Das Haus am Himmelsrand - Bettina Storks - E-Book
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Das Haus am Himmelsrand E-Book

Bettina Storks

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Beschreibung

Eine aufwühlende Familiengeschichte um eine badische Uhrendynastie, ein Geheimnis aus finsteren Zeiten und eine Liebe, die alles wiedergutmachen kannLizzy Tanner führt mit ihrem Partner und der gemeinsamen kleinen Tochter ein unbeschwertes Leben im idyllischen Freiburg im Breisgau. Das ändert sich, als ihr sterbender Großvater eine letzte Bitte an sie richtet: »Sorge für Gerechtigkeit!«. Lizzy beschließt, sein Geheimnis zu ergründen. Ihre Recherchen führen sie zurück bis in das Freiburg der 1930-er Jahre und in die Zeit der Arisierung. Bei ihrer Reise in die Vergangenheit wächst Lizzy über sich hinaus. Aber schon bald muss sie sich entscheiden zwischen Wahrheit und Rücksichtnahme, zwischen dem guten Ruf ihrer Familie und dem, was sie für richtig hält. »Voller Spannung und Emotionen. Bettina Storks' Roman ist ein echter Pageturner.« Corina Bomann

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© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2019

© 2014 Bettina Storks Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Bloomsbury Berlin (2014)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Géradmer, Frankreich, Am Rosshimmel, Oktober 1940

Kapitel 1

Kapitel 2

Freiburg, November 1940

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Lörrach, Dezember 1936

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Freiburg-Wiehre, Hochsommer 1929

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Freiburg, 22. Oktober 1940

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Straßburg, Lörrach, Kirchmann Uhren GmbH, Mai 1959

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Géradmer, Frankreich, Am Rosshimmel, Mai 2011

Guide

Au clair de la lune,

Mon ami Pierrot,

Prête-moi ta plume

Pour écrire un mot.

Ma chandelle est morte,

Je n’ai plus de feu,

Ouvre-moi ta porte,

Pour l’amour de Dieu.

Französisches Kinderlied

Géradmer, Frankreich, Am Rosshimmel,

OKTOBER 1940

Immer wenn der Wind über das Plateau in den Vogesen fegte, hielt der Rosshimmel den Atem an. Die Pferde erstarrten und spitzten die Ohren. Dann plötzlich setzten sie sich in Bewegung, fast gleichzeitig, zu einer einzigen großen Formation. Dabei vibrierte der Boden so sehr, dass die Schwingungen weithin zu spüren waren. Die Masse ihrer muskulösen, kräftigen Körper hinterließ tiefe Spuren im Neuschnee, die der Wind nach und nach wieder verwischen würde.

Die Tiere galoppierten mit wehenden Mähnen und erhobenen Köpfen, die sie im gleichmäßigen Takt senkten, als ob sie sich vor den Naturgewalten verbeugten. Sie schwebten gleichsam über dem Boden. Hier war das Paradies ihrer Vorfahren, das seinen Namen der Tatsache verdankte, dass die Bauern früher ihre ausgedienten Rösser an diesem verlassenen Ort direkt unter dem Himmel begruben. Warum sie sich die Mühe gemacht hatten, die toten Tiere aus dem Tal bis hierher nach oben zu schaffen, konnte niemand sagen.

»Pferde sind Fluchttiere«, sagte die Frau jedes Mal, wenn es losging. »Sie trauen niemandem.«

Die Kinder liebten ihre Geschichten. Sie verstanden zwar noch nicht, was das bedeutete, denn sie waren noch klein, aber das Gefühl der Angst war ihnen bereits vertraut.

Mit plattgedrückten Nasen knieten sie auf der Eckbank am Küchenfenster des Gesindehauses und beobachteten die Pferde, die schließlich vor den Stallungen Halt machten, wo ein Mann, eingehüllt in einen warmen Mantel, ihnen das Tor öffnete. Ein Ross wieherte und stellte sich auf die Hinterhufe. Der Mann beruhigte das Tier, indem er es am Hals streichelte. Dann schritten die Pferde mit dampfenden Körpern, eines nach dem anderen, ins Trockene.

Der Wind riss eine Scheunentür auf, die krachend gegen die Wand schlug. Der Schnee war in Regen übergegangen. Dicke Tropfen peitschten gegen die Scheibe. Das knisternde Feuer im Herd verströmte eine wohlige Wärme.

Die Frau räumte den Tisch ab, zog die beiden Kinder eilig vom Fenster weg und schob sie hinaus in Richtung ihres Verstecks, ein Verlies im Geräteschuppen. Sie hatten diesen Ablauf so häufig geübt. Der Mann konnte die Sprache der Pferde verstehen. Die plötzliche Rückkehr der Rösser von der Weide bedeutete nichts Gutes.

Die Frau legte den Zeigefinger an die Lippen, bekreuzigte sich und schloss den Schacht, unter dem die Kinder zitternd aneinandergedrückt saßen. Sie lauschten und wagten nicht zu atmen. Durch einen kleinen Schlitz drang mattes Licht.

»Still, du musst ganz still sein!«, sagte der Junge zu dem Mädchen.

Aber es hatte gar nichts gesagt.

Kapitel 1

»Dein Großvater wünscht ein Gespräch unter vier Augen. Mit dir. Vermeide jede Aufregung, Lizzy«, mahnte meine Mutter.

Erschöpft lehnte sie ihren Hinterkopf an die geschlossene Tür, aber trotz ihrer Müdigkeit registrierte ich die Härte in ihrer Stimme, diesen typischen, etwas zu hoch geratenen Tonfall, in den sie bei familiären Angelegenheiten verfiel.

Dann schob sie mich in das Zimmer und zog einfach die Tür hinter mir zu.

Er lag auf dem Bett. Sein großer Kopf füllte das Kissen aus. Ein beißender Geruch von verbrauchter Luft stieg mir in die Nase.

Dieser Mann, den ich ein Leben lang wie einen Vater geliebt hatte, war 92 Jahre alt, aber für den Tod war es immer zu früh.

Sein Bett glich einer Bahre und ich starrte auf seinen Brustkorb, wollte sehen, ob er sich noch hob und senkte. Plötzlich tippte Großvater mit seinen Fingern auf das gestärkte Laken und winkte mich zu sich. Als wäre die Ausführung seiner Befehle eine Selbstverständlichkeit. Aber so war es nun einmal, Jahrzehnte hatte er Menschen geführt, ein großes Unternehmen, seine Familie. Alle waren sie ihm vertrauensvoll gefolgt. Eine dumpfe Wut kam in mir auf, unpassend und pietätlos. Gehorsam und Aufbegehren, der mir vertraute Widerspruch, von Kindesbeinen an verinnerlicht. Niemals würde ich mich daran gewöhnen.

Langsam trat ich näher. Mama hatte mir einen Stuhl bereitgestellt, direkt neben dem Bett. Ich nahm zögernd Platz und legte meine Hände auf die Oberschenkel. Der Duft von Sanddorn, frisch, dazu ein wenig Orange, erreichte mich. Meine Handcreme. Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt. Ich warf einen Blick in den riesigen Garten, der mir von jeher wie ein Park vorgekommen war. Ein Stück Gartenarchitektur wie aus einem Hochglanzmagazin: akkurat geschnittene Buchsbäume in harmonischer Formation auf einem blassen Novemberrasen; ein mächtiger Kirschbaum, dessen sich Großpapa im Frühjahr regelmäßig selbst annahm und der es ihm in manchem Jahr mit reicher Ernte dankte. Ganz hinten an der Grundstücksgrenze standen weitere Obstbäume mit schmackhaften Apfelsorten, die es nirgendwo mehr zu kaufen gab. Wenn man im Spätsommer davon aß, lief einem der säuerliche Saft die Mundwinkel hinunter, und erst wenn man das feste Fruchtfleisch gegen den Gaumen presste, kam eine unwiderstehliche Süße.

Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich einsam der Pavillon, den Großmama besonders liebte. Sobald der Schnee schmolz und die ersten Sonnenstrahlen in den nach Osten ausgerichteten Teil der Anlage fielen, zog es sie dort hin.

Als Kind hatte ich hier gespielt und gelernt, dass unsere Familie über eine ihr eigene Sprache verfügte. Ein Code, mit dem sie blind zu kommunizieren vermochte. Bei den Kirchmanns prahlte man nicht. Der Wohlstand war eine angenehme Begleiterscheinung des Lebens und man spielte ihn herunter. Am besten sprach man nicht darüber. Das hatte nichts mit Geiz zu tun, sondern galt der Wahrung von Tradition. Die Villa, in der das Krankenbett meines Großvaters stand, ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert im Freiburger Stadtteil Herdern, besaß lichtdurchflutete Räume mit großzügigen Flügeltüren und Stuckdecken. Sie hatte bereits drei Generationen unserer Familie beherbergt und auch ich war hier groß geworden.

Großvater riss mich aus meinen Gedanken. Er machte einen tiefen Atemzug und drehte seinen Kopf in meine Richtung, ohne die Augen zu öffnen.

»Lizzy«, flüsterte er.

Wie früher, wenn ich mich als Kind in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schrank versteckt hatte. Seine Stimme klang heiser.

»Ich bin hier. Sei ganz ruhig.«

»Du musst etwas tun. Es ist wichtig!«

Plötzlich öffnete er die Augen, aber sein Blick traf mich nur kurz. Er sah langsam an mir vorbei, als sei er abgelenkt worden von jemandem, der direkt hinter mir stand. Vorsichtig sah ich mich um. Wir waren allein.

