Die Kinder von Beauvallon - Bettina Storks - E-Book
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Die Kinder von Beauvallon E-Book

Bettina Storks

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Beschreibung

Akribisch recherchiert und packend erzählt: Ein historischer Roman, der auf wahren Begebenheiten beruht. Über den Mut zum Widerstand und die Rettung vieler jüdischer Kinder, die in der Schule Beauvallon in den 1940er-Jahren überlebten.

Dieulefit, 1965: Im Auftrag ihres Freiburger Radiosenders reist die Moderatorin Agnes in einen kleinen französischen Ort, wo im Zweiten Weltkrieg mehr als tausend Flüchtlinge Schutz fanden. Darunter viele jüdische Kinder, die in der Schule Beauvallon von den mutigen Dorfbewohnern versteckt wurden. Könnte auch Agnes’ Freundin Lily überlebt haben, von der seit zwanzig Jahren jede Spur fehlt? Welche Antworten hat ein damals ranghoher Résistance-Offizier? Agnes’ Recherche wird zu einer aufwühlenden Reise in die Vergangenheit, die sie mit der Macht des Schweigens und einem Versprechen von einst konfrontiert.

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Der Roman

Dieulefit, 1965: Im Auftrag ihres Freiburger Radiosenders reist die Moderatorin Agnes in einen kleinen französischen Ort, wo im Zweiten Weltkrieg mehr als tausend Flüchtlinge Schutz fanden. Darunter viele jüdische Kinder, die in der Schule Beauvallon von den mutigen Dorfbewohnern versteckt wurden. Könnte auch Agnes’ Freundin Lily überlebt haben, von der seit zwanzig Jahren jede Spur fehlt? Welche Antworten hat ein damals ranghoher Résistance-Offizier? Agnes’ Recherche wird zu einer aufwühlenden Reise in die Vergangenheit, die sie mit der Macht des Schweigens und einem Versprechen von einst konfrontiert.

Bestsellerautorin Bettina Storks erzählt nach wahren Begebenheiten von ergreifenden Schicksalen und dem Mut zum Widerstand.

Die Autorin

Bettina Storks, geboren bei Stuttgart, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war viele Jahre als Redakteurin tätig, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Die Leidenschaft für Familiengeheimnisse und die Faszination für die deutsch-französische Geschichte vereint Bettina Storks immer wieder in ihren vielschichtigen Romanen. Die Autorin lebt und arbeitet am Bodensee.

BETTINA STORKS

Die Kinder von Beauvallon

Ein Roman nach wahren Begebenheiten

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Copyright © 2023 by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Theresa Klingemann

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Arch. École de Beauvallon; mauritius images/AA Images/Alamy/Alamy Stock Photos

Motive Innenteil: © mauritius images/AA Images/Alamy/Alamy Stock Photos

Fotos: Privatarchiv Bettina Storks

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-28103-8V003

www.diana-verlag.de

»Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«

Talmud

PROLOG

Sulzburg in Südbaden, 22. Oktober 1940

Obwohl es nicht sehr kalt war, stand Lily Blum mit zitternden Knien in der Morgendämmerung auf dem Marktplatz. Ein Befehl hatte heute Morgen die verbliebenen siebenundzwanzig Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Sulzburg nahezu zeitgleich erreicht:

»Sie haben zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt. Einen Koffer pro Person, eine Decke, etwas Reiseproviant, hundert Reichsmark! Es geht auf Reisen, meine Herrschaften!«

Die Männer hatten Schaftstiefel und Uniform getragen. Ihr Ton war so hart gewesen wie ihre Schritte. Aber daran hatten sie sich als Juden schon lange gewöhnt.

In den Häusern um das Judenhaus waren Lichter angegangen, und schon eine Stunde später hatten sich Menschen in Bewegung gesetzt und schließlich wie befohlen auf dem Marktplatz vor dem Schloss versammelt. Im Hintergrund drangen durch den Oktobernebel die Umrisse der nahen Schwarzwaldhöhen, die stets über Lilys Heimatort wachten.

Geistesgegenwärtig hatte Lily all das, was sie am Leibe zu tragen vermochte, doppelt angezogen. Zwei Röcke, zwei Unterhosen, zwei Paar Strümpfe, Pullover und Strickjacke, darüber noch einen Mantel. Anstelle eines Koffers hatte sie eine Schultertasche, die ihrem Vater einst von einem Patienten zugedacht worden war, umgehängt und diese mit allerlei Dingen bestückt. Ihre Lieblingspuppe Rosalie, zwei Fotos, Stifte, Zeichenblock. Dinge, die eine Neunjährige für lebensnotwendig erachtete.

»Wohin bringen sie uns?«, flüsterte eine Frau, die hinter Lily in der Schlange stand. Es war Frau Bloch, ihre Nachbarin.

Die Uniformierten zwangen die Menschen, sich in Reih und Glied aufzustellen.

Fragend sah Lily zu ihrem Vater auf, der ihre Hand fest umklammerte.

»Herr Blum«, hörte sie hinter sich noch einmal Irene Blochs flehende Stimme. Seit Ewigkeiten kam die ganze Familie zur Behandlung. Lilys Vater war der einzige Dentist in der Gemeinde gewesen, aber bereits seit sieben Jahren durfte er nicht mehr praktizieren. In der Praxis seiner Villa, die sie einst bewohnt hatten und die ihres Erkers wegen so genannt wurde, war jetzt ein arischer Dentist zugange.

Im nur zwei Häuser entfernten Judenhaus hatte Lilys Vater seine jüdischen Patienten weiter versorgt.

»Ich weiß es nicht, Frau Bloch«, erwiderte er und drückte Lilys kleine Hand noch fester.

»Nach Freiburg«, antwortete ein Mann.

Mechanisch griff Lily in ihre Schultertasche, nahm die Fotos heraus und betrachtete sie verstohlen. Eines zeigte die ganze Familie vereint beim Chanukka-Fest mit vielen Kerzen auf dem Esstisch. Mama hatte der Familientradition zufolge alle aufgefordert, sich beim Entzünden ihrer Kerze etwas zu wünschen.

Was hatte sich Lily gewünscht?

Wahrscheinlich etwas, das ihr heute nicht weiterhalf. Einen Hund, eine Katze, einen Kanarienvogel oder einen Christbaum wie den ihrer Freundin Agnes?

Agnes! Beim Anblick des gemeinsamen Fotos mit ihrer Freundin versetzte es ihr einen Stich. Jetzt hatte sie Agnes nicht einmal Auf Wiedersehen gesagt. Als Arierin gehörte Agnes Engler nicht hierher. Das mit der arischen Rasse, durch deren Adern angeblich ein ganz besonderes Blut floss, hatte die Lehrerin der Klasse erklärt, bevor sie vor zwei Jahren getrennt worden war. Fortan war Lily in die jüdische Zwangsschule nach Freiburg gegangen, wo sie unter der Woche bei Verwandten schlief und mit dem Bus an- und abreiste.

Die Mädchen spielten weiterhin unten am Sulzbach auf der Brücke, wo sie sich schon immer ihre Geheimnisse anvertraut hatten.

»Uns bringt keiner auseinander«, versprachen sie einander immer wieder. Agnes hatte Lily die Treue gehalten, auch wenn es ihren Eltern gar nicht gefiel.

Ein Lastwagen näherte sich und bog auf den Marktplatz ein. Vor der Menschengruppe kam er zum Stehen.

Rings um sie wurden Fenster geschlossen.

Eilig schob Lily die Fotos in ihre Manteltasche.

Jemand warf die Plane zurück, und die Menschen begannen einzusteigen. Eine Frau weigerte sich, schrie, weinte und wimmerte schließlich nur noch. Dann wurde sie von einem Uniformierten mit Gewalt auf die Transportfläche geschoben.

Lily vergrub ihr Gesicht im Mantel ihres Vaters.

»Nicht hinsehen, Lily«, vernahm sie dumpf die Stimme ihrer Mutter. In der Ferne entdeckte sie auf der Straße, keine hundert Meter von ihr entfernt, ein rennendes Mädchen mit heruntergerollten Strümpfen. Es blieb stehen, den Blick suchend auf die Insassen gerichtet.

Agnes! Sie war gekommen.

Lily rieb sich die Augen. »Agnes«, rief sie der Freundin zu.

Sofort fanden sich ihre Blicke. In ihren großen blauen Augen stand eine einzige Frage geschrieben.

»Wo gehst du denn hin?«, fragte Agnes außer Atem.

Die blonden Haare fielen ihr ins Gesicht.

»Nach Freiburg«, rief Lily.

Der Fahrer warf den Motor an. Warme Abgase stiegen auf.

In der Manteltasche umklammerte sie das Foto.

»Dann kommst du bald wieder?«, fragte Agnes ängstlich und hielt sich die Nase zu.

Lily presste die Lippen aufeinander. Was sollte sie sagen? Niemand wusste, wohin die Reise ging. Aber hinter vorgehaltener Hand hatte sie außer Freiburg das schaurige Wort Osten gehört. Im Osten erwartete die Juden die Hölle der Arbeitslager und Gettos.

