Klaras Schweigen - Bettina Storks - E-Book
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Klaras Schweigen E-Book

Bettina Storks

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Beschreibung

Freiburg im Breisgau, 2018: Nach einem Schlaganfall spricht Miriams hochbetagte Großmutter plötzlich französische Worte – eine Sprache, die sie angeblich nie gelernt hat. Miriam erkennt schnell, dass Klara weit mehr verbirgt, doch alle Nachfragen finden kein Gehör. Was genau passierte im Leben ihrer Großmutter? Warum verließ sie Freiburg und ging im Dezember 1949 überstürzt nach Konstanz? Miriams Suche nach Antworten führt sie bis in die Bretagne, immer auf der Spur eines jahrzehntelang gehüteten Familiengeheimnisses …

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Als Klara 1948 den in Freiburg stationierten jungen Franzosen Pascal kennenlernt, steht ihre junge Liebe von Anfang an unter keinem guten Stern. Es ist nicht gestattet, sich mit den französischen Besatzern einzulassen – aber die Gefühle des jungen Paars sind stärker. Doch eines Tages ist Pascal spurlos verschwunden. Für Klara bricht eine Welt zusammen. Mit schier unmenschlicher Kraft gelingt es ihr, nach vorn zu schauen. In Konstanz kann sie ihre Schneiderlehre abschließen und sie heiratet Eduard. Niemand spricht mehr über das, was damals geschehen ist, bis Klaras Enkelin Miriam siebzig Jahre später in ein Netz von Lügen hineingezogen wird. Miriam folgt den Spuren der Vergangenheit, die sie bis nach Saint-Malo, einem malerischen Küstenort in der Bretagne führen. Für die Wahrheit ist es nicht zu spät – nur wie lange wird es dauern, bis die Wunden heilen?

Bettina Storks

KLARAS

SCHWEIGEN

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Zitat [>>]von Bertolt Brecht, Textauszug aus »An die Nachgeborenen«, in: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 12: Gedichte 2. © Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag 1988.

Copyright © 2021 by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Schlück, 30827 Garbsen

Redaktion: Cathérine Fischer

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Shutterstock.com

(Dragon_Fly; hxdbzxy; SusaZoom; YesPhotographers);

Ildiko Neer/Trevillion Images

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24437-8V004

www.penguin.de

Was gebeichtet werden kann, das kann verziehen werden, aber die verborgene Schuld, vor niemand eingestanden, das ist die schwerste Strafe.

THEODORFONTANE

PROLOG

Freiburg,

27. November 1944

Dieser Wintertag ist viel zu schön für Krieg.

Klara blickt zum Himmel. Die letzten Sonnenstrahlen streifen die Dächer der Häuser, und die Dämmerung schluckt das Blau.

Über der Stadt kreisen Aufklärungsflieger der Royal Air Force. Klara erkennt sie an ihren roten Punkten. Das dumpfe, schaurige Geräusch der Motoren klingt wohlbekannt.

Die Mutter greift nach Klaras Hand. »Komm jetzt endlich, Klara! Wir müssen nach Hause.«

Ihr Ziel ist die Kartäuserstraße, gerade einmal eine halbe Stunde Fußweg – bei Alarm eine Ewigkeit.

Zu Hause wartet der Vater mit Klaras kleiner Schwester Lotte.

»Schneller, Klara. Was träumst du denn wieder?« Ihre Mutter zerrt die Vierzehnjährige über die Adolf-Hitler-Straße in Richtung Münsterplatz. »Höchste Zeit, dass wir heimkommen.«

Klara stolpert über eine Ritze im Kopfsteinpflaster und fängt sich im letzten Augenblick ab. Eigentlich möchte sie lachen, weil sie so ungeschickt ist.

Aber in diesen Zeiten lacht man nicht.

Um sie herum verschwinden Menschen in Richtung Schlossberg zum Schutzbunker.

»Wenn du dich ein bisschen beeilst, schaffen wir es noch nach Hause«, sagt die Mutter und beschleunigt ihren Gang.

Auf der Höhe der Schwabentorbrücke über der Dreisam heulen die Sirenen zum ersten Mal auf. Als sie endlich die Kartäuserstraße erreichen, ist es bereits stockfinster.

Der Vater sitzt in der Küche und raucht. Die Vorhänge sind zugezogen. Eine flackernde Kerze spendet Licht. Lotte spielt auf dem Boden mit einer Puppe.

Das war ein ganz normaler Alarm, denkt Klara.

»Wir müssen sofort in den Keller«, drängt die Mutter, holt die Notfallration aus dem Küchenschrank und zieht Lotte das abgetragene Mäntelchen von Klara an. Mit zitternden Händen packt sie anschließend eine Kerze und Streichhölzer ein.

Klara bleibt stehen, als seien ihre Füße mit dem Boden verwachsen. Ein ganz normaler Alarm.

Im Flur stehen die Schuhe in Reih und Glied für alle bereit, so als warteten sie wie kleine Soldaten auf ihren Einsatz. Warme Kleidung hängt am Haken. Mütze. Schal. Handschuhe.

Sie kennt diesen Ablauf auswendig, doch in diesem Moment, da Klara ihren Schal zubindet, kommt die Angst. Sie setzt sich in ihrer Kehle fest, umklammert ihr Herz.

»Klara«, mahnt die Mutter. »Komm endlich!«

Der Vater öffnet die Wohnungstür und humpelt mit dem Gepäck voran zur Kellertreppe. Ein stabiler Keller mit Eisenträgern.

Lotte streckt Klara ihre kleinen Hände entgegen und schaut sie mit großen Augen an.

»Huckepack«, sagt sie und macht einen Kussmund.

Klara bückt sich und nimmt das Kind auf den Rücken. Als sie die Wohnungstür hinter sich zuzieht, schwillt das Geräusch der sich nähernden Flieger an. Klara spürt das Brummen am ganzen Körper, stärker als je zuvor.

Es sind mehr Flieger als sonst. Viel mehr.

Vor der Eingangstür bleibt sie stehen und hält den Atem an.

Durch eine kleine Fensterscheibe sieht sie ein grelles Licht, so grell, dass es blendet. Leuchtraketen!

Die Bäuche der schweren Flugzeuge scheinen die Dächer der Häuser zu berühren, so tief fliegen sie.

Der ganze Himmel ist beleuchtet.

»Vom Himmel fallen Christbäume«, sagt Lotte und zeigt mit dem Finger auf das schauderhafte Schauspiel, das draußen zu sehen ist.

Wie hypnotisiert starrt Klara hinaus.

»Guck nur«, sagt Lotte. »Der Weihnachtsmann.«

»Nicht hinsehen«, befiehlt Klara und drückt ihre kleine Schwester dicht an sich.

Sie zwingt sich, ihren Blick vom glühenden Himmel abzuwenden, und läuft die Stufen hinunter zu den anderen.

»Du tust mir weh«, jammert Lotte und beginnt zu weinen.

Alle Bewohner des Hauses haben sich bereits im Keller auf ihren Plätzen eingefunden. Die Mutter nimmt Klara das Kind ab und schaukelt es hin und her.

Klaras Blick geht über die Köpfe der Schutzsuchenden. Die vielen Fliegeralarme haben die Hausgemeinschaft gelehrt, aufeinander zu achten. Jeder zählt, ob alle da sind.

Aber heute kann Klara nicht zählen. Sie hat die Zahlen vergessen.

Die Sirenen heulen zum Hauptalarm, gefolgt vom dumpfen tiefen Brummen der Bomber. So unerträglich laut, das Trommelfell will ihr platzen.

Die Erde bebt.

Klara drückt ihre flachen Hände gegen die Ohren und kauert sich neben ihre Mutter. Als die Bomben fallen, sieht sie Angst und Entsetzen in den Gesichtern, die bei jeder Erschütterung im Kerzenlicht aufflackern.

