Die Stimmen über dem Meer - Bettina Storks - E-Book

Die Stimmen über dem Meer E-Book

Bettina Storks

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Beschreibung

Eine Hommage an die Bretagne und die Bretonen Eigentlich wollte die Halbfranzösin und Übersetzerin Morgane ihr geerbtes Häuschen nur rasch verkaufen und zurück nach Deutschland. Doch mit dem Haus hat sie auch Schulden geerbt – und die alte Paulette, der Morganes Tante angeblich ein lebenslanges Wohnrecht zugesichert hat. Außerdem bemerkt Morgane gleich am ersten Tag: Diese raue, wunderschöne Landschaft löst etwas in ihr aus und die bretonische Sagenwelt scheint auch ihre Geschichte zu erzählen. Kein Wunder: Hier ganz in der Nähe ist ihre Mutter aufgewachsen und bei einem mysteriösen Badeunfall ums Leben gekommen. Morgane bleibt und beschließt zu kämpfen: um ihr Haus, ihre Unabhängigkeit und um die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter zu erfahren. Sie findet Freunde und verliert eine Liebe. Sie findet Antworten und droht den Glauben an ihren Traum zu verlieren. Aber Morgane hat auch die bretonische Sturheit geerbt... "Literarisches Äquivalent zum leichten Rosé an einem warmen Sommerabend." Petra Harms, Donna Buchklub 

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Seitenzahl: 460

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© Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung:Alexa Kim »A&K Buchcover«Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com und Pixabay genutztDatenkonvertierung: psb, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Freude der SchiffbrücheUnd plötzlich nimmst dudie Fahrt wieder aufwienach dem Schiffbruchein überlebenderSeebär.Giuseppe Ungaretti, Allegria di naufragi

Die Kälte des Wassers peitschte über ihre Haut bis in die Knochen. Sie schmeckte ein Gemisch von Blut und Algen, das Salz des Meeres.

Angst durchdrang jede Faser ihres Körpers. Eine Welle spuckte sie aus. Regen klatschte auf ihren Kopf, das Wasser ringsum. Sie schnappte nach Luft, strauchelte, paddelte mit Armen und Beinen, warf den Kopf zurück und öffnete den Mund zu einem Schrei, den die Wellen sofort verschlangen.

Aus der Ferne menschliche Laute und ein Orchester, unerreichbar. Cello, Posaunen, Trommeln und quietschende Geigen.

Ein flackerndes Licht kreiste über dem Wasser, wandte sich ab, kehrte zurück, sprang über das aufgescheuchte Meer.

Ein schwarzer Horizont mit vorbeieilenden Wolkenfetzen. Der Mond prall gefüllt. Meeresboden.

Sie hielt die Luft an. Das Wasser quetschte jede ihrer Zellen und der Druck auf ihre Lungen zerriss ihren Körper.

Ein Sog wirbelte sie hinab. Dunkelheit und Stille. Ruhe besänftigte die Sinne. Gesichter trieben an ihr vorbei. Erinnerungsfetzen. Eine Nabelschnur. Der Duft von Blumen. Eine Musik. Eine Landschaft. In der Ferne Stimmen.

Schmerz. Angst. Kälte.

Unwiderstehlich ist der Schlaf.

Dann wich die Furcht.

Das Licht wurde schwächer, die Stimmen verschmolzen zu einem Chor.

Man sorgte sich um sie. Aber das war nicht nötig. Sie gab sich hin, atmete das Wasser ein. Von allen Seiten schmiegte sich sanfte Wärme um ihre Seele, schaukelte und trug sie schwerelos.

Das Orchester spielte ein ihr vertrautes Lied. Ihre Haut, Augen, Ohren, Mund und Hände vernahmen den Ruf.

Der Wind schob die Wolken zur Seite und der Mond tauchte die Landschaft in ein mildes Licht. Selbst das Meer beruhigte sich und die Wellen schwappten leise ans Ufer.

Kapitel 1

Morgane warf einen Blick zum Himmel über Le Conquet, steckte die Hände in die Jackentasche und ging hinunter zum Steg. Sie wollte dorthin, wo man das Meer riechen und bei passender Windrichtung sogar ein paar Tropfen abbekommen konnte, obwohl die Wellen bereits in einiger Entfernung an den Felsen zerschellten. Hier an der Bootsanlage des kleinen Fischerortes schwappte das Wasser nur hin und wieder gegen die Steinmauer.

Die Hauptsaison war lange vorbei. Im November verirrte sich kein Tourist mehr ins Finistère, schon gar nicht bei solchem Wetter. Der Wind spielte mit den eingezogenen Segeln und ließ die Boote hin- und herschaukeln. Wenn sie dabei gegen die Brüstung stießen, krächzten sie. Wie hypnotisiert betrachtete Morgane den blinkenden Leuchtturm von St.-Mathieu auf der anderen Seite der Bucht. Es kam ihr vor, als taumelte er um die eigene Achse. Seit ihrer Ankunft vor einer halben Stunde hatte sie zusehen können, wie das Blau des Himmels von den Wolken gefressen worden war. Einige von ihnen hingen mit geblähten Bäuchen so tief über dem Meer, als wollten sie jeden Moment hineinstürzen. Der klaren Luft war ein grauer Schleier gefolgt, der nun den Fischerhafen überzog.

»Es wäre besser, hier zu verschwinden!«, rief ihr ein Mann in langem Regenmantel zu. Er trug einen gelben Schlapphut und Gummistiefel, die ihm bis weit über die Knie reichten. Morgane zuckte zusammen. So sehr war sie in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Mit Schwung warf der Fischer eine Plane über sein Boot und befestigte es mit einem Seil am Poller.

»Beeilen Sie sich besser, wenn Sie noch trocken zu Hause ankommen wollen, Madame! Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Himmel.«

Vergeblich versuchte Morgane, sich die wehenden Haare aus dem Gesicht zu streichen. Gegen den Wind hier kam man nicht an. »In Ordnung. Vielen Dank für die Warnung«, gab sie zurück, obwohl sie diese Küste mit all ihren Tücken, ihrer Unberechenbarkeit und ihren plötzlichen Wetterumschwüngen gut genug zu kennen meinte.

Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Zehn Jahre? Fünfzehn Jahre? Genug Zeit, um manches zu vergessen, aber diese Natur hatte sie sich eingeprägt. Die wechselnden Farben des Meeres von Türkisgrün bis Königsblau, der unaufhörliche Wind, der Geschmack von Salz und der Geruch von Algen. Jetzt wälzten sich die Wassermassen, von ihrer Fracht aus Steinen, Sand und Muschelresten anthrazitfarben, fast schwarz gefärbt, ans Ufer. Morgane schien es, als schwappten mit den Wellen auch Erlebnisse ihrer Kindheit zurück in ihr Gedächtnis und dockten dort an.

All die Jahre, die sie nicht hier gewesen war, erschienen ihr plötzlich wie ein Treuebruch, den sie begangen hatte, immer und immer wieder, während jener Fischerort auf das kleine Mädchen von damals gewartet haben musste, geduldig wie ein anhänglicher, alter Freund. Als erkenne er Morganes mädchenhafte Seele wieder, obwohl sie inzwischen eine erwachsene Frau von bald vierzig Jahren war.

Finistère – das Departement im äußersten Westen Frankreichs, für Morgane war es nie das Ende gewesen, auch wenn Touristen das Wortspiel vom Ende der Welt nur allzu gern bemühten. Ihre Großmutter Mémé hatte Morgane die keltische Übersetzung von Finistère gelehrt, Penn ar Bed – Land am Anfang, Land an der Spitze der Welt.

»Nach der Bucht von Le Conquet kommt nur noch Amerika«, hatte Mémé immer stolz gesagt und behauptet, dass für die Kelten mit dem Tod alles erst anfing.

Der Fischer war verschwunden. Der Leuchtturm glomm nur noch matt durch die aufgezogene Nebelwand. Weit draußen konnte man bereits einen Regenvorhang sehen, der sich ins schäumende Meer ergoss. Sturmböen peitschten durch das Hafengelände. Sie hätte auf den Mann hören sollen, zu ihrem Wagen würde sie es nun nicht mehr schaffen. Innerhalb weniger Sekunden durchdrang der Regen ihre Jacke und die Jeans bis auf die Haut. Auf der anderen Straßenseite gegenüber der Bootsanlegestelle blinkte in neongrüner Farbe der Schriftzug »Bistro«, und sie rannte unter das gewölbte Vordach, schüttelte sich, öffnete die Tür und stolperte in die kleine, typisch französische Dorfkneipe. Quietschend schloss sich die Tür hinter ihr.

Am Tresen saßen drei Männer nebeneinander. Einer von ihnen sah auf und nickte Morgane zu. Lächelnd erwiderte sie seinen Gruß und blickte in ein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht. Sie erinnerte sich gut daran, wie sehr ihre Mutter diese ganz besonderen Stimmungen an ihrer Heimat geschätzt hatte.