»Ja, bestimmt«, schwindelte Lily. Sie würde es sich einfach wünschen. Wünsche konnten in Erfüllung gehen, wenn man sie nur oft genug aussprach. Am besten abends vor dem Einschlafen in der Dunkelheit.

Wütend schlug ein Gestapo-Mann auf den gekrümmten Rücken einer Frau ein. Im Lastwagen schwoll das Wimmern an, Stimmen überschnitten einander. Alle sagten dasselbe:

Freiburg. Der Osten. Gettos. Judentransport.

Von draußen streckte Agnes, auf Zehenspitzen stehend, Lily die Hand entgegen. Lily versuchte danach zu greifen, erreichte aber nur mit ihren Fingerspitzen die von Agnes.

Dann kam ihr ein Gedanke. Ohne zu zögern, nahm Lily das Kinderfoto aus ihrer Manteltasche und riss es in der Mitte, wo die beiden Freundinnen Hand in Hand posierten, in zwei Teile. Sie streckte ihren Arm aus dem Lastwagen, so weit es ging, das Papier zwischen den Fingerspitzen festhaltend.

Agnes griff nach dem halben Foto, warf einen Blick darauf, strahlte über das ganze Gesicht, winkte und lief dem anfahrenden Lastwagen hinterher.

Mit einem Ruck wurde die Plane heruntergezogen. Dunkelheit. Stille. Lily glaubte, die Angst der Menschen riechen zu können. Durch einen winzigen Spalt sah sie, wie Agnes draußen winkte und immer noch hinter ihnen herlief.

»Wir werden es wieder zusammenkleben, das verspreche ich dir, Lily Blum. Ich warte hier auf dich! Ich warte so lange, bis du wieder da bist«, rief die immer kleiner werdende Freundin dem Lastwagen hinterher.

Wir werden es wieder zusammenkleben. Ja, daran würde sich Lily festhalten. Irgendwann würden sie wieder vereint sein und sich an diesen Tag in Sulzburg erinnern.

Sie würden sagen, dass es nicht so schlimm gekommen war wie befürchtet.

Mit den Fingern strich Lily, lange nachdem der Lastwagen die Stadt verlassen hatte, über das Bildnis von Agnes, von dem sie abgetrennt war. Nur noch die kleine Kinderhand Lilys in der ihrer Freundin war zu sehen.

»Ach, mein lieber Gustav, Lily, mein Kind«, sagte Mama ein einziges Mal und unterdrückte ein Schluchzen. Sie nahm sich ein Taschentuch und verdeckte damit ihre Augen.

Lilys Blick aber ging durch den Spalt nach draußen, wo sich die Welt in dunklen Tälern ausstreckte. Mit den Augen trank sie die vertrauten Landschaften und schmiegte sich an ihren Vater, der eine Hand auf ihr widerspenstiges Haar gelegt hatte.

Es hatte sich nie zähmen lassen, und ein Stück von diesem Haar lag auch in ihrem Wesen. Das jedenfalls behauptete ihre Mutter schon immer.

Der Laster fuhr durch Lilys Heimat, das Markgräfler Land, in Richtung Freiburg. Ganz still wurde es, als hätten die Insassen das Sprechen verlernt, und die Oberkörper der Menschen ruckelten auf der holprigen Straße von rechts nach links, zur Seite, vor und wieder zurück. Draußen wölbte sich der Nebel über die kahlen Hügel, über das Land von Lilys Kindheit, das Land der Reben, das Land ihrer Vorfahren.

Die Reben waren abgeerntet, das Herbsten vorbei.

Lily, so viel stand fest, hatte sich zu Chanukka das Falsche gewünscht. Sie würde zusätzlich zu ihrem Abendwunsch ein Opfer bringen. Vielleicht bekam sie dadurch einen Wunsch frei.

»Doppelt hält besser«, sagte Papa immer zu seinen Patienten.

Am Hauptbahnhof Freiburg wimmelte es von Menschen mit Gepäck, Müttern, im Schlepptau ihre Kinder, Männern in langen Mänteln, mit Aktentaschen unter den Armen. Ein Gewusel von ratlosen Menschen, die von Stöcken und Stimmen auf dem Bahnsteig aufeinander zugetrieben wurden wie Vieh. Fleisch an Fleisch, Knochen an Knochen, Angst an Angst.

Niemand konnte auch nur ahnen, wie präzise der Gauleiter von Baden, Robert Wagner, in vorauseilendem Gehorsam seinem Führer das Geschenk, Baden judenfrei zu machen, vorbereitet hatte. Diese Abschiebung mit dem anschließenden Transport würde er als seinen persönlichen Erfolg verbuchen.

Die Züge setzten sich in Bewegung. Stummes Entsetzen las Lily in den Gesichtern der Erwachsenen, Hilflosigkeit in denen der Kinder. Und Angst. Angst. Angst.

»Seht nur, der Rhein«, sagte eine Frau nach einer Stunde Fahrt. »Da draußen ist der Rhein. Seht ihr das nicht?« Ihre Stimme brach, sie begann zu weinen.

Ein ganzes Abteil atmete erleichtert auf. »Es geht nicht nach Osten.«

Lilys Mutter presste sich die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Ihr Vater lächelte und strich Lily über den Kopf.

Zwei Tage später erreichte der Zug Südfrankreich und bald schon einen Bahnhof, der nicht weit von einem Lager namens Gurs entfernt lag. Gurs, so hieß es, sei die Hölle von Südfrankreich.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Lily über tausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt.

Kurz bevor der Zug vor der Kulisse der Pyrenäen in Oloron-Sainte-Marie abbremste, warf Lily ihre Puppe Rosalie aus dem Fenster ins Freie.

AGNES

1

Freiburg im Breisgau, 1965

»Wir müssen reden, Agnes. In meinem Büro.«

Agnes hatte gerade ihren Schreibtisch aufgeräumt. Verwirrt blickte sie zur Tür, durch die ihr Chefredakteur in diesem Moment wieder verschwand.

Es war acht Uhr vorbei – um diese Zeit hatte der Tagdienst längst den Radiosender des Südwestfunks Freiburg verlassen. Es herrschte das übliche Nachtprogramm bis zum nächsten Morgen.

Agnes stand auf, nahm aus einer Schublade ihren Notizblock und einen Bleistift und machte sich auf den Weg in das Büro von Wolfgang Schober, vorbei am Tonstudio, der Teeküche und dem Redaktionskonferenzraum. Die Tür zu Wolfgangs Büro war sperrangelweit geöffnet. Sie klopfte kurz dagegen, trat ein und zog die Tür hinter sich zu.

»Wie lange bist du jetzt bei uns?«, eröffnete Wolfgang das Gespräch und bot ihr mit einer knappen Geste den Stuhl ihm gegenüber an.

Sie setzte sich und schlug ein Bein über das andere. »Im sechsten Jahr. Das weißt du doch. Zuerst war ich das Kaffee- und Botenmädchen. Bis du mich befördert hast.«

Wolfgang grinste, kippelte mit seinem Stuhl, griff nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an.

Ja, Agnes hatte es beim Sender zu etwas gebracht, nachdem Wolfgang die Qualität ihrer Stimme erkannt und es einfach mit ihr versucht hatte. Jetzt war sie eine Radiofrau, die weibliche Moderatorenstimme des Südwestfunks, der ein Jahr nach dem Krieg gegründet worden und in dem alten Hotelgebäude Kyburg in Freiburg Günterstal ansässig war. Im nebenliegenden Neubau befanden sich Kantine, Aufnahmeraum und die technischen Einrichtungen. Günterstal lag idyllisch in einem Tal am Waldrand in Richtung Schauinsland, dem Hausberg Freiburgs.

»Worum geht es?«, fragte sie geradeheraus. Sie registrierte, wie erholt er aussah, braun gebrannt und im Gesicht etwas fülliger. Erst vorgestern war Wolfgang aus seinem Urlaub aus der Provence zurückgekehrt.

Normalerweise redete Wolfgang nicht um den heißen Brei herum.

Agnes schätzte klare Worte, eindeutige Aufträge, am besten mit genauer Zeitvorgabe.

Wolfgang sah Agnes nachdenklich an. Mit zusammengekniffenen Augen nahm er einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Du hast eben eine tolle Radiostimme.«

Er tippte die Asche von seiner Kippe.

»Einer der Gründe, warum ich nie mit dem Rauchen anfangen würde«, erwiderte sie charmant und verscheuchte mit einer Handbewegung eine Rauchwolke. »Du hast mir damals eine Chance gegeben. Das werde ich dir nie vergessen. Also, worum geht es? Immer noch um diese unangenehme Geschichte?«

Bei der unangenehmen Geschichte handelte es sich um Agnes’ Radiobeitrag zur Antibabypille, den sie unbedingt hatte machen wollen. Zwar gab es seit über fünf Jahren das revolutionäre Verhütungsmittel auf dem deutschen Markt, aber einige Hörer, in der Mehrzahl Männer, waren angesichts der offenkundigen liberalen Botschaft von Agnes’ Berichterstattung auf die Barrikaden gegangen. Sie hatte nie von freier Liebe gesprochen, jedoch hatten ihr genau das die Kritiker in den Mund gelegt. Ihr war es um die Freiheit für die Frau gegangen. Bis heute fand es Agnes befremdlich, was drei Minuten Sendezeit auslösen konnten. War die Gesellschaft immer noch zu prüde für das Thema Sexualität?