Die Frau vom zweiten Stock sitzt in der Ecke auf ihrem Stammplatz, die Beine angezogen, das Kinn auf die Knie gestützt. Dabei schaukelt sie mit leeren Augen hin und her.

Ihre Lippen zittern.

Das muss das Ende sein.

»Heilige Maria, bitte für uns Sünder«, dringt das monotone Flüstern der Mutter an Klaras Ohr.

Längst schon betet sie nicht mehr zum Vater im Himmel, sondern bemüht den Schutz der heiligen Mutter Gottes.

»Diesmal machen sie uns kaputt«, presst der Vater hervor.

»Das ist das Jüngste Gericht«, stammelt eine andere Frau.

Klara wird diese Nacht für immer in Erinnerung behalten. Die Nacht, in der sie vergessen hat, wie man zählt.

Irgendwann, nachdem es ruhig geworden ist, gehen sie gemeinsam nach oben. Einem Wunder gleich steht ihr Haus noch. Ihre Straße hat nicht einmal einen Steinschlag abbekommen. Aber ihre Heimatstadt, so wie sie Freiburg kannten, ist ausgelöscht.

Die Mutter bekreuzigt sich mehrmals. »Maria, Mutter Gottes, im Himmel, ich danke Dir.«

Ohne nachzudenken, läuft Klara Richtung Innenstadt.

»Bleib hier«, ruft die Mutter hinter ihr her.

Aber Klara geht wie eine Traumwandlerin weiter.

In der Ferne sieht sie brennende Straßen. Der scharfe Rauchgeruch setzt sich in den Lungen fest und verursacht Hustenreiz.

Trotz tiefster Nacht ist die Stadt hell erleuchtet. Feuer. Rauchschwaden. Heulende Sirenen. Und Stimmen. Menschen laufen schreiend durch qualmende Ruinen. Einige bleiben unvermittelt stehen und weinen.

»Sie sind alle tot«, schluchzt eine Frau mit einem Bündel auf dem Arm.

Es ist ein Säugling. Klara wagt nicht hinzusehen, ob er lebt.

Aus den heruntergerissenen Gebäudefassaden hängen die Fetzen einstiger Träger. Nur das Freiburger Münster steht wie ein Wächter beinahe unversehrt auf dem Marktplatz, umgeben von brennenden Häusern. Dass das Gebäude noch da ist, tröstet Klara für einen Augenblick wie die unerwartete Umarmung eines Fremden.

Wie in Trance steuert sie den Schlossberg an, läuft zu ihrem Kindheitsort hinauf, als könne sie nur so all den schrecklichen Bildern entfliehen.

Auf halber Höhe blickt sie hinab auf die immer noch brennende Altstadt. Die Sirenen der Löschfahrzeuge hallen zu ihr herauf.

Sie weiß nicht, wie lange sie dort verharrt, aber sie bleibt einfach stehen, hört menschliche Laute neben und hinter sich, Weinen, Schreie, Wimmern. All diese Menschen leihen Klara ihre Stimme, denn sie bleibt stumm.

Dann plötzlich entdeckt sie etwas Helles unten auf der Straße, das sich bewegt.

Sie stutzt, reibt sich die Augen, wartet, bis das Bild in ihrem Kopf ankommt.

Ihr ist, als schwirrten kleine Glühwürmchen über dem Boden. Oder sind es Engel in Nachthemden?

Kinder, denkt Klara und spricht laut aus: »Kinder!«

Ihre eigene Stimme klingt fremd und kalt.

Es müssen herumirrende Kinder aus dem nahe liegenden Waisenhaus sein.

MIRIAM

1

Freiburg,

März 2018

»Sie spricht wieder.«

Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster, sah auf das gegenüberliegende dunkelrote Backsteingebäude der ehemaligen Universitätsbibliothek und atmete tief durch.

Was für eine wunderbare Nachricht! Eine, die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Großmutter für einen Moment verdrängte. In der Bibliothek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universität schien es mucksmäuschenstill zu sein.

»Wirklich?«, flüsterte Miriam ungläubig.

Schräg hinter ihr raschelte jemand mit Papier.

»Ja«, sagte Miriams Großtante Lotte. »Die Stationsleitung hat angerufen. Sie konnten dich nicht erreichen. Klara spricht wieder.«

Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Ärzte Miriam erklärt, man müsste Geduld haben, und ob Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen würde, sei ungewiss.

»Was sagt sie?«, fragte Miriam leise und sah sich um.

In der Präsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten Märztag nur einige Studierende eingefunden.

Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen, vor ihr lagen drei aufgeschlagene Bücher mit Post-its, ein Notizbuch, ein Füllfederhalter. Wann immer es ging, ließ sie den Laptop im Büro und schrieb von Hand.

Fontane. Die Berliner Romane. Effi Briest. Eine literaturgeschichtliche Abhandlung über die Standesunterschiede im ausgehenden 19. Jahrhundert und der fragwürdige Versuch, ihn durch amouröse Abenteuer zu überwinden. Nahezu ausschließlich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenzüberschreitung und die Schöpfer jener Werke Männer.

»Ist sie bei klarem Verstand?«, flüsterte Miriam weiter, klappte ihre Bücher zu, klemmte sie zusammen mit den anderen Unterlagen unter den Arm und stand auf.

»Warum sprichst du denn so leise? Ich verstehe dich kaum«, hörte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Großtante.

»Ich bin an der Uni«, flüsterte Miriam, während sie an den meterhohen Bücherregalen vorbeiging.

Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase.

Im Flur empfing sie die Geräuschkulisse eines aus dem Winterschlaf erwachenden Universitätsbetriebs. In zwei Wochen war Semesterbeginn. Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel, Schritten und Zurufen der Studierenden. Miriam nahm ihren Rucksack, verstaute ihr Arbeitsmaterial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe.

»Ich war in der Bibliothek, Tante Lotte, ein Seminar vorbereiten. Was genau hat sie denn gesagt? Ist sie bei klarem Verstand?«

»Das weiß ich nicht. Das Wichtigste ist, dass es Hoffnung gibt. Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit für ein Gespräch mit dir. Er wird dir sicher mehr erklären können. Gibst du mir Bescheid, nachdem du dort warst?«

Miriam sah auf die Uhr – kurz nach drei. Ihre Schritte hallten auf den breiten Steintreppen, die sich durch die Mitte des Betonbaus, wo das Deutsche Seminar lag, zogen. Draußen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad.

Über ihr ein strahlend blauer Himmel.

»Ja, gerne, Tante Lotte. Ich mache mich direkt auf den Weg und melde mich später bei dir.«

Sie schlüpfte in die Träger ihres Rucksacks, öffnete das Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg, vorbei am Kollegiengebäude I, dem ältesten Gebäude der Philosophischen Fakultät, an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibelspruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte – ein schlichter Satz, an den Miriam stets geglaubt hatte.

Schräg gegenüber beschien die Mittagssonne das gläserne futuristische Gebäude der neuen Universität.

Mehr als sechs Wochen war Miriams Großmutter kein Wort über die Lippen gekommen. Ende Januar, mitten in einem Telefonat mit Miriam, war es passiert. Plötzlich hatte Klara gelallt, anschließend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Hörer aufgelegt. Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen. Klaras Schwester Lotte, die im selben Haus lebte, war für ein paar Tage im Schwarzwald.

Miriam hatte blitzschnell reagiert, den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Großmutter eingetroffen. Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung über sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert.

»Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute«, war die Erklärung der Notärztin gewesen, und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen, wie das Rettungsteam ihre Großmutter für den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte.

Dem vorausschauenden Handeln jener Ärztin war es zu verdanken, dass Klara sich verhältnismäßig schnell erholte. Die einseitigen Lähmungen der linken Körperhälfte hatten sich zügig verbessert. Schon bald, so hieß es, würde Klara wieder gehen können. Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas außerhalb der Stadt erfolgt.

