deutschland gemacht haben. Sie beschreiben, wie es zu einer Diagnosestellung bei ihnen kam und wie sie die Kommunikation mit ihren Ärzt:innen sowie deren Auftreten und Verhalten hierbei erlebt haben. Darüber hinaus schildern sie die Auswirkungen der meist belasteten Arzt-Patient-Beziehung auf ihr Verhältnis zu einzelnen Ärzt:innen und zur Ärzteschaft insgesamt sowie ihre dadurch zusätzlich beeinträchtigte gesundheitliche Situation. Eine erste, explorative Untersuchung dazu, wie die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland ihr Arzt-Patient-Verhältnis zu ME/CFS-Erkrankten sehen, wird derzeit durchgeführt.

Da i. d. R. Ärzt:innen, meist aus der Allgemeinmedizin, die ersten Ansprechpartner:innen für Menschen mit einer ME/CFS-Symptomatik sind, werden anschließend in Kap. 5 die von den Erkrankten vorgebrachten Punkte im Rahmen eines patientenzentrierten Ansatzes diskutiert. Es geht dabei u. a. um das ärztliche Selbstverständnis, die meist asymmetrische Arzt-Patient-Beziehung, die Art der Kommunikation hierbei und die interaktionellen Grundbedürfnis|23|se der an der Kommunikation beteiligten Personen. Am Ende dieses Abschnitts werden die diskutierten Aspekte im Rahmen eines patientenzentrierten Ansatzes zusammengeführt. Dabei wird zuerst die Basis für ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis erläutert und anschließend auf die Rolle der Anamnese als Schlüssel der ME/CFS-Diagnostik eingegangen.

Es ist immer wieder zu hören, dass es sich bei ME/CFS um eine schwer zu diagnostizierende Erkrankung handelt. In Kap. 6 wird deutlich, dass die Diagnostik anhand der in Kap. 2.3 diskutierten international anerkannten Kriterien nicht schwieriger ist als etwa die Diagnostik bei der Migräne oder bei Morbus Alzheimer. Allerdings ist es v. a. für viele Patient:innen wichtig, anhand eines bestimmten Biomarkers das Vorhandensein einer Erkrankung schwarz auf weiß nachweisen zu können, um deutlich zu machen, dass hier die Physis und nicht die Psyche im Vordergrund steht. Biomarker sind z. B. bestimmte Moleküle oder Zellen, deren Anwesenheit oder abnorme Konzentration in einer Körperflüssigkeit auf die Krankheit hinweisen. Den Ärzt:innen würde ein solcher Biomarker zudem den Diagnoseprozess (einschließlich der differentialdiagnostischen Abklärung) deutlich erleichtern sowie später möglicherweise auch zum Nachweis eines potenziellen Therapieerfolges dienen können. Daher wird an dieser Stelle der aktuelle Stand der Erforschung potenzieller ME/CFS-Biomarker diskutiert. Anschließend wird das differentialdiagnostische Vorgehen näher erläutert. Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen ME/CFS und Long-COVID bzw. dem Post-COVID-Syndrom, aber auch der Unterschied zu anderen Erkrankungen, deren Symptome einzelnen ME/CFS-Symptomen ähneln (etwa Fatigue bei Tumor- und anderen chronischen Erkrankungen, Myastenia gravis, Kollagenosen, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen etc.). Aufgrund der häufig vorkommenden Fehldiagnosen spielen zudem psychosomatische bzw. psychische Erkrankungen wie die Depression hier eine besondere Rolle, wobei zu berücksichtigen ist, dass z. B. die Depression auch als sekundäre Folgekrankheit auftreten kann. Die Erkrankung ME/CFS kann darüber hinaus mit einer Reihe von Komorbiditäten einhergehen, die anschließend kurz erläutert werden. An dieser Stelle wird besonders deutlich, welche Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen innerhalb des patientenzentrierten Ansatzes zukommt. Ärztinnen und Ärzte müssen daher im Rahmen ihrer Aus- und Fortbildung nicht nur das entsprechende Fachwissen erwerben, sondern auch immer wieder auf die besondere Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit bei ME/CFS hingewiesen werden.

Kap. 7 beschäftigt sich, hierauf aufbauend, mit der Bedeutung und den Vorteilen eines solchen patientenzentrierten Ansatzes bei ME/CFS für die ärztliche Arbeit, für die Patientenversorgung insgesamt sowie nicht zuletzt natürlich für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Patient:innen. Darüber hinaus werden Möglichkeiten diskutiert, die ein solcher patientenzentrierter Ansatz auch im Hinblick auf die weitere Erforschung der Erkrankung bietet.

Von besonderer Bedeutung für die ärztliche Praxis und die Situation der ME/CFS-Erkrankten sind Kap. 7.2 und Kap. 7.3, die sich mit den Möglichkeiten der Prävention und den derzeit vorhandenen Therapie-Optionen beschäftigen. Diskutiert werden das bisherige Fehlen einer kausalen Therapie, die Möglichkeiten einer symptomorientierten Therapie, die im Bereich der neuroimmunologischen Pathophysiologie der Erkrankung ansetzt (z. B. Gabe von Parasympathomimetika), und die symptomatische Therapie, die auf anderen Wegen versucht, die vorhandenen Symptome zu beeinflussen (etwa über die Gabe von Schmerzmitteln). Der Abschnitt beginnt jedoch mit der Erörterung von Möglichkeiten der Primärprävention, also der Verhinderung der Entstehung von ME/CFS, beispielsweise durch Impfungen oder ein frühzeitiges Eingreifen bei Long-COVID-Patient:innen, sowie den Optionen, über eine Tertiärprävention, etwa in Form von patientengerechten Reha-|24|Maßnahmen, positiv auf die Krankheitssituation von ME/CFS-Patient:innen einzuwirken und damit einer Verschlechterung vorzubeugen. Zudem werden assistierende Technologien/Hilfsmittel angeführt, die bei den Erkrankten dem Erhalt ihrer (Teil-)Selbstständigkeit dienen sollen.