Ihre Generation jedenfalls war es nicht. Viele Hörerinnen hatten Agnes in ihrem Büro angerufen und sich bedankt, ihr Mut zugesprochen. Ganz zu schweigen von den Freundinnen, die sie in Partynächten bestärkten, sie gar beglückwünschten, endlich offen über ungewollte Schwangerschaften gesprochen zu haben. Agnes hatte vor allem etwas in den Köpfen anstoßen wollen. Mit der Antibabypille ging für sie die Chance auf Selbstbestimmung der Frau einher. Schwangerschaft war auf einmal planbar geworden.

Aber die Generation von Agnes’ Eltern, die den Minirock und die Beatles verpönte, war offensichtlich noch lange nicht für die Themen bereit, die die jungen Menschen zwanzig Jahre nach dem Krieg beschäftigten. Sie hielt immer noch an dem konservativen Frauenbild Kinder, Küche, Kirche fest.

Im Hintergrund hatte Wolfgang, ganz wie es seine Art war, das Tohuwabohu geordnet, stillschweigend bei der Studioleitung die Wogen geglättet und Agnes danach zunächst einmal mit unverfänglichen Themen beauftragt: Die Badischen Landfrauen. Blick ins Land. Glückwünsche am Morgen.

Ein Räuspern Wolfgangs holte Agnes in die Gegenwart zurück.

»Muss ich mich immer noch rehabilitieren?«, fragte sie spitz und unterdrückte ein Gähnen. Seit heute Morgen um sechs war sie auf den Beinen. »Hast du einen Besuch zur Hauptversammlung der Kleintierzüchter für mich?«

Sie zwinkerte ihrem Vorgesetzten zu.

Lachend schüttelte dieser den Kopf. »Ich brauche dich in einer anderen Sache, Agnes. Eine längerfristige Recherche, mit der ich dich – und dies ist ein wunderbarer Nebeneffekt – aus der Schusslinie nehme.«

Man musste sie also immer noch aus der Schusslinie nehmen. Agnes fand das bemerkenswert. Aber nicht ihre Unterstützer waren das Problem, sondern ihre Angreifer, die Spießer.

Sie sah ihrem Chef dabei zu, wie er aus einem Aktenberg eine hellbraune Pappmappe herauszog und sie vor sich auf den Tisch legte. »Frankreich«, sagte er knapp. »Interessiert?«

Er hob die Brauen.

»Du hast eine Story aus deinem Urlaub mitgebracht?«

Wolfgang nickte.

Agnes liebte Frankreich, das direkt um die Ecke lag. Bis zum Abitur war Französisch ihr Lieblingsfach gewesen, und auch danach hatte sie die Fremdsprache stets kultiviert. Sie hatte schon kleine Reportagen im Grenzgebiet machen dürfen.

»Lass hören«, sagte sie beherzt, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Haute Couture in Paris, Parfümherstellung in der Provence? Französische Küche?« Sie schmunzelte herausfordernd.

Wolfgang erwiderte ihr Lächeln, schüttelte den Kopf und zeigte dann ein ernstes Gesicht. »Das könnte etwas Großes werden, wenn mich meine Reporternase nicht täuscht, Agnes. Es geht um etwas Historisches.«

Historisches. Unmittelbar richtete sich Agnes auf, strich sich die glatten blonden Haare ihres bis zur Schulter reichenden Stufenschnitts aus dem Gesicht und bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen. Eigentlich war sie diejenige mit der guten Nase – das hatte sie bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Aber ausgerechnet mit einem Verhütungsmittel war sie über ihren eigenen Ehrgeiz gestolpert.

Tatsächlich bestand Agnes’ eigentliches Dilemma darin, dass sie sich beruflich stets mehr als ein Mann beweisen, mehr geben musste. Seitdem sie Radio machen durfte, war sie auf die klassische Frauenrolle reduziert worden und hatte sich tapfer durch Themen gebissen, die sie zutiefst befremdeten: Die Frau an der Seite eines beschäftigten Gatten. Die liebende Mutter. Das perfekte Mittagessen. Die neuen Einbauküchen.

Agnes war weder verheiratet, geschieden, noch Mutter. Die dreißig überschritten zu haben, bedeutete, ein für den Heiratsmarkt fortgeschrittenes Alter erreicht zu haben. Sie war eine berufstätige, ledige Frau, die, wäre sie verheiratet, die Einwilligung ihres Ehemanns zur Ausführung ihrer beruflichen Tätigkeit bräuchte. Dafür gab es sogar einen Paragrafen. Nur an wenigen Beispielen zeigten sich die gesellschaftlichen Widersprüche so deutlich wie an den Geschlechterrollen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit waren Mann und Frau keineswegs gleich, wie sie eigentlich seit 1958 laut Gesetz sein sollten.

»Agnes?«

Wolfgangs Stimme drang zu ihr durch. »Du wolltest doch immer etwas Historisches machen.«

Ja, das war es, was sie machen wollte – etwas Wichtiges. Keine langweiligen Vereinsgeschichten, keine Schiffsfahrten auf dem Rhein, keine Jubiläen von Männerchören.

»Ein großes Ding?«, fragte sie und deutete auf die Unterlagen.

Wolfgang legte seine Hände darauf. »Du bist eine der Besten, und ich weiß, welchen Preis du dafür bezahlst.«

Das weißt du nicht, dachte Agnes und lächelte ihr Gegenüber charmant an.

»Außerdem bist du die Einzige bei uns, die fließend Französisch spricht. Ich könnte mir für die Zukunft sogar eine Serie vorstellen. Nicht heute, nicht morgen, aber in absehbarer Zeit. Es geht um ein kleines Dorf in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Kategorie: Aufarbeitung der dunklen Geschichte der Bundesrepublik.«

Zweiter Weltkrieg. Aufarbeitung.Etwas Politisches. Ein gesellschaftlich relevantes Thema! Das war genau das, was sie wollte – endlich ernst genommen werden.

Nie zuvor hatte sich der Südwestfunk an ein derartiges Thema herangetraut, allenfalls widmeten sich einige Autoren im Ressort Hörspiele der braunen Vergangenheit der Deutschen.

Wolfgang öffnete die Mappe.

Agnes konnte ein Konvolut aus Blättern sehen, mehrere davon mit Wolfgangs unleserlicher Handschrift bekritzelt. Kleinere Zeitungsartikel. Wenige Fotos. Neben Wolfgangs Telefon lag sein umfangreicher Schlüsselbund. Sie hatte einmal versucht, die Schlüssel zu zählen, und war auf die stattliche Anzahl von neun gekommen. Wozu besaß dieser Mann denn neun Schlüssel?

»Ich mache es«, sagte sie mit klarer Stimme. »Gibst du mir eine kurze Zusammenfassung?«

Wolfgang grinste. Dann ließ er seinen Blick durchs Fenster in Richtung Horizont schweifen. Keine Wolke war am Himmel zu sehen.

»Ein Dorf in der französischen Drôme namens Dieulefit versteckt während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg unzählige Flüchtlinge, darunter auch jüdische Kinder aus Südbaden. Es gleicht einem Wunder, dass alle überlebt haben. Das ist alles, was ich auf die Schnelle dazu auftreiben konnte.«

Er warf einen Blick auf die Mappe.

Agnes stockte der Atem. Jüdische Kinder aus Südbaden. Auf einmal kehrten die Bilder zurück: Ihre Freundin Lily Blum am Marktplatz von Sulzburg, ein halbes Foto. Eine Kinderfreundschaft, die sich um alles scherte, aber nicht um Konfessionen und sonstig Trennendes.

»Jüdische Kinder aus unserer Heimat? Überlebt in Dieulefit?«, stotterte sie. »Ich habe noch nie von diesem Ort gehört.«

»Ich bis vor wenigen Tagen auch nicht.« Wolfgang fuhr sich mit der Hand durch sein schulterlanges graues Haar. »Es war reiner Zufall. Unser Auto blieb auf der Rückfahrt liegen. Die nächste Werkstatt befand sich in diesem verschlafenen Ort. Während zwei Tagen Wartezeit auf Ersatzteile kommt man mit dem ein oder anderen ins Gespräch. Sehr freundliche Leute! Ich war erstaunt, dass einige der Bewohner perfektes Deutsch sprachen.«

»Dieulefit«, wiederholte Agnes nachdenklich. »Das heißt übersetzt: Gott hat es gemacht. Was für eine wunderschöne Bedeutung.«

Bis jetzt war Agnes’ Wissensstand, dass Lily vor dreiundzwanzig Jahren in dem südfranzösischen Internierungslager Gurs umgekommen oder ermordet worden war, wie sonst sollte man das Aushungern, das Schlagen, das Erfrierenlassen, das Krankmachen bezeichnen? Richtig wahrhaben wollen hatte sie es niemals, zumal sie Jahre nach dem Krieg Lily auf keiner Todesliste gefunden hatte.

Eine leise Stimme hatte immer in ihr geflüstert, dass Lily noch lebte.