»Nirgendwo auf der Welt schweigt man schöner als in einer bretonischen Dorfkneipe«, hatte sie immer gesagt und dabei einen verträumten Blick bekommen.

Einfache Gläser, mit einem dunklen Rotwein gefüllt, standen vor den Männern. Niemand sonst saß an einem der wenigen Tische. Morgane zog ihre durchnässte Jacke aus, legte sie auf den warmen Heizkörper, wählte einen Platz direkt daneben und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Aus ihrem Rucksack holte sie einen Troyer, den sie sich rasch über den Kopf zog.

Die Männer am Tresen starrten auf ihren Roten und sprachen miteinander ohne aufzusehen. Über der Bar in der Ecke lief ein Fernseher. Die Übertragung eines Fußballspiels. Sobald die Stimme des Moderators beschleunigte und lauter wurde, brachen die Männer ihre Rede ab und sahen synchron auf die Mattscheibe. Nacheinander winkten sie ab, als die offensichtlich letzte Torchance vergeben war und der Schlusspfiff ertönte. Morgane schnappte ein paar Fetzen auf: Stürmer. Champions League. Transfers. Fischmarkt. Delikatessen. Herbststürme. Die Gezeiten. Der Klimawandel. Das raue Lachen der Männer barg einen Hauch von Melancholie, ihr Schweigen Vertrautheit.

»Madame?«

Der Wirt war an Morganes Tisch getreten. Sie schrak zusammen, fühlte sich beim Belauschen des Gesprächs ertappt. Verlegen bestellte sie Kaffee und blickte dann zum Fenster. Der Regen prasselte gegen die beschlagenen Scheiben, und plötzlich fühlte sich Morgane auf seltsame Weise geborgen. Im Warmen zu sitzen, während draußen die Wellen an der Brüstung zerschellten, gab ihr Sicherheit. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass das Haus, dessentwegen sie hierhergekommen war, wie die meisten Landhäuser in der Bretagne einen offenen Kamin besaß.

»Sie sind fremd hier.«

Die Stimme des Kneipiers klang neutral, ohne jede Neugier. Eine schlichte Feststellung. Er wischte mit einem Geschirrtuch über den Tisch und stellte anschließend den Kaffee ab.

»Nicht ganz«, erwiderte Morgane. »Ich kenne die Gegend.« Dass ihre Mutter von hier kam, verschwieg sie, ohne zu wissen, warum.

»Pariserin?«

Er hob die Augenbrauen, und in seinem Gesicht glaubte sie ein verschmitztes Lächeln wahrzunehmen. Es war immer das Gleiche: Zunächst hielten sie die Franzosen für eine Landsmännin. Bis zum Tod ihrer Mutter hatte sie mit ihr Französisch gesprochen, danach half ihr die französische Literatur, die sie schließlich auch zu ihrem Beruf gemacht hatte. Aber daneben hatte es einen deutschen Vater gegeben, und Deutschland, wo sie aufgewachsen war. So kam es, dass nach und nach die Sprache ihrer Kindheit verwässerte und sie sich bei einer längeren Unterhaltung immer verriet: Kleine Fehler schlichen sich in ihre Sätze, hier und da benutzte sie schlichtweg ein falsches Wort für einen Sachverhalt oder vertat sich in der Zeit. Nicht, dass sie grammatikalisch falschlag, aber ihre Rede wirkte dann gekünstelt, aufgesetzt. Erst nach ein paar Wochen in Frankreich wurde sie sicherer; je weniger sie ihren Kopf einsetzte, desto besser. Wenn sie ein Buch übertrug, handelte es sich um eine andere Welt, in die sie eintauchte. Nicht nur, dass ihre Arbeit in dem Sinne kein kommunikativer Akt war, vielmehr war es der Zeitfaktor, der bei einer Unterhaltung zum Tragen kam. Im Reden konnte sie nicht lange nachdenken, wohl aber beim Übersetzen auf dem Papier, wenn sie Synonyme in ihrem Kopf hin und her schob, verwarf, zurückholte. Manchmal ließ sie eine Lücke und suchte tagelang nach einem passenden Wort. Oft war es aber gar keine Frage des Vokabulars, sondern des richtigen Tons.

Mit einer Pariserin war sie noch nie verglichen worden, denn von der Eleganz einer Dame aus der Hauptstadt war Morgane meilenweit entfernt. Sie jedenfalls kannte keine Einzige, die in einer Boyfriend-Jeans, Boots und einem weiten Sweatshirt auf die Straße gehen und sich in diesem Aufzug auch noch in ein Bistro wagen würde. Morganes Stilsicherheit beschränkte sich auf ihre Arbeit.

»Verwandtschaft«, gab sie dem Wirt fast flüsternd zur Antwort und kramte in ihrem Rucksack nach einem Papiertaschentuch. »Eine Tante, etwas außerhalb von Le Conquet.«

»Oh«, erwiderte er auf dem Weg zurück hinter den Tresen, als habe Morganes Verwandtschaft eine gute Wahl getroffen. Mehr sagte er nicht und Morgane genoss seine Diskretion. Routiniert begann er mit dem Spülen der Gläser.

»Es muss in der Nähe der Landstraße nach St.-Mathieu sein«, fuhr sie fort und beschloss noch im selben Augenblick, dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben würde.

»Ja, da gibt es ein paar Häuser«, bekam sie zur Antwort.

»Rue des Artichauts«, sagte sie und sah ihn direkt an.

»Genau«, bestätigte er. »An den Klippen entlang.« Er zeigte mit der flachen Hand in die Richtung. »Sie können es gar nicht verfehlen. Rechts die Klippen und links Artischockenfelder. Dazwischen die Straße nach St.-Mathieu.«

Schweigend trank Morgane ihren Kaffee aus. Der Regen ließ allmählich nach. Als einer der Männer mit einem kurzen Gruß den Raum verließ, legte sie Geld auf den kleinen Teller mit dem Kassenbeleg und erhob sich. »Danke für die Wegbeschreibung. Au revoir!« Mit dem Rucksack über der Schulter ging sie zur Tür.

»Viel Glück. Immer an den Artischockenfeldern entlang«, wiederholte der Mann und zeigte in südliche Richtung »À la prochaine – bis zum nächsten Mal.«

Es handelte sich um eine Mischung aus Neugier und schlechtem Gewissen, die Morgane noch in den späten Abendstunden in die Rue des Artichauts trieb, nur um einen ersten Blick auf das Häuschen zu werfen, wo Tante Fanny, die Schwester ihrer Mutter, ihr halbes Leben verbracht haben musste. In wenigen Stunden sollte Fannys Haus ihr gehören. So hatte es die Tante gewollt. Ihr Tod vor wenigen Wochen hatte Morgane in besonderer Weise beschämt. Über Jahre hatte sie keinen der Briefe ihrer Tante beantwortet, nur hin und wieder nach dem Telefonhörer gegriffen, aber ein richtiges Gespräch war dabei nicht zustande gekommen. Morgane hatte ihrer Tante nie verzeihen, dass sie das Versprechen, das sie ihr nach der Beerdigung ihrer Mutter in einer Dachkammer einst gegeben hatte, nicht gehalten hatte.

»Ich werde immer für dich da sein.«

Fannys Worte. Und doch hatte sie die kleine Morgane zurück in die deutsche Heimat reisen lassen, ein zehnjähriges Kind mit einem Teddybär im Arm, dessen viel beschäftigter Vater bereits nach Erledigung der Formalitäten zurück in die deutsche Heimat gefahren war, um sein neues Leben als Alleinerziehender zu regeln. Nach einem halben Jahr war Roberts übereilte Heirat gefolgt. Eine zweite Frau, die in Morganes ohnehin erschütterte Welt einbrach. Wo war Fanny gewesen, um Morgane vor einem derartigen Übergriff zu schützen? War die Hinterlassenschaft eines bretonischen Steinhauses nichts anderes als der Versuch, Versäumtes wiedergutzumachen?

Langsam fuhr Morgane durch den Ortskern und sah sich dabei um. Es war bereits finster, aber der Vollmond tauchte die Umgebung in ein mattes Licht. In einigen Häusern brannte Licht. Ein Teil von Le Conquet befand sich auf einem Plateau über dem Meer und in der Mitte lag, gleich neben dem Office du Tourisme, ein Friedhof, der mit den typisch bretonischen Steinen ummauert war. Auf ihm eine kleine beleuchtete Kapelle, vor dem Portal, das aus einem gusseisernen Tor bestand, ein hochgewachsener Kastanienbaum.

Hier war sie morgen um elf mit Madame Menez verabredet, eine ältere Dame, die ihr, wie mit dem Notar vereinbart, die Schlüssel aushändigen sollte. Wie viel würde ein Häuschen hier wohl bringen?

