Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Die Poesie der Liebe - Bettina Storks - E-Book
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Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Die Poesie der Liebe E-Book

Bettina Storks

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Beschreibung

Eine Liebe zwischen Poesie und Wirklichkeit.

Paris, 1958: Als der Schweizer Dramatiker Max Frisch dem glamourösen Literaturstar Ingeborg Bachmann begegnet, ist es für ihn Liebe auf den ersten Blick. Auch sie verliebt sich, doch anders als Max, der bodenständige Genussmensch, ringt die sensible Ingeborg im Schreiben – wie im Leben – um jedes Wort. Und sie hat die Trennung von ihrem Geliebten Paul Celan noch nicht überwunden, was die Beziehung schon bald auf die Probe stellt. Doch Ingeborg kann nur eine Liebe leben, in der sie ihre Freiheit nicht preisgeben muss … 

Ein so bewegender wie hervorragend recherchierter Roman über die Liebe zweier Ikonen der Literatur.

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Seitenzahl: 461

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Über das Buch

1958: Max Frisch will unbedingt die Frau kennenlernen, deren literarisches Werk ihn so tief beeindruckt – Ingeborg Bachmann. Sie treffen sich in Paris, und für ihn ist es Liebe auf den ersten Blick. Es ist die Begegnung zweier Ikonen der Literatur: Der bodenständige Schweizer wird als Dramatiker international gefeiert; sie ist der schöne Lyrikstar der Gruppe 47 und gilt als bedeutendste Schriftstellerin der Stunde. Doch die sensible Ausnahmepoetin hat die Trennung von ihrem Geliebten Paul Celan noch nicht überwunden und will zudem nur eine Liebe leben, in der sie sich ihre Freiheit bewahrt – was Max schon bald rasend eifersüchtig macht. Zwischen München, Rom und der Schweiz beginnt ein Ringen um die Liebe – in der Literatur wie im Leben.

Über Bettina Storks

Bettina Storks, geboren bei Stuttgart, lebt und schreibt am Bodensee. Ingeborg Bachmann fasziniert sie seit Langem, schon an der Universität Freiburg promovierte sie über deren literarisches Werk. Nachdem zuletzt immer mehr Quellen über die Beziehung zwischen der Bachmann und Max Frisch zugänglich wurden, begann Bettina Storks diesen Roman über die außergewöhnliche Liebe dieser zwei schillernden Literaten zu schreiben.

Im Aufbau Taschenbuch liegt von ihr außerdem der Roman „Dora Maar und die zwei Gesichter der Liebe“ vor.

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Bettina Storks

Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Die Poesie der Liebe

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

PROLOG — München, Mai 1958

Liebesanflug — 1958-1959

INGEBORG: Kapitel 1 — Paris, Juli 1958

MAX: Kapitel 2 — Zürich, Juli 1958

INGEBORG: Kapitel 3 — Neapel, August 1958

INGEBORG: Kapitel 4

MAX: Kapitel 5 — La Spezia, September 1958

INGEBORG: Kapitel 6 — München, Oktober 1958

INGEBORG: Kapitel 7

Liebesflüge — 1959-1961

MAX: Kapitel 8 — Zürich, November 1958

MAX: Kapitel 9 — Zürich, Dezember 1958

MAX: Kapitel 10 — Bonn, März 1959

MAX: Kapitel 11

MAX: Kapitel 12

INGEBORG: Kapitel 13 — Uetikon, Mai 1959

INGEBORG: Kapitel 14 — Uetikon, Mai 1959

INGEBORG: Kapitel 15

MAX: Kapitel 16 — Zürich, Juni 1959

MAX: Kapitel 17 — Zürich, Juni 1959

INGEBORG: Kapitel 18

INGEBORG: Kapitel 19 — Rom, Juli 1959

INGEBORG: Kapitel 20

MAX: Kapitel 21 — Uetikon, Juli 1959

MAX: Kapitel 22 — Uetikon–Göschenen, Juli 1959

MAX: Kapitel 23 — Sils im Engadin, Juli 1959

MAX: Kapitel 24

MAX: Kapitel 25 — Uetikon, August 1959

INGEBORG: Kapitel 26 — Elmau, Oktober 1959

INGEBORG: Kapitel 27 — Uetikon, Oktober 1959

INGEBORG: Kapitel 28 — Uetikon, Oktober 1959

MAX: Kapitel 29 — Rom, Februar 1961

MAX: Kapitel 30 — Rom, Februar 1961

INGEBORG: Kapitel 31 — Rom, Frühjahr 1961

MAX: Kapitel 32 — Rom, Mai 1961

MAX: Kapitel 33 — Rom, Mai 1961

INGEBORG: Kapitel 34 — Rom, 1961

MAX: Kapitel 35 — Rom, 1961

MAX: Kapitel 36 — Rom, Herbst 1961

Sturzflug — 1962-1963

INGEBORG: Kapitel 37 — Rom, 1962

MAX: Kapitel 38 — Rom, Herbst 1962

INGEBORG: Kapitel 39 — München, Herbst 1962

Gebrochene Flügel — 1963-1964

INGEBORG: Kapitel 40 — Rom, Frühjahr 1963

INGEBORG: Kapitel 41 — Rom, Frühjahr 1963

INGEBORG: Kapitel 42 — Berlin, 1964

EPILOG — Berzona im Tessin, Oktober 1990

Nachwort der Autorin

Danke

Nachweis der Zitate

Bibliographie (eine Auswahl)

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

»Ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd, aus mir herausgefallen, wenn ich nicht schreibe.«

Ingeborg Bachmann

»Warum schreiben wir? Weil es schwer ist, das Leben auszuhalten, ohne sich auszudrücken.«

Max Frisch

PROLOG

München, Mai 1958

Vor der angelehnten Tür zum Hörsaal der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität atmet Ingeborg Bachmann einmal tief durch. Sie streicht über den Rock ihres italienischen Designerkostüms. An ihrem Arm baumelt eine Handtasche, in der Hand hält sie ihr Typoskript. Hektisch zündet sie sich eine letzte Zigarette an, nimmt drei Züge in Folge und erhascht durch den Spalt der Tür einen Blick in die Aula. Durch ihre Kurzsichtigkeit – und ihre hartnäckige Weigerung, eine Brille zu tragen – verschwimmt das Publikum zu einer diffusen dunklen Welle. Erneut inhaliert sie und bläst den Rauch zur Seite. Hat sie tatsächlich gerade einen überfüllten Hörsaal gesehen? Sie weiß, dass er tausend Leute fassen kann.

Wie schnell sie sich an den Erfolg gewöhnt hat.

Getuschel, das Rascheln von Kleidung.

Als der Gong das Cum Tempore verkündet, drückt sie ihre Zigarette aus, nimmt ihre Handtasche und betritt die Bühne.

Sie hat viele Jahre in Rom gelebt, und die Römerin beherrscht die Symphonie des Kleidungsstils von Kopf bis Fuß wie kaum eine andere Frau. Hier in Deutschland mag diese Eleganz als extravagant gelten, eine Einschätzung, die Ingeborg nur belächelt. Der Glamour gehört zu ihr wie die Legendenbildung der Presse über sie und ihr Privatleben.

Tosender Applaus setzt ein, als Ingeborg Bachmann über die Bühne geht. Sie steuert das Pult an, ihr Blick schweift über das Publikum. Sie registriert die Menschenmassen, erkennt jedoch nicht mehr als Umrisse von Köpfen, dicht an dicht. Ihr ständiges Augenzwinkern aufgrund ihrer Kurzsichtigkeit gehört zu ihren Auftritten wie ihre Bücher. Sie spürt die bewundernden Blicke auf sich ruhen, weiß, dass ihre stockende Rede das Publikum für die kommende Stunde in ihren Bann ziehen wird.

Am Pult sucht sie eine Ablagemöglichkeit. Wohin mit ihrer Handtasche? Sie spürt ihren Herzschlag, das leichte Zittern ihrer Hände. Eine Kleinigkeit wie die verzweifelte Suche nach einem freien Platz für ihr Accessoire vermag es, sie aus dem Konzept zu bringen.

Dann geschieht es: Die Blätter entgleiten ihr, die Handtasche fällt zu Boden, daraus kullern ein Schminkspiegel, Puder und Lippenstift über das Parkett.

Bevor sie sich bücken kann, stürzen ihr zwei Männer aus der ersten Reihe zu Hilfe, bemüht, das Chaos zu beseitigen und alles aufs Pult zu legen.

Sie bedankt sich mit einem Lächeln, stopft mit fahrigen Händen die Schminkutensilien zurück in die Handtasche, die sie dann auf den Boden neben sich stellt. Hektisch ordnet sie die Blätter. Sie hat vergessen, sie zu nummerieren, aber die Reihenfolge ihrer vorzutragenden Gedichte kann sie auswendig.