Seitdem war kein Tag vergangen, an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Großmutter besucht hatte. Dort war sie so oft wie möglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur begleitet. Schon bald konnte ihre Großmutter wieder gehen. Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhängnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort.

Und so wurde die Angst, ihre Großmutter endgültig zu verlieren, Miriams ständiger Begleiter. Aber weit vor Miriams Ängsten stand der Wunsch, Klara möge die letzten Jahre in Würde und Selbstbestimmung verbringen. Dazu musste sie sich ausdrücken können, brauchte ihre Sprache.

Miriam hatte ein besonders enges Verhältnis zu ihrer Großmutter, seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von zwei Jahren verloren hatte. Miriam besaß keinerlei Erinnerungen an ihre Eltern. Alles, was sie über sie wusste, speiste sich aus Erzählungen und Fotos.

Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Großmutter. Es war kurz vor vier.

Klara lag in ihrem Bett, den Blick zur Decke gerichtet. Das grau gewellte Haar war zurückgekämmt. Erneut bemerkte Miriam, wie dünn und zerbrechlich sie in den letzten Wochen geworden war.

Langsam ging Miriam zum Krankenbett, während sie einen Blumenstrauß in die Höhe hielt.

»Hallo, Omi. Wie geht es dir denn heute?«

Miriam küsste ihre Großmutter auf die Wange und nahm ihre Hand.

Auf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Lächeln, das sofort wieder verschwand.

»Ich habe dir Tulpen mitgebracht. Schau nur!«

Klara lächelte und schloss seufzend die Augen.

»Ich bringe dir den Frühling, Omi, deine Lieblingsblumen in drei Farben. Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Großmutter. »Sie sagen, du sprichst wieder. Das ist wunderbar! Jetzt geht es aufwärts. Du wirst schon sehen!«

Es war, als spräche sie sich selbst Mut zu.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Klara die Augen wieder öffnete. Miriam versuchte den Blick ihrer Großmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen – aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Aufruhr.

Hatte sich das Pflegepersonal getäuscht?

Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam, ob ihre Großmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte, ob sie einfach genug hatte. Sie, die ein Leben lang beweglich gewesen war, geistig und körperlich. Sie, die gerne gesprochen und Geschichten erzählt hatte. Sie, die Miriams Vorliebe für Romane schon in frühen Jahren mit Buchgeschenken und Empfehlungen gefördert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstützt hatte.

Dieselbe Frau schwieg nun schon so lange.

Miriam ließ Klaras Hand los, stand auf, nahm eine Blumenvase vom Regal, ging damit zum Waschbecken und füllte die Vase.

Sie warf einen Blick in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing, und beobachtete ihre Großmutter, wie sie ausdruckslos dalag.

»Man hat mir gesagt, du hättest gesprochen, Omi.« Miriam bemühte sich um einen belanglosen Ton. »Sag was, Omi! Auch fluchen ist erlaubt«, sagte sie aufmunternd in ihr Spiegelbild, während das Wasser in die Vase plätscherte. »Möchtest du wiederholen, was du heute gesagt hast?«

Sie zwinkerte ihrer Großmutter zu, dann drehte sie den Hahn zu, löste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase.

Plötzlich hörte sie undefinierbare Laute hinter sich. Abrupt drehte sie sich um.

Klara lächelte wieder.

Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zurück an das Bett ihrer Großmutter. Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand.

»Möchtest du das noch einmal sagen?«

Klara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg. Dann tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke. Immer wieder im gleichmäßigen Takt, als übe sie eine Tonfolge auf dem Klavier.

Klara hatte nie ein Instrument gespielt.

Plötzlich hielt sie inne, und ihre Lippen bildeten Laute, unzusammenhängendes Kauderwelsch. Leise, ganz leise, kamen Töne aus ihrem Mund.

Miriam lauschte und bemühte sich, die Silben zusammenzusetzen.

War es das, was die Ärzte Aphasie nannten? Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammenhanglos Silben aneinander.

Klaras Mimik verriet Unruhe, als ginge in ihrem Inneren etwas Gewaltiges vor. Das Tippen mit den Fingerspitzen hörte auf, um dann von Neuem zu beginnen. Dann noch einmal eine Wortmelodie. Sie klang fremd und doch vertraut.

Erst verzögert begriff Miriam: Das war kein Deutsch. Ihre Großmutter sprach Französisch. Französische Worte mit einem ausgeprägt süddeutschen Akzent.

»Sag es noch einmal, Omi«, bat Miriam.

»Quatre-vingt-dix-neuf. Merci bien. Au revoir. Pa-«

Neunundneunzig. Danke. Auf Wiedersehen.

Die Aussprache klang dialektgefärbt. Ihre Großmutter hatte ihr Leben lang Badisch gesprochen mit der Betonung auf der ersten Silbe. Die Silbe, die nach Pa folgte, hatte sie verschluckt.

Klaras Gesicht hellte sich auf, als sie erneut ansetzte.

»Quatre-vingt-dix-neuf.«

Miriam nickte ihrer Großmutter aufmunternd zu, während sie sich insgeheim die Frage stellte, woher sie in der Lage war, diese Worte zu formen. Die höheren zweistelligen französischen Zahlen bildeten eine Welt für sich. Miriam wusste, dass es lange dauerte, bis man die Kombinationen fließend beherrschte.

»Wenn du mühelos, ohne nachzudenken, die zweistelligen Zahlen auf Französisch kannst, bist du in der Fremdsprache angekommen«, behauptete Miriams ehemaliger Freund Claude immer. Claude musste es wissen, er war Franzose.

Das Problem war nur, dass Klara Schilling mit Ausnahme von Schulenglisch keine Fremdsprache gelernt, geschweige denn auch nur ansatzweise gesprochen hatte. Sie war eine brillante Handwerkerin gewesen und hatte viele Jahre eine kleine Schneiderei in der Freiburger Innenstadt betrieben.

»Ich wusste bis heute überhaupt nicht, dass du Französisch sprichst«, sagte Miriam mit einer Mischung aus Anerkennung und Befremdung. »Wo hast du das gelernt, Omi? Hier in Freiburg? Hast du heimlich einen Volkshochschulkurs besucht? Oder kommt es von Konstanz, wo du als junge Frau gelebt hast? Erinnerst du dich an den Bodensee? Möchtest du mir davon erzählen?«

Miriam biss sich auf die Lippen. Das waren eindeutig zu viele Fragen auf einmal.

Ruckartig griff Klara hinüber zu ihrem Nachtschränkchen, öffnete die Schublade und tastete nach einem Gegenstand. Schließlich fischte sie eine lange Kette heraus, an der eine Taschenuhr hing.

Verblüfft sah Miriam zu, wie ihre Großmutter ihre Hand nahm und ihr die Uhr in die Mulde legte. Unwillkürlich streichelte Miriam die Wange ihrer Großmutter.

»Es wird alles gut, Omi. Beruhige dich, bitte. Ich habe viel zu viele Fragen gestellt. Alles wird gut.«

Das kalte Edelmetall lag in ihrer Hand. Woher kam diese Uhr? Als Miriam ihrer Großmutter Kleidung und Nachtwäsche für die Rehaklinik zusammengesucht hatte, war keine Taschenuhr im Gepäck gewesen.

Eine Uhr. Zeit. Welche Bedeutung besaß das Phänomen Zeit mit knapp neunzig Jahren?

Wie viel davon würde Klara noch bleiben?

Langsam öffnete Miriam ihre Hand und sah auf das wunderschöne antike Stück. Hatte es einst ihrem Großvater gehört? Nein, Miriam hatte diese Taschenuhr nie zuvor gesehen. Vorsichtig klappte sie den Verschluss auf und entdeckte auf der Innenseite eine Gravur mit geschwungenen Buchstaben:

Le temps est un bien précieux.