Für die behandelnden Ärzt:innen von großer Bedeutung sind darüber hinaus verschiedene Handlungsempfehlungen (Kap. 8), die im Rahmen des patientenzentrierten Ansatzes zu einer besseren gesundheitlichen und sozialen Versorgung von ME/CFS-Patient:innen beitragen sollen. Hierzu gehört z. B. das Pacing, bei dem Patient:innen lernen, innerhalb ihrer Energie- und Belastungsgrenzen zu bleiben, um eine Zustandsverschlechterung zu vermeiden. Angesprochen wird zudem der Aufbau eines speziellen Care-Managements, etwa mit Hilfe von Patientenlotsen, die die gesamte gesundheitliche und soziale Situation der Erkrankten im Blick haben sollen. Zum Aufbau eines patientenzentrierten Ansatzes im Bereich der Gesundheitsversorgung braucht es jedoch v. a. Ärzt:innen, Pfegekräfte und Therapeut:innen in den Bereichen der Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgung sowie der Rehabilitation, die für das Thema ME/CFS sensibilisiert wurden und in der Erkennung, der Diagnosestellung und Therapie von ME/CFS geschult sind. Intensive, auf die Teilnehmenden zugeschnittene Schulungen werden darüber hinaus auch dort benötigt, wo über Sozial- und Versicherungsleistungen für Menschen mit ME/CFS, wie etwa den Zugang zu Rentenleistungen oder Hilfsmitteln, entschieden wird.

Den Schluss des Buches bildet Kap. 9 über das Leben mit ME/CFS, das sich nicht nur an die Erkrankten selbst und ihr soziales Umfeld, sondern auch an die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen richtet, die mit ME/CFS-Erkrankten zu tun haben. Auch für sie ist es wichtig, einen Einblick in die vielen Bereiche des täglichen Lebens zu erhalten, auf die sich die Erkrankung auswirken kann, wie etwa Partnerwahl/Familiengründung, Sexualität, Ausbildung und Beruf, finanzielle/soziale Selbstständigkeit, Freizeitgestaltung, Hobbys etc. Durch die Erkrankung können zudem das Selbstbild der chronisch Erkrankten, das Verhältnis zu den Angehörigen und die sozialen Beziehungen außerhalb der Familie massiv in Mitleidenschaft gezogen werden.

Neben umfangreichen Literaturangaben am Ende jedes Kapitels finden Sie im Anhang des Buches auch ein Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe nochmals kurz erläutert werden. Für die ärztliche Praxis besonders wichtig sind die Materialien, die zur Diagnosestellung bei ME/CFS benötigt werden, wie etwa die Fragebögen zu den kanadischen Konsensuskriterien und zum Bell-Score sowie die unterschiedlichen Fragebögen zum PEM-Screening für Erwachsene.

Literaturverzeichnis

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Froehlich, L., Hattesohl, D. B., Cotler, J., Jason, L. A., Scheibenbogen, C. & Behrends, U. (2021). Causal attributions and perceived stigma for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. Journal of Health Psychology, 27(10), 2291–2304. Crossref

Habermann-Horstmeier, L. & Horstmeier, L. M. (2024). In welchen Bereichen der medizinischen Versorgung sehen Erkrankte mit Myalgischer Enzephalomyelitis/chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) Verbesserungsbedarf? Ergebnisse der Arzt-Patient-Verhältnis (APAV)-ME/CFS-Studie im Vergleich zur Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Pravention und Gesundheitsförderung. Crossref

|25|Habermann-Horstmeier, L. & Horstmeier, L. M. (2023). Auswirkungen der Qualität der Arzt-Patient-Beziehung auf die Gesundheit von erwachsenen ME/CFS-Erkrankten. MMW - Fortschritte der Medizin, 165(S), 16–27. Crossref

Habermann-Horstmeier, L. & Lippke, S. (2021). Grundlagen, Strategien und Ansätze der Gesundheitsförderung. In M.Tiemann &M.Mohokum, Prävention und Gesundheitsförderung (1 ed., Vol. 1, S. 65–75). Springer. Crossref

Krapf, J. (2022). Leben mit „kaputtem Akku“. Biografien von Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom und Long Covid. Mabuse Verlag.

Scholl, I., Zill, J. M., Härter, M. & Dirmaier, J. (2014). An integrative model of patient-centeredness – a systematic review. PloS one, 9(9), e107828. Crossref

SRF (Produzent). (2022). ME/CFS – Die heimtückische Krankheit[Kinofilm]. Zürich. Zugriff am 7. September 2023 unter https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/mecfs---die-heimtueckische-krankheit?urn=urn:srf:video:e0b93a13-30eb-48cd-b0e4-178e9abafa57

Tidmore, T. M., Jason, L. A., Chapo-Kroger, L., So, S.Brown, A. & Silverman, M. (2015). Lack of knowledgeable healthcare access for patients with neuro-endocrine-immune diseases. Frontiers in Clinical Medicine, 2(2), 46–54.