Sie tippt gegen das Mikrophon – ein schrilles Geräusch lässt sie zusammenzucken. Alle Augen sind jetzt auf sie gerichtet, dessen ist sie sich sicher.

Wie aus der Ferne hört sie die Ankündigung des Dekans, der neben sie tritt, einen Handkuss andeutet und dem Auditorium einen Überblick über das Werk der Bachmann gibt.

Ingeborg schnappt einige Worte auf, die zusammenhanglos in der Aula stehen.

Größte Lyrikerin ihrer Zeit. Preis der Gruppe 47. Spiegel-Bestseller. Literaturpreis der Hansestadt Bremen. Dramaturgin beim Bayerischen Rundfunk und seit mehreren Monaten Bürgerin unserer Stadt.

»Die Wortvirtuosin hat bereits ein großes Publikum erreicht. Heute hören wir Auszüge aus ihren Gedichtbänden Die gestundete Zeit und Anrufung des großen Bären. Lassen wir uns entführen in die magische Welt des Wortes.«

Nervös wartet sie, bis der Redner in der ersten Reihe Platz genommen hat und der Applaus langsam abebbt. Sie schließt die Augen, streicht über das Papier und blickt auf ihr Typoskript. Wo Buchstaben wie Hieroglyphen ins Papier gestanzt sind, fährt sie mit den Fingern über die Kerben, die sie hinterlassen haben. Gedanken an Nächte streifen sie, in denen sie geschrieben hat, manisch und voller Euphorie, bis die Sonne hinter dem Petersdom aufging. Selbst ein Blinder könnte auf diesen Seiten mit den Fingerkuppen jedes einzelne Wort entziffern.

Im Saal ist es still, die Luft wie elektrisiert. Der Hörsaal beginnt im gemeinsamen Takt zu atmen – ein Gedicht ist eine höchst musikalische Angelegenheit. Bis in ihre Haarspitzen glaubt sie die Anspannung des Publikums zu spüren. Oder ist es ihre eigene?

Die Worte schweben durch den Raum, und dennoch steht ein jedes für sich in der Sprachlandschaft ihrer Muttersprache. Jedes Mal, wenn Ingeborg ihre eigene Stimme hört, leise, zweifelnd, verhalten, als suche sie ihren Platz in der Welt, jedes Mal ist sie sich selbst dabei fremd und gleichermaßen vertraut. In diesem Spannungsfeld, das in ihrem Wesen begründet liegt, lebt sie, seit sie denken kann. Nur ihr souverän getakteter Rhythmus lässt ihr Selbstbewusstsein im Vortrag durchschimmern, ihr Zu-Hause-Sein in der Poesie. Ihre mädchenhaft hohe Stimme offenbart Anspannung, Nervosität. Aber sie weiß um die anziehende Wirkung ihrer Töne ebenso wie ihrer Gesten. Die dunklen Vokale, das Nebeneinander von Melancholie, Nüchternheit und Pathos – all das verleiht ihrer Intonation etwas Verletzliches und Offensives zugleich. Niemals lässt sie vergessen, dass sie ein Kriegskind ist.

Der Krieg wird nicht mehr erklärt …

Er wird verliehen

Vor der Flucht von den Fahnen

Für die Tapferkeit vor dem Freund

Ingeborg hält inne, sieht auf, den Blick in eine andere Welt gerichtet. Ihre Lider zucken. Das ist es, was ihre Welt bewegt, das ist es, was sie von sich zeigt.

Der Preis des Erfolgs bedeutet auch, sich geheimnisvoll zu geben, sich zu inszenieren und Fragen über ihre Person im Raum schweben zu lassen, das Spielen mit der Presse.

Nein, ich nehme keine Drogen, ich nehme Bücher zu mir.

Der Boden unter ihren Füßen mag schwanken, in der Sprache liegt ihr wahres Zuhause, ihr Fundament. Das Fragile gehört zu ihr, genau wie ihre italienische Hülle.

Niemand von den Zuhörern kann ihre Kraft auch nur erahnen, im Gegenteil: Männer wollen schützend den Arm um sie legen, sie stützen. Manche Frau im Publikum hingegen rollt die Augen über Bachmanns Auftreten: Mein Gott, hat sie dieses Mädchengehabe denn nötig?

Aber die Zeiten, da sie das »süße Wiener Mädel« gab, sind endgültig vorbei. Routiniert trägt sie, stets an der Grenze zum plötzlichen Abbruch, Gedicht um Gedicht vor, Zeile für Zeile.

Die Anwesenden lauschen gebannt.

Gegen Ende wird ihre verschattete Stimme lauter, klar, deutlich.

Manchmal erinnert sie sich nicht einmal mehr daran, wie ihr die Einfälle gekommen sind. Metaphern fliegen ihr zu wie Männer, hat ein Beobachter einmal behauptet. Das ist ihr Leben. Sie hat es genau so haben wollen. Eine eigenständige Frau, die von ihrer Kunst existieren kann und sich zuweilen zwei Wohnungen leistet, weil sie es will, auch wenn es ihren finanziellen Rahmen mehr als sprengt. Einen Überblick über ihre Einnahmen und Ausgaben hat sie selten. Geld ist ihr zu profan. Es interessiert sie nicht, dass ihre Taschen Löcher zu besitzen scheinen, sobald sie Münzen und Scheine hineinsteckt. Auf geheimnisvolle Weise verschwindet das Geld einfach so.

Was bedeutet schon ein leerer Kühlschrank gegen einen Palast voller Worte?

Leise, mit der Attitüde der Mahnung gegen das kollektive Vergessen verkündet sie die abschließende Strophe ihres Gedichts Früher Mittag.

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,

sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen.

Das letzte Wort verklingt.

Sie legt das Blatt aus der Hand und blickt über die vielen Köpfe hinweg.

Stille liegt über dem Hörsaal. Dann setzt frenetischer Applaus ein, und die Studierenden erheben sich von ihren Plätzen, klatschen begeistert, manche rufen: »Wundervoll!« – »Reine Poesie!«

Ein Strauß roter Rosen fliegt durch die Luft, landet auf der Bühne und rutscht bis vor das Pult.

Ingeborg Bachmann genießt es, gefeiert zu werden. Lächelnd wirft sie ihre Schüchternheit ab, tritt in die Mitte der Bühne und verneigt sich, in Gedanken längst wieder am Schreibtisch.

Gleich nach der Signierstunde macht sie sich auf den Heimweg.

Sie lässt das Siegestor hinter sich, durchquert den Leopoldpark und erreicht zehn Minuten später ihr provisorisches Zuhause in der Franz-Joseph-Straße. Dort stößt sie die Tür zu ihrer Wohnung auf, legt die Rosen auf die Anrichte und findet auf dem Boden im Flur einen einzelnen Brief, der ihr von ihrem Verlag weitergeleitet worden ist. Womöglich ist er in einem falschen Briefkasten gelandet, und die Aufwartefrau hat ihn durch den Schlitz unter der Tür durchgeschoben. Ein kleines Briefwunder.

Der Absender ist Max Frisch, Dramatiker und Romanautor.

Sie kennt Texte des gefeierten Schweizers, der es bereits zu internationalem Ruhm gebracht hat. Erst vor Kurzem hat er den Georg-Büchner-Preis erhalten, viel mehr Ruhm kann man in der deutschsprachigen Literatur kaum ernten. Sie hat seine letzten beiden Romane Stiller und Homo Faber gelesen. Aber sie gehört viel zu sehr zu seiner Zunft, um nicht gewarnt zu sein: Jemanden zu lesen ersetzt keine Begegnung. Dennoch hat Max Frisch in seinen Texten eine Fährte zu seinem Wesen gelegt, zu seiner Sensibilität, seiner Klarheit. Die gründliche Leserin Ingeborg Bachmann spürt, was ihn bewegt, welche Fragen er an sich und die Welt stellt. Und sie teilt sein leidenschaftliches Streben nach Ausdruck.

Genau wie er hat sie erfahren: Für die Öffentlichkeit zu schreiben birgt immer das Risiko, sich zu zeigen.

Wie hypnotisiert liest sie, mit dem Rücken zur Wand stehend, den Brief, in dem er ihr Werk lobt. Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan, das er im Radio gehört habe, sei ihm unter die Haut gegangen.

Verwirrt faltet sie das Blatt zusammen, zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug.

Im Gehen streift sie ihre Schuhe ab wie eine Prinzessin, die daran gewöhnt ist, dass unsichtbare Bedienstete hinter ihr herlaufen und Ordnung schaffen. Sie zieht ihre Kostümjacke aus und lässt sie zusammen mit der Handtasche zu Boden gleiten.