Kurz vor dem Ortsende entdeckte sie wieder das rhythmisch wandernde Licht des Leuchtturms von St. Mathieu. Die Straße schlängelte sich an den Klippen entlang, genau wie es der Wirt beschrieben hatte, und im Schimmern einer Straßenlaterne sah sie ein Hoftor mit einem Schild »Au erge anny«. Rue des Artichauts. Bei Auberge fehlte das b; von Fanny war im Laufe der Jahre nur noch ein »anny« übrig geblieben. Eine Cousine von Morganes Mutter hatte irgendwann von einer Auberge gesprochen und davon, dass Fanny den Gastbetrieb bereits vor vielen Jahren eingestellt hatte. Seitdem schien sich die Tante nicht mehr viel um das Aussehen ihrer ehemaligen Pension geschert zu haben. Morgane stoppte den Wagen, stieg aus und lehnte die Fahrertür an, um keinen unnötigen Lärm zu machen. Das Gewitter hatte sich verzogen, und eine kühle Luft lag über der Landschaft. Außer dem Rauschen des Meeres war es still. Sie sah sich um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, streifte sie, obwohl es hier nur wenige Häuser diesseits und jenseits der Landstraße gab. Hinter einem Fenster bewegten sich Vorhänge. Oder hatte sie sich getäuscht? Sie schritt zur Einfahrt hinüber, doch das Tor war verschlossen und das Gebäude lag hinter einer hohen Steinmauer.

Plötzlich glaubte sie zu wissen, wie es innen aussah, wie es nach Holz, Kohle und frisch gewienerten Dielenböden roch. Eine knarrende Holztreppe. Das Geklimper von Geschirr aus der Küche. Ihre Großeltern hatten dieses Haus, das Mémé einst überraschend geerbt hatte, nie bewohnt. Es war viel zu groß und Mémé mit ihrem wenige Kilometer entfernten Geburtsort Plouarzel verwachsen gewesen. Doch ein Verkauf war nicht infrage gekommen und das Haus an den Klippen so lange Zeit unbewohnt geblieben. Einmal hatte Morgane mit ihrer Mutter die Ferien dort verbracht. Morgane dämmerte, wie sie einst nach einem Streit zwischen Elaine und der Großmutter in jenes unbewohnte Haus mit den verschlossenen Fensterläden geflüchtet waren. Damals war sie vielleicht sieben Jahre alt gewesen. Elaine war bedrückt gewesen, schweigsamer als sonst und hatte die Läden aufgeklappt, um Licht hereinzulassen und den dunklen muffigen Ort binnen eines Tages bewohnbar gemacht. Sie hatte Betten bezogen und Fenster geputzt, während Morgane im Garten unter mächtigen Hortensienbüschen spielte.

Wie eine Diebin schlich sie nun an die seitliche Begrenzung des Grundstücks und versuchte durch Gestrüpp, das neben der Mauer wucherte, einen Blick auf das Gebäude zu erhaschen, aber die Pflanzen standen zu dicht. Nur in der Ferne war ein matter Lichtstrahl zwischen den Schatten der Blätter zu erkennen. Direkt dahinter mussten die Klippen kommen. Sie wechselte die Straßenseite. Von hier aus konnte sie zumindest so etwas wie eine zweite Etage sehen und ein schräges Dachfenster. Dann stutzte sie: Hinter einem der Fenster war ein Licht angegangen! Der Anwalt aus Brest, ein gewisser Maître Levèbre, der Fannys Angelegenheiten nach ihrem Tod abwickelte, hatte von einer Alleinerbschaft Morganes gesprochen. Wer trieb sich in ihrem Haus herum? Oder hatte sie sich getäuscht? Vergeblich suchte sie am Tor nach einer Hausnummer. Sie sah sich um: Die Anwesen ähnelten einander, aber das alte Auberge-Schild ließ keinen Zweifel zu: Das hier war ihr Haus – und irgendjemand hielt sich dort auf. Morgane widerstand dem Impuls, einfach zu läuten und die Angelegenheit zu klären. Es war klüger, bis morgen zu warten, wenn sie im Besitz der Schlüssel sein würde. Noch einmal spähte sie mit zusammengekniffenen Augen durch die winzige Lücke zwischen Tor und Steinmauer, aber es war unmöglich, mehr zu erkennen.

Ihr Handy, das sich im Wagen befand, klingelte und zeitgleich regte sich etwas hinter dem Tor: ein Geräusch, das rasch näher kam, Schritte auf Kiesboden. Instinktiv trat sie zurück, doch nur einen Augenblick später blieb Morgane fast das Herz stehen: Lautes Bellen, das von einem bedrohlichen Knurren unterbrochen wurde, erschreckte sie so heftig, dass sie mit wenigen Schritten zu ihrem Auto sprang, ins Wageninnere hechtete, die Tür zuzog und verriegelte. Dann erst zerrte sie mit fahrigen Fingern das Mobiltelefon aus der Seitentasche ihres Rucksacks und nahm das Gespräch an. Es war Stefan.

»Wo bist du?«

Seine Stimme klang weich, nur der Ton verriet, dass er beunruhigt war.

»Im Auto«, entgegnete sie leise. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

»Und wo befindet sich bitte dein Auto, Morgane? Warum sprichst du so leise? Bist du gerannt?«

»In Frankreich. An den Klippen.«

Eine längere Pause entstand.

»An den Klippen?« Jetzt klang Stefans Stimme besorgt. »Du fährst einfach nach Frankreich, ohne mir Bescheid zu geben? Ist jemand bei dir? Kannst du nicht reden?«

»Darf ich dich daran erinnern, dass wir uns vor ein paar Wochen getrennt haben?«, zischte sie. »Ich bin allein«, meinte sie dann versöhnlicher. »Nein, reden will ich nicht. Nicht jetzt.«

»Wir haben eine Auszeit vereinbart. Das ist etwas anderes«, berichtigte Stefan, um einen neutralen Ton bemüht. Und doch glaubte Morgane bei aller Sachlichkeit eine Kränkung in seiner Stimme zu hören. »Wir beide wollten Zeit zum Nachdenken, erinnerst du dich?«, bohrte er weiter, während sie überlegte, ob sie ihm den wahren Grund ihrer Frankreichreise sagen sollte. Aber etwas hielt sie zurück.

»Bist du schon in Wien?«, fragte sie stattdessen zurück und drehte den Spieß einfach um: Schließlich war er es, dem ein lukrativer Job in Wien angeboten worden war, und immerhin hatte er einfach vorausgesetzt, dass sie mitkommen würde. Sie sei als Übersetzerin ja nicht ortsgebunden. Morgane liebte Wien mit seinen alten, verwinkelten Gassen, ein Ort, der Geschichte und das Flair des Fin de Siècle atmete. Aber dort zu leben schien ihr etwas völlig anderes, als wie eine Touristin in einem Kaffeehaus zu sitzen und einen Kleinen Braunen zu bestellen.

»Ich fliege morgen«, unterbrach er ihre Gedanken. »Ich hatte niemals vor, leichtsinnig fünf Jahre über Bord zu werfen, Morgane. Noch sind die Verträge nicht unterschrieben.«

Stefans letzte Bemerkung ärgerte sie. Hieß das, wenn sie ein braves Mädchen war, würde er seine Bewerbung zurückziehen und alles würde so wie früher sein? Genau das wollte sie keinesfalls. Zudem war sie es leid, über diese Beziehung zu diskutieren, geschweige denn, sich zu rechtfertigen. Die letzten Wochen vor ihrem Auszug hatten sie gemeinsam ihr Scheitern so lange zerredet, bis Morgane Stefans scharfsinnige Analysen nicht mehr ertragen hatte. Wien war zum Aufhänger geworden einer, wie Morgane damals sagte, längst überfälligen Bestandsaufnahme vertrauten Gefühlsinventars, und Stefan hatte nicht einmal gemerkt, wie sie ihn mit seinem eigenen Psychologenjargon auf die Schippe nahm. Als sie die Nachricht von ihrem Erbe erhalten hatte, hatte sie spontan die Suche nach einer neuen Wohnung aufgegeben und zu Stefans Verwunderung ihr Hab und Gut in der Garage ihres Vaters am Ammersee untergestellt.

Die Notwendigkeit, in die Bretagne zu fahren, war ihr angesichts der Sackgasse, in der ihre Beziehung steckte, wie eine Einladung zu einem Kuraufenthalt mit Seeluft vorgekommen. Es war, als habe sie plötzlich den Lockruf einer bislang nicht geahnten Freiheit vernommen: Ihre Übersetzungen konnte sie an jedem Ort der Welt machen. Womöglich würde sie einfach ein paar Wochen bleiben, bevor sie das Haus verkaufte.

»Wo genau bist du? Wie lange wirst du bleiben?«, wollte Stefan wissen.