»Weißt du, wie viele Gerettete es waren? Haben deine Zeugen die Herkunft der Kinder erwähnt?«

Wolfgang schüttelte den Kopf.

Agnes kannte alle jüdischen Familien ihrer Kindheit aus Sulzburg. So viele waren es nicht.

»Siebenundzwanzig Menschen«, stammelte sie. »Ich beschäftige mich schon länger privat mit der Deportation südbadischer Juden. Es waren siebenundzwanzig Menschen, die am 22. Oktober 1940 aus meinem Heimatort Sulzburg verschwanden«, fuhr sie mit fester Stimme fort, als wolle sie Wolfgangs Gedächtnis und ihr eigenes stimulieren. »Ich war damals dabei, Wolfgang. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Siebenundzwanzig Menschen, darunter ein einziges Mädchen, sind in einer Hauruckaktion im Auftrag von Gauleiter Wagner nach Gurs deportiert worden. Die meisten kamen dort um, und zwar unter jämmerlichen Umständen. Das Lager muss eine Katastrophe gewesen sein, eine einzige Kloake.«

Ihre Stimme brach.

»Es war nur ein Internierungslager, kein Vernichtungslager, Agnes. Kein Mensch ist dort vergast worden.«

Agnes verschlug es für einen Moment die Sprache. In welchem Sprachjargon redeten zwei Angestellte eines öffentlichen Radiosenders hier nach zwei Jahrzehnten auf einer inoffiziellen Ebene von dem größten Verbrechen an der Menschheit? Nur ein Internierungslager.

»Nein, niemand ist dort vergast worden«, sagte sie mit bebender Stimme. »Man ließ die Menschen in Gurs verrecken. Am Gestank, an den katastrophalen hygienischen Zuständen. Am Hunger, an der Verwahrlosung, an der Kälte im Winter, an der Hitze im Sommer, an der Hoffnungslosigkeit. Man musste nur ihren Überlebenswillen ausbluten lassen.«

Für einen Moment kämpfte Agnes mit den Tränen.

Wolfgang holte tief Luft.

»In Gurs überließ man die Gefangenen sich selbst. Das Lager stand unter der Aufsicht der Franzosen. Sie zeichnen dafür verantwortlich.«

»Richtig«, sagte Agnes gefasst. »Nach nationalsozialistischem Vorbild. Und ab 1942 brachten sie die Häftlinge systematisch in ein Sammellager bei Paris. Von dort übernahmen die Nazis. Auschwitz war die Endstation.«

»Es geht um Hoffnung, Agnes, um etwas Gutes in dieser dunklen Zeit«, sagte Wolfgang beschwörend. »Um Kinder, die von der Résistance aus Gurs gerettet worden waren. Einige von ihnen haben in Dieulefit überlebt. Dieser Ort ist es wert, erkundet zu werden. Die geretteten badischen Juden hier um die Ecke sind unser Aufhänger. Wenn auch nur ein Jude aus Südbaden dort überlebt hat, haben wir unsere Story. Suche nach der Verbindung zwischen Gurs, Südbaden und Dieulefit, Agnes!«

Aufhänger. Eine Verbindung zwischen Gurs, Südbaden und Dieulefit. Überlebende. Lily Blum – ein Aufhänger? Agnes wusste: Indirekt sprach Wolfgang von Rechtfertigung, denn es war nicht einfach, die Deutschen mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu konfrontieren. Auch bei ihrem Sender würde es heftigen Widerstand geben. Die Bundesrepublik wollte vergessen, den Aufschwung mitnehmen und neu anfangen. Viele waren der Ansicht, nach zwanzig Jahren sei genug Gras über die braunen Flecken gewachsen. Mit zusammengepressten Lippen starrte sie auf die Mappe.

»Ich rieche eine unglaubliche Geschichte«, hörte sie wie aus der Ferne Wolfgangs Stimme. »Wir brauchen Zeugenaussagen. O-Töne. Überleg mal, Agnes: Retter und Opfer leben ja noch! Die Kinder sind heute so alt wie du, knapp dreißig.«

»… auch die Täter leben noch«, warf Agnes ein.

»Résistance. Französischer Widerstand«, fuhr Wolfgang unbeirrt fort. »Wie klingt das in deinen Ohren? Wie hat die Infrastruktur funktioniert? Was haben die Bewohner von Dieulefit riskiert?«

Er warf die Arme in die Höhe, drückte anschließend seine Zigarette aus, klappte die Mappe zu und schob sie Agnes mit einem Ruck zu.

Instinktiv nahm Agnes diese an sich und presste sie gegen ihren Oberkörper. Wie aus dem Nichts war sie mit ihrer Kindheit und einer alten Wunde konfrontiert worden. Wie lange lag das zurück, als ihr der alte Herr Schneider aus Sulzburg vom Tod der ganzen Familie Blum erzählt hatte? Sollte er sich getäuscht haben?

Sie hatte sich das so oft gefragt.

Ein Blick in die Akten, ein paar Telefonate am morgigen Tag – dann würde sie Gewissheit haben, ob ihre tot geglaubte Kinderfreundin überlebt hatte.

Die eigentliche Herausforderung jedoch bestand darin, Professionelles von Privatem strikt zu trennen. Ein Drahtseilakt, aber Agnes hatte schwierige Aufgaben nie gescheut. Im Gegenteil.

Man wuchs an Hindernissen, nicht an Geschenken.

»Auftrag angenommen«, sagte sie schnell, klopfte mit der flachen Hand gegen die Mappe, stand auf und ging zur Tür. Nicht, dass es sich Wolfgang noch anders überlegte.

Als sie sich an der Tür ein letztes Mal umdrehte, sah Wolfgang sie eindringlich an und hob mahnend den Zeigefinger. »Kein Sterbenswort davon zu den Kollegen, alles bleibt unter uns, verstanden? Offiziell musst du deine behäbigen Landesthemen weitermachen.« Er machte drehende Bewegungen aus dem Handgelenk. »Land und Leute, gegebenenfalls auch im Elsass, du weißt schon.«

Ja, Agnes verstand sofort: Ein historisches Thema, das die Menschen indirekt mit ihrer Haltung im Nationalsozialismus konfrontierte, war viel zu brisant für das Programm eines regionalen Radiosenders. Hörspiele bildeten eine andere Kategorie als Fakten. Man würde strategisch klug vorgehen müssen, bevor man damit an die Öffentlichkeit ging.

»Wie lange wirst du zur Einarbeitung brauchen? Drei Tage?«

»Du hörst morgen im Lauf des Tages von mir«, sagte sie.

Mit klopfendem Herzen verschwand sie in ihrem Büro.

Dort angekommen, schloss sie sich ein, zog die Jalousien zu, knipste die Schreibtischlampe an und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Vor ihr lag eine lange Nachtschicht.

»Lily Blum. Sulzburg. Gurs. Dieulefit«, flüsterte sie und fuhr mit geschlossenen Augen über die Mappe, als wolle sie deren Inhalt beschwören.

Lily Blum sollte leben!

Mit einem Ruck öffnete Agnes die Augen und klappte die Mappe auf.

AGNES

2

Freiburg Günterstal, Radioredaktion SWF, 1965

Vom Flur aus waren Stimmen zu hören – der Putztrupp begann mit seiner Arbeit im Sender.

Agnes breitete den Inhalt der Mappe vor sich aus, und mit Wolfgangs Notizen und den Bildern der badischen Deportationen kehrte eine Kindheit in Sulzburg vor ihrem inneren Auge zurück. Sofort war die verschüttete Vergangenheit wieder da. Als sei es gestern erst geschehen.

Sie ergänzte Wolfgangs Konvolut mit ihren eigenen Unterlagen aus Gurs, die sie schon lange hortete, bemühte sich um eine Zuordnung. Vor zwei Jahren aufgenommene Fotos aus der Hölle von Gurs dokumentierten das, was vom Lager der Franzosen übrig geblieben war. Es handelte sich um jenen Ort, an den die Nazis einst Lily und ihre Familie gebracht hatten.

Die Hilflosigkeit von damals erfasste Agnes wie eine Welle. Die letzte Begegnung mit Lily, der Lastwagen, das Geschrei, Gewimmer, der neblige Oktobermorgen. Lilys Übergabe des zertrennten Fotos, das Agnes bis heute wie ihren Augapfel hütete.

Lily war ihre beste Freundin gewesen. Freundschaft bedeutete, am Sulzbach Steine zu werfen, zusammen die Umgebung zu erkunden, sich Geheimnisse anzuvertrauen und an Schabbat den Schabbesgoi zu geben. Das hatte für die kleine Agnes geheißen, an kalten Wintertagen das vorbereitete Feuer bei den Blums zu entzünden, weil den Juden am Schabbat jegliche Tätigkeit verboten war. Unzählige Male hatte Agnes das Feuer mit Hingabe entfacht und von Lilys Vater dafür Süßigkeiten bekommen. Später auch gegen den Willen ihrer Eltern. Freundschaft bedeutete, sich ein Versprechen auf einem Marktplatz zu geben. Eines, das, davon war Agnes bis vor wenigen Augenblicken ausgegangen, Agnes nicht hatte einlösen können, weil es das Schicksal anders wollte.