»Lizzy! Die Schublade.«

Kraftlos zeigte er in Richtung eines kleinen Tischchens zwischen den Türen zur Terrasse.

»Hol den Schlüssel heraus!«

Ohne die Anweisung richtig verstanden zu haben, trat ich an den Tisch. Fragend schaute ich wieder in Großvaters Richtung. Sein Blick verriet Ungeduld, flackerte, die Bewegungen seiner Hand schienen von Unruhe getrieben. Es war, als zöge er unsichtbare Fäden zwischen seinen schlanken Fingern hin und her.

»Der Schlüssel«, stammelte er.

Ich öffnete das kleine Fach, auf das er gedeutet hatte, und sah ihn sofort. Ein gewöhnlicher Schrankschlüssel. Mit dem kalten Eisen in der Hand ging ich zum Bett zurück.

»Herrenzimmer. Am Rosshimmel. Der Sekretär«, stieß Großpapa jetzt hervor. »Nimm den Inhalt an dich. Alles! Kein Wort darüber! Fahre noch heute! Ich habe nicht mehr viel Zeit.«

Ich wagte nicht, zu widersprechen, denn immer noch vermochte er eine unerschütterliche Autorität auszustrahlen. Er hatte bestimmt. Mechanisch steckte ich den Schlüssel in meine Jeans und strich Großvater über die Wange. An der Tür drehte ich mich noch einmal um. »Ich komme wieder«, flüsterte ich.

Meine Mutter stand vor der Tür. Wortlos nickte ich ihr zu und unterdrückte den Impuls, sie zu umarmen. Sie schluckte und warf einen besorgten Blick zu meiner Großmama, die verloren in der Halle auf einem Stuhl saß. Neben ihr erhob sich in diesem Moment unser ehemaliger Hausarzt, Dr. Reichert. Seit Tagen verbrachte er die bangen Stunden am Bett seines Freundes Bodo Kirchmann.

»Wie lange noch?«, fragte ich ihn leise.

»Zwei Tage, eine Woche«, entgegnete er. »Schwer zu sagen. Er hat ein starkes Herz.«

Mama schritt an mir vorbei mit ihrem beherrschten Gang und den intelligenten Augen, die sie schon immer sicher durchs Leben geführt hatten. Ihre Bewegungen waren die pure Eleganz. Sie trat zu ihrem Vater, sah ihn lange an, zog sachte den Stuhl näher zum Bett und setzte sich. Schließlich wandte sie sich in Richtung Tür und schüttelte langsam den Kopf. Es war noch nicht vorbei.

Großmama summte leise »Au clair de la lune«, ein französisches Kinderlied. Mit zitternder Stimme versuchte sie den Ton zu halten. Mir liefen Tränen die Wangen herunter. Ihr zarter Kopf mit dem grauen dünnen Haar wackelte, wie er es immer tat, wenn sie verunsichert war. Ich war mir nicht sicher, ob sie verstand, was hier geschah. Ihre Erinnerungen, ihr Denken und Fühlen waren schon lange in getrennten Schubladen ihrer Welt verschlossen.

Als ich nach draußen trat, schlug mir kühler Herbstwind entgegen. Ich sah auf die Uhr: kurz vor fünf. Ich rief zu Hause an, sagte Tom, ich bliebe über Nacht bei meinen Großeltern, und beschloss, sofort in Richtung Rosshimmel aufzubrechen. Es war, als triebe mich eine fremde Kraft an, als hörte ich eine Stimme, die mir befahl loszufahren, um so schnell wie möglich wieder hier zu sein.

»Dann darf ich mit Papa in eurem Bett schlafen«, triumphierte Thea, nachdem ihr Tom den Hörer weitergereicht hatte.

Mit ihren sechs Jahren beherrschte unsere Tochter bereits die Kunst, aus Defiziten Kapital zu schlagen.

»Schlaf schön, mein Schatz. Und gib Papa einen Kuss von mir«, erwiderte ich und machte mich auf den Weg in Richtung französische Grenze.

Zwei Stunden später erreichte ich den idyllischen Familienbesitz der Kirchmanns am Westhang der Vogesen, einen Steinwurf entfernt von Géradmer, einer Kleinstadt, die für ihre wilden Narzissen berühmt war. Wir alle liebten diesen Ort.

Wehmütige Erinnerungen an opulente Familienfeste mit Großpapa wurden wach. Das Gutshaus thronte auf einem weitläufigen Plateau, umgeben von Wäldern. Im großzügigen Entree mit dem gusseisernen Kamin knarrten die alten Holzdielen, als wollten sie Geschichten erzählen. Neben dem Hauptgebäude gab es ein Gesindehaus und die früheren Stallungen. Schon lange hielten wir keine Pferde mehr hier oben. Nachdem die langjährigen Verwalter gegangen waren, hatte der Rosshimmel für Großpapa ein wenig seinen Glanz verloren.

Seitdem kümmerte sich ein Elektriker aus dem Tal um das Anwesen. Die Familie verbrachte nur wenige Wochen im Jahr hier, manchmal die Ferien. Philippe händigte mir den Schlüssel aus, als sei es die normalste Sache der Welt, dass gegen 21 Uhr abends jemand aus Freiburg auftauchte, um gleich wieder zu verschwinden.

Als ich in Begleitung des jungen Mannes über die schmale Straße nach oben fuhr und schließlich von weitem das schneebedeckte Gutshaus sah, war mir, als besuchte ich ein Waisenkind, das ich vernachlässigt hatte und das meiner Fürsorge bedurfte.

»Wie geht es Monsieur?«, wollte Philippe wissen.

Die Banalität seiner Frage erschreckte mich, denn angesichts des Todes erhielt sie eine völlig neue Dimension.

»Leider nicht gut, Philippe. Er liegt im Sterben.«

»Er ist alt und hatte ein reiches Leben, Madame«, versuchte mich Philippe zu trösten.

Beim Betreten des Herrenzimmers beschlich mich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, denn diesen Raum umgab von jeher ein Geheimnis. Er war tatsächlich das Männerzimmer – Großpapa und mein Vater waren zu bestimmten Anlässen mit den männlichen Gästen des Hauses darin verschwunden und man hatte sie lachen und reden gehört. Sie tranken Cognac und rauchten Zigarren. Mit dem Tag seiner Volljährigkeit hatte mein Bruder Alexander ebenfalls Einlass erhalten.

Ich sah mich um. Tische und Stühle waren mit weißen Tüchern bedeckt. Als ich das Laken vom Sekretär zog, wirbelte Staub auf. Ich strich über das matte Holz. Das Möbelstück besaß einen Aufsatz mit einer kleinen Schublade und eine ausziehbare Schreibplatte. Jugendstil. Der Korpus selbst bestand aus zwei großen Türen, die abgesperrt waren. Ich versuchte den Schlüssel, den mir Großpapa gegeben hatte, aber das Schloss klemmte. Mit viel Geduld bekam ich es schließlich auf. Dahinter befand sich oben eine Lade und unten ein leeres Brett. Beim Aufziehen der Lade stieß ich auf mehrere lose Blätter mit Tabellen, das letzte war mit der Zahl 25 nummeriert: Waschschüssel, Vase, Kommode, 64-teiliges Ess-Service. Unzählige Gegenstände des täglichen Lebens, daneben die Anzahl und Geldbeträge in getrennten Spalten, ausgefüllt mit einer akribischen Schreibschrift. Bei der Rubrik »Meistbietender« verschiedene, mir unbekannte Namen. Dann der Name Kirchmann. Unten am Rand ein Datum: 23. November 1940, Hausrat Bloch, Goethestraße 12. Ein Versteigerungsprotokoll.

Der Name Bloch sagte mir nichts, aber ich kannte diese Straße. Sie lag in der Wiehre, einem Freiburger Stadtteil mit Altbaubestand und Villen, der von den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs weitgehend verschont worden war.

Ich suchte weiter. Nichts. Erst als ich die Lade schließen wollte und sie blockierte, entdeckte ich, dass deren weicher Samtboden nachgab. Vorsichtig löste ich ihn an der Seite. Darunter befand sich eine Art Geheimfach, darin eine Mappe. Neugierig zog ich sie hervor. Es handelte sich dabei um mehrere Durchschläge in DIN-A6. Überweisungen! Beträge, die offensichtlich in unregelmäßigen Abständen über die Jahre 1948 – 1955 auf ein Schweizer Konto in Basel geflossen waren. Der Name war praktisch nicht zu entziffern. Warum hatte Großpapa das hier versteckt gehalten?

Ich überschlug die Beträge und kam auf eine Summe von knapp 60.000 Schweizer Franken; für die damalige Zeit viel Geld.

»Bei den Kirchmanns dreht sich alles um die Knete«, pflegte Tom zu sagen.

Seine Worte waren immer auch ein Vorwurf an mich, an meinen wohlbehüteten familiären Hintergrund, für den ich doch nichts konnte. Dabei hatte Tom gut reden. Seine Eltern boten mangels Anwesenheit viel weniger Anlass zur Kritik, lebten sie doch in Norddeutschland, und wir bekamen sie so gut wie nie zu Gesicht.

Es war, als läge all das Geld ausdruckslos vor mir und starrte mich an, als barg es Großpapas sprachlose Lebensbeichte, die er mit ins Grab nehmen würde, wenn ich nicht schnell genug wäre. Ich schob die Lade zurück, und als ich die Türen des Möbels schon schließen wollte, fiel mir ganz hinten auf dem Brett ein Gegenstand auf: In Packpapier war eine kleine Spieluhr mit einer Ballerina auf einem Podest eingewickelt. Ich versuchte sie aufzuziehen, aber sie gab keinen Ton von sich. Ich wickelte sie wieder ein und steckte sie zusammen mit den Schriftstücken in meine Tasche.