»Die Zeit ist kostbar«, sagte Miriam leise und schluckte ihre Tränen hinunter. »Was für eine wunderschöne Uhr.«

Klara mochte schweigen, aber sie hatte angefangen zu kommunizieren. Vor Miriams innerem Auge warf der Zeitmesser zusammen mit den französischen Wortfetzen viele Fragen auf.

Was wollte ihre Großmutter ihr mitteilen?

Aber heute würde Miriam keine Fragen mehr stellen.

Sie würden es langsam angehen, genau wie mit Klaras ersten Schritten vor Wochen auf dem Flur der Reha-Einrichtung. Einen nach dem anderen.

Mit einem Seufzer schloss Klara die Augen. Miriam begriff instinktiv, dass ihre Großmutter jetzt nichts mehr sagen konnte, selbst wenn sie gewollt hätte.

Lange saß Miriam einfach nur da, lauschte Klaras regelmäßigem Atem, während sie die jüngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu sortieren versuchte. Sie betrachtete das ihr vertraute Gesicht, das sich zunehmend entspannte. Selbst die Falten um Klaras Mund schienen weich.

Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem, was ihre Großmutter gerade gestammelt hatte, und der Uhr?

Zahlen. Die Silbe »Pa«, die verloren im Raum stand. Eine Taschenuhr mit einer Gravur in französischer Sprache.

Vom Flur aus hörte man gedämpft Stimmen, das Öffnen und Schließen von Türen. Vermutlich wurde gleich Abendessen serviert.

Miriam warf einen Blick auf ihr Handy: kurz vor fünf. Höchste Zeit, den Arzt aufzusuchen.

Ein leises Schnarchen war zu hören. Ihre Großmutter war eingeschlafen.

Leise stand Miriam auf, schob den Stuhl zurück und küsste sie auf die Stirn.

»Ich komme morgen wieder. Wie jeden Tag«, flüsterte sie. »Dann sehen wir weiter.«

Vorsichtig legte sie die Taschenuhr zurück in die Schublade, nahm ihren Rucksack und ging zur Tür.

»Pas-cal«, klang es plötzlich deutlich hinter Miriams Rücken, mit der Betonung auf der zweiten Silbe, so wie im Französischen.

Miriam hielt inne, drehte sich um und sah gebannt auf Klaras Gesicht, das ein Lächeln zeigte.

Ihr Atem ging regelmäßig.

»Pascal.«

MIRIAM

2

Freiburg,

März 2018

»Schwer zu sagen, was genau im Kopf einer Schlaganfallpatientin vorgeht«, sagte der behandelnde Arzt, nachdem er einen langen Blick in Klara Schillings Akte geworfen hatte. »Drei Wochen ist Ihre Großmutter jetzt bei uns.«

Er saß hinter seinem Schreibtisch und nahm seine Brille ab. Miriam hatte ihm gegenüber Platz genommen.

»Sie spricht Französisch aus heiterem Himmel, sagen Sie?«

»Sie muss es irgendwann gelernt haben«, sagte Miriam achselzuckend und kam sich dabei schrecklich dumm vor, als sei sie nicht genügend informiert über das Leben ihrer wichtigsten Bezugsperson.

Der Arzt wippte mit seinem frei schwingenden Stuhl.

»Wenn die Patienten ins Leben zurückkehren, passieren die seltsamsten Dinge. Ich erinnere mich an eine ältere Frau, die plötzlich Ungarisch sprach, und es stellte sich heraus, dass sie früher ein ungarisches Kindermädchen hatte. Es kommt darauf an, welche Zentren im Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wir wissen, dass das menschliche Gehirn in der Lage ist, den Ausfall bestimmter Regionen mit anderen zu kompensieren. Sie müssen Geduld haben, Frau Schilling. Genau wie mit den Lähmungen.« Wieder sah er in die Akte und blätterte darin. »Linksseitige Extremitäten«, murmelte er. »Hier haben wir eine zufriedenstellende Entwicklung. Sechs Wochen nach dem Schlaganfall. Zeit und Geduld sind die Zauberworte.«

Er sah Miriam freundlich an.

Geduld. Zeit? Wie viel davon würde ihrer Großmutter noch bleiben?

»Ich habe das Gefühl, dass sie leidet. Sie möchte mir etwas mitteilen und kann es nicht. Als wäre die Software in ihrem Kopf vorhanden, aber sie beherrscht das Programm nicht. Sie kämpft um Artikulation. Ob es auch um ihre Erinnerungen geht, kann ich nicht beurteilen.«

Der Arzt hörte auf zu wippen.

»Oder ihr Gehirn hat noch keinen Zugriff auf das Programm. Noch nicht.«

»Das klingt optimistisch«, bestätigte Miriam lächelnd.

»Ihr Bild mit der Software gefällt mir! Sind Sie vom Fach?«

Miriam lachte. »Nein! Ich unterrichte Literatur, und durch das Schweigen meiner Großmutter wurde mir noch mehr bewusst, welche Bedeutung Sprache hat, wenn man sie verliert.«

Anerkennend zog der Arzt die Brauen nach oben und wischte dann mit der flachen Hand über die geschlossene Akte. »Nur Mut! Zuversicht ist das tägliche Brot meines Jobs! Wollen Sie meinen Rat hören?«

Miriam nickte stumm.

»Stimulieren Sie das Gedächtnis Ihrer Großmutter mit Fotos oder Briefen aus ihrer Vergangenheit. Suchen Sie nach Dingen, die ihr etwas bedeutet haben. Ich mache einen Vermerk für den Logopäden. Lassen Sie Ihre Großmutter reden. Gehen Sie auf den Sprachschatz ein, den sie Ihnen anbietet. Sie sprechen Französisch?«

Miriam nickte. »Ja.«

»Na bitte!«

Er warf die Arme in die Höhe und ließ sie auf den Tisch fallen. Dann rollte er mit Schwung seinen Stuhl nach hinten. »Vielleicht braucht Ihre Großmutter nur einen Reiz, und sie spricht wieder in ihrer Muttersprache. Suchen Sie nicht nach Antworten, sondern geben Sie ihr die Möglichkeit, diese selbst zu finden. Vielleicht bekommen wir mit dem richtigen visuellen Reiz das ganze Programm wieder zum Laufen.«

Er machte Anzeichen, sich zu erheben.

Miriam tat es ihm gleich, bedankte sich und verabschiedete sich mit einem Handschlag.

Auf der Fahrt zurück nach Freiburg ging es leicht bergab, und das Rad rollte von alleine. Miriam blies ein kühler Wind ins Gesicht. Immer wieder gingen ihr die jüngsten Ereignisse durch den Kopf: Klaras Ringen um Sprache, ihr verzweifelter Gesichtsausdruck, dann die Bestimmtheit, mit der sie ihrer Enkelin die Uhr gezeigt hatte. Ihr glückliches Lächeln vor dem Einschlafen, nachdem sie einen Namen genannt hatte. Die Empfehlungen des Arztes.

Aus lebhaften Erzählungen ihrer Großmutter und deren Schwester Lotte wusste sie einiges über Klaras Kindheit und Jugend in Freiburg. Fast zehn Jahre hatte Klara in Konstanz am Bodensee gelebt, wo sie geheiratet hatte, dann war sie mit ihrer Familie wieder nach Freiburg zurückgekehrt. Beide Städte waren nach dem Krieg in die französische Besatzungszone gefallen.

Rührten Klaras Sprachkenntnisse aus dieser Zeit? War die Uhr ein Symbol für die Zeit, die ihr noch blieb? Handelte es sich bei Pascal um den ehemaligen Besitzer der Uhr? War sie ein Geschenk von Klaras Jugendliebe?

Offensichtlich wusste Miriam nicht alles.

Letztendlich konnte niemand sagen, was in ihrer Großmutter vorging. Miriam hatte das Gefühl, dass ihr angesichts Klaras hohen Alters die Zeit davonlief.