Sie rieb sich den verspannten Nacken.

»In der Bretagne. Zwischen Le Conquet und St.-Mathieu. Ein paar Wochen. Vielleicht auch weniger«, sagte sie leise und starrte auf das Licht in der oberen Etage, wo sie glaubte, einen flüchtigen Schatten hinter den Gardinen wahrzunehmen. »Westbretagne«, fuhr sie mit festerer Stimme fort. »Es ist etwas sehr Persönliches. Lass uns ein andermal telefonieren. Ich bin noch gar nicht richtig angekommen.«

»Beziehungen sind auch etwas sehr Persönliches«, erwiderte er und wiederholte dann langsam: »Bretagne. Das war also der Grund dieser Garagen-Aktion bei deinem Vater. Ich verstehe. Bist du endlich bereit, deiner Vergangenheit ins Auge zu sehen? Ist es so?«

»Lass das, Stefan«, wehrte sie ab, »ich weiß es ja selbst nicht. Wie also könntest du es wissen?«

»Wir werden darüber reden müssen! Melde dich bitte. Und pass auf dich auf. Versprochen?«

»Wir werden sehen, was wir müssen und was nicht. Aber ich passe auf mich auf. Wo wirst du denn wohnen?«

»In einem Privatzimmer im ersten Bezirk, unweit vom Stephansdom. Wahrscheinlich bei einer bösen, dicken Wirtin, die mir jeglichen Damenbesuch verbietet, mich mit Schnitzel vollstopft, bis ich platze, und mich am Sonntagmorgen in die Kirche schickt.«

Er lachte. Morgane spürte, wie ihre Mundwinkel automatisch nach oben gingen und die Wut verblasste. Stefan aß für sein Leben gern. Und das sah man ihm mittlerweile auch an.

»Geschieht dir recht«, erwiderte sie zärtlich. »Schlaf gut.«

Sie drückte das Gespräch weg und ließ ihren Kopf zur Seite fallen. Wenn er so mit ihr sprach, konnte sie sich unmöglich vorstellen, dass eine andere Frau irgendwann ihren Platz einnahm oder sie sich einem neuen Mann zuwandte. Es war alles noch sehr frisch und wahrscheinlich hatte Stefan recht: Das letzte Wort war noch lange nicht gesprochen und die Entfernung von mittlerweile knappen zweitausend Kilometern zwischen ihnen sagte rein gar nichts.

Plötzlich vernahm sie eine Frauenstimme. Morgane horchte auf, öffnete einen Spalt ihres Seitenfensters und lauschte in die Richtung, aus der diese gekommen war. Im Obergeschoss bewegten sich Vorhänge. Ganz sicher. Noch einmal die Stimme.

»Filou! Filou!«

Ein erneutes Bellen zerriss die abendliche Stille. Eilig startete Morgane den Motor und fuhr ohne sich umzusehen nach St. Mathieu, wo sie für zwei Nächte ein Zimmer reserviert hatte. Bei einem letzten Blick in den Rückspiegel sah sie das ganze obere Geschoss ihres Hauses hell erleuchtet.

Kapitel 2

Morgane sprang unter die Dusche, zog sich rasch an und verließ das Hotel ohne ein Frühstück. Sie hatte schlecht geschlafen, und während sie sich auf ihrem zu weichen Hotelbett von einer Seite auf die andere geworfen hatte, war ihr zum ersten Mal seit der Trennung von Stefan der Gedanke gekommen, wie schön es wäre, ihn jetzt bei sich zu haben. Die Entfernung und ihr bedrückendes Gefühl rund um die Erbschaft schienen die Streitereien zu verwischen. Als sie in ihr Auto steigen wollte, hörte sie den Signalton für eine SMS.

Bei eisigem Ostwind gut angekommen. Später Kennenlernen neuer KollegInnen in der Wiener Praxis. Ich denke an dich. Stefan.

Morgane überlegte, ob sie zurückschreiben sollte, wusste aber nicht, was, und so legte sie ihr Mobiltelefon auf den Beifahrersitz und fuhr geradewegs nach Le Conquet zum Friedhof, den sie nach wenigen Minuten, eine halbe Stunde vor ihrer Verabredung, erreichte. Am Tag wirkte alles anders als in der Dunkelheit. Die Häuser in der Ortsmitte waren gepflegt, die wenigen Restaurants aufgrund der Jahreszeit geschlossen. Der Blick auf den Atlantik ließ sie durchatmen, euphorisierte sie gleichsam. Sie warf noch einmal einen Blick auf ihre Uhr, drehte um und fuhr wieder hinaus bis zur Rue des Artichauts. Sie zählte fünfzehn Häuser zwischen Le Conquet und St. Mathieu. Außer jenem von Fanny lagen nur zwei auf der begehrten Meerseite.

Kurzentschlossen stellte Morgane ihren Twingo in einer Parkbucht ab und beschloss, ein paar Schritte zu gehen. Die Luft war frisch und roch nach Meer. Morgane liebte die Herbstmonate noch mehr als den Sommer – die zurückhaltende Farbenpracht und das gedämpfte Licht jener Jahreszeit entsprachen genau ihrer Grundstimmung. Neugierig ging sie weiter, bis sie sah, dass das Tor zur Hofeinfahrt ihres Hauses geöffnet war. Sie fragte sich, ob das beunruhigend oder ein gutes Zeichen war. Aber das bedrückende Gefühl von gestern kam zurück und sie beschloss, nicht weiterzugehen. In wenigen Minuten würde sie Gewissheit haben.

Sie ging zu ihrem Wagen zurück und fuhr zum verabredeten Ort, parkte beim Office du Tourisme und lief zum Friedhof. Schon von Weitem sah sie eine kleine, ältere Dame, die hinter einem Gartentor hervor schlüpfte und schnurgerade auf die alte Kastanie vor dem Portal zusteuerte.

»Madame Menez?«, fragte Morgane vorsichtig und trat näher.

Die Dame nickte. »Sie sind also Fannys Nichte.« Wohlwollend musterte sie Morgane. »Fanny hat mir von Ihnen erzählt.«

Sie reichten einander die Hand, und Morgane hatte das Gefühl, dass Madame Menez sie gar nicht mehr loslassen wollte.

»Ich habe meine Tante in den letzten Jahren nicht gesehen«, erwiderte sie wie zur Entschuldigung und zog ihre Hand zurück, als ihr Gegenüber den Druck für einen Augenblick lockerte.

»Wissen Sie denn, wo das Haus ist?«, wollte Madame Menez wissen, und Morgane sah ihr direkt in die Augen. Aufmerksame, kleine Knopfaugen. Ein rundes Gesicht mit einer erstaunlich glatten Haut. Sie spürte, wie sie am Unterarm gefasst wurde, und rückte ein wenig ab. Als sie merkte, dass es aus dem Ortskern hinaus in Richtung der Rue des Artichauts ging, ließ sie sich lenken.

»Ja«, bestätigte Morgane. »Ich war gestern Abend schon einmal hier. In der oberen Etage brannte Licht.«

Sie hoffte, Madame Menez würde ihr nun sagen, dass es sich dabei um einen Zufall gehandelt habe, eine Putzfrau, die kurz vor Morganes Ankunft nach dem Rechten gesehen hatte oder etwas Ähnliches, aber Madame Menez tätschelte nur ihre Hand.

»Das wird Paulette gewesen sein«, entgegnete sie in einem Tonfall, als mache sie einem Kind klar, dass es für alle Phänomene eine Erklärung gebe und als wollte sie sagen: Wenn man den Lichtschalter betätigt, die Stromrechnung bezahlt hat und die Glühbirne nicht kaputt ist – dann brennt nun einmal Licht.

»Ich bin mit dem Wagen hier«, sagte Morgane, als sie merkte, dass Madame Menez offensichtlich zu Fuß gehen wollte. »Wer, bitte, ist Paulette? Hat sie sich in der Zwischenzeit um das Haus gekümmert?«

»Oh, ein bisschen laufen tut Ihnen gut, Kindchen. So weit ist es gar nicht«, erwiderte die alte Dame, ohne auf Morganes Fragen zu antworten. Stattdessen ging sie unbeirrt ihres Weges. Vorsichtig sah sich Morgane um, nachdem sie den Ortskern verlassen hatten. Hier schien die Gegend wie ausgestorben. Bei einer ehemaligen Bäckerei hatte sich niemand die Mühe gemacht, das verrostete Schild Boulangerie zu entfernen, und die meisten Gebäude schienen wie ausgestorben; das Niemandsland zwischen Le Conquet und St. Mathieu glich einem Geisterort. In der Ferne sah man einen Lieferwagen, der auf der Landstraße in Richtung Plougonvelin fuhr.