Draußen hatte Philippe eine Zigarette geraucht und auf mich gewartet. Ich trat hinaus, schloss das Gutshaus ab, übergab ihm den Schlüssel und bat ihn um absolute Diskretion bezüglich meiner Anwesenheit. Er wisse von nichts, entgegnete er schulterzuckend, und ich fuhr zurück nach Freiburg, wo ich gegen zwei Uhr morgens ankam.

In der Villa brannte Licht. Panisch vor Angst, es sei bereits zu spät, klingelte ich an der Tür Sturm, bis mir meine Mutter öffnete.

»Was, um Himmels willen, machst du mitten in der Nacht hier?«

»Das fragst du noch? Ich bin beunruhigt wegen Großvater. Wie geht es ihm?«

Sie zog mich herein und hinter mir fiel die Tür ins Schloss. »Er schläft.«

Kritisch betrachtete ich meine Mutter. Sie war blass und ihre großen Augen lagen in dunklen Höhlen.

»Das solltest du auch tun, Mama. Wann warst du zuletzt im Bett?«

»Das ist eine Weile her«, seufzte sie. »Seit Vater zu Hause ist, verbringe ich jede Nacht an seinem Krankenlager.«

»Leg dich hin. Ich gehe zu ihm. Schläft Großmama?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich könnte eine Tasse Kaffee vertragen. Geh zu ihm, aber sein Schlaf ist unruhig, wundere dich nicht.«

»Woran merke ich, dass es so weit ist?«

»Du wirst es wissen. Ich gehe nur ein paar Minuten frische Luft schnappen. Dann bin ich zurück.«

Leise betrat ich Großpapas Zimmer. Ich hatte ihn nur etwa acht Stunden nicht gesehen, aber ich fand, er hatte sich in dieser Zeit verändert. Er war eingefallen, seine Haut blass, sein Gesicht fast wachsweiß. Ich setzte mich auf den Stuhl an seinem Kopfende und beobachtete ihn. Sein Atem ging unregelmäßig, seine Augenlider zuckten, einmal warf er den Kopf von einer Seite zur anderen, dann wieder wurde er ruhig, als schien ihn etwas zu besänftigen.

Mein Leben lang hatte mir der Tod Angst gemacht. Als mein Vater starb, war ich noch ein Kind. Zwar hatte ich nur dunkle Erinnerungen an diese Zeit, aber die Lücke, die er hinterlassen hatte, klaffte wie eine offene Wunde in unserer Familie, die nicht heilen wollte. Doch dies hier war etwas ganz anderes. Auf einmal fand ich gar nichts Unheimliches am Sterben. Es war vielmehr ein sehr persönlicher Moment zwischen Großpapa und mir. Mama hatte recht gehabt: Was hier geschah, weckte die Urinstinkte der Sippe. Ein erfülltes Leben war im Begriff, aus unserer Mitte zu treten, und mein Großvater hatte die Begleitung seiner Liebsten verdient. Hier ging es nicht um meine Ängste.

»Lizzy!«

Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Alles ist geschehen, wie du es wolltest. Ich war am Rosshimmel, Großpapa«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Die Gegenstände sind hier bei mir.«

Ich deutete auf meine Tasche, sein Blick wanderte in Richtung Boden.

»Lizzy«, sagte er noch einmal und in seiner Stimme lag etwas Beschwörendes. Ich hatte ihn noch nie so sprechen gehört. »Lizzy. Du musst …«

Langsam strich er mit seiner Hand über die Decke. Sachte ergriff ich sie, legte sie in meine, wo ich sie vorsichtig drückte. Aber seine knochigen Finger antworteten nicht mehr. Seine Augen waren geschlossen. Doch plötzlich seufzte er, holte Luft, die dann langsam aus ihm herausströmte. Noch einmal öffnete er den Mund und mir war, als forme er mit letzter Kraft jedes einzelne Wort, als setze er alles daran, damit ich seinen Auftrag auch wirklich verstünde.

»Sorge für Gerechtigkeit! Versprich es!«

»Ich verspreche es dir«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

»Jetzt rufe deine Mutter herein. Geh, mein Kind. Geh!«, hauchte er.

Mit gesenktem Kopf verließ ich den Raum. Mein Herz schien sich zusammenzuschnüren. Meine Mutter saß draußen und erhob sich sofort, als ich heraustrat. »Er möchte dich sehen, Mama.«

Sie streifte ihren Rock glatt und ließ mich im düsteren Flur zurück. Hilflos sah ich mich um und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Auf dem Weg kam ich an Großmamas Zimmer vorbei. Die Tür war angelehnt. Sie schlief tief; ein leises Schnarchen war zu hören.

Die Küchenuhr zeigte halb drei. Ich konnte kaum glauben, dass seit meiner Ankunft gerade eine halbe Stunde verstrichen war. In der Küche stand etwas Geschirr herum und obwohl es eine Maschine gab, fing ich an, es zu spülen. Nebenbei trank ich schwarzen Kaffee.

Als ich schließlich in den Flur zurückkehrte, sah ich Mama schon vor Großvaters Zimmer. Ein Bild, das sich unmittelbar in mein Gedächtnis einbrannte. Sie stand einfach da, mit dem Rücken zur Wand, ihren Kopf daran gelehnt. Je näher ich kam, desto blasser schien sie zu werden.

»Der Himmel helfe uns«, stammelte sie mit geschlossenen Augen.

Erschrocken trat ich zu ihr und sie sah mich erstaunt an, als registriere sie erst jetzt, dass auch ich mich noch im Haus befand.

»Ist es passiert? Ist er tot?«

Müde schüttelte sie den Kopf. »Es ist noch nicht so weit.«

Es sollte noch den ganzen nächsten Tag und eine Nacht dauern, bis Großpapa von uns ging. Stunden, in denen wir abwechselnd an seinem Bett Wache hielten. Mama, Alexander und ich. Der Schlafmangel hatte mich inzwischen betäubt. Hilflos mussten wir seinem Kampf zusehen. In immer kürzeren Abständen setzte seine Atmung aus, dann wieder schnappte er nach Luft, krallte seine Finger in die Bettdecke und riss die Augen auf.

Er sprach kein Wort mehr. Nicht ein einziges.

»Bodo ist eingeschlafen, Mama!«, hörte ich meine Mutter leise sagen, als sie am Abend des Folgetags aus Großpapas Zimmer kam.

Großmama Constanze saß neben mir und sah uns fragend an. Es war, als hörte die Welt für einen Augenblick auf, sich zu drehen. Ich erhob mich und sah durch die offene Tür direkt auf das Bett. Der Mann, der dort lag, hatte ein erfülltes Leben gehabt. Keine lange Krankheit hatte ihn zu Boden gezwungen, sondern ein Schwächeanfall vor wenigen Wochen.

Mama war blass und sie küsste Großmama zärtlich auf die Wange. Auf einmal bewegten sich deren trübe Augen, als sehe sie etwas, woran sie sich erinnerte. Sie lächelte, fast tröstend. Ihr Blick schweifte in die Ferne, hinaus zum Fenster in Richtung Garten.

»Er schläft, Lizzy.«

Sie legte den Zeigefinger auf ihren Mund und ich begriff. Sie glaubte, der Mann, mit dem sie nahezu siebzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, mache seinen Mittagsschlaf. Vielleicht würde sie nach einem Wimpernschlag auch dies wieder vergessen haben. Von den vielen gemeinsamen Jahren blitzte manchmal in ihren Erzählungen etwas auf, was uns alle verblüffte. Wenn man ihr alte Fotos zeigte und erläuterte, konnte es passieren, dass sie präzise Situationen schilderte, die selbst meiner Mutter entfallen waren. Großmama konnte dann genau sagen, dass das hellblaue Kleid, das sie auf einer Fotografie trug, einen Fleck gehabt hatte. Aber durch ihre Gegenwart zog sich ein jäher Riss, der uns allen weh tat.

»Entschuldigen Sie bitte, wie war doch Ihr Name?«, wandte sie sich manchmal an meinen Großvater, wenn er das Album zugeklappt hatte. »Er ist mir entfallen.«

Dann hatte sie ihn voller Freundlichkeit und Erwartung angesehen und er hatte ihr über den Kopf gestrichen. Es heißt, im Alter treten die schlechten Eigenschaften eines Menschen hervor und die guten zurück. Bei Großmama war es genau andersherum.

Immer wieder hatte ihre Ahnungslosigkeit meinem Großvater die Tränen in die Augen getrieben, aber er hatte fest daran geglaubt, dass ihr Vergessen im Grunde genommen eine Gnade war und ihr Leiden minderte. Das seine aber war darüber umso größer geworden und darin schien er mir immer untröstlich gewesen zu sein.

»Ach, Stanzi«, hatte er oft geseufzt. »Die Liebe möchte sich erinnern. Es schmerzt so sehr, alleine zurückzublicken.«

Warum mich Großmama hingegen regelmäßig mit meinem Kosenamen ansprach, und das, ohne irgendeinen familiären Zusammenhang herstellen zu können, blieb uns allen verborgen. Seit nunmehr achtunddreißig Jahren war ich einfach ihre Lizzy und dabei würde es wohl bleiben.