Was hatte der Arzt vorgeschlagen? Visuelle Reize! Davon gab es genug in Klaras Wohnung. Fotoalben. Ein Schreibtischfach mit Korrespondenz. Briefe, die Miriam noch nie in die Hand genommen hatte.

Nach einer Dreiviertelstunde erreichte Miriam ihr Zuhause in der Kartäuserstraße. Sie wohnte unterm Dach in einem Haus, das die Familie seit Jahrzehnten besaß. Klara und deren Schwester hatten nach dem Tod ihrer Eltern eine Erbengemeinschaft um die Immobilie gegründet. Eines Tages würde das Haus Miriam und Lottes Patentochter gehören.

Miriam mochte das sandsteinfarbene Gebäude mit den hohen Fenstern und seinen Erkern sehr. Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus, das den Krieg unbeschadet überstanden hatte, wie alle Häuser hier in der Straße. Die meisten Mieter lebten schon lange hier. Nur Miriam war erst vor einem knappen Jahr eingezogen.

Von ihrem kleinen Balkon aus konnte sie auf die Anhöhe des Schlossbergs mit seinen Reben sehen. Idyllisch lagen darunter der Gewerbebach und einen Steinwurf entfernt die Dreisam, der Fluss, der sich durch Freiburg zog. Es war ein großes Glück, so zentral zu wohnen, fünf Fahrradminuten von Miriams Arbeitsplatz, der Universität in der Innenstadt, entfernt.

In ihrer Wohnung angekommen, versuchte Miriam, ihre Großtante zu erreichen, aber Lotte ging nicht ans Telefon. Sie hinterließ eine Sprachnachricht:

»Ich bin’s, Tante Lotte. Es gibt gute Nachrichten. Ich bin zu Hause erreichbar. Magst du mich zurückrufen, wenn du da bist?«

Dann widmete sich Miriam ihrer Arbeit, dem Proseminar Grenzen sprengen – auf wessen Kosten? Der Standesunterschied in Roman und Drama an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.

Ihr vorgesetzter Professor hatte ihr für das Wintersemester die Leitung überlassen, und Miriam stellte die Hausarbeitsthemen zusammen, vervollständigte die Literaturliste. Als sie den Computer hochfuhr und sich einloggte, entdeckte sie, dass sich dreißig Studierende für ihr Seminar angemeldet hatten. Drei davon hatten ihr eine Mail geschrieben und angefragt, ob Miriam ihre Bachelorarbeiten annehmen würde.

Sie notierte sich die Themen und schob die Anfragen in den virtuellen Ordner Bachelor Wintersemester 2018/2019. Eine Studentin hatte eine Hausarbeit vom letzten Semester nachgereicht.

Miriam überflog das Deckblatt.

»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«Jean Paul und der Begriff der Freiheit.

Mit einem Anflug von Wehmut schloss Miriam das Dokument. Seit Klaras Sprachverlust hatte die Erinnerung auch in ihrem Leben einen anderen Stellenwert.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.

Sie stand auf, ging in den Flur und nahm das Mobiltelefon von der Ladestation.

»Ich war zum Geburtstagskaffee bei Doris eingeladen«, sagte ihre Großtante Lotte. »Was gibt’s Neues? Wie geht es meiner Schwester?«

Miriam berichtete von den seltsamen Vorkommnissen am Morgen und ihrem anschließenden Gespräch mit dem behandelnden Arzt.

»Französisch«, murmelte Lotte. »Sie spricht Französisch. Das ist ja seltsam.«

»Ich dachte, du hättest vielleicht nähere Informationen?«, sagte Miriam und sah zum Fenster hinaus.

Die Straßenlaternen gingen an.

Lotte räusperte sich. »Nähere Informationen – wie das klingt. Meine Schwester hat nach dem Krieg als junges Mädchen in einem französischen Lebensmittelladen gearbeitet. Daran erinnere ich mich dunkel. Vielleicht kommt es daher.«

Miriam horchte auf. »Das muss es sein.«

Wenn Miriams Großmutter in einem Économat – so hießen die französischen Lebensmittelläden der Besatzungszonen – gearbeitet hatte, würde das die Zahlen, die sie jetzt von sich gab, erklären. Sicher hatte sie Preise oder Geldbeträge auf Französisch beherrschen müssen.

»Und sagt dir der Name Pascal etwas, Tante Lotte?«

Miriam sprach ihn Französisch aus – genauso, wie Klara es zum Abschied getan hatte. Im Badischen würde die erste Silbe betont werden.

Hatte sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen? Klaras Fremdsprachenkenntnisse gingen also auf die französische Besatzungszeit zurück? Die Franzosen hatten das grenznahe Freiburg 1945 besetzt, und noch heute gab es unzählige sogenannte Franzosenbauten. Ein ganzer Stadtteil, das Vauban mit seinen ehemaligen Kasernen, stammte zum größten Teil aus jener Zeit. Aber auch Konstanz, wo Klara als junge Frau ihre Schneiderlehre abgeschlossen und Miriams Großvater geheiratet hatte, war Teil der französischen Besatzungszone gewesen.

Miriam wartete, und je länger die Pause dauerte, desto sicherer war sie, die richtige Frage gestellt zu haben.

»Pascal?«, kam es nach einer Ewigkeit zurück.

»Ja, Pascal. Das hat sie am Schluss gesagt, im Schlaf.«

Lotte seufzte.

»Sag schon, Tante Lotte, wenn du etwas weißt. War er ihre Jugendliebe?«

»DerFranzose«, sagte Miriams Großtante knapp. »Er hieß bei uns zu Hause immer nur derFranzose.«

»Nicht gerade charmant«, sagte Miriam. »Also – eine Romanze?«

»Ja. Zum Leidwesen unseres Vaters.«

Ungläubig schüttelte Miriam den Kopf. Sie selbst war jahrelang mit einem Franzosen zusammen gewesen. Niemand in der Familie wäre jemals auf die Idee gekommen, ihn als den Franzosen zu bezeichnen. Damals wie heute hieß er für alle schlichtweg Claude.

»Meine Großmutter hatte als junges Mädchen eine Romanze mit einem Franzosen. Was war denn so schlimm daran?«, fragte Miriam eine Spur zu forsch.

»Dass es nicht erwünscht war, und zwar vonseiten der Franzosen, Miriam. Fraternisierung nannten sie das. Es waren andere Zeiten als heute.«

Fraternisierungsverbot – in diesem Moment musste sich Miriam eingestehen, wie oberflächlich sie über die deutsch-französische Geschichte oder die Freiburger Stadtgeschichte Bescheid wusste.

»Ein gutes Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten war unerwünscht?«

»Ja. Es hat sehr lange gedauert, bis sich das normalisierte. Verbrüderung war strikt verboten.«

Warum hörte Miriam das erste Mal von solchen Restriktionen? Immerhin bildeten soziale Beziehungen in der Forschung Miriams Steckenpferd. Verschämt gestand sie sich diese eklatante Wissenslücke ein.

Miriam hörte Lottes Atem am anderen Ende der Leitung.

»Im Hause Mayer wurde dieses Verbot sehr ernst genommen. Unser Vater hat die Verbindung nicht geduldet«, sagte ihre Großtante mit Nachdruck.

»Er hat keine Verbindung meiner Großmutter geduldet«, protestierte Miriam und dachte an ein schreckliches Detail aus Klaras Jugenderzählungen.

Lotte schwieg.

»Wie hieß dieser ominöse Pascal mit Nachnamen?«, fragte Miriam.

»Warum ist das denn so wichtig?«

»Weil sie darüber sprechen will und es nicht kann«, sagte Miriam mit Nachdruck. »Ihr fehlen die Worte!«

Und ich leihe ihr meine Stimme, dachte sie und rieb sich die Schläfe. Sie trat vom Fenster weg und ließ sich unter der Dachschräge aufs Sofa fallen. Über ihr bewegte sich das Mobile aus perlmuttfarbenen Muscheln – ein Geburtstagsgeschenk ihrer Großmutter.