Bis in die Morgenstunden las sie im Licht der Schreibtischlampe Wolfgangs Gekritzel über die Hilfsbereitschaft eines ganzen Ortes während des Zweiten Weltkriegs. Wie betäubt notierte sie einige Eckdaten.

Auch in den wenigen von Wolfgang beigelegten Zeitungsartikeln aus Regionalzeitungen fand Agnes keinen konkreten Hinweis über die ursprüngliche Herkunft der Kinder. Die Rede war von Kindern im Allgemeinen, keine Namen, keine Fotos.

Viele Schützlinge hatten bei Familien im Ort so gelebt, als gehörten sie dazu. Agnes wusste um die Privilegien der italienischen Zone: Dort ließ man die Juden weitgehend gewähren. Keiner von ihnen musste einen Judenstern tragen. Nur im von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs war das Tragen eines solchen verpflichtend.

Die Vergangenheitsbewältigung fängt erst an, las Agnes in einem Artikel der Badischen Zeitung im Zusammenhang mit einem Besuch von Journalisten und badischen Politikern in Gurs im Jahr 1963. Vor zwei Jahren war eine Delegation dorthin gereist und hatte den Friedhof eingeweiht, um sich der Deportation badischer Juden und der vielen Toten zu erinnern. Wolfgang, der zusammen mit einem befreundeten Redakteur von der Badischen Zeitung dort gewesen war, hatte sich bei einer Besprechung überrascht gezeigt, wie viel Agnes bereits über das südfranzösische Lager wusste.

Vergangenheitsbewältigung. In Deutschland nahmen die wenigsten auch nur das Wort in den Mund. Die meisten Deutschen wollten zwanzig Jahre nach dem Krieg ihre Ruhe haben, nichts mehr von den grausamen Taten des Naziregimes hören und schon gar nicht an das Morden erinnert werden. Manche leugneten es sogar. Das deutsche Volk hatte genug gelitten, so die vorherrschende Meinung. Die Gesellschaft befasste sich mit anderen Themen als mit den Sünden ihrer Vergangenheit. Sie hießen: Wohlstand. Vollbeschäftigung. Tote an der vor vier Jahren erbauten Berliner Mauer. Studentenproteste und Zerfall der guten alten Sitten. Das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Meinungen hatte Agnes beim Thema Antibabypille bitter erfahren müssen.

»Sodom und Gomorrha«, klagte ihre Großmutter immer wieder, wenn sie ihre Enkelin auf Familienfesten sah. Kopfschüttelnd nahm sie Agnes’ Schlaghosen oder gewagte Minikleider mit den kniehohen Lackstiefeln zur Kenntnis. Der Kleidungsstil ihrer Enkelin war in ihren Augen Ausdruck einer kippenden Sexualmoral, einer schamlosen Verirrung. Nur hätte Agnes’ Oma das niemals so benannt.

»Lass sie doch, das ist jetzt modern, und sie hat so hübsche Beine«, beschwichtigte ihre Mutter dann stets, gab sich großzügig. Agnes wusste, dass ihre Mutter insgeheim mit ihrer zur Schau gestellten liberalen Haltung die Hoffnung verband, bei weitaus heikleren gesellschaftlichen Themen niemals Farbe bekennen zu müssen.

In Fragen der Politik teilten Agnes’ Eltern die öffentliche Meinung: Was kümmerten den Bürger die Altlasten ihrer Eltern und Großeltern? Einmal musste damit Schluss sein. Eine Haltung, die immer wieder zu Konflikten zwischen Agnes und ihrem unmittelbaren Umfeld geführt hatte. Deshalb hatte sie sich angewöhnt, derartige Äußerungen in ihrer Familie weitgehend unkommentiert zu lassen. Privat betrat Agnes kein Minenfeld, wenn es nicht unbedingt nötig war. In ihrem Beruf sprach sie stets Klartext und stieß dabei bei Kollegen immer wieder auf große Gegenwehr. Agnes machte sich nichts vor: Als einzige Frau in einer Männerdomäne hatte sie für ihren Aufstieg vieles getan, sich zuweilen vorgedrängelt, wenn es um die Berichterstattung regionalpolitischer Themen ging, ganz abgesehen von der klassischen Stimmausbildung, in die sie ein kleines Vermögen investiert hatte.

Wolfgang Schober stach unter den Kollegen hervor. Er kehrte nichts unter den Teppich. Als Sohn eines Alt-Nazis hielt er es für seine Pflicht, auch unbequeme Themen beim Sender aufzugreifen. Agnes’ Eltern hingegen waren die klassischen Mitläufer gewesen.

Sie starrte auf die auf ihrem Schreibtisch ausgebreiteten Fotos. Menschen auf Sammelplätzen vor ihrer Deportation aus Baden, ihre Leben in Koffer gestopft. Das Bild aus Sulzburg hatte sich unwiderruflich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Ihr Blick blieb an einem Foto, das ein altes Schulgebäude in Dieulefit zeigte, haften. Es hatte als Zuflucht für die Kinder inmitten von Bäumen, Wiesen und Sträuchern gedient und trug den Namen Beauvallon – schönes Tal.

Dahinter erhoben sich die Berge der Drôme-Provence. Es waren keine Menschen abgebildet.

Ein ideales Versteck, dachte Agnes.

Hatte Lily als eines der Kinder von Beauvallon in Dieulefit überlebt?

Um sich der Flut ihrer Gefühle zu erwehren, überschlug Agnes mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen die historischen Eckdaten, die sie aus peniblen Recherchen kannte. Im Januar 1942 hatte die Wannseekonferenz stattgefunden, wo in geheimer Mission in einer Villa am Berliner Wannsee hochrangige Nazis und Vertreter der deutschen Ministerialbürokratie die Endlösung, die systematische Ermordung der Juden Europas, beschlossen und die dazu notwendige Logistik festgelegt hatten. Danach hatten sämtliche Widerstandsgruppen in den von Deutschland besetzten Gebieten damit angefangen, jüdische Kinder in Sicherheit zu bringen.

Lily Blum war das einzige Kind, das am 22. Oktober 1940 aus Sulzburg deportiert worden war.

Agnes öffnete die Augen, und im Spiegel des Fensters registrierte sie ihr Gesicht, ihren blassen Teint. Wie übernächtigt sie aussah, konnte sie sogar im Schutz des schwachen Lichts sehen. Die mit schwarzem Kajal geschminkten Lider ließen ihre Augen riesengroß erscheinen, ein Grund, weshalb Männer sie gern unterschätzten und als hübsches Dummchen abtaten. Sie täuschten sich!

»Ich hätte gerne dein glattes Haar.«

Lily hatte ihr einmal anvertraut, sich das zu Chanukka gewünscht zu haben.

»Und ich deine Locken«, war Agnes’ Antwort gewesen.

Nachdem sie die Informationsflut auf sich hatte wirken lassen, machte sie sich weitere Notizen. Die Kinder aus Gurs mussten dank einer französischen Hilfsorganisation an verschiedene Orte in Frankreich gebracht worden sein. Auch nach Dieulefit. Die Häftlinge hatten Nummern, schienen namenlos. Das Bemerkenswerteste, hatte Wolfgang notiert, war das Schweigen der Einwohner von Dieulefit, die aus Protestanten, Katholiken und Juden bestanden. Die Konfession spielte keine Rolle. Es gab keine Denunziation. Das glich einem Wunder.

Würde sie ihre Reporternase zu Lily führen?

Hinter den kalten Fakten einer Flucht steckten 700 Kilometer quer durch die sogenannte zone libre Frankreichs, die sich plötzlich vor ihrem inneren Auge wie auf einer Landkarte erstreckte. Frei war sie zu keinem Zeitpunkt gewesen. Überall drohten Lebensgefahr, Angst, Verrat, Denunziationen, aber auch unerwartete Hilfe. Agnes vermochte sich die Strapazen für die Menschen, insbesondere für Kinder, nicht einmal im Ansatz auszumalen.

Jetzt lag es an ihr, den Menschen hinter den Zahlen eine Stimme zu geben, den Nummern Namen und Biografien zuzuordnen, die heroischen Taten des Widerstands zu beleuchten. Sie wünschte sich von Herzen, Lily hätte in Dieulefit oder sonst wo überlebt.

Gegen fünf brühte sich Agnes in der Küche Kaffee. Nebenan im Neubau würden die ersten Kollegen in einer Stunde mit dem Tagdienst beginnen. Bald würde der Kollege Preiß mit seiner beliebten Serie Auf ein Wort, Herr Nachbar auf Sendung gehen und heute über die perfekte Schneidetechnik für Gartenhecken berichten.

Die Redaktionskonferenz fürs Programm der Sendungen des Folgetages begann um elf. Zugrunde legte man die relevanten Themen der Badischen Zeitung vom Vortag. Im Sender war diese Art von Berichterstattung ein offenes Geheimnis, genau wie die verstaubten Entnazifizierungsakten, die sich auf dem Dachboden stapelten. Niemand interessierte sich dafür.