»Bonjour, Madame Menez!«, hörte sie plötzlich eine tiefe Frauenstimme hinter ihnen. »Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag.«

Instinktiv drehte sich Morgane in die Richtung, aus der der Gruß gekommen war, und sah eine Frau ihres Alters mit einem von Sommersprossen übersäten Gesicht. Trotz voller Einkaufstüten überholte sie Morgane und Madame Menez. Ihre roten Locken wippten bei jedem Schritt.

»Merci, Annick. Das wünsche ich Ihnen auch«, rief Madame Menez ihr hinterher und zog Morgane etwas näher zu sich. »Annick Petin. Ihre Nachbarin. Früher betrieb sie eine Kneipe und heute arbeitet sie als Krankenschwester in Brest. Sage mir einer, wie das zusammengeht. Nehmen Sie sich vor ihr in Acht«, zischte sie, während sie Morgane mit dem sanften Druck ihrer Hand zwang, weiterzugehen. »Ihr Mann hat sie verlassen. Wegen einer Jüngeren. Tragisch. Sie ist darüber hinweg. Aber jetzt steht sie allein mit einem kleinen Kind da. Das Leben kann so grausam sein.«

Morgane nickte stumm, unfähig, auf derlei Indiskretionen einzugehen, und beobachtete, wie Annick Petin schräg gegenüber von Fannys Anwesen hinter einem Gartentor verschwand. Abrupt blieb Madame Menez stehen. »Wir sind angekommen«, sagte sie, stellte sich an den Bordstein und blickte geradeaus auf die andere Straßenseite wie ein Soldat, der vor einem Hindernis haltmachte. »Sie müssen nur noch hinüber. Le Conquet ist recht überschaubar, wie Sie feststellen werden. Hier kennt jeder jeden.«

Die letzte Bemerkung fand Morgane beunruhigend, sah aber tapfer in Richtung der Hofeinfahrt und des geöffneten Tores. Das Steinhaus lag auf einem großen Grundstück und verglichen mit den anderen Häusern wirkte es geradezu riesig. Sie merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Seit sie im Finistère angekommen war, war er ein zuverlässiges Barometer für herannahende Erinnerungen. In Deutschland hatte sie die schmerzhaftesten von ihnen meist weggedrückt, hier aber wurden sie lebendig, als erwachten sie zögerlich aus einem langen Winterschlaf. Bilder ihrer Kindheit, diffus und zusammenhanglos, fingen an, ihr Inneres zu überschwemmen.

»Jetzt können Sie alleine weiter. Viel Glück!«, hörte Morgane Madame Menez sagen.

Die alte Dame griff in ihre Jackentasche, zog einen Schlüsselbund hervor und reichte ihn Morgane.

»Kommen Sie doch einmal auf einen Aperitif bei mir vorbei. Vielleicht Samstag? Ich würde mich freuen. Das Haus neben dem Friedhof. Mit den vielen Blumen an den Fenstern«, fügte sie stolz hinzu. »Blaue Fensterläden. Eines der gepflegteren Häuser hier. Sie können es gar nicht verfehlen. Dann plaudern wir ein bisschen.«

Ruckartig drehte sich Madame Menez weg und Morgane, die verblüfft den Schlüssel entgegengenommen hatte und nicht wusste, was sie auf die Einladung erwidern sollte, ging ihr nach, berührte sie am Arm und stotterte: »Was macht diese Paulette in meinem Haus?«

»Das, was sie immer getan hat, meine Liebe. Aber fragen Sie sie am besten selbst. Gehen Sie nur. Sie wird Sie schon nicht fressen. Bis Samstag.«

In Madame Menez’ Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen, fast glaubte Morgane etwas wie Schadenfreude darin zu lesen. Übertrieben wedelte die alte Dame mit einer Hand in Richtung der Hausnummer 13, so als verscheuche sie einen Hund oder eine Katze. »Gehen Sie schon. Nur Mut!«

Morgane blickte der rundlichen Gestalt nach. Immer wieder drehte Madame Menez sich zu ihr um, lächelte aufmunternd, zeigte ihr wieder den Rücken, ging weiter, bis sie in einer Seitengasse verschwand.

Langsam überquerte Morgane die Straße, als handele sich um einen viel befahrenen Grand Boulevard mitten in Paris, und näherte sich dem Haus. Während sie auf den knirschenden Kieselsteinen in Richtung Tür schritt, nahm sie aus ihrer Jackentasche den Umschlag mit dem Schreiben des Anwalts aus Brest, den sie heute Morgen vorsorglich eingesteckt hatte, Fannys letztwillige Verfügung. Sie drückte das Papier gegen ihre Brust und umklammerte die Schlüssel. Sollte sie läuten, wenn diese Paulette da war? Sollte sie rufen? Plötzlich kam von der Rückseite des Hauses ein riesiger Hund direkt auf sie zugerannt. Sie erstarrte; zum Weglaufen war es zu spät. Das Tier besaß die Größe eines Berner Sennen. Morgane hatte keine Angst vor Hunden, aber sie mochte sie auch nicht besonders. Und noch weniger war sie in der Lage, deren Körpersprache zu lesen: Sie hatte immer nur mit Katzen zu tun gehabt und keine Ahnung, ob Gefahr von dem Tier ausging oder ob es freundlich gestimmt war. Bei einer ihrer Übersetzungen hatte sie einmal gelernt, dass gefletschte Zähne und das Aufstellen der Rückenhaare alarmierend seien. Dieser Hund aber bellte so sehr, dass sich seine Stimme überschlug, und er sprang tollpatschig im Kreis um sie herum, als stolpere er dabei jeden Moment über seine eigenen Beine.

»Pst«, zischte sie, legte einen Zeigefinger auf die Lippen, und tatsächlich setzte sich der Hund auf die Hinterbeine, spitzte die Ohren, sah sie abwartend an und wedelte mit dem Schwanz.

»Filou! Filou!«

Es war dieselbe Stimme, die Morgane gestern Abend bereits vernommen hatte. Paulette.

Morgane registrierte einen Schatten in der Haustür. Einige Meter von ihr entfernt trat eine ältere Dame aus dem Haus und blieb stehen, die Hände in die Taille gestemmt. Sie trug Jeans, Turnschuhe, einen knallroten Rollkragenpulli und hatte eine Schürze umgebunden, an der sie jetzt ihre Hände abwischte. »Was wollen Sie?«, fragte sie misstrauisch und kniff die Augen zusammen. »Das hier ist Privatbesitz.«

In der Tat, dachte Morgane, holte einmal tief Luft, nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging auf ihr Gegenüber zu: »Ich bin Morgane Schneider, die Nichte von Fanny. Sie müssen Madame Paulette sein. Verzeihen Sie, ich kenne Ihren Nachnamen nicht.«

Blitzartig änderte sich der Gesichtsausdruck der Frau. Sie sah in Morganes Augen, als wolle sie so deren Identität ermitteln, fixierte sie fast schamlos, dann schweifte ihr Blick in die Ferne. Morgane fiel ihr volles, dunkles Haar auf, ihre schlanke Gestalt. Sicherlich war sie in jungen Jahren eine hübsche Frau gewesen, aber nun überlagerte ein strenger Ausdruck um den Mund jegliche Schönheit. Morgane schätzte sie auf Mitte siebzig. Filou, der immer noch dasaß, blickte abwechselnd zu der Frau und Morgane. Ohne den Gruß zu erwidern, drehte sich Paulette um, ging zurück ins Haus und murmelte etwas Unverständliches. Die Haustür ließ sie geöffnet.

Zaghaft ging Morgane die wenigen Stufen hinauf und folgte der Frau. Filou tapste ihr hinterher, als sie durch einen dunklen, kühlen Flur trat, der in die Küche mündete. Auch zu dieser stand die Tür sperrangelweit offen. Dort angekommen, beobachtete sie Paulette, die eine gusseiserne Kasserolle in den Backofen schob. Es duftete nach Schmorfleisch, Kräutern, Rotwein und Zwiebeln. Mit einem Ruck klappte sie die Tür des Backofens zu.

Morgane erkannte die Küche sofort. Auch nach all den Jahren. An jenem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, hatte sie einst mit baumelnden Beinen gesessen und heißen Kakao getrunken. Die Fröhlichkeit ihrer Mutter. Ihr Lachen und die Art, wie sie Morgane mit dem Zeigefinger über die Lippen gewischt hatte, wenn dieser mit Schokolade verschmiert war. Bilder, die unweigerlich mit dem Finistère verbunden waren, obgleich ihr Elaine mit Sicherheit auch in Deutschland den Mund geputzt hatte. Und gelacht hatte sie auch in München. Nur anders.

Unschlüssig sah sich Morgane um. Es war aufgeräumt, das Mobiliar alt, aber zweckmäßig. In der Ecke stand ein antikes Küchenbuffet, das sie aus Kindertagen viel größer in Erinnerung hatte. Auf einem über dem Stuhl hängenden Geschirrtuch entzifferte sie Bienvenue – herzlich willkommen. Ein Fenster gab den Blick auf einen verwilderten Garten frei, ein zweites zeigte auf die Steinmauer, hinter der die Straße lag.