Vink, M. & Vink-Niese, F. (2022). Is It Useful to Question the Recovery Behaviour of Patients with ME/CFS or Long COVID?Healthcare, 10(2), 392. Crossref

Zeh, S., Christalle, E., Hahlweg, P., Härter, M. & Scholl, I. (2019). Assessing the relevance and implementation of patientcenteredness from the patients’ perspective in Germany: Results of a Delphi study. BMJ Open, 9, e03174. Crossref

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Zill, J. M., Zeh, S. & Scholl, I. (2021). Patientenzentrierte Versorgung. In B.Brinkhaus & T.Esch, Integrative Medizin und Gesundheit (S. 47–59). Medizinische Verlagsgesellschaft.

|27|2  ME/CFS – die Krankheit

Postinfektiöse Syndrome mit einer der Erkrankung ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) entsprechenden Symptomatik wurden schon vor mehr als hundert Jahren beschrieben, so z. B. nach der Russischen (1889–1895) und der Spanischen Grippe (1928–1920) (Islam, Cotler & Jason, 2020). Den Namen Myalgische Enzephalomyelitis (ME) erhielt die Erkrankung in den 1950er Jahren nach einem Krankheitsausbruch in einer Klinik in Nordlondon. Trotz allem gab es lange keinen Konsens darüber, ob es ME bzw. ME/CFS als Krankheitsentität überhaupt gibt. Dazu beigetragen haben u. a. nicht trennscharfe Kriterien in der Forschung und ein einseitiger Fokus auf eine vorgebliche psychiatrische Genese. Mittlerweile gibt es jedoch praktikable Diagnosekriterien und klare Hinweise auf eine organische Genese der Erkrankung als Folge einer Infektionskrankheit. Im Folgenden soll nun kurz dargestellt werden,

wie es dazu kam, dass sich der Begriff ME/CFS schließlich durchsetzte,

welche Symptomatik wir mit diesem Krankheitsbild verbinden,

nach welchen diagnostischen Kriterien die Erkrankung heute festgestellt wird,

welche epidemiologischen Daten hierzu bislang bekannt sind und

welche Ursachen nach dem aktuellen Stand der Forschung bei der Krankheitsentstehung eine Rolle spielen.

2.1  Entwicklung der Terminologie/Definition

Definition

Bei der Myalgischen Enzephalomyelitis/dem Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) handelt es sich um eine meist durch einen Virusinfekt ausgelöste (Rasa-Dzelzkaleja, Krumina & Capenko, 2023), oftmals schwer verlaufende, chronische neuroimmunologische Multisystemerkrankung mit vielfältiger Symptomatik (Nacul et al., 2021), die i. d. R. zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung sowie einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führt (Eaton-Fitch, Johnston & Zalewski, 2020; Vyas, Muirhead & Singh, 2022; Yoo, Choi & Cho, 2018).

Seit den 1960er Jahren wird die Erkrankung in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ICD-10-GM bzw. ICD-11 unter G93.3 Chronisches Fatigue-Syndrom (Chronic fatigue syndrome) inklusive Myalgische Enzephalomyelitis als Erkrankung des Nervensystems geführt (BfArM, 2022).

Der Begriff Myalgische Enzephalomyelitis (ME) wurde bereits in den 1950er Jahren von dem britischen Arzt A. Melvin Ramsey geprägt (Ramsey & The Medical Staff of the Royal Free Hospital, 1957). Er beschrieb einen Krankheitsausbruch in einer Londoner Klinik, bei dem die Erkrankten über Monate hinweg an schweren neurologischen Symptomen und einer anhal|28|tenden Muskelschwäche litten. Man ging damals davon aus, dass der Krankheit eine Entzündung des Zentralnervensystems (ZNS) zugrunde liegt, und bezeichnete sie daher als Myalgische Enzephalomyelitis, also eine Muskelschmerzen auslösende Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks. In der Folge wurde der Begriff ME v. a. in Großbritannien und den skandinavischen Ländern für Erkrankungen mit einer entsprechenden Symptomatik verwendet. Allerdings handelt es sich bei ME/CFS nicht um eine klassische Enzephalomyelitis, auch wenn eine Inflammation des ZNS als pathobiologisches Korrelat diskutiert wird (s. Kap. 3.2.5).

Mittlerweile finden sich Hinweise darauf, dass es bereits früher immer wieder Krankheitsausbrüche gab, bei denen von ähnlichen Symptomen berichtet wurde (Achseon, 1959) bzw. einzelne Patient:innen mit einem solchen Krankheitsbild auffielen, ohne dass damals eine medizinische Einordnung möglich gewesen wäre. So nimmt man beispielsweise an, dass Charles Darwin über viele Jahre an der Erkrankung litt (Darwin, 1887; Hattesohl, 2018).