»Au clair de la lune, mon ami Pierrot, prête-moi ta plume, pour écrire un mot – pour l’amour de Dieu«, summte Großmama erneut.

Die zarte Melodie meiner Kindheit klang in mir nach. Um der Liebe Gottes willen – wie oft hatte ich dieses Lied gehört und selbst gesungen.

Mama warf ein weißes Leinen über den großen Spiegel und hielt den Zeiger der Wanduhr an. Dann öffnete sie die Terrassentüren. Ein kühler Windhauch zog durch den Raum. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie bereits schwarz gekleidet war. Sie hatte ihre dunklen langen Haare nach oben gesteckt. Dieser stolzen Frau konnte der Tod nichts anhaben; sie hatte zu viele Menschen in ihrem Leben gehen sehen. Es war der 28. Oktober 2001, 19.32 Uhr.

Auch mir war der Tod nicht neu. Das Sterben schon. Wie ein Roboter setzte ich einen Fuß vor den anderen, ging in die Eingangshalle und hob den Hörer vom Telefon.

»Tom«, hörte ich mich plötzlich schluchzen und beim Aussprechen des vertrauten Namens war ich wieder bei mir. Ich hätte schwören können, den Schmerz mitten im Herz zu spüren, und schnappte nach Luft. »Tom. Es ist vorbei. Großpapa ist tot.«

Zärtlich redete Tom auf mich ein, und ich spürte eine Sehnsucht nach seiner Stimme wie nie zuvor. Es war völlig egal, was er sagte, nur sollte er nicht damit aufhören, Worte an mich zu richten. Sein Versprechen, in wenigen Minuten bei mir zu sein, besänftigte mich sofort. Ich legte den Hörer auf und ging zurück zu meiner Großmutter, nahm sie an die Hand und versprach ihr eine heiße Schokolade. Sie leckte sich die Lippen und lief neben mir durchs Haus.

Das Letzte, was ich sah, war, wie Mama den Unterkiefer des Toten hochband. Nun war sein Mund für immer verschlossen.

Kapitel 2

»Was willst du von mir?«, fragte eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung.

Onkel Erwin, Großpapas jüngerer Bruder, hatte die Familie über Jahrzehnte gemieden. Und diese ihn. Ich kannte ihn nicht persönlich, nur mein Bruder war ihm einmal als kleiner Junge begegnet. In einigen Fotoalben gab es ein paar Jugendfotos von Erwin, das war alles.

Erwin galt als der Familienfluch, und wenn wir als Kinder nach ihm fragten, hatten wir stets betretenes Schweigen geerntet, die wirksamste Strafe in unserer Erziehung gegen Verstöße; als hätten wir etwas Unanständiges gesagt, das es nicht einmal wert war zu kommentieren. Ich hatte lange überlegt, wie ich ihn ansprechen sollte, nachdem ich seinen Wohnort über hartnäckiges Nachfragen bei einer entfernten Verwandten erfahren hatte. Schließlich entschied ich mich für »Du«.

»So etwas wie einen Neuanfang«, erwiderte ich hilflos. »Dein Bruder ist gestorben. Mit zweiundneunzig Jahren! Kann man angesichts des Todes einen alten Streit nicht begraben?«

»Du solltest dich aus Dingen heraushalten, von denen du nichts verstehst, Elisabeth!«

»Nach dem Begräbnis am kommenden Freitag findet jedenfalls in der Kirchmann-Villa eine Trauerfeier statt. Verstehe diesen Anruf bitte als offizielle Einladung.«

»In der Kirchmann-Villa«, wiederholte er verächtlich. »Ich danke vielmals, Madame, aber machen Sie sich keine Hoffnungen auf mein Erscheinen. Ich müsste einen verdammt guten Tag haben, um meine Schuhe vor eurer Haustür abzustreifen.«

»Ganz wie du wünschst«, erwiderte ich und knallte den Hörer auf die Ladestation.

»Ich habe es dir gleich gesagt«, kommentierte Mama lapidar Erwins Abfuhr. »Er möchte nichts mehr mit uns zu tun haben. Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als du gerade einmal laufen konntest. Überleg einmal, Lizzy, wie lange das her ist! Jahrzehntelang galt er als verschollen. Ich wusste nicht einmal, dass er im Schwarzwald lebt.«

»Mir habt ihr immer erzählt, dass wir es waren, die mit ihm nichts mehr zu tun haben wollten«, berichtigte ich.

»Was macht das jetzt für einen Unterschied?«

Für mich war es eine Frage des Anstands, den Bruder meines Großvaters dennoch einzuladen. Aber Erwin erschien weder auf dem Begräbnis noch zur Trauerfeier, was mir angesichts der vielen Besucher in der Villa zunächst nicht einmal auffiel.

Zahlreiche Gäste waren gekommen, deren Bewirtung unsere ganze Aufmerksamkeit verlangte. Die meisten kannte ich gar nicht, wohingegen einige von ihnen sich an mich als Kind erinnerten. In seinen späten Lebensjahren hatte mein Großvater die gesellschaftlichen Kontakte drastisch eingeschränkt, dennoch wollten ihm ehemalige Geschäftspartner und Weggefährten die letzte Ehre erweisen. Ich schätzte den Altersdurchschnitt an jenem Nachmittag auf Mitte siebzig, Thea und die anderen Kinder nicht mitgezählt.

Allmählich leerte sich die untere Etage der Villa, wo Mama, Alexander und ich empfangen hatten. Stundenlang hatten wir Hände geschüttelt und Beileidsbekundungen entgegengenommen. Das Buffet im Speisezimmer barg die Reste eines langen Nachmittags. Angebrochene Weinflaschen und Essensreste standen auf den Tischen herum. »Leichenschmaus« war ein grausames Wort für etwas, was nicht selten in ein Besäufnis ausuferte. Hier aber atmete jeder Raum Disziplin und Mäßigung.

Übrig geblieben war ein kleiner, persönlicher Kreis, der jetzt im Salon bei Wein und Bier saß. Susanne, Alexanders Frau, war nach der Beerdigung zu ihrem Ältesten ins Krankenhaus geeilt. Seit gestern lag Thomas mit einem abklingenden Brechdurchfall in der Kinderklinik, wo ihn die Ärzte vorsorglich noch bis morgen behalten wollten.

Alexander und Tom hatten sich in den Wintergarten zurückgezogen. Vom Salon aus konnte man sie sehen, wie sie Zigarre rauchten. Die Kinder spielten in der oberen Etage Memory. Ich saß neben meiner Großmutter, die mich antippte und bereits zum dritten Mal fragte, was genau die vielen Menschen hier gesucht hätten, wohin die meisten von ihnen jetzt verschwunden wären und was los sei.

»Bring mir einen Cognac, Lizzy. Zur Feier des Tages«, befahl sie, ohne meine Antwort abzuwarten, und klopfte mir dabei voller Vorfreude auf die Hand.

Als ich zurück an den Tisch trat, hatte sie bereits ein Glas Weißwein ergattert und Ingrid, die bei größeren Gesellschaften im Haus meiner Großeltern immer aushalf, steuerte mit einem Rotwein auf uns zu.

»Für die gnädige Frau«, sagte sie freundlich und stellte das Getränk ab.

Für Alkoholisches am Nachmittag war Großmama besonders zu haben und sobald sie eine Ausnahmesituation witterte, orderte sie quer durch das Angebot.

»Sag schon, Lizzy! Welchen Geburtstag feiern wir heute?«, hakte sie nach, während sie mit glasigen Augen an ihrem Wein nippte.

Als ich Ingrid ein Zeichen gab, den Roten wieder mitzunehmen, hielt Großmutter ihr Glas blitzschnell mit beiden Händen fest. »Das bleibt hier«, bestimmte sie.

Ich winkte ab und ließ sie gewähren. Mit ihrem Dickkopf wollte ich es heute nicht aufnehmen.

»Sag schon, Lizzy, was ist hier los?«, fragte sie noch einmal und lehnte sich genüsslich zurück.

»Großpapa ist von uns gegangen«, flüsterte ich und musste dabei zusehen, wie sie auf einmal in sich zusammenfiel. Betroffen schwieg sie und für einen winzigen Moment glaubte ich, dass sie begriff. Aber dieser Zustand hielt nicht lange an. Mit einem Mal lächelte sie wieder selbstvergessen und verschanzte sich in ihrer Welt.

»Lizzy, es wird Zeit für meinen Mittagsschlaf«, sagte sie plötzlich. Sie zeigte auf ihre Getränke: »Die gehen mit nach oben.«

Ich nahm die Gläser und begleitete Großmama in ihr Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett fallen ließ und die Augen schloss.

»Mir schwindelt ein bisschen«, stöhnte sie.

Ich legte eine Decke über ihre Füße und unterdrückte ein Lachen. Niemand wusste, wie viel sie bei ihrem krankhaften Sammeltrieb heute getrunken oder gegessen hatte. Sie hortete alles, was sie für lebenswichtig erachtete: Getränke, Essen, Papier, Briefumschläge mit Werbebotschaften; wir hatten sogar schon Vogelfutter und Konserven in ihrem Nachtkasten gefunden.

»Mir schwindelt«, wiederholte sie und schlief sofort ein.

Leise nahm ich die Gläser aus ihrem Zimmer und brachte sie in die Küche, wo ich den Inhalt ins Spülbecken schüttete. Wieder im Salon angekommen, setzte ich mich zu meiner Mutter und schenkte mir einen kühlen Weißwein ein.

»Sie schläft«, sagte ich.

Mama lächelte.