Auf dem Sessel, im schwachen Licht der Stehlampe, macht sie es sich mit einem Cognac bequem, zieht die Knie an die Brust und entfaltet das Papier noch einmal in der Hoffnung, es möge sein Geheimnis preisgeben, den tieferen Beweggrund für Frischs Kontaktaufnahme. Rauchschwaden ihrer Zigarette ziehen durch die Luft. Der Alkohol brennt im Hals, die Anspannung lässt nach. Sie, die Wortzauberin, ist an das Werben der Männer gewöhnt, an indiskrete Angebote aller Art, aber dies hier unterscheidet sich von anderen Annäherungen. Diskret, wertschätzend und doch persönlich. In Frischs wenigen Sätzen spürt sie Anerkennung, ehrliches Interesse, die Neugierde auf Austausch und – noch etwas anderes.

Ein Schriftsteller schreibt einer Schriftstellerin, sagt sie sich, prüft den Ton zwischen den Zeilen, die Haltung dahinter und schließt die Augen. Für sie zählt jedes Wort, wiegt schwer, und aus eigener Erfahrung weiß sie: Erzählstimme und Erzählhaltung sind zwei verschiedene Dinge. Wenn sie das Geheimnis der Sprache nicht enthüllen kann, wer dann?

Sie liest Max Frischs Brief immer wieder, und in den Zeilen schwingt eine sanfte Satzmelodie, ein Rhythmus, der sich von dem ihren gar nicht so sehr unterscheidet. Dann hat sie Gewissheit:

Ein Mann hat einer Frau geschrieben.

Liebesanflug

1958-1959

»Ich will, was noch niemals war. Kein Ende. Und zurückbleiben wird ein Bett, an dessen einem Ende die Eisberge stoßen und an dessen unterem Rand jemand Feuer legt.«

Ingeborg Bachmann

INGEBORG

Kapitel 1

Paris, Juli 1958

In festlicher Abendgarderobe betrat Ingeborg Bachmann das Pariser Café Châtelet. Sie trug hohe Schuhe von Bruno Magli, eine elegante schwarze Handtasche und auffällig globigen Modeschmuck.

Ein für Anfang Juli in Paris ungewöhnlich kühler Sommertag neigte sich dem Ende entgegen. Bis eben noch hatte es genieselt.

Ihre Verabredung mit Max Frisch war dem puren Zufall geschuldet. Ingeborg hatte jemanden in Paris treffen müssen und durch einen Zeitungsartikel von der Premiere von Frischs Drama Biedermann und die Brandstifter erfahren.

Diesmal hatte sie ihn kontaktiert.

Sofort hatte Max Frisch einem Treffen zugestimmt und vorgeschlagen, nach einem Aperitif gemeinsam die Vorstellung zu besuchen.

Aufgrund ihrer Kurzsichtigkeit konnte sie nur ahnen, dass er es sein musste, der ganz hinten in dem Café Pfeife rauchend an einem kleinen Bistrotisch saß. Immer noch weigerte sie sich, in der Öffentlichkeit eine Brille zu tragen. Langsam steuerte sie auf ihn zu.

Ein mittelgroßer, schlanker Mann zog an seiner Pfeife, den Kopf zur Seite geneigt. Zu Ingeborgs Überraschung trug er einen einfachen Anzug, weißes Hemd und Krawatte.

Ruckartig sah er auf, als habe er sie in diesem Moment bemerkt. Er erhob sich eilig und ging ihr entgegen.

Als er sich, einen Handkuss andeutend, nach vorn beugte, blickte sie auf sein dichtes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar, das er aus der Stirn gekämmt trug. Ihre Nase registrierte die holzige Note seines Rasierwassers, überdeckt von würzigem Pfeifentabak.

»Es freut mich, dass Sie gekommen sind. Darf ich Sie an meinen Tisch bitten?«, fragte er mit einem starken Schweizer Akzent. Seine Stimme klang warm, die Rede abgehackt und dennoch von einer eigensinnigen Melodie getragen. Er machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm in Richtung des Tischs in der Ecke.

Sie nahm ihm gegenüber Platz, zündete sich eine Zigarette an, und beide inhalierten Rauch, wobei Max Frisch immer wieder mit angehobenem Kinn an der Pfeife sog. Sein Blick hinter der dunkel gerahmten Brille war fast stechend, auf jeden Fall neugierig, freudig, erwartungsvoll. Nur, wenn er die Augen senkte, schlich sich ein Hauch von Zynismus in seinen Gesichtsausdruck, der, sobald er lächelte, verflog.

Sie bestellten Pastis.

Ihr Blick fiel auf die zwei Eintrittskarten für das Theaterstück Biedermann und die Brandstifter, die auf dem Tischchen lagen.

»Sie müssen sich das wirklich nicht ansehen«, sagte er, ihren Augen folgend, und schob die Karten zur Seite.

Verwundert runzelte sie die Stirn: War sie nicht deswegen hergekommen?

Sie tauschten einige Nichtigkeiten über die Stadt aus, das ungewöhnliche Wetter, Land und Leute. Ingeborg mochte derlei Plaudereien nicht besonders. Frisch hingegen beherrschte in der Konversation das Alphabet der Unverbindlichkeiten. Trotzdem war ihr, als schaue er nur allzu routiniert hinter die Fassade seines Gegenübers.

Er berichtete von seinem Leben in Zürich, der Arbeit, einer vor drei Jahren vollzogenen Trennung von seiner Ehefrau Trudy. Drei Kinder. Die Scheidung stehe unmittelbar bevor.

»Ein bürgerliches Leben zu führen fällt mir schwer. Immer dann, wenn alles eingefahren ist, komme ich ins Zweifeln«, sagte er fast entschuldigend. »Ich hoffe stets auf das Wunder des Neuen.«

Das Wunder des Neuen!

»Ich lebe in München und war viele Jahre in Rom«, erzählte sie stockend, stets auf der Hut, ihre Gedanken einzufangen und in passende Worte zu kleiden.

Gab es das? Zwei berühmte Schriftsteller, beide Ausländer in Paris, saßen im Niemandsland einander gegenüber und hatten keine Ahnung vom Leben des anderen? Was mochte hinter seiner hohen Stirn vorgehen?

Sie stießen an.

Die Begegnung schien ihr auf einmal leicht, so leicht, dass sich sogleich Misstrauen in ihre Gefühle mischte. Immer war da ein Zweifel an ihrer Wahrnehmung. In ihr flackerte die jüngste Erinnerung auf, das bleischwere Gepäck eines schmerzhaften Gesprächs, dessentwegen sie gestern nach Paris gereist war.

Der Abschied von ihrem Geliebten Paul Celan war eine Entscheidung der Vernunft gewesen, um Celans Ehe nicht länger zu gefährden. Und jetzt, gerade einmal einen Tag später, gab es diesen Mann, der ihr gegenübersaß, als sei der fast Fünfzigjährige völlig unverbraucht, offen für Neues, nichts ahnend von der Gefahr, die jede neue Begegnung zwischen Mann und Frau barg: Himmel und Hölle. Feuer und Wasser.

Inmitten des Chaos ihres Herzens registrierte sie Max Frischs intensive Blicke, diese lebendige Bereitschaft zum Aufbruch in seinen Augen, die hinter dicken Brillengläsern funkelten. Das Neue mochte in seinem Leben Aufbruch heißen, in dem ihren aber herrschten seit Monaten Beklemmung, Fragen, Ängste. Wie war das zu vermitteln? Sie suchte nach den richtigen Worten, den passenden, die nicht noch mehr Verwirrung stifteten.

»Wir beide sind berühmt, und doch wissen wir nichts über die Legenden, die uns vorauseilen.« Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette und leerte ihr Glas. »Das freut mich.«

»Ich kenne Ihre Texte, Ingeborg Bachmann. Aber das sagte ich bereits in meinem Brief. Sie haben mich tief beeindruckt. Wie Sie die Utopie der Liebe in Ihrem Werk beschwören! Es liegt sozusagen auf der Hand, dass Sie und ich Themen teilen, dass wir sprachlich eine ähnliche Suche betreiben, mit unterschiedlichem Werkzeug. Darf ich es so sagen?«

Was lag schon auf der Hand?

»Sie dürfen«, gab sie leise zurück. »Mein Hörspiel Der gute Gott von Manhattan hat Ihnen also gefallen.«

Max Frisch runzelte die Stirn. »Gefallen ist nicht der passende Ausdruck. Ihre Sprache hat mich geradezu elektrisiert.«

Der gute Gott von Manhattan – in dem Hörspiel ging es um zwei Liebende, die sich in einem Hotelzimmer mitten in New York von der Welt abschotteten, während der Gott der Liebenden über sie wachte.

»Wir kennen einander nicht, Max Frisch.«

Auch das gehörte zu ihrem Wesen. Mit einem Wortpfeil vermochte sie es, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Aber auch Frisch war ein Handwerker der Sprache, wenngleich in einem anderen Genre. Sie konnte verdichten, er Geschichten erzählen und dabei den großen Bogen von einem Wortfeld zum nächsten spannen.