Im Jahr 1984 wurde in Nevada (USA) der Ausbruch einer chronisch verlaufenden Erkrankung, die mit grippeähnlichen Symptomen wie Fatigue, Muskelschmerzen und Fieber einherging, mit dem Epstein-Barr-Virus in Verbindung gebracht. Man gab der Erkrankung daher zunächst den Namen „Chronisches Epstein-Barr-Virus-Syndrom“. Die Bezeichnung wurde dann 1988 von den US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Chronic Fatigue Syndrome (CFS, Chronisches Fatigue-Syndrom)geändert, da sich damals kein Zusammenhang mit einem Epstein-Barr-Virus-Infekt nachweisen ließ (IOM, 2015). Der Begriff CFS wurde später v. a. in den USA und in Kontinentaleuropa verwendet. Als deutsche Übersetzung setzten sich hierfür die Begriffe Chronisches Erschöpfungssyndrom und Chronisches Müdigkeitssyndrom durch, die von Betroffenen als verharmlosend angesehen wurden.

Obwohl sich die Bezeichnungen ME und CFS auf vergleichbare Krankheitserscheinungen bezogen, wurde schon bald deutlich, dass der CFS-Begriff (insbesondere auch in seiner missverständlichen, bagatellisierenden Übersetzung als Chronisches Erschöpfungs- oder Müdigkeitssyndrom) die Schwere der Krankheit sowie die komplexe Symptomatik nicht annähernd widerspiegelt. Diese Missverständlichkeit hatte auch erhebliche Folgen im Hinblick auf die Anerkennung der Erkrankung als schwere Multisystemerkrankung durch die Ärzteschaft (Jason, Taylor, Stepanek & Plioplys, 2001). Von den meisten Patient:innen und geschulten Ärzt:innen wurde daher meist der Begriff ME verwendet, da hierdurch die Schwere der Symptomatik besser verdeutlicht wurde.

Auf der Basis der zu weit gefassten und zu wenig trennscharfen Fukuda-Kriterien der Centers for Disease Control and Prevention (Fukuda et al., 1994) entwickelte ein kanadisches Expertengremium im Jahr 2003 eine klinische Arbeitsdefinition für die Erkrankung, indem es charakteristische Symptomcluster definierte, auf deren Grundlage die Diagnose gestellt werden konnte. Bereits hier wurde die Bezeichnung ME/CFS verwendet (Carruthers et al., 2003). Im Jahr 2011 schlug dann ein international zusammengesetztes Expertengremium vor, den Namen und die Definition CFS aus den bereits genannten Gründen grundsätzlich nicht weiter zu verwenden. Sie schlugen in den International Consensus Criteria for ME (ME-ICC) stattdessen eine neue ME-Definition vor (Carruthers et al., 2011). Näheres zu den Diagnostischen Kriterien siehe Kap. 2.3

Mittlerweile hat sich bei den betroffenen Patient:innen wie auch in der wissenschaftlichen Literatur die Bezeichnung ME/CFS durchgesetzt, z. B. IQWiG (2023), Nacul et al. (2021), NICE, (2021), die auch hier verwendet wird. Auf weitere Termini, die sich nicht durchgesetzt haben, wie den 2015 vom American Institute of Medicine (IOM) vorgeschlagenen Begriff Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID) (IOM, 2015) oder die in den 1990er Jahren z. B. |29|in den USA verwendete Bezeichnung Chronic Fatigue Immune Dysfunction Syndrome (CFIDS) (Uchida, 1992), wird hier nicht eingegangen.

2.2  Symptomatik

Typisch für die Erkrankung ME/CFS ist ein chronischer Krankheitsverlauf mit einer in Art und Intensität fluktuierenden Symptomatik (Collin, Nikolaus & Heron, 2016; Huber, Sunnquist & Jason, 2018; Stoothoff, Gleason, McManimen et al., 2017).

2.2.1  Kernmerkmale

Definition

Post-Exertional Malaise (PEM) und Fatigue

Kennzeichnend für die Erkrankung ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise (PEM). Hierunter versteht man eine Zustandsverschlechterung mit ausgeprägter und anhaltender Verstärkung bestehender Symptome und/oder der Auslösung einer Kaskade neuer Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Die PEM tritt in der Regel mit einer Zeitverzögerung auf und geht zudem mit einer Fatigue, d. h. einer hochgradigen Schwäche bzw. physischen und psychischen Kraft- und Energielosigkeit sowie einer rapiden Verschlechterung des Allgemeinzustands einher.

Post-Exertional Malaise (PEM)

Die Post-Exertional Malaise (PEM; postexertionelle Malaise) ist das charakteristische Kernmerkmal einer ME/CFS. Ihr Vorhandensein ist Voraussetzung für das Stellen einer ME/CFS-Diagnose (s. Kap. 2.3). Im Deutschen spricht man auch von einer Belastungsintoleranz, wobei auch hier der Begriff die Schwere der Symptomatik nur andeutungsweise wiedergibt. ME/CFS-Kranke bezeichnen die Situation oft als Crash. Es handelt sich um eine unverhältnismäßige Zustandsverschlechterung mit einer ausgeprägten Verstärkung der bereits bestehenden Symptome und/oder der Auslösung einer Kaskade neuer Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Typisch sind ein rascher Abfall des Leistungs- und Aktivitätsniveaus der betroffenen Person, ohne dass sich Antrieb und Motivation hierbei verändern, sowie eine Aktivitäts-Erholungs-Dysfunktion.