»Nach der Menge Alkohol, kein Wunder.«

Plötzlich klingelte es Sturm. Mama sprang auf und kurz darauf waren Stimmen zu hören. Dann ging die Tür zum Salon auf und Mama erschien mit einem älteren Mann, der ihr auffällig ähnlich sah.

»Erwin Kirchmann«, stellte sie den Anwesenden ihren Onkel vor. »Der Bruder meines Vaters.«

Dr. Reichert und seine Gattin nickten ihm freundlich zu. Die übrigen Gäste, am anderen Ende des Sofas in ein Gespräch vertieft, sahen kurz auf, grüßten ebenfalls höflich und unterhielten sich dann leise weiter.

Dann wandte sich meine Mutter an mich: »Dein Großonkel Erwin.«

»Mit einiger Verspätung, aber anwesend! Beschwert euch bei der Deutschen Bahn. Elisabeth! Ganz die Mama. Eine kleine Schönheit!«, erwiderte er feierlich, reichte mir die Hand und zog die meine zum Handkuss andeutungsweise an seine Lippen.

Dabei kippte er fast vorneüber, fing sich aber gerade noch ab, sammelte sich kurz, warf dann einen Blick in die Runde und murmelte ein »Habe die Ehre«.

Onkel Erwin stach allein durch seine Kleidung aus der Gesellschaft heraus. Er trug Jeans und einen knallroten Rollkragenpulli. Seinen Mantel, den er lässig über die Schulter gehängt hatte, zog er mit einer eleganten Geste herunter und warf ihn über die Sofalehne.

»Nimm doch Platz«, sagte Mama freundlich. Sie nahm seinen Mantel und überreichte ihn wortlos Ingrid, die sogleich in Richtung Garderobe verschwand. »Was darf ich dir anbieten?«

Auf Anstand war Verlass in unserer Familie. Die Etikette glich einem Kompass, der uns sicher durchs Leben navigierte. War die See auch noch so stürmisch, die Kirchmanns blieben an Deck, falteten ihre Stoffservietten zusammen und tupften sich die Lippen trocken, bis das Schiff kenterte.

»Ich nehme, was da ist, meine Liebe. Ich bin nicht so wählerisch. Wenn die Prozente stimmen. Ja, die Teestunde ist vorbei. Zeit für Rotwein. Der Feier angemessen. Wo befindet sich denn die Dame des Hauses?«

Er sah sich fragend um und rieb dabei die Hände gegeneinander.

»Sie hat sich soeben zurückgezogen«, entgegnete Mama ruhig, nahm ein Weinglas von einem Tablett, schenkte einen Burgunder ein und reichte Onkel Erwin das Glas. Dieser bedankte sich mit einem Kopfnicken, nahm einen kleinen Schluck, schob ihn wie bei einer Weinprobe an den Zähnen vorbei in Richtung Gaumen, schien kurz zu überlegen und schluckte dann. Er sah aus wie ein Sommelier, der eine Bewertung abgeben sollte und sich über die Qualität nicht sicher war. Dann wiederholte er das Ganze und stellte sein Glas kommentarlos auf einem Beistelltisch ab.

»Nett habt ihr es hier. Sehr nett«, meinte er schließlich und begab sich an das Ende des Salons in Richtung Terrassentür. »Ich erinnere mich noch daran, wie mein Bruder diese Hütte gekauft hat. Ein wahres Schnäppchen!«

Seine Stimme klang vital, fast fröhlich. Unter den letzten Gästen herrschte betretenes Schweigen. Verstohlen betrachtete ich das markante Profil meines Großonkels, während er mit den Händen in den Hosentaschen gen Garten blickte. Abrupt drehte er sich, ging in Richtung Flügel und begutachtete die dort stehende Fotogalerie.

Er war kleiner als mein Großvater und drahtig. Sein graues Haar trug er eine Spur zu lang, was ihm zusammen mit der lässigen Kleidung den Touch eines Intellektuellen gab. Er wirkte gepflegt und es schien mir, als wähle er seine Kleidung mit Bedacht. Für einen weit über Siebzigjährigen sah er gut aus; seine Haut war leicht gegerbt und sein Schmunzeln verriet, dass er daran gewöhnt war, die Leute um den Finger zu wickeln. Besonders bei den Frauen dürfte er es im Leben nicht schwer gehabt haben. Erwin zählte zu den Männern, die in jungen Jahren nichts hatten anbrennen lassen, so erzählte man sich in der Familie, und selbst in seinem hohen Alter traute ich ihm noch die ein oder andere Eroberung zu. Soweit ich wusste, hatte er nie geheiratet. Das passte zu ihm.

»Wie meinst du das – ein Schnäppchen?«, fragte ich vorsichtig, als er sich vom Flügel abwandte und zu mir trat.

»Es gibt Dinge, die du offensichtlich nicht weißt, liebe Lizzy«, sagte er in verschwörerischem Ton und ließ sich in den Sessel neben mir fallen. »Bodo verstand es, aus der Not anderer Kapital zu schlagen. Ein klassischer Schnäppchenjäger eben!«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Mein Onkel war ganz eindeutig sturzbetrunken. Dr. Reichert räusperte sich verlegen und erhob sich kopfschüttelnd. Seine Frau tat es ihm gleich. Die Verabschiedung des Ehepaars war ein Signal an die restlichen Gäste. Binnen weniger Minuten herrschte Aufbruchsstimmung und Mama geleitete die kleine Gruppe. Ich folgte ihr, bedankte mich für die Unterstützung und kehrte schließlich zusammen mit Mama in den Salon zurück. Jetzt war die Familie unter sich.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, wandte sich Erwin an meine Mutter. »Ihr müsst nur die liebe Stanzi fragen. Ja, ja, die Stanzi Berthold, die Allwissende. Immer die Ohren an geschlossene Türen gedrückt.«

Die letzten Worte hatte er als eine Art Sprechgesang eines Kinderlieds gesungen, und Berthold lautete der Mädchenname meiner Großmutter. Allmählich wurde es mir richtig unheimlich, denn ich erinnerte mich daran, dass Großmama vor ihrer Erkrankung in der Tat immer über alles und jeden informiert war. Kein Gerücht, das ihr nicht bereits zugetragen worden war. Es glich einer Ironie des Schicksals, dass sie heute jedes Detail vergaß. Ich sah hinüber zu Mama, die völlig gefasst und ruhig erschien.

»Meine Mutter leidet seit Jahren an Demenz«, erwiderte sie ernst.

»Jetzt stehe ich wohl wie ein richtiges Arschloch da, was meinst du, Lizzy?«

»Ein wenig schon«, kicherte ich.

»Was willst du hier?«, hörte ich plötzlich Alexanders Stimme.

Jetzt erst bemerkte ich, dass mein Bruder unter der Tür stand und das Gespräch offensichtlich verfolgt hatte. Das Funkeln in seinen Augen konnte ich aus der Entfernung sehen. In Sachen Beleidigung verstand er keinen Spaß. Anspannung lag in der Luft und es schien zu knistern wie bei einem Feuer, dessen trockenes Holz unkontrollierbare Funken sprühte.

»Deine Schwester hat mich eingeladen, und ich dachte doch im Ernst, in dieser Familie gebe es einen Menschen. In dritter Generation, aber einen Menschen. Ein Irrtum. Verzeiht! Lebt weiter in eurer verlogenen Wohlstandsblase. Die Welt dreht sich auch ohne die Kirchmanns. So einfach ist das.«

Erwin stand auf und ging grußlos. Wir sahen einander an. Ich saß da wie gelähmt und beobachtete, was um mich herum geschah, als löse sich ein Standbild vor meinen Augen auf: Alexander räusperte sich und ging zurück in den Wintergarten. Von oben war Kindergeschrei zu hören. Meine Mutter nippte an ihrem Glas. Der Fluch schien vorbei.

Nach einer Weile erhob ich mich unter Mamas fragendem Blick, lief ins Entree, riss meine Jacke von der Garderobe, zog sie über und schlug die Tür hinter mir zu.

Es war bereits dunkel und hatte geregnet. Der Asphalt glänzte. Ich lief in Richtung Innenstadt zur nächsten Hauptstraße. Erwin konnte noch nicht weit sein und ich kannte sein Ziel, den Freiburger Bahnhof. Die Luft war kühl, die Feuchtigkeit kroch sofort in die Knochen und ich beschleunigte meinen Gang, nahm die Abkürzung über den Alten Friedhof und hetzte in Richtung Habsburger Straße. Ich trat in eine Pfütze, Wasser drang in meine Pumps und tränkte meine Feinstrumpfhose, selbst mein Rock bekam ein paar Spritzer ab.

Die belebte Straße war hell beleuchtet. Ich blieb stehen und hielt nach meinem Onkel Ausschau. Dann entdeckte ich ihn in der Ferne. Er schlenderte am Straßenrand entlang, als habe er alle Zeit der Welt. Der Regen konnte ihm nichts anhaben. Etwa zweihundert Meter vor der Stadtbahnhaltestelle gelang es mir, ihn einzuholen.

»Bitte, geh nicht so weg, Erwin. Nicht so.«

Er lief einfach weiter, ich humpelte neben ihm her.

»Hör auf, Lizzy. Du hast doch selbst gesehen, dass es keinen Sinn mit uns hat.«

»Bitte«, flehte ich.

Abrupt blieb er stehen, wandte sich mir zu und sah mich an. Es kam mir vor, als erfasse er jedes Detail meines Gesichts, als lese er die feinste Linie auf meiner Stirn. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass er es vermochte, gleichzeitig beide Augen seines Gegenübers zu fixieren.