»Kermarrec«, sagte Paulette plötzlich, drehte sich um, deutete auf den Tisch, nahm einen Topf, befüllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Herd. »Setzen Sie sich«, sprach sie in den Kochtopf.

Morgane starrte auf Paulettes gebeugten Rücken und überlegte, was sie darauf erwidern sollte. Immerhin war dies ihr Haus.

»Ich fürchte, Madame Kermarrec, es handelt sich um ein Missverständnis«, erwiderte sie betont freundlich, zog den Küchenstuhl hervor und entschied sich dann, stehen zu bleiben. Sie nahm den Umschlag, öffnete ihn und entblätterte das Schreiben von Maître Levèbre, das die Benachrichtigung über das Testament enthielt. Dabei bemerkte sie ein Zittern ihrer Hände. »Meine Tante Fanny hat mir dieses Haus vermacht und ich bin einigermaßen überrascht, dass hier offensichtlich jemand wohnt. Vielleicht könnten Sie mich freundlicherweise aufklären.«

Vorsichtig legte Morgane das Schreiben auf den Tisch und strich mit der flachen Hand darüber. Langsam, wie in Zeitlupe, wandte sich Paulette vom Herd ab, kam hinüber, nahm einen Stuhl, setzte sich und schob das Blatt, ohne einen Blick darauf zu werfen, zur Seite. Sie überkreuzte ihre Hände; alte, raue Hände, die von einem langen Arbeitsleben zeugten, mit rosa lackierten Nägeln.

»Setzen Sie sich. Bitte«, befahl sie noch einmal in strengem Ton und sah Morgane abwartend an. Eine Fremde bot ihr in ihrem Haus Platz. Das war der Gipfel! Morgane unterdrückte die aufkommende Wut und spürte, wie sie innerlich bebte.

»Ich dachte mir, dass Sie kommen würden«, fuhr Paulette fort. »Sie hätten wenigstens vorher anrufen können. Der Anstand hätte das geboten.«

Filou spitzte die Ohren. Morgane kam der Gedanke, wortlos zu gehen. Sie warf einen Blick zur Tür. Wenn sie das tun würde, hätte Paulette gewonnen. Schachmatt direkt nach der Eröffnung.

»Sind Sie eine Freundin von Fanny? Ich kenne Sie nicht«, fragte Morgane beherrscht.

Widerwillig nahm sie Platz, rückte aber mit ihrem Stuhl ein wenig vom Tisch ab.

»Sie waren ja in den letzten Jahren auch nie hier«, schleuderte ihr Paulette entgegen. Augenblicklich legte Filou die Ohren an und duckte sich. »Sie hat Ihnen nichts gesagt?«

Die letzte Frage klang etwas versöhnlicher und Morgane glaubte eine Verunsicherung bei Paulette wahrzunehmen, ein Flackern in ihren Augen. Sie fragte sich, wer von ihnen beiden eigentlich in diesen Minuten verwirrter war. Stumm schüttelte Morgane den Kopf. »Nein, was immer sie mir gesagt haben soll. In der Verfügung steht nichts Weiteres. Nur, dass ich dieses Haus hier erbe.«

»Nun, dann erfahren Sie es eben jetzt von mir. Ich lebe hier, und zwar nicht erst seit gestern.«

Morgane schluckte. Filou neigte den Kopf zur Seite. »Aber …«, stotterte sie.

»Fanny hat mir ein lebenslanges Wohnrecht zugesichert. Das habe ich schriftlich«, unterbrach sie Paulette schroff. Sie warf einen verächtlichen Blick auf das Anwaltsschreiben. »Ihr Advokaten-Blabla wird Ihnen nicht helfen.«

»Und wo genau wohnen Sie?«, stammelte Morgane ungläubig. Bilder der gestapelten Möbel in der engen Garage ihres Vaters kamen ihr in den Sinn. Mit einem einzigen Satz war die ersehnte Freiheit an die Kette gelegt worden. Morgane schnappte nach Luft. Paulette warf ihren Kopf in Richtung Decke.

»Zwei Zimmer in der oberen Etage. Ein kleines Bad. Hier unten gibt es noch eins. Diese Küche ist die einzige im Haus. Und Filou habe ich nach Fannys Tod versorgt. Er lebt ebenfalls hier.«

Filou legte sich auf den Rücken, als sein Name fiel, grunzte genüsslich und streckte alle viere von sich.

»Und wie haben Sie sich das vorgestellt? Wie soll das funktionieren?«

Der Gedanke an das Hotel in St. Mathieu streifte sie. Ein Verkauf würde nicht von heute auf morgen vonstatten gehen. Sie würde sich also hier einrichten müssen. Ein paar Tage. Wochen. Vielleicht Monate. Aber in diesem Haus war kein Platz für zwei. Nicht für sie und Paulette.

»Ich persönlich habe mir gar nichts vorgestellt. Ehrlich gesagt, dachte ich mir, dass Sie das Haus hin und wieder als Feriendomizil nutzen. Nun, diese hoffentlich wenigen Wochen im Jahr werden wir uns eben arrangieren. Ich lebe hier. Sie werden warten müssen, bis auch ich das Zeitliche segne. Ihr Eigentum ist mein Zuhause, verstehen Sie? Dies unterscheidet uns beide. Sie sind bestenfalls eine Touristin mit Immobilie. Ich hingegen bin eine Einheimische.«

Morgane lag es auf der Zunge, ihre Herkunft in die Waagschale zu werfen. Hier war das Land ihrer Mutter, ihrer Großeltern! Ein halbes bretonisches Herz pochte in ihrer Brust. Was maß sich diese Frau an? Sie – eine Touristin? Nein, sie war nicht gewillt, sich derartige Unverschämtheiten länger anzuhören.

»Und was geschieht, wenn ich das Objekt verkaufe?«, spie sie geradezu in den Raum. Ihre Angriffslust war erwacht. Es war, als säße Stefan vor ihr, der ihr gerade seine berufliche Zukunft in Wien ausmalte. Mit ihr als Beiwerk. Sie würde diese Entscheidungen über ihren Kopf hinweg nicht einfach hinnehmen.

»Es wird sich zeigen, ob Sie unter diesen Umständen einen Käufer finden«, erwiderte Paulette betont ruhig, aber Morgane hörte ein leichtes Vibrieren ihrer Stimme.

»Und wenn ich hier leben möchte?«

Die Frage kippte einfach aus ihrem Mund.

»Das Haus ist groß genug für die Vermeidung von Vertraulichkeiten«, erwiderte Paulette eisig und erhob sich. Filou tat es ihr gleich und blickte seine Besitzerin abwartend an. »Bitte schließen Sie die Tür, wenn Sie gehen.« Sie schritt zum Ofen und sah dabei wirklich aus wie eine Hausherrin. Mit vor Stolz erhobener Brust drehte sie die Temperatur herunter, begab sich in Richtung Flur und machte eine ausladende Handbewegung. Sofort rannte Filou nach draußen. »Wenn Sie sich hier umsehen: Die oberen beiden Zimmer links sind meine Räumlichkeiten. Fanny hat die untere Etage bewohnt. Am Ende des Flurs.« Sie zeigte zur Tür. »Die drei Pensionszimmer haben wir schon vor Jahren stillgelegt, ebenso den ehemaligen Frühstücksraum hier unten neben Fannys Bad. Ich bitte Sie, meine Privatsphäre zu respektieren. In einer halben Stunde würde ich gerne mein Mittagessen einnehmen. Bitte überlassen Sie mir dann für eine Stunde die Küche.«

Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum. Fassungslos blieb Morgane zurück und strich sich über den Hals, als wolle sie die Kränkung, die wie eine klebrige Schicht auf ihr zu haften schien, wegwischen.

In der Stille vernahm sie das Geräusch einer knarrenden Treppe direkt über ihr. Bei jedem Tritt quietschte das alte Holz, als erkenne es Paulettes Fußabdruck. Eine Tür fiel ins Schloss. Morgane schüttelte sich. Nein, sie hatte nicht geträumt!