Auslöser für eine PEM können bereits geringste körperliche oder geistige Aktivitäten (kognitive Tätigkeiten/Emotionen) sein (Baraniuk, Amar, Pepermitwala & Washington, 2022; Stussman, Williams, Snow et al., 2020). Selbst das Sitzen oder Stehen, Gespräche mit anderen Menschen oder äußere Reize wie Licht und Geräusche können eine PEM auslösen (van Campen, Rowe, Verheugt & Visser, 2021). Bei den PEM-Triggern gibt es, abhängig vom Schweregrad der Erkrankung, jedoch große interindividuelle Unterschiede. Generell ist es so, dass die Schwelle für das Auslösen einer PEM umso niedriger ist, je schwerer die Ausprägung der Erkrankung ist.

Eine PEM kann unmittelbar nach einer körperlichen oder geistigen Aktivität auftreten. In der Regel vergehen jedoch 12 bis 48 Stunden, bis die typischen Symptome einsetzen, die dann mehrere Tage oder Wochen anhalten. In schweren Fällen kann es auch zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung kommen, d. h. bei jedem Crash besteht die Gefahr einer Chronifizierung des verschlechterten Gesundheitszustandes.

Fatigue

Ein weiteres Symptom, das als Folge eines gestörten zellulären Energiestoffwechsels zusammen mit der postexertionellen Malaise auftritt, ist die Fatigue (IOM, 2015). Hierbei handelt es sich, anders als der Name suggeriert, nicht um eine verstärkte, chronische Müdigkeit, sondern um eine hochgradige Schwäche bzw. physische |30|und psychische Kraft- und Energielosigkeit (Zitat einer ME/CFS-Erkrankten: „Als wäre einem der Stecker herausgezogen worden“). Betroffen sind davon in erster Linie Muskelzellen und die Zellen des ZNS. Dies führt z. B. dazu, dass die Erkrankten aufgrund mangelnder Energie nicht mehr in der Lage sind, verschiedenste Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen – wie etwa einen Kochtopf vom Herd zum Tisch zu tragen, sich die Haare zu waschen, sich mit mehreren Personen zu unterhalten – oder die aufgenommenen Aktivitäten zu beenden. Bei einer geringer ausgeprägten Symptomatik tritt die Unfähigkeit, eine bestimmte körperliche Anstrengung mehrfach zu wiederholen, nicht selten unvermittelt im Verlauf dieser Tätigkeit auf. Schon zuvor sind solche Aktivitäten (z. B. eine bestimmte Strecke zu gehen, eine Treppe hochzugehen) oft nur durch Atmen mit offenem Mund und unter größter Anstrengung möglich. Schwersterkrankte sind dagegen überhaupt nicht mehr in der Lage, entsprechende Tätigkeiten auszuführen. Ihnen kann es sogar schwerfallen, den Kopf zu heben, sich im Bett umzudrehen, zu schlucken oder zu sprechen. Die Übersetzung des Begriffs „Chronisches Fatigue Syndrom“ in „Chronisches Müdigkeitssyndrom“ ist daher falsch.

Postexertionelle Malaise und Fatigue gehen i. d. R. mit einem starken Krankheitsgefühl und einer rapiden Verschlechterung des Allgemeinzustands einher. Trotz des schnellen, erheblichen Abfalls des Leistungs- und Aktivitätsniveaus sind Antrieb und Motivation bei ME/CFS-Erkrankten i. d. R. weiterhin vorhanden.

Auch bei anderen chronischen Krankheiten wie Tumorerkrankungen, Multipler Sklerose, Rheumatoider Arthritis oder Schilddrüsenunterfunktion kommt das Symptom Fatigue vor. Anders als bei diesen Erkrankungen bessert sich die ausgeprägte Fatigue bei ME/CFS jedoch nicht durch kürzere Erholungspausen, Schlaf oder Sport. Im Gegenteil, hier können schon geringste Anstrengungen und sportliche Aktivitäten die Fatigue und damit die gesamte Krankheitssituation erheblich verschlechtern (s. Pacing, Kap. 7.2.2).

2.2.2  Weitere Symptome

Außer von PEM und Fatigue berichten die Erkrankten häufig über neurokognitive Symptome, Kreislaufstörungen im Sitzen und Stehen (Orthostatische Intoleranz, OI), Temperaturregulationsstörungen und ausgeprägten Schlafstörungen. Zu den typischen neurokognitiven Symptomen gehört der Brainfog, also das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, oft kombiniert mit einer allgemeinen mentalen Erschöpfung, Konzentrationsproblemen, Wortfindungsstörungen, Vergesslichkeit und/oder Orientierungsschwierigkeiten.

Herz-Kreislauf-Beschwerden treten meist in Form einer OI auf. Der Kreislauf ist nicht in der Lage, sich im Stehen oder Sitzen an eine aufrechte Körperposition anzupassen. Es kommt zu Herzrasen, heftigem Herzklopfen, starken Blutdruckschwankungen (zu hoher/zu niedriger Blutdruck), Blässe, Schwindel, einem Schwächegefühl, Gleichgewichtsstörungen, manchmal auch Atemnot. Unvermittelt einsetzendes, heftiges Herzklopfen und Herzrasen können je nach Schwere der Erkrankung auch nach einem Lagewechsel im Bett auftreten. Danach dauert es oft lange, bis sich die Symptome wieder zurückbilden (s. a. Posturales Tachykardie-Syndrom (POTS), Kap. 6.1).