»Ich hoffe, Sie kennenzulernen«, erwiderte er fast zärtlich. Sein Ton offenbarte Unerschrockenheit. »Ich will, was noch niemals war«, zitierte er Wort um Wort aus ihrem Hörspiel. »Kein Ende. Und zurückbleiben wird ein Bett, an dessen einem Ende die Eisberge stoßen und an dessen unterem Rand jemand Feuer legt.«

»Aus Ihrem Mund klingt das wie eine Warnung«, gab sie zurück.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wie eine Herausforderung.«

Nervös warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Das Theaterstück hatte vor einer halben Stunde begonnen, und dessen Schöpfer zeigte nicht die geringsten Anzeichen, aufstehen und gehen zu wollen. Im Gegenteil: In diesem Moment wurde der dritte Pastis serviert.

»Haben wir einen Logenplatz? Wir könnten uns immer noch nach der Pause hineinschleichen«, sagte sie und gab Wasser zu ihrem Pastis, der sich sogleich in eine milchige Flüssigkeit verwandelte.

Er sah ihr in die Augen.

Sie blinzelte, nahm einen Schluck von ihrem Getränk und drückte ihre Zigarette aus. »Es ist noch nicht zu spät.«

»Es ist zu spät oder zu früh, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt«, erwiderte er gelassen.

Ihr war, als stelle er in diesem Pariser Café einen Gegenentwurf, ein Paradies in Aussicht, eines, das beileibe nicht in einem Pariser Theater zu finden war.

Er hob die Brauen und führte mehrere Male nacheinander die Pfeife zum Mund, umschloss sie mit den Lippen und gab sie wieder frei. »Sie müssen sich das Stück wirklich nicht ansehen, Ingeborg!«, wiederholte er eindringlich. »Es wäre zu profan – gegen das hier. Das ist es, was ich sagen wollte.«

Er deutete auf die Umgebung, zerriss die Eintrittskarten und schlug ein Bein über das andere.

Sie blickten einander lange an, eine Spur zu lange für ein Treffen zweier nur am literarischen Austausch interessierten Schriftsteller.

Um sie herum hörte Ingeborg Bachmann das klappernde Geräusch von Geschirr. Stimmen überschnitten einander. Der mittlerweile vierte Pernod zeigte seine Wirkung.

Frisch, der von Glas zu Glas gelassener und von kindlicher Freude über das Jetzt und Hier schien, scheute sich nicht, hin und wieder ihre Hand zu berühren. Beim Feuergeben, beim Anstoßen. Die prickelnde Spannung zwischen Fremdheit und Intimität lag in der Luft.

Seine Beschwingtheit ergriff auch sie.

Sie war Spezialistin darin, die Gefühlslage ihres Gegenübers seismographisch zu erfassen, und sie verstand, dass er ein Meister der Situation war. Sie mochte die Art, wie er sprach, wie er sich bewegte, wie er ganz und gar seine Aufmerksamkeit auf sein Gegenüber fokussierte, als gäbe es für ihn nichts anderes.

Sie begriff, dass dieser Mann das Jetzt genießen konnte, federleicht in der Gegenwart lebte und einfach nur froh zu sein schien über das unverhoffte Glück des Zufalls, das Glück einer wahren Begegnung. Davon fühlte sie sich angezogen.

Aber gab es mit ihm genug Raum für die in Ingeborgs Wesen tief verankerten Zweifel, die Verwirrung, die vielen Fragen?

Inzwischen war es weit nach Mitternacht. Gäste waren gekommen und gegangen, aber die beiden Schriftsteller hatten nur Augen und Ohren füreinander. Der Patron fing an, die Stühle auf die leeren Tische zu stellen.

Das war ihr lange nicht mehr passiert, vielleicht noch nie, und genauso groß war ihr Staunen über das Gefühlschaos, das der Alkohol auf geheimnisvolle Weise entblößte. War es möglich, sich bei einem Fremden geborgen zu fühlen? War er kein Fremder, nur weil sie ihn gelesen hatte und er sie? Ihre Verwirrung wuchs und schwoll an, ebbte ab und zog sich zurück.

Aber sie ging nicht weg.

»Was hätte das gegeben, wenn wir ins Theater gegangen wären, Ingeborg«, sagte er plötzlich fröhlich. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir die Vorstellung geschwänzt haben.«

Aufmunternd lächelte er sie an, und sie lächelte zurück.

Irgendwann stand er auf, legte Geld auf den Tisch und rief dem Patron einen Abschiedsgruß zu. Er nahm ihre Hand, was sie schweigend geschehen ließ. Dann ging er mit ihr nach draußen in die kühle Abendluft, am Theater vorbei, wo nur noch wenige Fenster beleuchtet waren.

Mühelos fanden ihre Schritte einen gemeinsamen Takt, und sie spürte, wie er sein Jackett um ihre Schultern legte und seine Hand dort ruhen ließ.

»Es ist Schicksal«, sagte er, als habe er soeben einen Namen für das Geheimnis dieses Liebesanflugs gefunden.

Am Schicksal ließ sich nichts ändern. Man ergab sich und haderte nicht.

Vorsichtig zog er sie in Richtung eines Parks, wo sie auf einer Bank Platz nahmen.

Eine Laterne flackerte, als er sie zum ersten Mal küsste.

Sie blieben bis zum Sonnenaufgang in der Grünanlage La Tour Saint-Jacques, so lange, bis Paris erwachte. Die Vögel zwitscherten. Nur unmerklich stiegen die Temperaturen.

»Heute wird es wärmer«, sagte er zuversichtlich, einen Blick zum Himmel werfend. »Du wirst sehen. Wir bekommen einen guten Sommer.«

Seine Worte wärmten sie und zerstreuten für einen Augenblick ihre Zweifel.

Arm in Arm schlenderten sie Stunden später durch das erwachende Paris. Sie spürte einen Hauch von Freiheit in der fremden Stadt, die ihr bislang dunkel und traurig vorgekommen war, mit all den Erinnerungen an ihren Geliebten Paul, jenen Dichter, in dessen Leiden sie über Jahre gefangen gewesen war, dessen Zweifel und Empfindsamkeit sie immer noch teilte.

Max, dessen Gesicht keinerlei Spuren von Übernächtigung zeigte, hatte sich in sie verliebt, das spürte sie deutlich. Und sie? Was war mit ihr? Das Misstrauen gegen ihre eigenen Gefühle gehörte zu ihr wie das Geheimnis, das sie umgab. Gab es auch das – sich vorsätzlich verlieben?

Ein vorbeifahrendes Reinigungsfahrzeug durchbrach ihre Gedanken. Mit lautem Getöse befreite es die Straßen vom Schmutz der Nacht. Es roch nach Staub und Asphalt, nach Abgasen, ein Geruch, der sich mit dem zarten Blütenduft der Sträucher vermischte. In ihr erwachte eine neue Lebendigkeit, die sich hauchdünn über die Schatten der Vergangenheit legte. Konnte man Verliebtheit wachsen lassen? Sie war so anders als Max Frisch. Lag darin eine Chance? Sie fühlte Geborgenheit bei ihm, eine Art Verlässlichkeit, dass dieser Mann ihr stets an der nächsten Straßenecke einen Kaffee zu beschaffen wüsste, was immer ihm auch in die Quere kam.

Diese Vorstellung war beruhigend und erregend zugleich.

Sie legte den Kopf an seine Schulter und spürte seine warme Hand um ihren Arm.

Der Markt auf dem Gelände Les Halles hatte seine Pforten geöffnet. Stände mit Gemüse, Früchten, Fleisch und Käse wurden aufgebaut.

Vor einem Straßencafé setzten sie sich dicht nebeneinander. Dort verharrten sie wie zwei Übriggebliebene der Pariser Nacht: Ingeborg in ihrer Abendgarderobe, dem langen Kleid und hohen Schuhen, Max in einem zweckmäßigen Anzug, als habe er von Anfang an niemals vorgehabt, ein Theater zu betreten. Fröstelnd zog sie seine Jacke vor der Brust zusammen.

Gemeinsam genossen sie die kühle Frische des neuen Tages und staunten jeder für sich über das Wunder, das ihnen widerfahren war.

Max bestellte Kaffee und Croissants.

»Was für eine hinreißende Nacht! Wer kann schon von sich behaupten, mit der wunderbarsten Frau unserer Zeit eine Nacht auf einer Parkbank mitten in Paris verbracht zu haben? Ich bin ein Glückspilz.«

»Du neigst zur Übertreibung«, sagte sie scherzhaft, strich ihm über die Wange und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.

»Ich neige zur Verliebtheit«, gab er zurück und küsste ihre Stirn.

Sie registrierte einen Hauch von Melancholie in seiner Stimme. Da gab es also auch noch etwas anderes im Wesen dieses Mannes.