»Eigentlich war es ganz harmlos. Klara ist mit ihm ausgegangen. Es gab Tanzcafés. Spaziergänge an der Dreisam – was weiß ich denn! Was junge Mädchen mit achtzehn so tun.«

»Hat dieser Pascal einen Nachnamen, Tante Lotte?«, wiederholte Miriam ihre Frage, starrte zur Decke und bewegte die Zehen.

»Er ist niemals gefallen, nicht bei uns zu Hause!«

»Und wie ging es mit dem amourösen Abenteuer weiter?«

Lotte schnaubte.

Miriam konnte spüren, wie unangenehm ihrer Großtante das Gespräch war, aber sie war nun mal die einzige Zeugin von Klaras Jugend, ihrem Heranwachsen, ihrem verschwiegenen Leben.

»Gar nicht. Dunkel kann ich mich daran erinnern, dass derFranzose plötzlich verschwunden war«, sagte Lotte schließlich gequält. »Das liegt alles wie im Nebel. Klara war todunglücklich. Der erste Liebeskummer ist der schlimmste. Aber die Jugend kann vergessen. Am Ende hat sich für deine Großmutter in Konstanz alles zum Guten gewendet.«

Freiburg. Der erste Liebeskummer. Konstanz. War die Chronologie eines Lebens so einfach?

»Wenigstens hat euer Vater sie gehen lassen«, sagte Miriam. »Er war ein Tyrann.«

»Er war vor allem ein gebrochener Mensch«, sagte Lotte leise. »Glaubst du, dass es für mich ein Zuckerschlecken war, als junges Mädchen plötzlich ohne meine große Schwester dazustehen? Klara konnte sich durch ihre Flucht nach Konstanz der harten Hand des Vaters entziehen, aber ich musste bleiben. Ich habe alles abbekommen. Schließlich bin ich auch wer.«

Sie verstummte.

Miriam fand, dass sich Flucht sehr dramatisch anhörte, aber Lottes Lieblingssatz Schließlich bin ich auch wer schien in diesem Zusammenhang berechtigt.

»Das hatte ich nicht bedacht, Tante Lotte. Verzeihung. Es muss schlimm für dich gewesen sein, allein zurückzubleiben.«

Lotte seufzte.

Es entstand eine längere Pause.

»Es tut mir leid, Tante Lotte, wenn ich so hartnäckig bin, aber erst jetzt fällt mir diese Lücke in Großmutters Lebensgeschichte auf. Was geschah danach?«

»Nach Klaras moralischer Verfehlung hat sich unser Vater wie der große Patriarch aufgespielt. Und ich durfte so gut wie nichts. Sogar von der Schule hat er mich abgeholt, dass ja nichts passiert.«

Moralische Verfehlung. Innerlich schüttelte sich Miriam.

»Damit die jüngere Schwester nicht auch noch mit einem Franzosen herumturtelt.«

Lotte lachte gequält. »Genau. Du ahnst nicht, was damals zu Hause los war! Erst der Franzose und dann ein Protestant. Vater war außer sich.«

Miriam kannte die Geschichte: Mit dem Protestanten war ihr Großvater gemeint. Friedrich Mayer hatte seine Zustimmung zur Heirat verweigert, selbst nachdem die damals noch nicht volljährige Klara schwanger wurde.

»Nennen wir den Franzosen doch Pascal und den Protestanten Großpapa«, korrigierte Miriam und kam sich dabei vor, als stünde sie vor ihren Studierenden.

Sie überlegte, worin der Grund liegen könnte, dass ihre ganze Familie über Jahrzehnte niemals den Franzosen thematisiert hatte. Nicht einmal ihre Großmutter.

»Warum wurde die Romanze zugedeckt?«, fragte sie mehr sich selbst.

»Wie meinst du das?«

»Ich bin Mitte vierzig und lebe seit dem zweiten Lebensjahr bei meiner Großmutter. Mein Großvater ist tot. Es gibt keine Eltern, die ich fragen könnte. Ich bin also auf die Erinnerungen von dir und Omi angewiesen. Sie kann im Moment nicht sprechen. Warum höre ich diese Geschichte zum allerersten Mal?«

In diesem Moment, da sie es aussprach, hatte Miriam ein vages Gefühl: Klaras verbaler Ausflug in jenen Abschnitt ihrer Vergangenheit war kein Zufall. Weder ihre plötzlichen französischen Wortmeldungen noch die Reaktion der einzigen Zeugin der Familiengeschichte. Beides hing irgendwie zusammen. Es schien einen tieferen Grund für das jahrelange Schweigen zu geben. Aber welchen?

»Warum habt ihr nie darüber gesprochen?«

»Weil es ein leichtes Gewitter war, verglichen mit dem Erdbeben, das später durch die Verbindung mit deinem Großvater über unsere Familie hereinbrach«, sagte Tante Lotte gereizt. »Dagegen war der Franzose eine Kleinigkeit. Es war nicht wichtig.«

Weil der Franzose nur eine kleine Episode in Klaras jungem Leben gewesen war?

Miriams Gefühl sagte ihr das Gegenteil.

»Ich finde es schon wichtig«, sagte Miriam mit klarer Stimme. »Deine Schwester ist dabei, ins Leben zurückzukehren, und sie versucht verzweifelt, sich zurechtzufinden. Das Erste, was ihr einfällt, sind französische Zahlen und der Name eines ehemaligen Geliebten.«

»Meine Schwester ist alt, sehr alt. Möchtest du ihr für das bisschen Zeit, das noch vor ihr liegt, einen solchen Aufruhr zumuten? Die Erinnerungen könnten ihr den Rest geben.«

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Miriam biss sich auf die Lippe. Lottes Einwand war berechtigt, die unterschwellige Drohung nicht zu überhören.

Wer geriet in Aufruhr? Bildete das familiäre Schweigen ein Indiz für die Brisanz des Geheimnisses? In diesem Moment wünschte sie mehr denn je, ihr Großvater möge noch leben. Er hätte die Familie im Handumdrehen befriedet und alles ins Lot gebracht.

»Tante Lotte, du weißt, dass ich nur das Beste für meine Großmutter möchte«, sagte Miriam wie zu ihrer Verteidigung.

»Und das Beste ist, wenn man die Dinge ruhen lässt«, erwiderte Lotte in mahnendem Tonfall. »Schlafende Hunde soll man nicht wecken.«

»Noch eine letzte Frage, Tante Lotte.«

»Ja, bitte?«, erwiderte Lotte gereizt.

»Hast du ihr die Taschenuhr gebracht?«

»Welche Taschenuhr?«

Miriams Großtante wirkte verdutzt.

»Eine alte vergoldete Taschenuhr mit einer langen Kette und einer Gravur in französischer Sprache: Die Zeit ist kostbar.«

»Nein. Ich habe so etwas noch nie bei Klara gesehen.«

Miriam dämmerte: Wo sich ein derart massiver Widerstand auftat, lag ihr Weg.

Das Paradies warf seine Schatten voraus.

KLARA

3

Freiburg,

November 1948

Es war noch dunkel, als Klara um sechs Uhr morgens das Haus verließ. Die Laternen tauchten die Straßen in ein sanftes Licht. Winzige Kristalle glitzerten auf dem Kopfsteinpflaster, und eine hauchdünne Schneeschicht schmückte die Dächer. In der Textilfabrik nebenan brannten bereits die Lampen.

Klara zog den Kragen ihres Mantels hoch und lief in der Innenstadt am Kollegiengebäude der Universität vorbei. Berge von Schutt türmten sich zwischen den Häusern. Doch der Wiederaufbau war überall sichtbar.