Temperaturregulationsstörungen äußern sich in einem starken „inneren“ Kältegefühl und Frösteln, das unabhängig von der Außentemperatur auftritt, über Stunden anhalten kann und sich durch Wärmezufuhr nicht bessert. Vor allem nachts können sich solche Phasen jedoch auch mit Phasen abwechseln, in denen es zu Hitzewallungen und/oder Schweißausbrüchen kommt. „Inneres“ Kältegefühl und Frösteln gehen nicht selten in ein starkes Krankheitsgefühl wie bei einem Virusinfekt über. Patient:innen berichten zudem von einem sehr stark eingeschränkten Bereich der thermischen Behaglichkeit, kombiniert mit einer Unfähigkeit, sich an hohe oder niedrige (Außen-)Temperaturen anzupassen. Hitzephasen im Sommer sind für Betroffene nur schwer erträglich (s. Kap. 9.13.1) |31|und verschlimmern die Symptomatik. Auch das Baden bei einer als zu niedrig oder zu hoch empfundenen Wassertemperatur ist oft nicht mehr möglich. Die Betroffenen können zudem eine subnormale Körpertemperatur (< 36,5 °C) haben. Die berichteten Schlafstörungen können sich in einem veränderten Tag-Nacht-Rhythmus oder häufigen Schlafunterbrechungen als Folge einer zentralen Schlafregulationsstörung äußern. Der Schlaf ist oft nicht erholsam. Hinzu kommen Durchschlafstörungen als Folge von Schmerzen, den beschriebenen Temperaturregulationsstörungen, Restless-Legs-ähnlichen Symptomen, nächtlichem Bluthochdruck bei Umkehr des zikadianen Blutdruck-Rhythmus oder zentral ausgelöstem, häufigem nächtlichem Harndrang.

Die bei ME/CFS oft auftretenden Muskelbeschwerden können über Stunden und Tage anhalten und sich in Form von Muskelzuckungen und -krämpfen, Muskelschmerzen sowie in einem äußerst unangenehmen, muskelkaterähnlichen Gefühl äußern, nicht selten kombiniert mit einer schweren Restless-Legs-Symptomatik. Zudem können Schmerzen im gesamten Körper auftreten, die im Extremitätenbereich z. B. als ziehend oder stechend und im Magen-Darm-Bereich als schmerzhafte Krämpfe beschrieben werden. Berichtet wird auch häufig über Stunden bis Tage anhaltende, heftige Kopfschmerzen (z. B. dumpf-drückend, stechend oder migräneartig). Überempfindlichkeiten (etwa auf Licht, Geräusche, Gerüche, Berührung) können als quälend wahrgenommen werden und ebenfalls Schmerzen hervorrufen. Im Extremfall können selbst das Tragen von Kleidung, das Liegen auf einem weichen Kissen oder die Berührung durch Angehörige Schmerzen auslösen.

Einige Patient:innen berichten zudem von mehrere Tage anhaltenden Gelenkbeschwerden mit meist schmerzhaften, teigigen Anschwellungen im Gelenkbereich, wobei sich die betroffenen Gelenke auch abwechseln können. Auch in der meist sehr blassen Haut und im Unterhautgewebe kann es durch Flüssigkeitseinlagerungen zu teigigen Schwellungen kommen. Rötungen und Schwellungen können zudem nach Kontakt mit Strahlung (z. B. Sonnenlicht oder der Strahlungswärme eines Kamins) auftreten. Zudem kann es bei einigen Betroffenen schon nach leichten Kontakten zu Einblutungen in die Haut kommen (blaue Flecken). Recht häufig berichten die Erkrankten von Sehstörungen, z. B. verschwommenem, unscharfem Sehen, Doppeltsehen, Akkomodationsproblemen, Tunnelblick, vorübergehenden Gesichtsfeldausfällen oder dem Sehen von Zickzacklinien.

Viele Erkrankte beschreiben auch ausgeprägte, neu aufgetretene Überempfindlichkeiten gegenüber Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen Substanzen sowie gegenüber Insektenstichen. Dies kann dazu führen, dass immer weniger Substanzen mit dem Körper in Kontakt kommen können, ohne dass diese als „fremd“ wahrgenommenen zu werden. Tabelle 2-1 zeigt, in welcher Häufigkeit diese – neben PEM und Fatigue – regelmäßig auftretenden ME/CFS-Symptome von erwachsenen Proband:innen der deutschen APAV-ME/CFS-Studie aus dem Jahr 2022 genannt wurden (Habermann-Horstmeier & Horstmeier 2024a; Habermann-Horstmeier & Horstmeier, im Druck) (ergänzender Hinweis zur Tabelle 2-1: An der APAV-ME/CFS-Studie nahmen insgesamt 1.238 Personen (ME/CFS-Erkrankte und deren nahe Angehörige aller Altersstufen) teil. In der zitierten Publikation wurden aber nur die erwachsenen Erkrankten mit ärztlicher ME/CFS-Diagnose betrachtet, die den Fragebogen online ausgefüllt hatten).