Durch die Wolken drangen nun die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Sie schloss die Augen und nahm den Geschmack stark gerösteter Kaffeebohnen in ihrem Mund wahr.

Als sie blinzelte, schob sich ein Bild vor ihre Augen: Aus den Hallen trat ein Metzger mit seiner blutigen Schürze und einem Schlachtmesser in der Hand vor die Tür und grinste zu ihnen herüber.

Instinktiv schrak sie zusammen, und sie fühlte auch Max’ Anspannung, der ebenfalls dorthin schaute.

Sanft, aber bestimmt zog er ihren Kopf an seine Schulter und legte seine Hand auf ihre Augen: »Sieh nicht hin. Einfach nicht hinsehen. Es hat nichts zu bedeuten.«

Ich will, was noch niemals war: kein Ende.

MAX

Kapitel 2

Zürich, Juli 1958

Max rang um Balance.

Diese neue Frau vom Format einer Ingeborg Bachmann stellte sein Leben auf den Kopf, sie verdrehte seine ganze Welt. Verwirrt hatten sie in Paris Abschied voneinander genommen, das Versprechen, dass es mit ihnen weiterging, lag in der Luft. Sie würde ihn in Zürich besuchen kommen, sobald sie Zeit fand, das hatte sie versprochen.

Seit seiner Rückkehr wartete er nun auf dieses zweite Treffen, auf ein Zeichen, auf einen Brief, der mehr mitteilte als den Status ihrer Arbeit.

Dann, endlich, drei Wochen nach Paris, kam das erlösende Telegramm:

»Lieber Max, komme morgen, 18.45 Uhr, Zürich, Hauptbahnhof. Augenküsse. Ingeborg«.

Augenküsse.

Er liebte ihre Wortschöpfungen.

Nach dieser Nachricht war er wie ein Gejagter durch seine Wohnung gelaufen, um alles Verräterische eines Junggesellenlebens verschwinden zu lassen: Raviolidosen, Ovomaltine und Instantkaffee. Das Bücherregal in der Stube des Bauernhauses, wo er lebte, hatte er bereits um einige Erzähler erweitert, die ein Autor seines Formats wohl kennen sollte. Obgleich er Germanistik studiert hatte, war er nie ein Vielleser gewesen. Er kaufte sogar eine Tischdecke, eine Blumenvase, hübsche Tassen und schließlich noch Cognacschwenker.

Zufrieden sah er sich in seiner aufgeräumten Wohnung um. Von jeher liebte er Ordnung. Struktur war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Als Architekt wäre er ohne jenen Ordnungssinn verloren gewesen.

Nach jedem Arbeitstag räumte er seinen Schreibtisch auf. Er spülte das wenige schmutzige Geschirr, wischte Staub, tat all jene Dinge, die in einem Haushalt getan werden mussten. Manch einer seiner Freunde belächelte ihn dafür und riet ihm zu einem Hausmädchen.

Bohnenkaffee, eine Kanne mit einem Porzellanfilter, Schweizer Schokolade, frisches Obst und eine gebundene Ausgabe von Wittgenstein, jenem Philosophen, von dem er wusste, dass Ingeborg ihn vergötterte, warteten einzig auf sie. Und ein zunehmend nervöser, aufgeregter Max.

Als Ingeborg ihm am Bahnhof in einem hellen, eng anliegenden Etuikleid entgegenkam, vergaß er alle Vorsicht und Zurückhaltung, die er sich vorgenommen hatte. Die vielen Menschen um sie herum verschwanden. Es gab nur sie. Das Prickeln einer Pariser Julinacht kehrte zurück, nichts Fremdes stellte sich zwischen sie, keine Unsicherheiten, als wären sie seit Jahren ein Paar.

Max war bis über beide Ohren verliebt. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der den Unterricht schwänzte, den Weg nach Hause nur mit Mühe fand und von Ingeborgs Präsenz betrunken wurde.

Wie ein Wunder erlebte er die nächsten Tage mit ihr in seiner Heimatstadt, eine intensive Zeit mit Nächten voller Begierde, Zärtlichkeit und Gespräche. Ihre Nähe versetzte ihn in einen Rausch. Er konnte sich nicht an ihr sattsehen, satthören. Mit derselben Hingabe, mit der sie Bücher schrieb, liebte sie auch – eine für Max völlig neue Liebeserfahrung.

Als der erste Rausch allmählich nachließ, schaltete sich Max’ Verstand ein. War nicht er der Bodenständige von ihnen beiden, der sich sogar im äußersten Zustand der Verliebtheit zu organisieren wissen müsste? Wie verliebt war sie? Gab es eine Maßeinheit in Sachen Verliebtheit? In seinem Ich hatte ein Kampf um den Wunsch nach Verschmelzung und dem nach Autonomie begonnen. Ingeborg wirkte zuweilen, wenn sie gemeinsam in Zürich unterwegs waren, das war ihm keineswegs entgangen, verstört, abwesend. Oft wich sie bei persönlichen Fragen aus. Nur in den Nächten war sie kompromisslos, ganz und gar präsent.

Auch das gehörte zu ihrem Zauber.

»Was bedrückt dich?«, fragte er bei einem gemeinsamen Spaziergang am Ufer des Zürichsees.

Ein strahlend schöner Hochsommertag lag hinter ihnen, sechs intensive Tage und Nächte – heute Abend würde sie weiter nach Neapel reisen, wo sie Arbeit erwartete. Und ein gewisser Hans Werner Henze, ein Komponist und alter Freund Ingeborgs, für dessen Opern sie Texte schrieb. Noch gelang es Max, seine aufkommende Eifersucht zu verdrängen.

Sie zuckte zusammen, ihre Augen flatterten.

»Es ist neu, Max«, sagte sie stockend. »Diese Stadt, deine Wohnung, du, ich. Ich muss mich in vielerlei Hinsicht einfinden, mich an die neue Situation gewöhnen. Auf Schritt und Tritt fühle ich mich beobachtet.«

»Von wem?«

Überrascht sah sie ihn an. »Spürst du das nicht? Jeder kennt dich in Zürich. Man beobachtet uns.«

Er warf einen Blick auf einige Passanten, die unbeeindruckt an ihnen vorbeischlenderten. Niemand blickte sie direkt an, und dennoch gab er ihr recht: Es würde nicht lange dauern, und ihre Beziehung würde in Zürich publik werden. Zürich war zu provinziell, als dass es seinen Lesern und der Presse entgehen konnte. Vor seinem inneren Auge sah er bereits die Schlagzeilen der Boulevardpresse: Neue Frau an der Seite von Max Frisch.

Seine Freunde hatten erst nach Jahren die Trennung von Trudy akzeptiert, eine Geliebte, die gefolgt war, gerade so hingenommen – und nun Ingeborg Bachmann! Die Diva der Literatur, die geheimnisvolle Ingeborg Bachmann! Er schämte sich für den engen Horizont seines Umfelds, den Ingeborg bereits wahrgenommen hatte, bevor auch nur eine Schlagzeile gedruckt worden war. Max wusste: Weniges war ihr so verhasst wie Spießigkeit.

Er schluckte, zog den Arm, den er um sie gelegt hatte, weg und lief weiter.

Im Tiefsten seines Inneren war auch er verunsichert, aber aus einem anderen Grund. Grundlegende Fragen quälten ihn vor ihrer Abreise, Fragen, die nur mit ihr zu tun hatten: Was fühlte sie? Wohin würde die gemeinsame Reise gehen? Gab es überhaupt ein Miteinander?

»Wie stehst du zu mir, Ingeborg?«

Die Frage war ihm einfach herausgerutscht.

Abrupt, über sich selbst erschrocken, blieb er stehen und suchte, ihr in die Augen zu sehen. Über dem Zürichsee kreisten Vögel, ein Schwanenpaar schaukelte auf den Wellen.

Ingeborg wich seinem Blick aus.

Er sah auf die unregelmäßig geschnittenen Strähnen ihres Ponys. Der Bubikopf verlieh ihr etwas Kesses, Mädchenhaftes. Dabei war sie zweiunddreißig Jahre alt. Er stellte sich vor, wie verführerisch weiblich sie mit längeren Haaren aussehen würde. Was für männliche Gedanken, schalt er sich. Sie kamen jenen derer nahe, die nach Auftritten der Literaturikone in der Presse über die Echtheit ihrer Haarfarbe spekulierten.

»Ich bin da«, sagte sie leise. »Wenn sich etwas zwischen uns ändern sollte, werde ich dir das sagen.«

Wieso Veränderungen? Die Frage war doch die nach dem Status quo: Was überhaupt machte sie zu einem Paar, auf welchem Fundament stand ihre Beziehung? Eine Pariser Parkbank-Nacht und sechs Zürich-Nächte waren es nicht, die Zweisamkeit entstehen ließen.