Ratlos saß sie am Küchentisch, blickte zum Fenster hinaus, starrte dann wieder auf den Schlüsselbund in ihrer Hand und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie strich sich über das rechte Ohrläppchen. Das tat sie immer dann, wenn sie ihre Wahrnehmung prüfte, eine Brücke zur Welt zu schlagen versuchte, aber meistens war ihr das gar nicht bewusst. Draußen bemerkte sie einen Mann, der mit einem Rechen in dem an ihr Haus angrenzenden Garten hantierte. Daneben eine alte Scheune, an die eine etwa zehn Meter hohe Weide lehnte, deren Äste bizarre Formen bildeten. Das Gebäude wirkte, als würde es der nächste Windstoß einfach durch die Luft hinaus aufs Meer tragen. Das Gesicht des Fremden war unter einer Kapuze versteckt. Plötzlich hielt er inne und schien in Richtung des Küchenfensters zu sehen, und für einen Moment glaubte Morgane, dass sich ihre Blicke trafen. Dann aber griff er in seine Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an, drehte ihr den Rücken zu und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Morgane nahm das Schreiben vom Tisch und fragte sich, ob der Anwalt in Brest Rat wusste. Aber wie immer würde sie auch dieses Problem alleine klären, niemanden um Hilfe bitten. Ihr war noch nie in ihrem Leben eine derart grundlose Feindseligkeit begegnet. Sie hatte dieser Frau nichts getan! Paulette war der Gast in diesem Haus, nicht sie. Morgane grübelte über die verdrehten Rollen, schloss die Augen, öffnete sie wieder und steckte das Schreiben, das ihr mit einem Mal wertlos erschien, zurück in den Umschlag, dann in ihre Jackentasche. Eine dumpfe Wut gegen Fanny regte sich in ihr. Sie hatte ihr all das eingebrockt!

Morgane wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, eine Fremde in ihrem Eigentum oder eine Eigentümerin in der Fremde. Der Mann mit dem Rechen war verschwunden. In Gedanken übersetzte sie propriétaire und étranger hin und zurück, bis deren Bedeutungen zu einem Wort verschmolzen. Im Haus war es merkwürdig still. Dann hörte sie von draußen ein Tapsen, das sich näherte. Mit der Schnauze schob Filou die angelehnte Tür auf und trat mit seinen dicken Pfoten auf die gewölbten Steinplatten, während er überschwänglich mit dem Schwanz wedelte. Nur den Kopf hielt er gesenkt, als teile er Morganes Traurigkeit. Schließlich blieb er vor ihr stehen, als habe er schon immer zu ihr gehört und sie zu ihm, setzte sich akkurat hin, neigte seinen Kopf zur Seite und legte ihn sachte, mit weit geöffneten Augen auf ihrem Schoß ab. Immer wieder stupste er ihre Hand mit seiner feuchten Nase an.

»Was möchtest du mir sagen?«, fragte Morgane, die in den letzten Minuten mehr mit einem Hund zu tun gehabt hatte als in den vergangenen neununddreißg Lebensjahren. Dieser hier schien ihr einziger Freund in Le Conquet zu sein und sie beschloss, ihre Ressentiments gegen jene Geschöpfe noch einmal zu überdenken.

Im Hotel angekommen, schrieb sie eine SMS an Stefan.

Grund meiner Frankreichreise: Marodes Haus von Fanny geerbt. Inklusive älterer Dame. Bin bedient. Erwäge ernsthaft, ob ich alles hinschmeiße und wieder nach Hause fahre. Morgane.

Sie zog die Gardinen vor dem Fenster zu, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein. Das Böse abzuwehren kostete Kraft – das war ihr neu. Sie fragte sich, ob es auch anstrengend war, ruppig und unnahbar zu sein. Es kam ihr vor, als ob sie das Repertoire zwischenmenschlicher Regeln mit einem Mal verloren hatte; ein kultivierter Mensch, dem man eine warme Hauptspeise serviert und dann das Besteck entwendet: Morgane saß mit leeren Händen da. Als sie am Spätnachmittag erwachte, hatte Stefan ihr eine Nachricht geschickt. Verkaufe das Haus und komm zurück zu mir, Morgane! Übergib die Angelegenheit einem Makler. In Wien bist du willkommen. Jederzeit. Ich bin für dich da. Stefan.

Warum wussten andere immer, was das Richtige für sie war, als gäbe es ein Rezept für jede Lebenssituation, als könnte eine Entscheidung eine Symptombekämpfung sein und hätte nicht immer unvorhersehbare Konsequenzen?

Morgane legte ihr Handy auf den Nachttisch, zog kurzentschlossen ihre Regenjacke über und machte sich auf in Richtung Leuchtturm. Wo sich nach einem Kilometer die Straße gabelte, ging sie einen steilen Weg hinauf, immer an der Felsenküste entlang. Sie begegnete keinem Menschen, nur vereinzelt waren ein paar Autos zu sehen. Morgane beschleunigte ihren Gang, bis sie nur noch ihre Schritte und ihren Atem hörte, hinaus aus dem Ort bis weit in Richtung eines Plateaus mit einer Parkbucht. Mit jedem Schritt, den sie tat, fühlte sie ein Stück Bevormundung von sich abfallen. Der Wind trieb sie an und ihr war, als folge sie einfach ihrem Instinkt. Sie musste nur diesem schmalen Pfad folgen, nicht zurückschauen und einen Fuß vor den anderen setzen. Oben angekommen, weit über dem Meer, blieb sie stehen und schnappte nach Luft. Ein unendlich weiter Horizont lag über ihr und dem Atlantik.

Die Bretagne, Land zwischen Himmel und Erde! Wenn sie zurücksah, konnte sie ihr Steinhaus sehen. Es ragte auf einer grünen Fläche inmitten von wildem Klee am Rande der Klippen hervor, als sei es aus dem Gestein herausgewachsen. Der Wind riss an den Gräsern, die sich, sobald er innehielt, um Atem zu holen, im nächsten Moment wieder aufrichteten, als hätten sie ihren eigenen Willen. Morgane trat einen Schritt nach vorne an den Abgrund und warf einen vorsichtigen Blick hinab. Unter ihr nichts als steile Felsen und tosendes Wasser. Aber ein winziger Weg führte von hier aus in eine Einbuchtung. Morgane verfolgte ihn mit ihren Augen. Die schutzlose Höhe verursachte ihr plötzlich Schmerzen wie Nadelstiche auf der Haut. Erschrocken wich sie zurück und starrte auf das Meer, das sich der Küste entgegenwälzte.

Nirgendwo auf der Welt liegen Himmel und Erde so nah beieinander wie in der Bretagne. Die Worte ihrer Mutter. Morgane versetzte es einen Stich bei dem Gedanken daran, dass Elaine ausgerechnet hier in diesem Meer, das seine Farben binnen weniger Minuten launisch wechselte und das sie über alles geliebt hatte, bei einem Schwimmunfall ums Leben gekommen war. Sie hatte doch nur ein paar Tage bei der Großmutter verbringen wollen! Damals war Morgane knappe zehn gewesen und ihr Vater, mit dem sie der Schule wegen in Deutschland zurückgeblieben war, hatte ihr das Drama am frühen Morgen, als sie gerade in der Küche heißen Kakao trank, ungeschickt und stockend erklärt.

»Wo ist Maman jetzt?«, hatte Morgane leise gefragt, als habe sie nichts von den Schilderungen der Erwachsenen verstanden. Eine Frage, die noch jahrelang in ihr nachgehallt hatte, weil sie niemals beantwortet worden war.

Stumm war sie aufgestanden, hatte die halb leere Tasse ins Spülbecken gestellt, ihren Schulranzen zurück auf ihr Zimmer gebracht und anschließend dabei zugesehen, wie ihr Vater für sie beide die Koffer packte. Danach war es ganz still im Haus geworden, genau wie in Morgane, unterbrochen vom Surren des Kühlschranks, vom Klappern des Briefkastens, als die Post hineingeworfen wurde. Die ernsten Telefonate des Vaters. Nachbarinnen, Freundinnen von Elaine, die an der Tür klingelten und mit tränenerstickter Stimme ihre Hilfe anboten. Am frühen Abend dann waren Morgane und ihr Vater losgefahren und Robert hatte Morgane immer wieder über den Kopf gestrichen und sie aufgefordert, ein wenig zu schlafen. Aber während der langen Autofahrt ins Finistère hatte sie kein Auge zugemacht. Und sie hatte genug Zeit gehabt, um zu beschließen, dass diese schreckliche Geschichte, die ihrer Mutter zugestoßen sein sollte, unmöglich stimmen konnte, denn der Radiosprecher verkündete zu jeder Stunde die Nachrichten aus aller Welt, der Verkehrsfunk warnte vor einem Stau um Paris und die Werbung versprach eine faltenfreie Haut, so, als sei gar nichts geschehen. Morgens um sechs verweigerte Morgane an einer Autobahnraststätte heiße Schokolade, aß aber ein halbes Croissant.

Als ihr Vater dann den Wagen durch die ersten bretonischen Ortschaften lenkte, trugen Frauen unter einem stahlblauen Himmel Baguettes durch die Gassen, Schiffe legten ab und fuhren hinaus aufs Meer. Autos hupten. Die Erwachsenen mussten sich getäuscht haben. Bis zum Finistère glaubte Morgane an einen Irrtum. Vielleicht hatte sie auch geträumt, sie würde gleich erwachen und ihre Maman würde sie schon bald in die Arme schließen? Plötzlich aber war Blaulicht an den heimischen Küsten zu sehen, ein tieffliegender Hubschrauber, dessen Propeller das Meer, das wie flüssiges Silber ausgesehen hatte, aufscheuchte. Menschen, die in kleinen Gruppen am Wasser standen und aufgeregt miteinander redeten. Einige von ihnen sahen hinaus aufs Meer.