Besonders beliebt waren die Hörspiele in alemannischer Mundart, in denen es auch um die Nazivergangenheit ging. Ganze Familien saßen dann zu Hause vor ihrem Radio und lauschten diesen Vorführungen. Schwächte die Mundart das unangenehme Thema ab? Erreichte man die Menschen mit einem soliden Maß an Tradition?

Langsam stieg Agnes die Stufen hinab zum Archiv und suchte sämtliche Informationen zum Thema Deportation badischer Juden heraus und das wenige, das es zum französischen Widerstand gab. Die Akte BadischeDelegation nach Gurs aus dem Jahr 1963 fehlte mit dem Vermerk: Aktualisierung. Sie hievte die anderen Akten auf einen Rollwagen und fuhr mit dem Lastenaufzug zurück nach oben.

Der Boden knarzte, und die Notbeleuchtung beschien den langen Flur. Jedes kleinste Geräusch verstärkte sich wie über ein Megafon. Es war, als krächzte das alte Holz. Agnes blieb abrupt stehen und lauschte. Stille. Jemand hatte diesen Ort einmal mit einem Geisterschloss verglichen und behauptet, in der Nacht schwebten die Seelen der verstorbenen Hotelgäste durch die Räume auf der Suche nach einer Unterkunft.

Agnes schüttelte sich und schob den Wagen in ihr Büro.

Am frühen Morgen, als die ersten Kollegen eintrafen, hob sie den Hörer ab und bat die Zentrale um ein Amt. Im ganzen Haus gab es nur diese eine Leitung. Von der Auskunft erhielt sie die Telefonnummer der Schule Beauvallon in Dieulefit. Es erschien ihr nur logisch, als Erstes dort nachzufragen.

Sie notierte Adresse und Telefonnummer der Ansprechpartnerin, einer Frau namens Madeleine Defour.

An ihrem Kaffee nippend, öffnete sie am Fenster die Jalousien und warf einen Blick hinaus. Der idyllische Stadtteil Günterstal wurde von der aufgehenden Sonne in ein diffuses Licht getaucht. Auf der Straße fuhr der Milchwagen. Die Welt wirkte, als sei sie im Lot.

Agnes ging zur Garderobe und warf ihren Trenchcoat über. Im Stehen notierte sie am Schreibtisch ein kurzes Memo für ihren Chef, steckte es in einen Umschlag und schrieb seinen Namen und vertraulich darauf:

Lieber Wolfgang, leider keine Namen der Geretteten aus Sulzburg oder aus den anderen Orten. Es ist nur die Rede von badischen Juden, die namenlos zu sein scheinen. Du hast recht: Wir brauchen Namen, Zeugen, O-Töne. Ich nehme mir nochmals sämtliche Informationen aus dem Archiv vor, werde übermorgen nach Dieulefit aufbrechen und beginne mit der Schule von Dieulefit namens Beauvallon, wo viele Kinder überlebten. Weißt du, wo die Akte Badische Delegation nach Gurs, 1963, ist? Drei Tage müssten für den Anfang ausreichen. Gruß, Agnes.

Dann nahm sie die Unterlagen und stieß sie mit beiden Händen auf dem Tisch zusammen.

Einen Blick auf einen Anhang aus Wolfgangs Unterlagen mit einer Statistik zur Einwohnerzahl von Dieulefit werfend, runzelte sie die Stirn. Was sie sah, erreichte ihren Verstand erst verzögert. Sie war derart übermüdet, dass sie das Gefühl hatte zu träumen. Langsam ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen.

Dem Anhang war schwarz auf weiß zu entnehmen: Knapp zweitausend Bewohnern in Dieulefit im Jahr 1942 standen tausendfünfhundert gerettete Menschen gegenüber. Der Ort des Wunders hatte fast so viele Flüchtlinge, wie er an Einwohnern besaß, versteckt.

Mit was für einer unglaublichen Geschichte hatte sie es da zu tun? Plötzlich fühlte sie sich hellwach.

Vor Agnes lag die vielleicht größte Widerstandsgeschichte der Rettung von jüdischen Kindern in Frankreich. Gänzlich unerforscht und einer breiten Öffentlichkeit noch völlig unbekannt. Welche Geschichten verbargen sich hinter diesen Zahlen?

Würde man mit dem Bericht über das Schicksal badischer Juden dem Zeitgeist des kollektiven Verdrängens der Deutschen etwas entgegensetzen? Konnte man die Herzen einer Gesellschaft, die wegsah, mit dem Mut und der Unerschrockenheit der Dorfbewohner von Dieulefit erreichen?

Sie spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut und notierte gedankenverloren auf einem weißen Blatt Papier die Zahlen, deren Verhältnis sie sich immer wieder vor Augen führen wollte, um es niemals zu vergessen, egal wie beschwerlich ihre Reise werden würde. Daneben schrieb sie in schön geschwungener Schreibschrift: Das Wunder von Dieulefit.

AGNES

3

Dieulefit, 1965

Die Stadt befand sich noch im Tiefschlaf, als Agnes morgens um zwei in ihren jüngst erworbenen VW Käfer stieg. Ihr erstes eigenes Auto! Sie war früh zu Bett gegangen und ausgeschlafen. Vor ihr lag eine achtstündige Autofahrt.

Nur vereinzelt brannten Lichter in den alten Stadtvillen der Unterwiehre. In einem Dachgeschoss in der Innenstadt hatte Agnes eine kleine Zweizimmerwohnung gemietet, die im Winter eigenhändig mit Öl aus Kannen beheizt werden musste. Es roch dann penetrant danach, und die sich aufstauende Hitze war nur mit geöffneten Fenstern zu regulieren.

Dafür besaß sie einen exklusiven Blick auf die Johanneskirche.

Sie fuhr durch die menschenleere Stadt in Richtung Süden und passierte eine Stunde später die deutsch-französische Grenze bei Breisach. Der Zollbeamte kontrollierte ihren Reisepass, den Presseausweis und winkte sie durch.

Über die Lautsprecher des Autoradios – ein Luxus, den sich Agnes nachträglich hatte einbauen lassen – klangen via Radio Luxemburg die Stimmen der Beatles. She loves you. Yeah, yeah, yeah. Unmittelbar stieg ihre Laune.

In der Dunkelheit lenkte sie auf der Route Nationale ihren VW durch die noch verschlafenen französischen Dörfer, bis sie die Region Rhône-Alpes erreichte. Nur wenige Autos waren unterwegs.

Kurz vor Lyon ließ sie den Wagen auftanken und vertrat sich währenddessen ein wenig die Füße. Sofort nahm sie eine laue Wärme wahr. Sie erinnerte sich an viele Frankreich-Reisen in Richtung Atlantik oder Mittelmeer. Für Agnes bildete die Gegend um Lyon schon immer das Tor zum Süden, was das Klima anging.

Wenige Kilometer später erreichte sie einen kleinen Ort mit einer boulangerie.

Beim Betreten des kleinen Ladengeschäfts lag ein buttriger Geruch in der Luft, der sogleich den ganzen Raum erfüllte. Es duftete nach frischen Backwaren, krossem Baguette und Kaffee. Die Regale waren noch nicht eingeräumt, aber in einem Korb konnte Agnes frische Croissants sehen. Sie kaufte zwei davon und fragte den Bäcker beim Bezahlen, wie weit es noch nach Dieulefit war.

»Dieulefit?«, fragte er. »Jamais entendu.«

Der Mann hatte noch nie von dem Ort gehört.

Agnes verabschiedete sich und fuhr weiter.

Im Rückspiegel verschwand die Metropole Lyon. Ein Gedanke an die jüngere Geschichte der zweitgrößten Stadt Frankreichs streifte sie: Hier war während des Kriegs das Zentrum der Résistance gewesen. Ein hochgefährliches Terrain – der sogenannte Schlächter von Lyon Klaus Barbie hatte als Chef der Gestapo die Bevölkerung über die Jahre der deutschen Besatzung in Angst und Schrecken versetzt. Er war für seine Brutalität bei Verhören bekannt. Zwei Mal war Barbie nach dem Krieg in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden und befand sich immer noch auf freiem Fuß. Niemand wusste, wo einer der größten Verbrecher des NS-Regimes abgetaucht war. Er war keineswegs allein, denn unzählige hochrangige Vollstrecker des nationalsozialistischen Rassenwahns hielten sich, wie man vermutete, in Südamerika versteckt.

Agnes seufzte und schob die düsteren Gedanken beiseite. Was hatte Wolfgang gesagt? Es geht um Hoffnung, Agnes, um das Gute, das in Dieulefit in diesen dunklen Zeiten geschehen ist.

Auf der Höhe von Vienne ging die Sonne auf. Über dem Rhônetal wölbte sich ein stahlblauer Himmel. Ein französischer Sender spielte Chansons von Charles Aznavour, der mit seiner unverkennbaren melancholischen Stimme eine verträumte Saite in Agnes zum Klingen brachte.