Bereits 2003 betonten Carruthers et al. (2003) in ihrer grundlegenden Publikation zur Definition, Diagnostik und Behandlung von ME/CFS (Canadian Consensus Criteria), dass die hier genannten Symptome zusätzlich zu PEM und Fatigue im Verlauf eine ME/CFS-Erkrankung auftreten können. Dort und in den Diagnostikkriterien des Institutes of Medicine der US-amerikanischen National Academies (IOM, 2015) finden sich noch weitere Symptome, die von ME/CFS-Erkrankten in unterschiedlicher |32|Häufigkeit angegeben werden. Hierzu gehören z. B. anhaltender Husten, Auswurf, Belastungsdyspnoe, Probleme beim Sprechen, immer wiederkehrende Halsschmerzen und grippeähnliche Symptome, geschwollene oder empfindliche Lymphknoten, Symptome einer Sinusitis, Druck und Schmerzen in der Brust, kalte Hände und Füße, Hautausschläge, Alkoholunverträglichkeit, Brechreiz, Sodbrennen, Anorexie oder abnormaler Appetit mit deutlicher Gewichtsveränderung, trockene Schleimhäute, Haarausfall, Dysmenorrhoe, Postmenstruelles Syndrom (PMS), Verlust der sexuellen Libido, Impotenz, häufiges Wasserlassen und Blasenfunktionsstörungen. Auch ein körperliches Unruhegefühl, eine Verschlechterung der Symptome durch Stress, Taubheitsgefühle/Parästhesien, Ataxie, Gleichgewichtsprobleme und die Tendenz, Dinge fallen zu lassen, wurden genannt. Hinzu können Muskellähmungen, Veränderungen des Geschmacks-, Hör- oder Geruchssinns, Tinnitus, Wahrnehmungs- und Dimensionsverzerrungen (Alice-im-Wunderland-Syndrom) sowie anfallsähnliche Phänomene kommen. Berichtet wird auch über Angst- und/oder Panikattacken, Persönlichkeitsveränderungen und eine reaktive Depression, wobei die genannten psychischen Störungen i. d. R. Folge und nicht Ursache der Erkrankung seien (Carruthers et al., 2003).

Tabelle 2-1:  Häufigkeit der bei erwachsenen ME/CFS-Patient:innen (n = 674) mit ärztlicher Diagnose – zusätzlich zu PEM und Fatigue – regelmäßig auftretenden Symptome. Quelle: Habermann-Horstmeier und Horstmeier (2024a).

Symptome

Prozentsatz

Brainfog, Gedächtnisprobleme, Wortfindungsstörungen

91,4 %

Muskelprobleme (z. B. Schmerzen, „Muskelkater“, Zuckungen, Krämpfe)

89,2 %

Schlafstörungen (z. B. Durchschlafstörungen, veränderter Tag-Nacht-Rhythmus)

88,0 %

Überempfindlichkeit (z. B. auf Licht, Geräusche, Gerüche, Berührung)

85,5 %

Herz-Kreislauf-Beschwerden (z. B. Herzrasen, Blutdruck-Schwankungen, Schwindel bei längerem Stehen oder Lagewechsel)

83,8 %

Temperaturregulationsstörung (Kältegefühl, Frösteln, Hitzewallungen)

81,2 %

Grippeähnliche Symptome (Frösteln, starkes Krankheitsgefühl etc.)

78,5 %

Unverträglichkeit von hohen oder niedrigen (Außen-)Temperaturen

73,6 %

Magen-Darm-Beschwerden (z. B. Blähungen, Durchfall, Darmkrämpfe)

71,8 %

Kopfschmerzen (z. B. migräneartig)

70,6 %

Atembeschwerden (z. B. beim Treppensteigen, längerem Sprechen)

68,1 %

Sehstörungen (z. B. verschwommener Blick, unscharfes Sehen, Tunnelblick, Sehen von Zickzacklinien)

65,3 %

Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln, Medikamenten und/oder Chemikalien

62,0 %

Erhöhte Infektanfälligkeit mit verlängerten Genesungsphasen

48,1 %

Beschwerden der Harn- und Geschlechtsorgane (z. B. plötzlicher Harndrang)

42,4 %

In den Canadian Consensus Criteria (Carruthers et al. 2003) wird zudem darauf hingewiesen, dass die „zusätzlichen“ ME/CFS-Symptome auf Störungen im Bereich des neurologischen, immunologischen und endokrinen Systems beruhen, deren Zellen sich untereinander über chemische Botenstoffe wie Neurotransmitter und Hormone austauschen und auf diese Weise pathophysiologische Informationen weitergeben.

|33|Zusammenfassend lassen sich die genannten Symptome nach ihrer Ätiologie daher in folgende Gruppen einordnen (s. Kap. 3):

Folgen der Störungen im zellulären Energiestoffwechsel von Muskel- und Nervenzellen