Ging es bei dem, was sie gesagt hatte, um das Thema der freien Liebe, eines, das in diesen gesellschaftlich prüden Zeiten die Künstlerszene längst infiziert hatte? Bloß keine Ketten anlegen! Treue war eine Illusion.

Niemand vermochte es wie sie, vage Hinweise zu streuen und eine Spur zu legen.

An einer Bank unter einer alten Trauerweide machten sie halt und setzten sich nebeneinander. Er reichte ihr Feuer, als sie nach einer Zigarette griff.

»Woran arbeitest du gerade?«, fragte er, während er seine Pfeife stopfte.

Er hatte nie verstanden, warum diese wunderschönen Bäume Trauerweiden hießen. Die Bezeichnung Engelshaar kam den feinen, herabhängenden Verzweigungen viel näher. Engelshaarweiden.

Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Max mit einer Partnerin über seine Arbeit sprechen. Hier gab es Schnittmengen, tiefes Interesse daran, was der andere tat.

»An Erzählungen. Gleichzeitig sammle ich Material für einen Romanzyklus, den ich Klaus Piper schon lange angekündigt habe. Alles, was von der Romangeschichte übrig bleibt, findet in den Erzählungen Platz.«

Ja, das konnte er nachvollziehen. Er war gerade mit seinem neuen Theaterstück Andorra befasst. Ein Stück über die Macht der Vorurteile und die Klischees von Kleinbürgern, die in einem fiktiven Staat namens Andorra dabei zusehen, wie ein Jude vor ihren Augen hingerichtet wird. Am Ende des Stücks jedoch müssen alle Beteiligten feststellen, dass André gar kein Jude war. Was für eine folgenschwere Verwechslung! Die Parallelen zur antisemitischen Haltung der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs waren gewollt. Gleichzeitig hatte er angefangen, Material zu einem Romanprojekt zu sammeln, das sich zunehmend konkretisierte. Wie elektrisierend war der Gedanke, sich darüber in Zukunft auszutauschen.

»Wenn ich Andorra abgeschlossen habe, werde ich mich ganz und gar einem neuen Roman widmen.«

Fragend sah sie ihn an und nahm einen Zug an ihrer Zigarette.

»Du bist mir zwei Romane voraus«, sagte sie lächelnd, blies den Rauch aus und legte den Kopf in den Nacken. »Und ein Tagebuch.«

»… was zum unpersönlichsten meiner Bücher gehört. Und ich würde kein einziges Gedicht schreiben können«, gab er zurück.

Er sog mehrmals kurz an seiner Pfeife und wippte mit dem freischwingenden Bein.

»Ein Roman also …«, sagte sie, als folge sie seiner Fährte.

»Stell dir einen Mann vor, der sich blind stellt. Er lebt, liebt, bewegt sich wie ein Blinder durch die Welt, und doch ist er sehend. Jeder Außenstehende identifiziert ihn dank einer Blindenbrille und einer Armbinde als blind.«

»Das ist geradezu anmaßend«, sagte sie, und ihre Stimme offenbarte eine Mischung aus Bewunderung und Abwehr.

»Das ist es, nicht wahr?«

In ihm erwachte eine alte Freude an der Provokation. Ja, im Gespräch über seine Arbeit gewann er durchaus Boden unter den Füßen. Zumindest dann war er seiner Verliebtheit nicht völlig ausgeliefert. Lächelnd nahm er ihre Hand und küsste sie. »Die Gesellschaft ist anmaßend, Ingeborg! Die Umgebung meines Helden wird sich unbeobachtet fühlen. Wenn er zu seiner Geliebten spricht, kann sie die Augen rollen oder ein Buch lesen. Er sieht ja nicht, was sie tut, wie sie sich in seiner Gegenwart langweilt. Allein in den Nächten sind beide blind.«

»Er macht ihr etwas vor«, sagte sie bestimmt.

»Und sie? Welches Spiel spielt denn sie, wenn sie ihm Interesse vorgaukelt?«

»Er lügt.«

Max schüttelte den Kopf. »Er macht sich am Ende nur selbst etwas vor. Sein Plan wird auffliegen. Am Schluss steht er nackt vor der Welt.«

Max stand auf und reichte ihr seine Hand.

»Du machst es dir leicht, Max«, sagte sie und legte ihre Hand in seine.

Er zog sie hinauf und küsste sie auf die Stirn. Schweigend gingen sie weiter.

Er machte es sich leicht? Zum ersten Mal in seinem Leben nahm er die größte Gefahr auf sich, die er sich nur denken konnte. Kein Liebesabenteuer, sondern einen Flug wie Ikarus, ohne Sicherheitsnetz, ein Sturzflug im freien Fall. In Bezug auf Ingeborg war Max ein Blinder, der sich sehend stellte.

»Nein«, sagte er nach einer langen Pause. »Ich möchte, dass wir uns nichts vormachen. Ich bin blind und doch sehend in deiner Gegenwart. Eine sehr besondere Erfahrung der Liebe.«

Sie tat einen tiefen Seufzer und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Du ahnst nicht, wie schwer ich es mir mache. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben«, sagte er.

»Ich weiß, dass du weißt, wie schwer dieses ganze Feld der Liebe für mich ist. Etwas völlig Neues«, erwiderte sie.

Innerlich lachte er über sich selbst: Sie war die Mehrdeutige von ihnen beiden. Da konnte er nicht mithalten und wollte es auch nicht. Er schätzte klare Sätze. Subjekt. Prädikat. Objekt. Ein Mann liebt eine Frau.

Am späten Abend begleitete er Ingeborg zum Bahnhof. Ihr Zug nach Neapel wartete bereits, wo sie Hans Werner Henze, diesen in Max’ Augen Weder-Fisch-noch-Fleisch-Mann, treffen würde. Schon beim Gedanken daran zog es ihm die Magenwände zusammen. Auch wenn es von Henze hieß, er liebe nur Männer. Zweifel blieben, und Max’ Dämon, die Eifersucht, seine größte Schwäche, regte sich. Unvorstellbar für ihn, dass ein Mann ihrer Aura nicht erliegen und dabei alle Neigungen über Bord werfen könnte.

Selbst Trudy hatte vor Tagen zu ihm gesagt, er solle es sich mit seiner schrecklichen Eifersucht nicht verderben. Diese Frau werde die Freiheit wie die Luft zum Atmen brauchen. »Lerne von ihr!«

Ja, Trudy kannte ihn gut, dachte er und nahm sich vor, an sich zu arbeiten.

Als er sein Heim erreichte, stach ihm auf dem Küchentisch ein aufgeschlagenes Buch ins Auge. Ingeborgs Hörspiel Der gute Gott von Manhattan. Sie musste es dorthin gelegt haben. Eine verschlüsselte Botschaft für ihn. Einen Absatz hatte sie mit einer dünnen Bleistiftlinie markiert:

Bei dir sein möchte ich bis ans Ende aller Tage und auf den Grund dieses Abgrundes kommen, in den ich stürze mit dir. Und eine Revolte gegen das Ende der Liebe in jedem Augenblick und bis zum Ende.

Keine Frage: Mit ihr befand er sich im Land der Mehrdeutigkeiten. Vorsichtig klappte er das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Er fühlte sich unendlich privilegiert, von einer solchen Wortschöpferin geliebt zu werden.

In sein Tagebuch schrieb er: »Ein Mann liebt eine Dichterin, die größte dieser Zeiten.« So einfach war das: Subjekt. Prädikat. Objekt. Adverbiale Ergänzung.

Mitten in der Nacht klingelte sein Telefon. Schlaftrunken ging er in die Stube und tastete nach dem Hörer.

»Wir können alles umdenken«, flüsterte sie.

Sie klang so nah, als säße sie neben ihm.

»Du bist in Neapel angekommen«, stammelte er und knipste die Lampe an. Vier Uhr morgens. Er sammelte sich. »Es ist der Vorzug der Verliebtheit, die Welt umzudenken.«

»Der Vorzug der Liebe«, korrigierte sie.

Am anderen Ende der Leitung vernahm er das Geräusch eines Korkens, der aus der Flasche ploppte. »Ich trinke noch ein Glas Wein mit dir, Max. Dann werde ich schlafen gehen und von dir träumen.«

Max griff nach der Flasche Wein, die auf dem Tisch stand, schenkte ein Glas voll und ließ sich in den Ohrensessel fallen.

»Wo bist du genau?«, fragte sein Alter Ego, der eifersüchtige Mann.

»In einer kleinen Pension«, gab sie zurück. »Ich bin zum Umfallen müde.«

»Geh schlafen.«

Für einen Augenblick sah er sich von außen: ein Mann im gestreiften Pyjama, hellwach, ohne seine Brille blinzelnd und blind wie eine Eule, liebestrunken von ihrer Stimme. Er war ein Tor, ein Trottel, ein Narr.

Sie sagte ihm alles, was sie ihm in Zürich verschwiegen hatte, erklärte hilflos den Grund ihrer Rückzüge, sprach von Anvertrauen und Unsicherheit, von einem großen Sprung, dem größten überhaupt in ihrem Leben.