Je näher sie der Drôme kam, desto mehr veränderte sich die Landschaft. Die Drôme-Provence war geprägt von wilder, ursprünglicher Natur mit Olivenhainen, Obstbäumen und noch kahlen Lavendelfeldern. Im Juni würden dort, so hatte einst ein französischer Literat behauptet, Himmel und Erde den Lavendel umarmen. Aus den Böden würde der Flores Lavandulae mit seinen lilafarbenen Blüten sprießen, die Landschaften völlig beherrschen. Für die Parfümherstellung würde die Pflanze eine einzigartige Duftnote entfalten, die sich von dem empfindlichen Lavendel in der Provence durch seine Robustheit unterschied.

Eine knappe Stunde vor ihrer Verabredung mit der Lehrerin von Beauvallon erreichte Agnes Dieulefit. Es lag an einer Anhöhe. Kleine aneinandergebaute Steinhäuser säumten die teils steilen Gassen aus Kopfsteinpflaster. Graue Dächer reflektierten das Licht. An großen Masten durchhängende Elektrokabel versorgten die Häuser mit Strom. Der Ort wirkte friedlich, fast unverwundbar, und Agnes fragte sich, wie das Schweigen der Bevölkerung in dieser Enge funktioniert hatte. Gab es hier Privatsphäre? Aus den geöffneten Fenstern hörte man das Geklapper von Geschirr, und Stimmen der Bewohner überschnitten einander. War der Zusammenhalt auch dieser Enge geschuldet?

Neben einer Fußgängerbrücke stellte sie ihren Käfer ab. Sie schlenderte durch die engen Gassen des Orts – von allen Seiten hörte sie wohlklingende französische Laute: Bonne journée. À bientôt. Einen schönen Tag. Bis bald!

Das ganze Dorf schien jetzt unterwegs zu sein.

Eine Frau legte eine Wolldecke über einen kleinen Balkon und grüßte Agnes dabei freundlich. Sie grüßte zurück.

Etwas weiter entfernt entdeckte sie einen Wochenmarkt. Auf den Marktständen türmten sich Berge bunter Tomaten. Die Ochsenherzen besaßen betörende Farben von Tiefrot bis Violett und Orange. Der Geruch der ersten Früchte der Saison lag in der Luft. Die Bauern boten ihre Ernte in Blechschüsseln an: Kartoffeln, Möhren, Salate, Fenchel, Erdbeeren, Aprikosen. Wenige Stände weiter duftete es nach Zitronen und Knoblauch, nach gebratenem Huhn.

Auf einfachen Holztischen lagen unzählige Käsesorten der Regionen Frankreichs aus. Agnes lief das Wasser im Mund zusammen. In Frankreich war, im Gegensatz zu Deutschland, Käse nicht gleich Käse – es gab ihn in allen denkbaren Varianten aus Ziegen-, Kuh- und Schafsmilch. Jede Region besaß ihre eigenen Vorlieben. Die Zubereitung eines Menüs glich einem Ritual, auch in dieser eher ärmlichen Gegend. Vorspeise, Hauptgang, Dessert. Auch wenn die Zubereitungen einfach und weniger raffiniert als in Paris oder den mondänen Seebädern der Normandie waren – beim Essen ging es um Genuss, den man, das wusste die französische Köchin, egal an welchem Herd sie stand, am besten mit der Zugabe von Butter erzielte. Essen und Trinken galten als Kulturgut, eines, das man tagtäglich feierte, egal wie bescheiden der Tisch gedeckt war. Über die Konserven, die aus Amerika den deutschen Markt erobert hatten, rümpfte man in Frankreich die Nase. Für diese Art Luxus waren die Franzosen nicht zu haben.

Etwas abseits verkauften Korbmacher ihre Waren. Ein Stand präsentierte Keramik aus der ortsansässigen Manufaktur. Einst war Dieulefit derentwegen berühmt geworden.

Mit Käse, Baguette, verschiedenfarbigen Oliven und Lavendelhonig machte sich Agnes auf den Weg zurück zu ihrem Auto.

Beauvallon lag etwas abseits des Dorfs in der Senke eines kleinen Tals, begrenzt von steilen Anhöhen mit wuchernden Pflanzen, als hätte man hier der Natur ihren Lauf gelassen. Eine schmale Schotterstraße führte zu dem leicht ansteigenden Hauptgebäude, dessen Größe man erst gewahr wurde, wenn man unmittelbar davorstand. Es erinnerte sie an das Sanatorium aus Thomas Manns Der Zauberberg. Der Vorbau bestand aus einem langen überdachten Balkon, von Rundbögen an den Seiten gestützt.

Hier befand sich also das einstige Refugium der Kinder von Beauvallon? Hier könnte Lilys Zuhause gewesen sein? Jetzt im Frühjahr lag es eingebettet in dichtem Gestrüpp. Auf dem Vorplatz befand sich eine hochgewachsene Kastanie, um deren Wurzeln ein aus Steinen gebildetes Herz angelegt worden war. Aber auch im Winter dürfte es durch die Talsenke vom Dorf aus nicht einsehbar gewesen sein.

Agnes wunderte sich, wie schnell sie in derartigen Kategorien dachte.

Sie stieg aus dem Wagen und holte ihre Tasche mit dem tragbaren Tonbandgerät aus dem Kofferraum. Auch das halbe Foto, das ihr Lily einst auf dem Marktplatz von Sulzburg geschenkt hatte, befand sich darin.

Wir werden es wieder zusammenkleben, das verspreche ich dir, Lily Blum.

Wie lange lag Agnes’ kühnes Versprechen nun zurück? Mehr als zwanzig Jahre hatte sie es nicht einlösen können.

Über der Tür hing eine Glocke, die sich mit einer Schnur betätigen ließ. Sie klingelte.

Das Haus schien menschenleer, obwohl hier immer noch normaler Schulbetrieb stattfand. Heute am Samstag hatten die Kinder frei.

Eine junge Frau öffnete Agnes die Tür, ließ sie herein und bat sie, im Eingangsbereich zu warten. »Madame Defour wird gleich bei Ihnen sein und sich um Sie kümmern.«

Dann verschwand die Frau.

Agnes sah sich um. Alles wirkte einfach, zweckmäßig. Das Entree mündete auf zwei Seiten in schmale Flure, von denen Türen abgingen, wo sich vermutlich die Klassenzimmer befanden.

An einer Wand stach ihr eine überdimensional große gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie ins Auge. Aufmerksam betrachtete sie die Kinder, die in einem Kreis auf einfachen Holzstühlen saßen, einige von ihnen im Schneidersitz auf dem Boden. Dem Kleidungsstil zu entnehmen, stammte es aus den Vierzigerjahren. Im Hintergrund ein rechteckiges Sprossenfenster, durch das die Berge zu sehen waren. An den Wänden des Raums hingen Regale mit Büchern. In der Mitte des Kreises stand eine hell gekleidete Frau, ein Buch in den Händen haltend. Alle Kinder blickten gebannt auf sie.

Agnes trat dicht heran und ging jedes einzelne Kind durch. Lilys Wuschelhaar hätte sie unter Tausenden erkannt. Aber Lily war nicht dabei.

»Das waren die morgendlichen Versammlungen der Kinder von Beauvallon«, hörte Agnes eine tiefe Stimme hinter sich. »Marguerite Soubeyran, die Leiterin der Schule, hat sie einst ins Leben gerufen.«

Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht einer dunkelhaarigen Frau, die einen Hosenanzug trug. Weiße Bluse, bis oben zugeknöpft. Tiefbraune, ungeschminkte Augen sahen Agnes aufmerksam an. Eine Frau von etwa fünfzig. Ihre strengen Gesichtszüge ließen sie unnahbar, distanziert erscheinen.

»Sind Sie die Radiofrau aus Freiburg?«

Agnes nickte und reichte ihrem Gegenüber die Hand. »Sie müssen Madame Defour sein. Wir haben telefoniert. Es ist mir eine Freude. Ich bin Agnes Engler.«

»Madeleine Defour«, gab die Frau zurück und stellte sich neben Agnes frontal vor das Foto. »Sie kommen also aus Deutschland zu uns.«

Deutschland. Agnes schluckte. Madame Defours Stimme offenbarte ein gewisses Ressentiment. Es war nicht lange her, dass die Deutschen einen großen Teil Frankreichs besetzt hatten – historisch betrachtet ein Wimpernschlag. Die deutsch-französischen Beziehungen der 1960er-Jahre ließen sich am besten als heikel umschreiben, seit der deutsche Bundeskanzler Erhard den Schwerpunkt der Außenpolitik auf die USA gelegt hatte. Damit waren die nach dem Krieg hart erkämpften soliden Beziehungen zu Frankreich seines Vorgängers Adenauer zweitrangig geworden, worauf Frankreich irritiert reagiert hatte. Reparationsleistungen brachten keine Versöhnung und erregten zudem die Gemüter all jener Deutschen, die endlich ihre Ruhe haben wollten.

Könnte man nicht im Kleinen mit der Verständigung anfangen?, fragte sich Agnes.

»Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1942.« 

Madame Defour verschränkte die Arme. »Jeden Morgen vor dem Unterricht vollzogen wir an unserer Schule dieses Ritual und tun das noch heute. Es war und ist die kostbarste Zeit des Tages. Diese Schule orientierte sich an der Reformpädagogik aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Das tut sie heute noch.«

Ihr Ton, der erst hart, fast autoritär klang, hatte sich verändert, Nuancen offenbarten auf einmal etwas Nahbares.