Folgen der zentralnervösen Regulationsstörungen

Folgen der Regulationsstörungen im Bereich des vegetativen Nervensystems

Folgen der zentral ausgelösten endokrinen Störungen

Folgen der immunologischen Störungen

Folgen der endothelialen Dysfunktion

Reaktive Störungen aufgrund der durch die Erkrankung ausgelösten Stresssituation

2.2.3  Auslöser, Eintrittszeitpunkt und Dauer einer Symptomenverschlechterung

Dass körperliche und kognitive Anstrengungen eine PEM auslösen können, konnte durch zahlreiche Studien nachgewiesen werden (Cook et al., 2017; Holtzman, Bhatia, Cotler & Jason 2019; Keech et al., 2015). In einem US-amerikanischen Survey, in dem 1.534 ME/CFS-Patient:innen befragt wurden, berichteten 78,2 % der Erkrankten, dass bei ihnen schon Basis-Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. Ankleiden, Kochen, Baden) zu einer Verschlimmerung der Symptomatik bzw. zum Vollbild der PEM führen können. Zudem gaben 64,5 % der Befragten an, dass bereits eine Positionsänderung (z. B. vom Liegen zum Aufstehen) eine entsprechende Verschlechterung zur Folge haben kann. Noch häufiger als körperliche oder kognitive Anstrengungen wurden jedoch emotionaler Stress (93,2 %) bzw. emotionale Ereignisse (88,3 %), Lärm (85,3 %) sowie sensorische (83,6 %) und visuelle Überlastung (79,7 %) als Auslöser genannt. Aber auch Hitze (74,4 %), Licht (68,8 %), Nahrungsmittel (61,0 %), Chemikalien (58,0 %) und Medikamente (47,4 %) führten bei den Betroffenen zu einer Symptomenverschlechterung (Holtzman, Bhatia, Cotler & Jason, 2019). In der deutschen APAV-ME/CFS-Studie wurden ähnliche Angaben, z. B. zu Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln, Medikamenten und/oder Chemikalien (62,0 %) und zu Überempfindlichkeiten, etwa auf Licht, Geräusche, Gerüche oder Berührung (85,5 %), gemacht (Habermann-Horstmeier & Horstmeier, 2024a). Die meisten Erkrankten nannten eine ganze Reihe von Auslösern, die bei ihnen eine Verschlimmerung der Symptomatik herbeiführen können.

Der Zeitpunkt des Eintritts einer solchen Symptomenverschlimmerung kann sowohl intra- als auch interindividuell sehr unterschiedlich sein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass bei einer verzögerten Symptomenverschlimmerung der Auslöser nicht immer klar ersichtlich ist. Die meisten ME/CFS-Erkrankten berichten davon, dass nach Anstrengung sowohl ein sofortiges (72,3 %) als auch ein verzögertes Einsetzen der PEM (91,4 %) möglich ist. Etwas mehr als die Hälfte geben eine Verzögerung von ein bis zwei Tagen nach der Belastung an. Die Dauer der PEM hängt u. a. von der Art, der Intensität, der Häufigkeit und der Dauer der Belastung ab. Bei den meisten Erkrankten erreichen die Symptome 24 bis 48 Stunden nach dem Eintritt ihren Höhepunkt. Sie halten bei 45 bis 60 % der Betroffenen bis zu 5 Tage, bei 4,2 % sogar länger als eine Woche an. Nur 37 % der Erkrankten geben an, sich „ein wenig“ ohne PEM-bedingte Symptome bewegen zu können, solange sie „bestimmte Grenzen“ einhalten (Holtzman, Bhatia, Cotler & Jason, 2019).

2.2.4  Intra- und interindividuelle Unterschiede in der Symptomatik

Aufgrund der vielfältigen Symptomatik und den oftmals nicht passgenauen Anamnesefragen der behandelnden Ärzt:innen (Habermann-Horstmeier & Horstmeier, 2023a) kann es ME/CFS-Patient:innen allerdings auch schwerfallen, den Character ihrer Beschwerden und die |34|Schwere der hierdurch ausgelösten Beeinträchtigungen genau zu beschreiben und einzuordnen (IQWiG, 2023; Strassheim, Newton & Collins, 2021). Dies kann z. B. zur Folge haben, dass Erkrankte medizinische Fachbegriffe übernehmen, die von ihren Ärzt:innen verwendet werden, obwohl diese ihren Zustand nur ansatzweise beschreiben. Es ist wichtig, dies bei der Betrachtung der Häufigkeiten von ME/CFS-Symptomen mit zu berücksichtigen.

Die Canadian Consensus Criteria (s. Kap. 2.3) betonen, dass die „weiteren“ ME/CFS-Symptome interindividuell und intraindividuell jeweils unterschiedlich häufig vorkommen können. Ebenso kann deren Intensität zwischen den einzelnen Betroffenen sowie im Verlauf der Erkrankung eines Individuums stark variieren. Außer PEM kommen nicht alle Symptome bei jedem Erkrankten vor. Zudem müssen die vorhandenen Symptome während einer Erkrankung nicht zu jeder Zeit gegeben sein. Im Krankheitsverlauf kommt es daher immer wieder zu Änderungen in der Symptomatik. Symptome können neu hinzukommen, zeitweise in den Hintergrund treten und später wieder auftreten. Auch der Schweregrad der Erkrankung sowie der Schweregrad einzelner Symptome kann sich immer wieder ändern. Dies muss bei der Diagnosestellung unbedingt berücksichtigt werden (Carruthers et al., 2003; Habermann-Horstmeier & Horstmeier, im Druck) (s. Kap. 2.3 und Kap. 6).

Es gibt zudem Hinweise darauf, dass Alter und GeschlechtEinfluss auf die vorherrschende Symptomatik haben. So werden bestimmte Symptome, wie z. B. eine Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen, Gerüchen oder Berührung (Odds Ratio [OR] 2,19; 95 %-Konfidenzintervall (KI) 1,37–3,47) sowie Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln, Medikamenten und/oder Chemikalien (OR 1,87; 95 %-KI 1,27–2,76) von Frauen häufiger genannt als von Männern (Habermann-Horstmeier & Horstmeier, 2024a). Zudem unterscheidet sich die Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen etwas von der im Erwachsenenalter. Jüngere Kinder klagen beispielsweise im Vergleich zu Jugendlichen/Erwachsenen häufiger über immer wiederkehrende Halsschmerzen (OR 1,42; 95 %-KI 1,07–1,90) und über Schwindel