»Es scheint dir tatsächlich etwas daran zu liegen. Ja, ich kann es in deinem Gesicht sehen. Da ist etwas. Du glaubst immer noch daran, dass du die Welt am nächsten Morgen genauso vorfindest, wie du sie am Abend vor dem Einschlafen verlassen hast.«

»Woher weißt du, dass sie mich Lizzy nennen? Wir sind uns heute zum ersten Mal begegnet.«

»Von deinem Vater. Er schrieb mir hin und wieder. Er war ein anständiger Kerl!«

Blitzartig kippte meine Stimmung und ein Zutrauen erfasste mich wie bei einem scheuen, hungrigen Tier, dem eine menschliche Hand einen Leckerbissen unter die Nase hielt. Ohne Zögern schnappte ich danach. Wer so über meinen Vater sprach, der konnte kein schlechter Mensch sein.

»Also, Lizzy, heraus mit der Sprache: Warum läufst du einem alten Mann hinterher? So attraktiv bin ich nun auch nicht!«

Er grinste, drehte sich wieder nach vorn und lief weiter. Ich folgte ihm, bemüht, das Tempo auf meinen hohen Schuhen mitzuhalten. »Hast du einen Beweis für deine Behauptungen? Was genau hast du gemeint?«

»Vielleicht.«

»Komm schon.«

»Du bist ganz schön neugierig.«

»Ich möchte wissen, was damals war.«

Wieder blieb er stehen: »Überlege dir gut, ob du deine rosarote Welt zu zerstören bereit bist.«

»Das sind große Worte.«

Ich versteckte meine Hände in den Manteltaschen.

»Es handelt sich auch um große Taten. Im schlechtesten Sinne.«

»Du sprichst nur in Rätseln, Erwin. Was sind das für Andeutungen?«

Es war zum Verzweifeln.

»Stockfelder«, meinte er schlicht. »Was sagt dir dieser Name?«

Ich schüttelte den Kopf: »Nichts. Keine Ahnung.«

»Du hast wirklich nicht den geringsten Schimmer. Eine einstige Berühmtheit im schönen Freiburg. Ging früher im Hause Kirchmann ein und aus. Oder soll ich lieber im Hause Berthold sagen?«

Berthold – Großmamas Mädchenname.

»Bei Großmama? Wann?«

Es begann wieder zu regnen. Dicke Tropfen fielen vom Himmel und im Laufen sah ich die kerzengerade Straße hinunter, wo aus der Ferne die Lichter der Stadtbahn in Richtung City immer näher kamen. Wir befanden uns auf der falschen Seite. Die Fußgängerampel schaltete auf Rot. Plötzlich spürte ich Erwins Hand an meinem Arm. Er sah kurz nach rechts, dann nach links und zog mich mit einem festen Griff über die Kreuzung.

»Früher. Lang, lang ist’s her. Du weißt nichts über ihn?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, umklammerte er erneut meinen Arm und zerrte mich über die Gleise auf den Bahnsteig in Richtung Innenstadt, wo wir außer Atem stehen blieben. Der Regen wurde stärker.

»Ich höre diesen Namen zum ersten Mal«, platzte es aus mir heraus. Ich spürte den Pulsschlag an meinem Hals, meine Füße waren kalt und ich fühlte mich, als hätte mich jemand mitsamt der Kleidung unter die Dusche gestellt. »Und ich habe seit Jahren keine roten Ampeln mehr ignoriert, weil man mit einem Kleinkind immer wartet, bis das grüne Männchen erscheint. Und ich bin auch noch nie in selbstmörderischer Weise mit einem Verrückten über die Gleise gerannt, kurz bevor die Straßenbahn angerauscht kommt. Ich hätte mit dem Absatz hängen bleiben können. Verdammt!«

Er lachte laut heraus und sah hinunter zu meinen Schuhen. Jetzt erst löste er den Griff um meinen Arm.

»Du hast ja richtig Format, meine Hübsche. Alle Achtung! Stock-fel-der. Geh nach Hause und frage deine ehrenwerte Familie nach ihm.«

Die heranfahrende Straßenbahn bremste mit einem ohrenbetäubenden Quietschen ab.

»Noch eine letzte Frage«, rief er. »Und schnell, uns bleibt nicht mehr viel Zeit: Warum interessiert dich das auf einmal? Du bist geschätzte dreißig Jahre zu spät dran.«

»Ich bin erst siebenunddreißig und wenn du komische Andeutungen machst, werde ich ja wohl fragen dürfen!«, entgegnete ich wütend.

Die Türen öffneten sich, untermalt von einem monotonen Signalton. Menschen stiegen aus und drängten sich an uns vorbei. Erwin stellte ein Bein auf das Trittbrett, um die automatische Verriegelung zu blockieren: »Lass dich bloß nicht an der Nase herumführen!«

Ruckartig schloss sich die Tür hinter ihm. Ein Windstoß klatschte mir eine nasse Haarsträhne ins Gesicht.

»Können wir in Kontakt bleiben?«, rief ich ihm durch die beschlagenen Fensterscheiben zu und legte eine Hand ans Ohr.

Ich folgte seiner Gestalt und deren geschmeidigen Bewegungen bis ans Ende des Wagens. Stets hielt ich den Blick auf ihn gerichtet und es kam mir vor, als täte er es mir gleich. Es war, als schlüpfe er durch die stehenden Fahrgäste hindurch und suche sich seinen Platz gegen alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten.

Mein Zorn löste sich und ich spürte eine unsichtbare Verbindung zwischen uns beiden, hergestellt in diesen Abschiedsminuten; oder vielleicht immer da gewesen. Eine magische Blutsbande nach all den Jahren. An einem Fensterplatz machte er Halt und wischte die von innen beschlagene Scheibe mit seinem Ärmel frei.

»Können Sie nicht aufpassen?«, hörte ich die verärgerte Stimme einer Frau, mit der ich um ein Haar zusammengestoßen wäre.

Ich entschuldigte mich und musste zusehen, wie die Bahn langsam losfuhr. Das Letzte, was ich erkennen konnte, war ein verschmitztes Lächeln und seinen Mund, der lautlose Worte formte, immer wieder dieselben. Beim vierten Mal glaubte ich zu verstehen. Onkel Erwins Lippen sagten: »Leb wohl!«

Lange stand ich da und sah dem überfüllten Waggon nach. Der Regen störte mich nicht mehr. Die Lichter entfernten sich und alles, was ich hatte, war ein Name. Stockfelder. Den ganzen Heimweg überlegte ich, ob ich richtig von Erwins Lippen gelesen hatte.

Als ich in die Villa zurückkehrte, schloss ich mich im Badezimmer ein und bemühte mich, den Schaden an meiner Kleidung zu beheben. Mit einem Handtuch rieb ich die Haut unter der hauchdünnen Strumpfhose trocken und versuchte vergeblich, den Schmutz aus meinem Rock zu bürsten. Ich kämmte mein feuchtes Haar, steckte es am Hinterkopf zusammen und befreite mein Gesicht von den Spuren des verlaufenen Make-ups. Dann legte ich etwas Puder auf und zog die Lippen nach.

Als ich hinaustrat, nahm ich vom Entree aus wahr, dass sich alle so benahmen, als sei Erwin nie da gewesen. Mama war im Begriff, ein Tablett in die Küche zu tragen. Alexander hatte seinen Mantel angezogen, rief seinen Sohn von oben und küsste Mama auf die Stirn, um sich zu verabschieden. Nur Tom war nicht zu sehen.

»Eine Laufmasche«, sagte Mama im Vorbeigehen und warf einen Blick auf mein rechtes Bein.

»Luis!«, rief Alexander noch einmal. »Hühner satteln, es geht nach Hause. Mama wartet schon!«

Ich stand da mit geöffnetem Mund und glaubte im falschen Film gelandet zu sein.

»Ich muss zur Redaktionskonferenz. Es wird spät. Warte nicht auf mich«, murmelte Tom, der plötzlich hinter mir auftauchte und mich küsste. »Starker Auftritt.«

Er wisperte in mein Ohr und ich spürte seine weichen Lippen an meinem Hals. Ich wusste nicht, ob er Erwin oder mein Nachlaufen meinte. Aber ich liebte ihn dafür, dass er nicht so tat, als sei rein gar nichts geschehen. Höflich verabschiedete er sich von Mama und verschwand durch die Tür.

»Blöder Luis!«

Schreiend und weinend kam Thea die Treppen heruntergerannt und riss mich aus meinen Gedanken. Luis folgte ihr und heulte solidarisch mit.

»Was ist los?«, wollte ich wissen.

»Thea hat besissen«, klagte Luis, während meine Tochter mit einem »Stimmt überhaupt nicht!« konterte.

Dabei lispelte mein sechsjähriger Neffe jedes s so charmant, dass ich mir das Lachen verkneifen und den Impuls, ihn nachzuahmen, unterdrücken musste.

»Doch! Du hast sie umgedreht und gespickt. Hab’s genau gesehen!«

»Selber gespickt. Gar nicht wahr!«

Sofort war mir klar, worum es hier ging.

»Thea«, sagte ich ernst. »Hast du wieder heimlich Karten beim Memory umgedreht?«

Sie warf den Kopf in den Nacken, drückte ihren Brustkorb gegen mich, umklammerte meine Beine und machte einen Schmollmund. »Gar nicht wahr!«

»Thea?«

Thea presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, bis sie rot anlief. »Gar nicht wahr.«

»Hat sie doch, Lissy, hat sie doch«, lispelte Luis. »Ich swörs! Beim heiligen Fransisskuss. Thea hat besissen.«

Er hob die rechte Hand zum Schwur. Mein Bruder und ich lachten laut heraus.