»Sei geduldig mit mir«, bat sie.

Geduld – was war das? Wollte eine junge Liebe, egal wie alt man war, nicht alles jetzt, sofort und hier?

Max seufzte und leerte sein Glas in einem Zug. »Du bist eine völlig neue Erfahrung für mich. Wäre das mit uns ein Roman, würde ich mir die Geschichte dazu suchen. Sie würde die Zeit und den Raum überwinden.«

»Ich möchte nicht literarisiert werden«, sagte sie und gähnte.

»Das ist etwas anderes, Inge. Du und alles, was zwischen uns geschieht, bleibt von meinen Geschichten unberührt. Meine Erfahrungen vermag ich nicht auszulöschen. Der Narr werde ich sein.«

Ein Mann macht eine Erfahrung. Jetzt sucht er die Geschichte zu seiner Erfahrung.

»Wir werden das erste Paar sein«, sagte sie zum Abschied.

Sehnsuchtsvoll legte er den Hörer auf.

Am nächsten Morgen, pünktlich um acht, saß er nach dem Frühstück an seiner Schreibmaschine. Stift, Papier und Notizbuch lagen bereit. Er warf einen Blick zum Fenster seines Arbeitszimmers hinaus. Von dem vielen Nikotin hatte sich auf den Scheiben ein grauer Film gebildet. Er würde Trudy bitten, die Zugehfrau herzuschicken, um die Fenster zu putzen. Er notierte es auf seinem Tagesplan, genau wie die Einkaufsliste: Ovomaltine. Ravioli in Dosen. Instantkaffee.

Er grinste.

Voller Energie, inspiriert von einer Nähe, die selbst über tausend Kilometer Entfernung in der Luft lag, begann er zu schreiben.

»Ich stelle mir vor: Ein Mann steigt in den Zug nach Neapel an einem späten Sommerabend, die Sonne ist untergegangen. Er nimmt den Schlafwagen, um ausgeruht bei der Geliebten anzukommen. Nach ein paar Gläsern Wein legt er sich auf die Pritsche, die Decke frisch bezogen, weißer als weiß, unschuldig, der Zauber des Neuen. Das Geratter der Räder auf den Gleisen schaukelt ihn in den Schlaf. Kurz vor seinem Zielort erwacht er und verbringt nach einer sorgfältigen Morgentoilette die letzten Kilometer am geöffneten Fenster. Warmer Wind aus dem Süden bläst ihm ins Gesicht. Der Zug tuckert durch die weiten Ebenen der Campagna Felix, der glücklichen Landschaft. In der Ferne, Richtung Meer, erhebt sich die Gebirgskette der Apenninen bis auf eine Höhe von 2000 Metern, der die Amalfiküste ihre Steilhänge verdankt.

Dann der Vesuv: mächtig, verwegen und bereit zum Ausbruch, bewacht er sein Reich. Lange vor dem Bahnhof bremst der Zug ab, bis er auf den letzten Metern ganz zum Stehen kommt. Der liebestrunkene Mann taumelt zum Hafen hinunter, um seine Sehnsucht voll auszukosten, bis zum letzten Tropfen wird er die bittersüße Flüssigkeit trinken, in kleinen Schlucken. Bald wird er sie sehen! Das gleißende Licht des Südens, die Gerüche vom Meer, der umtriebige Hafen, wo Fischkutter einfahren und anlegen. Italienische Lieder und braun gebrannte Gesichter – das pralle Jetzt. Dann, zu einer passablen Zeit und nach einem heißen zuckersüßen Espresso, bricht er auf (er weiß inzwischen, wie lange sie schläft), kauft an einem Stand Blumen und läutet an ihrer Tür, mit leerem Kopf, sprachlos, voller unaussprechlicher Wünsche. Es gibt nur Gegenwart und sie.«

Wo sie ist, beginnt der Wahn.

Zufrieden zog Max das Blatt aus der Schreibmaschine. Wie verführerisch war das noch Fremde zwischen zwei Liebenden, das der erste Kuss aufwirbelte. Nur nicht die Neugierde verlieren! Allzu viel Vertrautes entblößte das Geheimnis eines Menschen. Doch es galt, es zu wahren, sonst drohte Langeweile, Routine, Tod der Liebe.

Was für eine wunderbare Zeit lag vor ihnen.

Ja, sie würden einander neu erfinden, als Mann und Frau, als Schriftsteller und Schriftstellerin.

Sie würden das erste Paar sein.

INGEBORG

Kapitel 3

Neapel, August 1958

Die Hitze des Hochsommers flirrte über der Metropole Neapel. Bei diesen Temperaturen wurden kleinste alltägliche Handlungen zur Tortur. Im italienischen Ferienmonat August blieben die Neapolitaner tagsüber bei geschlossenen Fensterläden in ihren Wohnungen und wagten sich erst in der Dämmerung hinaus ins Freie.

Ingeborg war von ihrem ersten Besuch bei Max direkt hierhergefahren, weil ihr Freund Hans Werner Henze sie mit Arbeit erwartete. Die Zeit in Zürich war wunderschön gewesen, obwohl sie mit der Stadt nicht warm geworden war. Dort herrschte eine ähnliche Behäbigkeit wie in München. Jeder kannte Max Frisch, und Ingeborg hatte die gemeinsame Zeit in der Öffentlichkeit wie auf einem Präsentierteller erlebt. Nur in seiner Wohnung am Zürichsee waren sie frei gewesen – und in den Nächten. Sie war mehr oder weniger überstürzt aus Zürich abgereist und hatte Max um Verständnis gebeten, dass für sie alles noch so frisch war.

Neapel und ihre Arbeit würden sie eine Weile vom Chaos ihres Gefühlslebens ablenken.

»Nun bin ich richtig angekommen in meinem gelobten Land, lieber Max, wo mich Arbeit erwartet. Arbeit. Arbeit. Sie allein vermag mich zusammenzuhalten in diesen turbulenten Zeiten, die Deine Ankunft in meinem Leben heraufbeschwören. Es war so schön, Deine Stimme in der Nacht zu hören. Nichts mehr steht an seinem Platz, alles noch so neu, so anders. Gib mir Zeit. Sei geduldig mit mir und meinem Herzen …«

Der angefangene Brief an Max lag auf ihrem Schreibtisch. Zigaretten, Feuer, ein überquellender Aschenbecher neben Noten und Versen für das Libretto zu Henzes neuer Oper Der Prinz von Homburg. Abgeschickt hatte sie ihn nicht und Max stattdessen eine Grußkarte vom Hafen Neapels zukommen lassen.

Ein Libretto für Henze zu schreiben war ihr eine willkommene Rückkehr zur Lyrik gewesen, da sie als Autorin endgültig aufgehört hatte, Gedichte zu schreiben. Als Umzug im Kopf bezeichnete sie ihren Wechsel von der Lyrik zur Prosa – ganz vollzogen war er nicht, und ein Abschied auf Raten hatte eingesetzt. Zum ersten Mal in ihrem Leben tüftelte sie nun an ihrem Erzählband.

Henze und sie hatten über mehrere Tage intensiv gearbeitet. Sie waren daran gewöhnt, aber eine Routine in ihrer Arbeit stellte sich immer erst dann ein, wenn Inge ein gewisses seelisches Gleichgewicht gefunden hatte. Tagsüber verschwanden sie in verschiedenen Zimmern von Henzes angemieteter Wohnung, die ausgesprochen herrschaftlich war. Vor dem Abendessen fügten sie dann die Ergebnisse ihres Tagwerks zusammen. Über die Jahre hatten sie gelernt, einander blind zu vertrauen – jeder kannte die Schwächen und Stärken des anderen, und in ihrer Inspiration befruchteten sie einander. Normalerweise übernachtete Ingeborg bei solchen Arbeitsbesuchen auch in Henzes Wohnung in Neapel. Diesmal jedoch hatte sie sich in einer Pension eingemietet.

Hans wusste nur allzu gut: Dass sie sich wohlfühlte, war die Voraussetzung für ihr konzentriertes Arbeiten; nur allzu leicht kippte bei der geringsten Störung ihre Inspiration in eine Arbeitsblockade, die ungeahnte Ausmaße erreichen konnte. Schon allein deswegen war er darauf bedacht, dass Ingeborgs Umfeld, wenn sie bei ihm war, ein Höchstmaß an Komfort und Geborgenheit bot. Und so hatte er ihren Wunsch nach Distanz zähneknirschend hingenommen, verstanden hatte er ihn nicht. Die Spannung zwischen ihnen lag in der Luft, klärende Worte waren nötig.