»Die Menschen hier in Dieulefit haben Großes geleistet«, sagte Agnes und bemühte sich, ihre Enttäuschung, Lily nicht auf dem Bild gefunden zu haben, zu verbergen.

Madame Defour schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts Großes. Es war uns allen selbstverständlich. Niemand fühlte sich in Dieulefit als Held, nur als Mensch, der das Richtige tat. Wir nennen das hier die Banalität des Guten.«

Die Banalität des Guten.

Madame Defour spielte auf Hannah Arendts Ausdruckder Banalität des Bösen an. So hatte die Philosophin als Prozessbeobachterin das Gebaren von Adolf Eichmann vor einem israelischen Gericht im Jahr 1961 bezeichnet. So lange war das nicht her. Eichmann galt als der Organisator von Hitlers Endlösung. Vor dem Prozess, der öffentlich via Fernsehübertragung aus Jerusalem um die Welt gegangen war, war Eichmann vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgegriffen worden, wo er unter falschem Namen nach dem Krieg gelebt hatte. Während der Verhandlung hatte Eichmann mehrfach beteuert, er habe nur seine Pflicht getan. Überlebende Zeugen aus Fleisch und Blut, keine Nummern, waren tagtäglich im Fernsehen zu sehen gewesen. Sie berichteten von den Ungeheuerlichkeiten, die ihnen widerfahren waren, und konfrontierten die Öffentlichkeit mit der Wahrheit. Ihre Schilderungen setzten der deutschen Verdrängungskultur Tatsachen entgegen, denn danach hatte Agnes’ Generation angefangen, ihren Familien Fragen zu stellen.

Agnes drückte ihre Unterlagen gegen die Brust.

»Und was geschah bei jenen Versammlungen?«, fragte sie.

Die beiden Frauen betrachteten immer noch das Foto.

»Es begann mit dem Glockengeläut. Jeden Morgen vor Schulbeginn. Nach der Versammlung folgte eine Schweigeminute. Danach haben wir eine halbe Stunde lang zum Beispiel ein Gemälde von Chagall, Matisse oder Picasso interpretiert. Mal war es eine markante Textstelle aus einem Roman. Victor Hugo. Gedichte von Éluard. Rilke. Flaubert. Oder wir hörten Musik: Bach. Beethoven. Debussy. Man muss nur die Schönheit lehren und die Liebe zu den schönen Künsten wachsen lassen. Dieser Leitsatz prägt noch heute unsere Schule, unseren Auftrag. Wer die Schönheit erkennt, hat es schwerer, ein böser Mensch zu werden.«

»Das hört sich großartig an«, sagte Agnes, während sie über Madame Defours letzten Satz nachdachte.

Auch die Nazis hatten sich als Kunstfreunde ausgegeben, allen voran Hitler und dessen Stellvertreter Göring. Bilder, die erst seit Kurzem über Fernsehapparate in wenigen deutschen Wohnzimmern flimmerten, kamen ihr in den Sinn. Geraubte Kunstwerke, die man nach dem Krieg unter Tage in österreichischen Salzbergwerken, in Kellern und auf Dachböden von Privathaushalten gefunden hatte.

Auch das Böse bediente sich der Schönheit.

»Nun«, sagte Madame Defour freundlich. »Was genau kann ich für Sie tun? Sie sprechen sehr gut Französisch. Mein Deutsch ist im Moment vielleicht etwas eingerostet. Ich bekomme erst im nächsten Schuljahr wieder eine Deutschklasse.«

Sie warf einen Blick zur Tür. Nein, Madame Defour war keineswegs distanziert. Reserviert traf es eher. Ihr Kompliment glich dem Lob einer Lehrerin.

»Merci, Madame. Gibt es ein Archiv, etwas, wo ich die jüngste Geschichte dieses Orts nachlesen könnte?«, fragte Agnes und zog den Riemen ihrer Umhängetasche an der Schulter nach oben. Das tragbare Tonbandgerät besaß ein beachtliches Gewicht. »Einen Raum, in dem ich mir einen Überblick verschaffen kann? Hier in Dieulefit müssten noch jede Menge Zeitzeugen leben. Mein Radiosender plant, wie ich bereits ankündigte, eine mehrteilige Reportage über Ihren Ort.«

Madame Defour zögerte kurz, dann sah sie auf ihre Uhr.

»Ich bin Ihre Zeitzeugin, Mademoiselle«, sagte sie bestimmt, drehte sich um und ging mit erhobenem Kopf den Flur entlang. »Ich unterrichte hier seit fünfundzwanzig Jahren und wurde von Madame Soubeyran, genannt Tante Marguerite, ausdrücklich autorisiert. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Verblüfft ging ihr Agnes hinterher.

»Wissen Sie, was ich mich frage?«, hörte sie die Stimme von Madame Defour, die im Gehen den Kopf zur Seite warf, abrupt vor einer Tür stehen blieb und einen Schlüssel aus einem klappernden Schlüsselbund ins Loch steckte.

»Sie werden es mir sicherlich gleich verraten«, erwiderte Agnes charmant.

Madame Defour sah ihr Gegenüber eindringlich an. »Nicht einmal die Franzosen haben Interesse an ihrer jüngeren Geschichte. Alles, was bisher über unseren Ort veröffentlicht wurde, beschränkt sich auf eine regionale Berichterstattung. Was genau führt Sie hierher, Mademoiselle?«

Mit Schwung stieß sie die Tür auf.

AGNES

4

Beauvallon in Dieulefit, 1965

»Entschuldigen Sie bitte die Unordnung hier«, sagte Madame Defour, räumte einen Stuhl gegenüber ihrem Schreibtisch frei und schob einige aufgeschlagene Bücher zur Seite. Im Stehen zündete sie sich eine Zigarette an und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

Vorsichtig, als handle es sich um vermintes Gelände, betrat Agnes den Raum und nahm der stellvertretenden Schulleiterin gegenüber Platz.

Madame Defour zog an ihrer Zigarette. In ihrem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung.

»Also, was genau führt Sie zu uns?«

»Oh, ich habe viele Fragen, Madame«, murmelte Agnes und blätterte durch ihren vollgeschriebenen Notizblock. »Es ist faszinierend, was Menschen wie Sie hier im Ort geleistet haben, angefangen vom Widerstand in den schrecklichen Kriegsjahren bis zur Befreiung.«

Madame Defour schwieg.

Die Befreiung – ab Sommer 1944 war Frankreich mithilfe der Alliierten befreit worden. In ganz Frankreich waren die Mitglieder der Résistance aus dem Untergrund aufgetaucht und hatten für ihre Freiheit gekämpft.

Agnes bemerkte ein leichtes Zittern ihrer Hände. »Darf ich das Tonbandgerät einschalten?«

Madame Defour presste die Lippen zusammen.

»Unter einer Voraussetzung«, sagte sie nach einer Pause mit strengem Unterton. »Alles, was ich zu Protokoll gebe, muss von mir autorisiert werden, bevor Sie damit an die Öffentlichkeit gehen. Ich lese das gern in Deutsch und brauche keine Übersetzung von Ihnen. Niemand hier in Dieulefit möchte seine Taten an die große Glocke gehängt haben, verstehen Sie? Habe ich darauf Ihr Ehrenwort?«

»Ehrenwort«, gab Agnes nach einem kurzen Zögern zurück.

»Dann werde ich mich im Gegenzug dafür starkmachen, dass Sie Ihre Bühne bekommen, Mademoiselle Engler«, erwiderte Madame Defour und lächelte. »Wie also lautet Ihre erste Frage?«

Agnes räusperte sich. »Führen Sie Buch darüber, was aus den Überlebenden wurde?«

»Es gibt Listen in Beauvallon, auf dem Rathaus. Namenslisten der Überlebenden. Unser Monsieur Katz, selbst ehemaliger Flüchtling, ist ein wandelndes Résistance-Lexikon und arbeitet seit Jahren an einer Dokumentation. Wir planen noch dieses Jahr eine Fotoausstellung. Ich lasse Ihnen Kopien der Listen zukommen.«

Aus dem beachtlichen Chaos ihres Schreibtischs zog Madame Defour ein Notizheft, klappte es auf, schrieb etwas hinein und klappte es wieder zu.

Namenslisten der Überlebenden – genau das wollte Agnes hören. »Danke«, sagte sie. »Das ist sehr freundlich.«

»Léon Katz ist einer der wenigen, die ihren ursprünglichen Namen wieder angenommen haben.«

»Seinen ursprünglichen Namen?«

»Ja«, erwiderte die Schulleiterin. »Alle Flüchtlinge haben bei uns neue Namen bekommen. Französische Namen. Das war der erste Schritt in den Untergrund.«

Abrupt verstummte Madame Defour, als habe sie soeben ein Geheimnis ausgeplaudert.

Agnes hingegen stockte der Atem aus einem anderen Grund: Lily Blum musste also auch einen neuen Namen erhalten haben. Agnes hatte einen entscheidenden Fehler bei ihrer früheren Suche gemacht und ärgerte sich insgeheim, eine neue Identität nicht zumindest in Betracht gezogen zu haben.