»Soso. Beim heiligen Franziskus«, wiederholte ich, löste mich von meiner Tochter und ging in die Hocke, um Luis’ offenen Schuh zuzubinden. Seine Wangen waren nass von den Tränen. Ich hielt seinen zarten Kopf und wischte sie mit dem Daumen weg. Wie ein kleines, verschmustes Kätzchen erwiderte er die Berührung und legte seine Stirn auf meine Schulter.

»Das kommt davon, wenn man seinen Jüngsten in einen katholischen Kindergarten schickt«, raunte ich meinem Bruder lächelnd zu. »Ab sofort bemühen wir zur Wahrhaftigkeit die Heiligen.« Ich küsste Luis auf den Kopf.

»Es gibt viele Heilige und man muss die Wahrheit sagen, wenn man swört«, belehrte mich der Kleine.

»Genau richtig«, lächelte ich. »Und was ist mit dem heiligen Franziskus?«

»Der ist für die Tiere und die Kinder da.«

»Wir werden doch hier keinen Priester heranziehen«, meinte mein Bruder und nahm seinen Sohn Huckepack.

»Wer weiß, vielleicht brauchen wir mal einen«, gab ich zurück.

Thea stampfte mit dem Fuß auf.

»Am Ende brauchen wir alle einen.« Alexander drehte sich zur Tür.

»Angeber«, warf Thea ihrem Cousin hinterher, als er sich auf der Schulter seines Vaters die Augen rieb und zaghaft winkte.

Freiburg,

23. NOVEMBER 1940

Bodo Kirchmann öffnete die Tür und trat hinaus auf die Straße. Eine für Ende November erstaunlich warme Luft schlug ihm entgegen. Immer wenn die Fallwinde von der burgundischen Pforte in Freiburg einbrachen, hatten sie diese unnatürliche Wärme im Gepäck. Wetterfühlige Menschen reagierten mit Kopfschmerzen. Zu ihnen gehörte er nicht. Er verfügte über eine stabile Gesundheit. Vor wenigen Tagen war er dreißig geworden. Ein Mann im besten Alter. Groß, stattlich und immer akkurat gekleidet. Aber die Zeiten waren düster wie der graue Himmel über ihm. Als durch den Wolkenschleier die Sonne blitzte, um gleich wieder zu verschwinden, stutzte er nur kurz. Es würde keinen Regen geben. Doch zur Sicherheit nahm er einen Schirm mit, denn das Wetter war so unberechenbar wie die Zeiten, in denen er lebte.

Er schlüpfte in seine Lederhandschuhe und bewegte die Finger. In den letzten Jahren hatte er vieles aus der Hand geben müssen: seine Überzeugung, sein Menschenbild und die Art, wie er seine Fabrik führte. Fahnen mit Hakenkreuzen schmückten jetzt das Portal, wo früher ein schlichtes Uhrenblatt den Eingangsbereich geziert hatte. Er schob seine Gedanken zur Seite und machte sich auf den Weg.

In der Goethestraße 12 herrschte hektisches Treiben. Das Interieur der vornehmen Wiehre-Villa wurde schnellstmöglich versteigert. Es war nicht die erste Veräußerung dieser Art, sondern eine von unzähligen, und die Vollstrecker besaßen bereits Übung. Sichten. Protokollieren. Wertermittlung. Erstes Gebot. Höchstgebot.

Mit erhobenem Kopf ging Bodo Kirchmann die Stufen zur Beletage hinauf, betrat das Objekt durch die Flügeltür und sah sich um, während er seinen Mantel öffnete. In friedlichen Zeiten war unter dem Kronleuchter gegessen, diskutiert und gefeiert worden. Wo war der siebenarmige Kerzenständer geblieben? Sofort fiel ihm auf, dass dieser fehlte.

Er drängte sich in Richtung Arbeitszimmer. Jeder Raum war vollgestopft mit fremden Menschen, hin und wieder blitzten Teile einer schlichten, wertigen Inneneinrichtung hervor, nach der unzählige Hände griffen. Die Leute tuschelten und fixierten mit gierigen Augen ihre künftigen Besitztümer wie Raubtiere die ermattete Beute. Bücher. Geschirr. Tischwäsche. Von der Masse hoben sich der Auktionator, ein Freiburger Gerichtsvollzieher im Schlips sowie einige Gestapo-Uniformierte ab, deren frisch gewienerte Stiefel bis zu den Knien reichten.

Zum Arbeitszimmer war kein Durchkommen. Im Salon wurde gerade ein Rednerpult wie im Auditorium Maximum aufgebaut. Aber in der berühmten Universitätsstadt mit dem Schriftzug »Die Wahrheit wird euch frei machen« über dem Hauptgebäude gehörten die Zeiten der Vorlesungen renommierter Wissenschaftler verschiedenster Fakultäten und Standpunkte längst der Vergangenheit an. Es gab nur noch einen Ton, eine Stimme, eine Rede.

Die Gestapo bewachte die Türen, die vom Flur aus in die einzelnen Zimmer führten. Schließlich schritt der Beamte im Salon nach vorne, klopfte mit einem Holzhammer auf das Pult und rief:

»Ruhe! Ruhe! Wir beginnen jetzt mit der Versteigerung des Hausrats, Goethestraße 12. Zum Verkauf stehen Mobiliar und dessen Inhalt.«

Der Auktionator sah hinunter zu einem Uniformierten, der sich an einen kleinen Klapptisch gesetzt hatte, ein leeres Buch aufschlug und sich mit einem Stift in der Hand bereithielt. Seine angespannte Körperhaltung zeigte, dass er es gewohnt war, Anweisungen entgegenzunehmen, und diese präzise umsetzte. Er wartete nur auf den Befehl.

»Geben Sie Ihre Gebote ab!«

Wie aus der Ferne hörte Bodo Kirchmann zu. Zahlen flogen durch den Raum. Seine Hand umklammerte den Schirm. Stühle, Tische und selbst Geschirrtücher kamen unter den Hammer, und noch sah er keinen Bedarf, einzuschreiten. Er beobachtete das Gewühl, das einem Sonderverkauf auf dem Schwarzmarkt glich: Menschen ohne jedes Mitgefühl tummelten sich indiskret auf privatem Terrain wie auf einem Marktplatz. Dabei handelte es sich bei der Goethestraße um einen Ort, auf den sie eher gespuckt hätten, als ihn zu betreten.

Jene schamlosen Menschen waren jetzt bereit, um Porträts, Blumenvasen und Silberbesteck zu kämpfen, ungeachtet der an den Gegenständen hängenden Herzen und Erinnerungen der einstigen Besitzer.

Bei den wertvollsten Gegenständen stieg Bodo Kirchmann ein, genau so, wie er es sich vorgenommen hatte. Er bot immer gleich so hoch, dass die Masse nicht mitging, und nahm den Zuschlag mit einem kühlen Kopfnicken zur Kenntnis. Als äußerst hilfreich erwies sich dabei seine Nase für Qualität.

Als er nach einer Weile in den Flur trat, um sich bei den restlichen Räumen einen Überblick zu verschaffen, sah er, wie zwei Frauen in der Küche an einem gusseisernen Kochtopf zerrten. Sogleich schritt ein Uniformierter ein, trennte die beiden, stellte den Topf zurück auf den Küchentisch und drohte mit Ausschluss von der Auktion.

Als schwierig erwies sich die Ersteigerung eines Sekretärs. Hartnäckig boten einige aus der Meute mit, bis Bodo Kirchmann seinen Anspruch unmissverständlich geltend machte.

»3000 Reichsmark«, hörte er sich sagen.

Sein Ton klang bestimmend, keinen Widerspruch duldend, und mehrere Köpfe drehten sich gleichzeitig zu ihm. Aus allen Richtungen starrten ihn Augenpaare an. Ruhig und mit klarer Stimme wiederholte er sein Gebot. Der Auktionator hob die Augenbrauen, blickte in Kirchmanns Richtung und öffnete den Mund, aber kein Laut kam über seine Lippen, denn Vollstrecker und Bittender kannten einander. Kirchmann indessen erwiderte den kalten Blick des Beamten so lange, bis jener wegsah. Dann nahm Bodo Kirchmann eine Taschenuhr aus seiner Westentasche und klappte sie auf. Es war Zeit nach Hause zu gehen. Constanze würde bereits mit dem Nachmittagstee warten.

»Für 3000 Reichsmark an den Herrn mit dem Regenschirm.«

Lächelnd zog Kirchmann seine Brieftasche aus dem Mantel, nickte und ging zum Pult, um zu bezahlen. Außer einer Quittung über seine jüngsten Eroberungen sicherte man ihm einen Durchschlag der gesamten Versteigerung zu. Niemand wagte es, seine ungewöhnliche Forderung infrage zu stellen oder sie gar zu verweigern.

Als er durch das gusseiserne Gartenportal die Goethestraße 12 verließ, fing es an zu regnen. Er spannte seinen Schirm auf und ging unter den Kastanien in Richtung Stadtbahn. An jenen Moment, da der Regen auf das Kopfsteinpflaster prasselte, würde er sich ein langes Leben lang erinnern. Ihm war, als habe er mit 3000 Reichsmark seine Unschuld erkauft und mit dem stattlichen Erlös ein zweites Ich erworben, maskiert mit einer teuflischen Fratze, den Zeiten angemessen, während das andere mehr und mehr verkümmerte. Dies unterschied ihn von den herkömmlichen Schnäppchenjägern. Er vermochte glasklar zwischen Recht und Unrecht zu unterschieden und noch wusste er, wann es Zeit war, sich zu schämen.