Vor einem Jahr war es zwischen ihnen zu einer Aussprache zum Status ihrer Beziehung gekommen. Nachdem sie zwei Jahre wie Bruder und Schwester in Neapel zusammengelebt hatten, erwogen sie in einer sternenklaren Nacht eine Heirat. Inge fragte sich danach lange, was eine solche Übereinkunft zwischen ihnen für ihr Leben als Frau bedeutete. Hans liebte ausschließlich Männer. Am Ende war sie es gewesen, die sich dagegen entschied. Eine Ehe bedeutete mehr als das Teilen von Tisch und Inspiration.

Dennoch hatte sie ihre eigentümliche Freundschaft stets wie eine intensive Liebesbeziehung erlebt, bloß ohne Körperlichkeit. Sie platonisch zu nennen kam beiden nie in den Sinn. Es war einfach, wie es war: Hans hatte seine Liebhaber, Ingeborg war ebenfalls frei. Doch mit Max Frisch änderte sich das nun. Das fragile Gleichgewicht zwischen ihr und Hans, der im Moment ohne Partner war, drohte zu kippen. Sie hatte dem Freund nichts von ihrer neuen Liebe erzählt, vor allem ihrer eigenen Zweifel wegen, nur, dass sie Frisch in Paris zu einer Premiere seines Theaterstücks begegnet war. Seitdem beobachtete Hans sie noch genauer, studierte jedes ihrer unverfänglichen Worte, bemüht, aus ihren Gesten Widersprüchliches zu lesen.

Der Höhepunkt eines jeden gemeinsamen Arbeitstages kam nach dem Essen. Hans schritt dann bedeutungsvoll hinüber zum Schallplattenspieler, Ingeborg machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Die Musik war ihrer beider Leidenschaft. Auch heute Abend lauschten sie der glasklaren Stimme von Maria Callas – Bachmanns Lieblingssopranistin. Hans las nebenbei eine Partitur, deutete stumm auf einige Stellen und zeigte sie ihr mit hochgezogenen Augenbrauen.

Inge nahm sich eine Zigarette, und sogleich reichte er ihr Feuer mit seiner eigenen. Dabei hielt er ihre Hand, umschloss und streichelte sie, während sie inhalierte. Dass Hans mit kleinen Gesten eine prickelnde, aber stets folgenlose Erotik zwischen ihnen schaffen konnte, hatte sie im Laufe der Jahre zu akzeptieren gelernt.

»Es gibt eine Art von Musik, die kann ich bestenfalls studieren, nicht hören«, durchbrach er ihre Gedanken.

Aber auch Ingeborg vermochte es, Partituren zu lesen wie andere Leute Romane. Wobei die Stimme der Callas eine Welt für sich war.

Wehmütig dachte sie an Max, der in der Schweiz zurückgeblieben war: Mit ihm würde sie niemals eine Callas-Arie hören können. Mit ihm zu sein bedeutete, Berge zu erwandern, kühlen Weißwein in der Abendsonne zu genießen, in gedämpften, milden Augenblicken zu verweilen: ihren Kopf an seine Schulter legen und – geborgen sein. Hier in Neapel mit Hans Werner Henze gehörte das Opernhören zum schönsten Ausklang eines arbeitsreichen Tages, ein Ritual der »Königskinder«, wie sie sich manchmal bezeichneten. Nur mit ihm konnte sie diese Welt teilen. Mit Paul Celan war es die Sprache gewesen, eine Sprache in Vollendung. Was teilte sie mit Max? Er war ein hochtalentierter Dramatiker, und ganz sicher verbanden sie literarische Themen, Sätze, Worte, aber wenn sie an ihn dachte, schwang immer eine gewisse Bodenständigkeit mit. Ein Haus, ein Garten, ein Versprechen, eine Kinderschaukel?

»Mit welcher Leichtigkeit sie das hohe C trifft«, flüsterte Hans und holte Ingeborg zurück ins Jetzt. »Ich höre diese Arie so oft, und jedes Mal bewundere ich die Klarheit ihrer Stimme. Sie ist eine wahre Künstlerin.«

»Sie ist die einzige, die jemals legitim eine Bühne betreten hat. Maria Callas lebt auf einer Rasierklinge«, erwiderte Ingeborg.

Sie schloss die Augen – galt das auch für sie? Das Bild schien ihr treffend für ihr bisheriges Liebesleben. Würde Max die Gefahren, die in ihrem Wesen verborgen lagen, entschärfen können?

Maria Callas setzte zur letzten Koloratur ihrer Norma an. Leise aus dem Hintergrund kam die Unterstützung des Chors. Die Töne schwollen an und erfüllten den ganzen Raum. Dann eine Stille, die es immer nur vor dem tosenden Applaus gab, als müssten sich die Operngäste sammeln und zurück ins Jetzt finden. Lautes Klatschen setzte ein, durchbrochen von Zurufen: »Bravissimo! Bravissimo!«

Als gehöre es zur Inszenierung, klingelte plötzlich auf der Anrichte neben dem Klavier das Telefon.

Hans und Ingeborg sahen einander überrascht an. Er stand auf, ging zum Telefon, nahm den Hörer ab und sah sie dabei eindringlich an. Er sprach keinen Ton, während sein Gesprächspartner redete. Eine männliche Stimme.

Für einen Augenblick glaubte sie, ihr Herzschlag setze aus.

Hans reichte ihr mit ernster Miene den Hörer. »Für dich.«

Verwirrt stand sie auf, nahm den Hörer entgegen und legte ihn sich ans Ohr.

»Ich habe Sehnsucht nach dir«, hörte sie die Stimme von Max. »Du bist viel zu lange fort, Inge. Morgen früh bin ich in Neapel.«

»Wo bist du?«, fragte sie und drehte sich verschämt zur Seite. Aus dem Augenwinkel registrierte sie Hans, der in seinem unvergleichlich aufrechten Gang hinaus in den Flur verschwand. Er besaß ein natürliches Gefühl für Diskretion.

Sie hörte das Knarren des Holzbodens. Dann fiel eine Tür ins Schloss.

»Am Bahnhof von Florenz.«

»Am Bahnhof von …«, stammelte sie. »Ach Max. Lieber Max!«

In ihr breitete sich eine Welle der Sehnsucht aus, gefolgt von panischer Angst, Max und Hans könnten hier in Neapel aufeinandertreffen. Niemals würden die beiden Männer einander verstehen. Sie starrte hinüber zum Plattenspieler, vor dem die Plattenhülle mit Maria Callas’ ausdrucksvollem Gesicht stand. Auf ihren Oberlidern war ein langer dunkler Lidstrich gezogen. Der Schwung verlieh ihren Augen etwas Katzenhaftes. Ihr breiter Mund deutete ein Lächeln an.

Casta Diva. Keusche Göttin.

»Bleib, wo du bist, Max«, sagte Ingeborg schnell. »Ich fahre dir gleich morgen früh entgegen. Warst du schon einmal in La Spezia?«

Es war die erste Stadt am Meer, die ihr einfiel. Hauptsache weit genug entfernt von Neapel, weit weg von ihrem Leben hier. Sie wollte am Meer sein – mit ihm. Er durfte nicht herkommen.

»Ja«, sagte Max nach einem Zögern. »Aber ich könnte doch …«, unternahm er einen neuen Anlauf. »Ich war noch nie in Neapel, Inge!«

Der letzte Satz klang nach einem der Themen, die sie schon von ihm kannte: Du schließt mich aus. Ich möchte nicht ausgeschlossen werden. Lass mich teilhaben!

»Ein anderes Mal, Max. Ich komme nach Florenz. Wir treffen uns dort am Bahnhof und fahren dann weiter. Ich brauche nur drei Stunden mit dem Zug. Soll ich den ersten nehmen? Er geht um acht. Weißt du was, Max? Ich nehme einfach den ersten, was denkst du?«, sagte sie eilig, während sie ihren Herzschlag vernahm.

Ihre Hände zitterten.

»Ich warte zur Not die ganze Nacht in der Bahnhofshalle auf dich«, sagte er leise, eine Spur resigniert.

»Nicht doch. Du solltest ausgeschlafen sein«, sagte sie zärtlich und lachte dann.

»Nun habe ich dich wenigstens noch zum Lachen gebracht.«

Sie verabschiedeten sich. Nachdenklich legte sie den Hörer auf und rieb sich die Stirn.

Vom Flur aus konnte sie sehen, wie durch eine Ritze am unteren Rand von Hans’ Schlafzimmertür Licht schimmerte. Sie lauschte an der Tür, legte ihre Fingerspitzen gegen das glatte Mahagoniholz, strich sanft über eine Erhebung und trat so nahe daran, dass ihre Lippen die Fläche berührten.

»Ich muss los«, sagte sie leise und machte sich auf den Weg.

INGEBORG

Kapitel 4

Auf der Straße empfing Ingeborg das abendliche Neapel, das langsam zum Leben erwachte. Sie warf einen letzten Blick hinauf zu Hans’ Wohnung. Das Licht war gelöscht.