Irgendwann hatten Morgane und ihr Vater das abgelegene Haus von Mémé in Plouarzel erreicht. Auf einem Feldweg lief ihnen die Großmutter humpelnd entgegen, aufgelöst, weinend und mit dem Blick einer Irren. Da hatte Morgane begriffen, dass es wirklich geschehen, dass ihre Mutter tot war.

Tagelang sprach Morgane nicht, was die Erwachsenen veranlasste, sie nach der Trauerfeier zunächst bei Mémé zu lassen und sie in Brest zu einer Psychologin zu bringen, die aber Morganes Wall der Stummheit nicht durchbrechen konnte, weil Morgane weder Figuren im Raum aufstellte noch Holzklötze aufeinanderstapelte. Sie weinte nicht und riss auch keiner Puppe die Augen aus, im Gegenteil, sie würdigte das leblose Objekt keines Blickes, ließ sich zu keinem Spiel überreden, saß einfach nur stumm da und verweigerte ihre Muttersprache. Die Psychologin konnte ja unmöglich wissen, dass es sich dabei um eine Geheimsprache zwischen Elaine und ihr gehandelt hatte, die Morgane unter keinen Umständen verraten durfte. Weshalb sonst hieß es denn Muttersprache? Elaine war tot und ihre gemeinsame Sprache war es auch.

All das kam Morgane jetzt in den Sinn, und ein Schmerz kehrte zurück, ein altes Bild mit einem frischen Anstrich, als müsse sie viele Jahre später eine Rechnung begleichen, die sie als Zehnjährige in einem professionellen Spielzimmer in der Nähe des Marktplatzes von Brest nicht zu zahlen bereit gewesen war.

Die Flut presste die Wellen in jene idyllische Bucht, die binnen weniger Minuten anschwoll wie eine überlaufende Badewanne. Morgane betrachtete das Naturspektakel so lange, bis kein Sand mehr zu sehen war und das Meer nur noch gegen die schwarzen Felsen schwappte. Der Leuchtturm von St. Mathieu blinkte, und die ersten Fischerboote legten ab. Weit draußen auf dem Meer konnte man eine dicke Wolkenschicht sehen, ein Balken am Horizont wie ein unüberwindbarer Wall. An einigen Stellen riss er auf wie alter brüchiger Stoff, und das Licht der untergehenden Sonne drückte durch die Lücken. Es war, als tauche sie langsam ins Meer und hinterlasse dabei eine Welt in Rot. Der Wind hielt inne und eine Brise ging sanft über Morganes Haut. Sie strich ihre Haare aus dem Gesicht und blickte hinauf zum Himmel. Sie wünschte sich, sie würde sich wünschen, hierzubleiben. Mit ganzem Herzen, aber um ihr Herz hatte sich ein Knoten gebildet wie die Kruste einer alten Wunde.

»Ich bleibe«, sprach sie zu sich selbst, leckte sich das Salz von den Lippen und ging den Berg hinunter, zurück in ihr Hotel, wo sie die Rechnung bezahlte und der Rezeption mitteilte, gleich morgen nach dem Frühstück abzureisen.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen wollte Morgane einen langen Strandspaziergang unternehmen, bevor sie den Notar, einen gewissen Monsieur Le Hir, in Le Conquet aufsuchte, um die Formalitäten zu erledigen. Die frische Meeresluft, so hoffte sie, würde ihren Kopf freimachen und ihre Gedanken ordnen. Diesmal ging sie in die andere Richtung und fand auch hier nur Klippen und neben der Straße einen kleinen Weg. Sentier des douaniers, kam es ihr in den Sinn, und sie folgte dem kurvigen Pfad. In einer größeren Bucht gab es dank der Ebbe feuchten, knirschenden Sand. Morgane genoss den Wind und betrachtete die Schiffe in der Ferne. Der graue Himmel störte sie nicht, ganz im Gegenteil, sie fand, er verlieh der Landschaft einen verhaltenen Charme, und sie nahm sich vor, solange sie hier sein würde, regelmäßig ans Meer zu gehen. Zurück in ihrem Wagen, nahm sie die Mappe mit den Unterlagen aus Brest, die, so hatte es ihr Maître Levèbre mitgeteilt, alles enthielt, was sie für die Überschreibung der Immobilie benötigte, und begab sich zum Notar.

Bei Monsieur Le Hir, einem freundlichen, aber wortkargen älteren Herrn, schien alles zügig vonstatten zu gehen. Fast glaubte Morgane ihr Glück nicht fassen zu können. Ohne Überprüfung ihrer Identität hatte er ihr nacheinander einige Blätter zugeschoben, deren Inhalt er jeweils kurz zusammenfasste. Als sie zu ihrer Unterschrift ansetzte, legte er seine Hand auf die ihre und zwang sie, aufzusehen.

»Bevor Sie sich endgültig entscheiden, Madame. Da wäre noch etwas: eine minimale Restschuld, die Sie übernehmen müssten.«

»Schulden?«, fragte Morgane und hörte, wie ihre Stimme zitterte. Sie ließ den Kugelschreiber aus der Hand gleiten und sah, wie der Stift sogleich über die Tischplatte rollte. Bevor er fallen konnte, klatschte Monsieur Le Hir mit seiner Hand darauf, nahm ihn und schob ihn langsam zu ihr zurück.

»Etwa 20 000 Euro. Bei der Bank. Eine Hypothek jüngeren Datums. Das würde dann automatisch auf Ihren Namen überschrieben werden. Die monatliche Kredittilgung ist nicht der Rede wert. 700 Euro.«

»700 Euro«, presste Morgane hervor, umklammerte das Schreibgerät und überflog den Erbvertrag – kein Wort von Paulette Kermarrec. Auch von Schulden stand dort nichts. Sie überlegte, dass sie das angebliche Schreiben über das lebenslange Wohnrecht noch nicht gesehen hatte. Hatte Paulette wirklich die Wahrheit gesagt? Schulden – das Wort baute sich vor ihrem inneren Auge auf wie ein unüberwindbarer Berg. Sie war noch nie mit ihrem Girokonto ins Minus geraten, hatte immer klug gehaushaltet. Jetzt brauchte sie Zeit, musste nachdenken, in aller Ruhe eine Entscheidung treffen. Ruckartig erhob sie sich von ihrem Platz; der Notar tat es ihr gleich, die Stirn zu Sorgenfalten gerunzelt.

»Lassen Sie mir bitte Bedenkzeit, Monsieur. Ich muss erst einmal überlegen, was ich tun werde. Eigentlich hielt ich das Objekt für schuldenfrei. Ich kann noch zurücktreten?«, fügte sie vorsichtig an.

»Oh, Sie haben noch nichts unterschrieben«, beruhigte sie der Notar und neigte den Kopf zur Seite, während er seine Hände rieb. »Es ist allerdings ein großes Anwesen in erstklassiger Lage, gebe ich zu bedenken. Allein der Boden …«, sagte Monsieur Le Hir, ohne seinen Gedanken zu Ende zu führen. »Rufen Sie mich, sagen wir, bis spätestens morgen 17 Uhr an und teilen mir Ihre Entscheidung mit. Wenn Sie abspringen, Madame, verleiht Ihnen der französische Staat den Wohltätigkeitsorden. Es gibt keine Erben. Selbst wenn Sie das Anwesen verkauften, bliebe genug übrig …«

Er sah gen Horizont, als danke er dem Herrn für seine geschickte Gesprächsführung. Bevor Morgane ging, überreichte er ihr mit einem verschmitzten Lächeln einen Umschlag und nuschelte in seinen Bart: »Für meine Dienste, Madame. Ein kleiner Betrag wäre noch offen. Der Rest wurde bereits von Ihrer Tante beglichen.«

Der kleine Betrag belief sich auf 1800 Euro. Plus 20 000. Verdutzt lief Morgane zu ihrem Wagen. Zumindest die Rechnung wäre mit ihrem Gesparten zu stemmen. Spränge der französische Staat als Erbe ein, dann sicherlich auch im Falle der Forderungen Monsieur Le Hirs.

Zurück im Auto, legte sie ihre Stirn aufs Lenkrad und atmete mehrfach durch. Sie nahm ihr Handy und rief ihren Vater an. Gleich nach dem zweiten Klingeln nahm dessen Ehefrau Ingeborg ab. Allein deren Stimme vermochte es, Morgane auf Distanz gehen zu lassen. Insgeheim nannte sie die Stiefmutter immer »Frau Ingeborg«. Die Garage