Sie erreichte die Brücke, die direkt in den Stadtteil Stühlinger hinüberführte. In jenem Arbeiterviertel lag die Lehener Straße, wo sich der französische Lebensmittelladen befand. Das Haus, ein dreistöckiger länglicher Flachdachbau, war nach dem Krieg von den Franzosen gebaut worden.

Um sieben Uhr sollte ihr Dienst im Économat beginnen. Klaras Cousine Inge, die bis vor wenigen Tagen dort als Aushilfe tätig gewesen war, hatte ihr alles ganz genau erklärt: Sie musste eine Stunde vor Ladenöffnung am Hintereingang klingeln, nach einem gewissen Monsieur Jean verlangen und sagen, dass sie Inges Cousine sei.

»Zutritt haben nur Franzosen«, sagte Monsieur Jean, ein mittelgroßer, etwas fülliger Mann mit einem Schnauzbart, aus dessen Mimik nicht zu lesen war, was er dachte.

Er wirkte ernst und distanziert, aber keineswegs unfreundlich. In verständlichem Deutsch erklärte er Klara, worin ihre Arbeit bestand. Seinem Akzent nach zu urteilen war Monsieur Jean ein Elsässer.

»Unsere Währung ist der Franc. Wenn Sie jemals Käse verkaufen wollen, dann müssen Sie Französisch lernen, Fräulein. Wenigstens ein paar Brocken.«

Klara fing an, die Regale einzuräumen, Lebensmittelkisten mit Gemüse und Obst zu verteilen, Preisschilder zu beschriften. Außer ihr gab es noch eine andere deutsche Mitarbeiterin, deren Schicht eine Stunde später begann.

Gewissenhaft erledigte Klara ihre Aufgaben und merkte gar nicht, wie schnell die Zeit verflog. Sie fühlte sich hier wie in einer anderen Welt, nicht vergleichbar mit der, die sie kannte. Mit den Wohnungen, die eher Baracken glichen, und den Notunterkünften ihrer Stadt. Beim Anblick der Lebensmittel lief ihr das Wasser im Mund zusammen: frische Äpfel und Obstkonserven, unterschiedliche Käsesorten, Fleisch, Wurstwaren, Mehl, Zucker. Hier gab es alles, worauf die Menschen draußen verzichten mussten.

Dieses Schlaraffenland war also ausschließlich den Franzosen in der Stadt zugänglich. Klaras Vater würde toben, denn genau diese Privilegien waren es, die seinen Ärger über die Franzosen immer wieder aufs Neue entfachten. Seit der Währungsreform im Juni gab es zwar wieder alles in den Läden, erschwinglich war das wenigste.

Um kurz vor acht lieferte ein Bäcker aus dem Kasernengelände das Brot: lange, schmale, mit Weizenmehl bestäubte Stangen, die Klara in ein Regal räumte und deren herrlicher Duft in der Luft hing. Monsieur Jean sagte Baguette dazu, die Freiburger nannten es Franzosenbrot.

Eine Stimme direkt hinter Klara riss sie aus ihren Gedanken.

»Bist du die Neue?«

Abrupt drehte sich Klara um.

Ein Mädchen mit einem von Sommersprossen übersäten Gesicht und roten Haaren, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, reichte ihr die Hand. »Bist du die Cousine von Inge?«

»Ja, ich heiße Klara«, sagte sie, drehte sich um und hievte eine Obstkiste auf den Obststand. »Heute ist mein erster Tag … Probetag«, korrigierte sie hastig.

»Und ich bin die Gretel«, sagte das Mädchen unbeschwert, während es in einen weißen Arbeitskittel schlüpfte. »Willkommen bei den Franzosen, Klara! Wirst sehen. Es ist gute Arbeit hier. Manchmal dürfen wir das Brot vom Vortag mitnehmen, das Stangenbrot. Es heißt Baguette.«

»Das habe ich schon gelernt«, erwiderte Klara und zeigte auf die eingeräumten Brote.

»Was ist nun mit der Inge? Kommt sie noch mal?«

Fragend blickte Gretel in Klaras Gesicht.

Klara schüttelte den Kopf.

»Sie ist zurück nach Konstanz und macht jetzt eine Lehre im Fernmeldeamt. Ihre Eltern sind in eine größere Wohnung gezogen.«

Gretel nickte betrübt.

»Da geht’s ihr besser als uns. Wir teilen uns schon lange in der Eschholzstraße die Unterkunft mit zwei Familien. Ich wohne mit meinem Bruder und den Eltern in einem Zimmer. Und das seit drei Jahren. Die Toilette auf halber Treppe.«

Gretel zog Klara zur Seite und bedeutete ihr, sie zur Kasse zu begleiten. Klara warf einen Blick zu Monsieur Jean, der mit dem Käse beschäftigt war.

Zögerlich folgte sie Gretel.

Draußen vor dem Schaufenster versammelten sich bereits die ersten Kunden. Unter ihnen vornehme Französinnen. In warmen Mänteln mit Pelz traten sie von einem Fuß auf den anderen. Ihr Atem hinterließ Wölkchen in der kalten Luft. Zwei Soldaten in Uniform spähten durch die Fensterfront ins Innere des Ladens.

Klara warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr über dem Eingang – in fünf Minuten würden sie öffnen.

»Er ist sehr nett, der Monsieur Jean«, flüsterte Gretel. »Ich sag dir was: Die Kasse, das ist die beste Arbeit hier. Bequem und abwechslungsreich. Du hast viel mit Menschen zu tun. Wenn du ein paar Brocken Französisch sprichst, dann kannst du vielleicht eines Tages die Kasse übernehmen. Ich bin jetzt seit sieben Wochen an der Kasse, aber nicht mehr lange. Darfst es niemandem verraten. Monsieur Jean weiß es noch nicht. Versprichst du es, hoch und heilig, dass du schweigst wie ein Totengräber?«

Theatralisch blickte Gretel in Klaras Gesicht, die stumm nickte.

»Ich werde bald heiraten. Der Hans Förster und ich haben uns heimlich verlobt, und mein Zukünftiger möchte auf keinen Fall, dass ich arbeite. Wenn du schlau bist, kannst du hier dann kassieren, verstehst du? Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen.«

Klara kannte Hans Förster nicht. Verstohlen musterte sie Gretel. Wie alt sie wohl war? Achtzehn wie sie selbst oder gar jünger? Klara erwischte sich dabei, wie sie auf Gretels Bauch sah. Ob sie vielleicht in anderen Umständen war? Das jedenfalls wäre für Klara der einzige Grund, so früh eine Ehe einzugehen. Ansonsten käme eine Heirat für Klara nicht infrage. Nicht, bevor sie auf eigenen Füßen stand.

Mit einem Anflug von Wehmut kam Klara ihre abgebrochene Schneiderlehre in den Sinn. Vor einem halben Jahr hatte die Meisterin ihre beste Gesellen-Anwärterin kurz vor der Abschlussprüfung zur Seite genommen und ihr erklärt, sie könne sich Klara als Gesellin nicht mehr leisten, und sie durch eine ungelernte Arbeitskraft ersetzt. Die war billiger.

Klara schob ihre trüben Gedanken zur Seite.

»Und, wo seid ihr untergekommen?«, fragte Gretel neugierig, knöpfte ihren Kittel zu und strich die Falten an den Ärmeln glatt.

»Wir wohnen immer noch in unserem Haus in der Kartäuserstraße neben der Textilfabrik. Da ist im Krieg nichts passiert. Bei uns leben oben in den Dachkammern ein kinderloses Ehepaar und ein Flüchtling aus Böhmen. Sie benutzen unsere Küche und das Bad. Die anderen Wohnungen sind vermietet.«

Dass ihre Familie im eigenen Haus ganze zwei Zimmer unterm Dach bewohnen durfte, verschwieg sie.