Am nächsten Tag holte ein Transporter die Möbel ab, und er ließ sie auf sein Gut nach Frankreich bringen.

Kapitel 3

Ich sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. In einer knappen Stunde begann die Testamentsverkündung und Thea war noch immer nicht so weit. Sie saß auf ihrem Bett und schmollte. Meine sechsjährige Tochter stellte meine Geduld heute auf eine harte Probe. Ich seufzte. Seit einigen Wochen gestaltete sich unser Alltag zu einem einzigen Kampf. Verhandlungen ums Zähneputzen, das Essen, Schlafengehen, die Ordnung und Pünktlichkeit. Selbst die Notwendigkeit des täglichen Schulbesuchs mussten wir diskutieren. Thea war der Ansicht, sie käme auch ohne Schule klar, weil sie Tänzerin werden wollte. Oder Kellnerin.

»Ich will hierbleiben! Heute ist Samstag«, presste sie hervor und drückte ihren Teddybär gegen die Brust. »Bring mich zu Papa!«, lautete ihre Option.

Tom verbrachte viel Zeit in der Redaktion und kam meist so spät nach Hause, dass Thea schon schlief. Aber heute hatte er sich den Nachmittag freigeschaufelt.

»Thea, bitte! Papa arbeitet – das weißt du doch. Jetzt geht es nicht. Und ich muss gleich weg, das habe ich dir doch erklärt. Heute bleibst du ein paar Stunden bei deiner Freundin, weil ich einen wichtigen Termin habe. Papa holt dich am Nachmittag bei Leonie ab. Versprochen.«

»Bei euch sind ein paar Stunden eine Ewigkeit. Bis zum Mond«, protestierte sie.

Ich setzte mich neben sie und gab ihr einen Kuss. Ihr weiches Haar duftete nach frischem Apfelshampoo. Warum riechen Kinder immer so herrlich? Aber so zart Thea auch war, sie konnte eine ungeheure mentale Kraft entwickeln, wenn es darum ging, ihren Willen durchzusetzen.

»Na ja, ein paar Stunden sind ein wenig mit Leonie spielen. Dann macht Beate Mittagessen. Und im Handumdrehen ist Papa da, und heute Abend essen wir alle zusammen. Bei Leonie gibt es ein cooles Trampolin.«

Thea kniff die Lippen zusammen.

»Du kapierst es nicht, Mama! Leonie ist blöd! Und Beate kocht nicht lecker.«

Lecker kochen bedeutete für Thea Spaghetti mit Tomatensoße und Käse. Daneben ließ sie bloß noch Nougatcreme und Südfrüchte gelten. Ich drückte mich um eine erneute Erklärung, stand auf und ging in Richtung Badezimmer, um mich zu schminken. Dem Anlass entsprechend trug ich ein schlichtes schwarzes Kostüm mit einem dünnen Seidenpulli. Die Haare hatte ich am Hinterkopf zusammengesteckt.

»Vor ein paar Wochen wolltest du noch mit Leonie zusammenziehen. In eine WG. In einer halben Stunde ist Abfahrt. Zur Not ohne Frühstück«, rief ich aus dem Bad.

»Dann verhungere ich eben!«, schrie Thea mit einem dramatischen Unterton.

Abgehetzt erreichte ich mit zehnminütiger Verspätung die Kanzlei. Thea hatte versucht, ihr Schmusekissen, zwei Teddys, einige Barbiepuppen und ihren Kinderlaptop in den Rucksack zu stopfen. Sie hatte damit gedroht, auszuziehen und uns nicht zu sagen, wohin. Als ich nicht reagierte, zog sie sich drei Mal um. Sie wollte absolut sicher sein, hübscher auszusehen als Leonie.

Ich war angespannt. Der Notar, Dr. Fischer, ein langjähriger Freund meines Großvaters, saß bereits hinter seinem antiken Schreibtisch. Der alte Herr hatte es sich nicht nehmen lassen, den letzten Willen seines Freundes zu verkünden, obwohl sein Sohn bereits seit Jahren die Kanzlei am Lorettoberg führte. Ich murmelte eine Entschuldigung und zog die Tür hinter mir zu.

Zwei Stühle links neben meiner Mutter saß ein fremder Mann.

Alexander sah vorwurfsvoll auf die Uhr. Dr. Fischer begrüßte mich reserviert: »Elisabeth, wie schön, dich zu sehen. Dann können wir ja beginnen.«

Kein Mensch nannte mich Elisabeth. Er machte eine einladende Handbewegung in Richtung der Stuhlreihe vor ihm. Auch Alexander und dessen Ehefrau Susanne hatten bereits Platz genommen. Meine Mutter musterte mich streng, war aber offensichtlich mit dem Ergebnis meiner um Pietät und Seriosität bemühten Garderobe zufrieden. Fragend warf ich meinem Bruder einen Blick zu und drehte mich leicht in Richtung des Unbekannten. Alexander hob nur die Brauen und senkte dann den Blick. Susanne rang sich ein Lächeln ab. Ich hätte schwören können, ihre Lippen zitterten. Ich setzte mich links neben Mama und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Wer ist das?«, flüsterte ich ihr dabei ins Ohr.

Sie zuckte andeutungsweise die Schultern, schlug die Beine übereinander und starrte auf den Notar. Vorsichtig begutachtete ich den Mann zu meiner Seite aus dem Augenwinkel. Er trug einen schlichten dunkelblauen Anzug, Hemd, Krawatte, passendes Schuhwerk. Für meinen Geschmack etwas zu konservativ. Er schien mir wie ein Fremdkörper in unserer Mitte. Dr. Fischer räusperte sich.

»Lassen Sie uns bitte beginnen. Ich begrüße alle hier Anwesenden zur Testamentseröffnung des Verstorbenen Dr. Bodo Kirchmann.«

Ein Sonnenstrahl fiel ins Zimmer, ließ die Staubpartikel, die in der Luft lagen, sichtbar werden. Fischer blinzelte. »Anwesend sind die Tochter des Verstorbenen Gisela Tanner, geborene Kirchmann, deren beide Kinder Elisabeth Tanner und Dr. Alexander Tanner nebst Ehefrau Susanne. Weiterhin erschienen ist die anwaltliche Vertretung von Ella Bloch und David Bloch, Herr Jürgen Meyer.«

Ich sah Mama verstohlen von der Seite an.

»Mama! Wer ist das?«

»Später«, lautete ihre schlichte Antwort.

»Ich verlese jetzt den letzten Willen meines Freundes Dr. Bodo Kirchmann, der am 19. September 1993 Folgendes verfügt hat: Zu meiner alleinigen befreiten Vorerbin bestimme ich meine Tochter Gisela Tanner unter folgenden Voraussetzungen. Mein gesamtes Erbe fällt nach dem Tod der befreiten Vorerbin an meine Urenkel Thomas und Luis Tanner sowie Theodora Tanner. Die Vorerbschaft wird nach dem Tod von Gisela Tanner zunächst an deren Kindern fortgesetzt. Zudem verfüge ich, dass meine Ehefrau Constanze sowie meine Tochter Gisela Tanner ein lebenslanges Wohnrecht in meinem Haus, Blütenweg 14 – 16, in Freiburg-Herdern, erhalten.«

Es lief genau wie erwartet. Alexander hatte uns diese Regelung bereits erklärt: Auf diese Weise wurde die Erbfolge streng eingehalten und der gesamte Besitz blieb in Familienhand. Die Firmenübernahme hatte Großpapa bereits zu Lebzeiten abgewickelt und Alexander die Führung übertragen.

Alexander und Susanne lehnten sich wie auf Absprache synchron zurück. Susanne hatte die Beine übereinandergeschlagen und begann, mit dem Fuß zu wippen.

»Mein Haus, Blütenweg 14 – 16, ist mit einem Nacherbenvermerk zugunsten meiner Urenkelin Theodora Tanner versehen.«

Ich stutzte. Meine Tochter erbte die Villa in Herdern, das Haus meiner Kindheit?

»Es ist eine alte Weisheit«, las Fischer weiter, »dass Frauen auch nach ihrer Verheiratung ihrer Ursprungsfamilie die Treue halten, weshalb ich die berechtigte Hoffnung hege, unser Zuhause möge in Familienbesitz verbleiben. Ich weiß, dass Theodora diesen Wunsch eines Tages respektiert und umsetzt.«

Fischer hielt inne und sah mich eindringlich an. Ich überlegte, wie Thea wohl als erwachsene Frau sein würde, aber mir fiel nur ihr Eigensinn ein, eine Eigenschaft, die Großvaters Diktat zu gegebener Zeit würde widerlegen können. Ich rutschte auf meinem Stuhl nach hinten und richtete mich auf.

»Als Ausgleich erhalten meine Urenkel Thomas und Luis Tanner mit Eintritt ihrer Volljährigkeit eine Einmalzahlung in Höhe von jeweils 843.000 Euro aus meiner im Januar 1991 gegründeten Stiftung. Die Summe ist bei der Deutschen Bank, Freiburg, in Form einer Staatsanleihe hinterlegt und wird zum Zeitpunkt der Auszahlung den angegebenen Wert erreicht haben.«