»Die Flüchtlinge«, sagte Gretel verächtlich und rümpfte dabei die Nase. »Fressen uns noch die letzten Haare vom Kopf. Als ob wir nicht mit uns selbst genug zu tun hätten! Das sagt mein Verlobter immer, und der muss es wissen. Er arbeitet bei der Stadtverwaltung und möchte eine Beamtenlaufbahn einschlagen.«

In Gretels Stimme schwang eine Mischung aus Stolz und Bewunderung mit, als habe sie mit ihrer Verlobung Großartiges erreicht.

Klara warf einen Blick zur Seite, von wo aus das laute Räuspern Monsieur Jeans zu hören war. Mit erhobenen Brauen sah er mahnend zu den beiden Frauen hinüber. Dann deutete er mit einer schnellen Kopfbewegung in Richtung der Regale.

Mit hochrotem Kopf ging Klara an ihre Arbeit zurück.

Monsieur Jean öffnete die Ladentür.

Das Glöckchen über der Eingangstür klingelte, und die Frauen und Männer strömten herein. Nach und nach füllte sich das Geschäft mit Kunden, von denen Monsieur Jean jeden einzelnen freundlich begrüßte. Einige von ihnen sogar mit Namen.

Der Économat war den ganzen Tag über gut besucht. Meistens kauften hier die Frauen der Franzosen für ihre Familien ein. Gut gekleidete, attraktive Frauen, die sich rein äußerlich von den meisten Freiburgerinnen abhoben. Die wenigsten sprachen Deutsch, und Klara hörte, wie Gretel an der Kasse Französisch parlierte wie eine kleine Französin. Es klang vornehm und sehr erwachsen. In der Schule hatte Klara einige Jahre Englisch gelernt. Umso mehr beeindruckte sie der elegante Klang der für sie neuen Sprache.

»Au revoir«, sagte Gretel jedes Mal, bevor die Damen den Laden verließen, und schenkte jeder von ihnen ein charmantes Lächeln.

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis beobachtete Klara das Geschehen, während sie eine Kiste ins Regal stellte.

Plötzlich rutschte ihr eine Kiste aus der Hand und knallte auf den Boden. Einige Kohlköpfe rollten in den engen Flur. Erschrocken ging Klara in die Hocke und fing an, die Ware wieder einzuräumen.

»Pardon, Mademoiselle«, hörte sie eine sonore Stimme neben sich. »Darf ich Ihnen helfen?«

Mademoiselle! War tatsächlich sie gemeint?

Der Mann, zu dem die freundliche Stimme gehörte, bückte sich und reichte ihr einen Kohlkopf. Unter seinem weiten Mantel trug er Uniform.

»Danke«, sagte sie leise und nahm den Kohl aus seiner Hand entgegen. Ihre Wangen glühten.

»De rien«, erwiderte er, zog seinen Lederhandschuh aus und reichte ihr seine Hand. »Je m’appelle Pascal. Ich heiße Pascal, und wie ist Ihr Name?«

Er hatte einen charmanten französischen Akzent.

»Klara«, sagte sie leise, sah sich verstohlen um und legte ihre Hand in seine.

»Au revoir, Mademoiselle Klara«, sagte er lächelnd, ließ ihre Hand los, erhob sich, drehte sich um und ging zur Kasse.

Mademoiselle!

Sie war kein Fräulein, sondern eine Mademoiselle!

Gretel, die den Vorfall beobachtet hatte, warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Nur nicht so schüchtern«, flüsterte sie ihr zu. »Dem hast du schon mal den Kopf verdreht mit deinen schönen Augen. Eine gute Partie, der Franzose!«

Klara räusperte sich. Durch die Schaufensterscheibe sah sie, wie der Mann in ein Auto stieg. Bevor er den Motor startete, war es Klara, als schaue er noch einmal zu ihr hinüber.

Das französische Wort Mademoiselle klang für den Rest ihres ersten Arbeitstags in ihr nach. Sie hatte das Gefühl, sich zwicken zu müssen, um zu prüfen, ob ihre Unterhaltung mit Pascal wirklich stattgefunden hatte.

Mademoiselle Klara – wie schön er das gesagt hatte!

MIRIAM

4

Freiburg,

März 2018

Miriam nippte an einer Tasse Kaffee.

Lottes gemütliche Wohnküche durchströmte der Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen. Seit Jahrzehnten kaufte Miriams Familie in einem Freiburger Traditionsgeschäft, das Tee-Peter hieß, die Freiburger Mischung.

»Sie schmeckt nur mit Freiburger Wasser«, behauptete ihre Großmutter, seit Miriam denken konnte. »Etwas anderes kommt mir nicht in die Kanne!«

Seit dem Tod von Lottes Lebensgefährten vor sechs Jahren bewohnte Miriams Großmutter eine kleine Einliegerwohnung in Lottes Haus in Littenweiler – eine Art Alters-WG, in der sich die Geschwister sehr wohlfühlten. Sie verstanden sich gut und unternahmen viel gemeinsam, dennoch führte jede von ihnen ein weitgehend autonomes Leben.

Erst in den letzten Jahren hatte Lotte damit angefangen, regelmäßig für beide zu kochen, und seitdem hatten die Geschwister, bis zu Klaras Schlaganfall, täglich gemeinsam zu Mittag gegessen.

Miriam hatte in Klaras Wohnung den Wohnzimmerschrank und Schreibtisch nach Fotos und Briefen abgesucht. Gefunden hatte sie außer den zu erwartenden Fotoalben eine Zigarrenkiste mit allerlei Inhalt.

Die Fundstücke lagen jetzt auf einem Stapel vor ihnen auf dem Küchentisch.

»Diese Fotos habe ich schon ewig nicht mehr angesehen«, sagte Lotte und gab einen kräftigen Schuss Sahne in ihren Kaffee. »Ich hatte die Bilder unserer Kindheit völlig vergessen. Freiburg nach dem Krieg. Unser schönes Freiburg ist in einer einzigen Nacht zerstört worden.«

Miriam schlug nacheinander jeweils die erste Seite der Alben auf. Auf dem ersten stand 1945, das letzte war mit 1956 beziffert.

Auch Miriam kannte die Alben, hatte sie jedoch genau wie Lotte fast vergessen. Als sie noch klein war, hatte sie die Fotosammlung oft gemeinsam mit ihrer Großmutter angesehen und Klara hatte dann unvergessliche Episoden dazu erzählt, die Miriam nicht oft genug hatte hören können. Besonders die Kinderbilder ihrer Mutter Henriette liebte Miriam. Henriette und Miriam sahen sich auf Kinderbildern ähnlich wie Zwillinge, nur aus verschiedenen Zeiten.

»Ich möchte Omi mit den Fotos auf die Sprünge helfen und sie zum Reden bringen«, sagte Miriam.

Eines der ersten Bilder zeigte das Elternhaus der Geschwister in der Kartäuserstraße, jenes Haus, in dem Miriam heute lebte. Es sah damals wie heute unverändert aus, nur dass die Fassade einen freundlichen, ockergelben Anstrich erhalten hatte und schon lange neue Fenster eingebaut worden waren. Am Eingang war die alte, schwere Holztür mit der Verglasung hinter massiven Eisenstäben unverkennbar dieselbe geblieben.

In den Fünfzigerjahren hatte Klara geheiratet. Eduard Schilling, selbst ein gebürtiger Freiburger, wollte mit seiner Familie zurück in die Heimat, und als sich für Klara eine Geschäftsübernahme ergab, hatten sie zugegriffen und waren zurück nach Freiburg gezogen.

Ihre Großmutter war immer berufstätig, worin sich Klara und Eduard von vielen anderen Paaren ihrer Zeit unterschieden. Bis zum Tod von Miriams Großvater waren sie unzertrennlich gewesen. Die einzige Leidenschaft, der Eduard allein gefrönt hatte, war das Angeln. Zunächst in Konstanz auf dem Obersee, später am Rhein bei Breisach und im Freiburger Moosweiher.